Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia
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Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia
Nr. 6 | 26. Juni 2011 Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia Avallone Ein Sommer aus Stahl | Alice Munro Zu viel Glück | Kinder- und Jugendbücher Ferienlektüre | Gregor Sander Winterfisch | Luise Rinser Über ihre dunklen Seiten | Paul Collier Der hungrige Planet | Weitere Rezensionen zu J. R. von Salis, Henry Kissinger und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Perfekte Sommerlektüre Taschenbuch-Highlights bei buch.ch Auch als E-Book und Hörbuch Auch als Hörbuch Das Orchideenhaus Hiobs Brüder Rebecca Gablé Martin Walker Jussi Adler-Olsen CHF 16.90 CHF 15.90 CHF 17.90 CHF 19.90 Lucinda Riley Auch als E-Book und Hörbuch Grand Cru Erlösung Auch als E-Book und Hörbuch <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MrY0MwIAfVW_Dw8AAAA=</wm> <wm>10CFWMuwrDMBAEv-jE7r0U5crgzqQI7tWY1P7_yna6FAvDMOy6VjT89lre2_IpAh5CtZFaMaJpz3qoNngvJFNBPmnhRkX-9QKONNi8G0EKc9IkLu7T3SZ5P1wuVNGO_XsCXjeSkYAAAAA=</wm> Helge Timmerberg Miriam Meckel Der Jesus vom Sexshop Brief an mein Leben CHF 14.50 CHF 14.50 Schöne Aussichten – mit den Taschenbuch-Highlights von buch.ch. Ganz bequem online bestellt – schnell und 15 Jahre zuverlässig geliefert. Auf Wunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch www.buch.ch Inhalt Die jungen Frauen und das Meer Ernest Hemingway war Kriegsreporter, Abenteurer, Grosswildjäger und vor allem ein fabelhafter Erzähler. Für seine Novelle «Der alte Mann und das Meer» erhielt er den Pulitzer- und 1954 den Nobelpreis. Millionen von Leserinnen und Lesern waren hingerissen vom Drama des Fischers Santiago, der drei Tage im Golf von Mexiko allein mit einem gigantischen Marlin, einem Speerfisch, kämpfte. Der Stoff wurde wie viele andere Werke Hemingways verfilmt. Der rabauzige Autor, dessen Todestag sich zum 50. Mal jährt, liebte auch den Stierkampf und das Boxen. Dass er heute als Macho abgetan wird, findet der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm billig. Stamm, der sich von Hemingways schnörkellos knapper Prosa beeinflussen liess, hält den Pionier der Shortstories für einen sensiblen Intellektuellen, ja einen «Riesen», dessen Zeit noch lange nicht abgelaufen sei (Seite 14). Ebenfalls am Meer, am heruntergekommenen Strand von Piombino, spielt das Romandebüt der 27-jährigen italienischen Autorin Silvia Avallone. Die beiden Heldinnen von «Ein Sommer aus Stahl» sind noch keine 14, sind sich aber ihrer schönen Körper bewusst, die die Blicke der Männer auf sich ziehen. Ein begeisterndes Buch: die Überraschung dieses Frühjahrs, wie meine Kollegin Regula Freuler schreibt (Seite 10). Wir wünschen Ihnen gute Lektüre und einen schönen Sommer. Auf Wiederlesen am 28. August. Urs Rauber Ernest Hemingway (Seite14). Illustrationvon AndréCarrilho Belletristik 4 AliceMunro:ZuvielGlück 6 GregorSander:Winterfisch Von Sandra Leis 7 MattBeynonRees:DerAttentätervon Brooklyn Von Stefana Sabin 8 AimeeBender:DiebesondereTraurigkeitvon Zitronenkuchen 13MartinSchäuble:BlackBoxDschihad Von Gunhild Kübler Von Simone von Büren ThomasHoepker:DDRAnsichten Von Gerhard Mack 9 KathrinSchmidt:Finito.Schwammdrüber Von Martin Zingg 10 SilviaAvallone:EinSommerausStahl Von Regula Freuler 11 SayedKashua:ZweitePersonSingular Von Susanne Schanda KurzkritikenBelletristik Sachbuch Von Sabine Sütterlin 18 PaulCollier:DerhungrigePlanet Von Hans ten Doornkaat 20 PaulGinsborg:Italienretten BirgitSchönau:CircusItalia Von Christine Knödler IngoundSilkeArndt:1,2,3–ganzviele! RobertGriesbeck,NilsFliegner: Trickchemie Jürgen Brater: Warum habenwir Sandinden Augen? 14 PeterStammüberErnestHemingway «Hemingway war genial sorgfältig» Von Manfred Papst KonstantinRichter:Kafkawarjungund brauchtedasGeld Von Manfred Papst Kolumne Von Janika Gelinek AlImfeld:AfrikaalsWeltreligion Von David Signer 21 JoséSánchezdeMurillo:LuiseRinser Von Urs Rauber 22BettinaStangneth:EichmannvorJerusalem Von Verena Hoenig Von Regula Freuler SunilMann:Lichterfest Von Katja Gentinetta KarinFeuerstein,KarinSchneider:Dahielt dieWeltdenAteman Interview Von Regula Freuler HansRuh:Ordnungvonunten Von David Strohm Von Christine Knödler Von Manfred Papst JonathanLethem:ChronicCity TobiasElsässer:Fürniemand Von Sabine Sütterlin 11 GilbertKeithChesterton:DerMann,derzu vielwusste TaniaKjeldset:Juli Von Andrea Lüthi Von Sieglinde Geisel 23 GregorSpuhler:Gerettet–Zerbrochen NIELS FLIEGNER Nr. 6 | 26. Juni 2011 Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia Avallone Ein Sommer aus Stahl | Alice Munro Zu viel Glück | Kinder- und Jugendbücher Ferienlektüre | Gregor Sander Winterfisch | Luise Rinser Über ihre dunklen Seiten | Paul Collier Der hungrige Planet | Weitere Rezensionen zu J. R. von Salis, Henry Kissinger und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Von Urs Bitterli GianfrancoMalfarina:DieKircheSan FrancescoinAssisi Von Geneviève Lüscher 24 HerbertCerutti:WieHansRudolfHerren 20MillionenMenschenrettete Von Markus M. Haefliger BerndBrunner:WiedasMeernachHause kam Von Thomas Köster 25 JeanRudolfvonSalis:AusgewählteBriefe 1930−1993 Von Klara Obermüller 26 SebastianoTusa:VersunkeneAntike Von Geneviève Lüscher 17 CharlesLewinsky 12 FranziskaBiermann:DermagnetischeBob KurzkritikenSachbuch Agenda 17ElisabethKaestli:Aisha,Mussa,Zawadi… 27 HelgeSobik:MythosSaintTropez MartinSinzig:LouisChevrolet JuliaOnken:Rabentöchter Kinder-undJugendbuch Von Verena Hoenig FranzHohler,KathrinSchärer:Eswareinmal einIgel Von Regula Freuler PerOlovEnquist:Grossvaterunddie Schmuggler Von Andrea Lüthi Das Zitat von Karl Heinrich Waggerl Von Urs Rauber Von Geneviève Lüscher Von Kathrin Meier-Rust DasamerikanischeBuch HenryKissinger:OnChina Von Andreas Mink Von Kathrin Meier-Rust BestsellerJuni2011 Belletristik und Sachbuch AgendaJuli2011 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Erzählungen Alice Munro wird im Juli 80 Jahre alt. In ihrem jüngsten Buch beweist sich die kanadische Schriftstellerin erneut als Grossmeisterin der kurzen Prosa Literatur zehrt immer vom Leben Alice Munro: Zu viel Glück. Aus dem Kanadischen von Heidi Zerning. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 368 Seiten, Fr. 30.50. Von Gunhild Kübler In Alice Munros jüngstem Erzählband «Zu viel Glück» geht eine Frau an einem Buchladen vorbei und erblickt auf einem Plakat das Gesicht eines Mädchens, das ihr bekannt vorkommt. Ob das eine ihrer ehemaligen Schülerinnen ist? Die junge Autorin posiert in schwarzer Aufmachung, mit tiefem Ausschnitt und vorwurfsvoller Miene. Die Lehrerin kauft das Buch und entdeckt beim Lesen zu Hause, dass sie darin als angeschwärmte Musiklehrerin eine Hauptrolle spielt. Keine sympathische. Sie ahnt, was nun kommt, und giesst sich zur Beruhigung schon mal Cognac in ihren Tee. Die Autorin, glaubt sie, wird «ihre schmutzige Phantasie den Menschen und der Situation aufpfropfen, die sie aus dem wahren Leben genommen Alice Munro Alice Munro ist am 10. Juli 1931 in Wingham, Ontario, geboren. Ein Studium an der University of Western Ontario musste sie aus Geldmangel abbrechen. Sie heiratete 1951 und zog drei Kinder gross. Seit 1968 hat sie 13 Erzählungsbände und einen Roman publiziert. Vielfach ausgezeichnet (2009 für ihr Lebenswerk mit dem Booker Prize für Internationale Literatur) und alljährlich als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis gehandelt, lebt sie heute mit ihrem zweiten Mann in Clinton, Ontario. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 hat – zu faul, um zu erfinden, aber nicht zu faul, um zu verleumden.» Literatur zehrt vom Leben. Auch Alice Munro, diese singuläre Grossmeisterin des Erzählens, die am 10. Juli ihren 80. Geburtstag feiert, hat immer von eigenen Erinnerungen gezehrt. Unter den Protagonisten ihrer mittlerweile dreizehn Erzählungsbände erkennt man ihren Vater, den glücklosen Gelegenheitsfarmer und Züchter von Silberfüchsen, und ihre Mutter, die an Parkinson erkrankte, als die kleine Alice zehn war. Man erkennt die armseligen, bigotten Verhältnisse in der kanadischen Provinz, aus denen sie erst in ein kurzes Studium und dann in eine frühe Ehe floh. Man erkennt die Ehe-Situation, aus der sie sich losmachte, und man glaubt die Autorin selber zu sehen als Hausfrau und Mutter auf der Suche nach einem Zimmer für sich allein. Liebe einer Schülerin «Faul» beim Erfinden ist Alice Munro allerdings nie gewesen. Erzählen ist bei ihr eine Methode, über das menschliche Zusammenleben nachzudenken, seine undurchsichtigen, irritierenden Momente herauszulösen und von mehreren Seiten her zu erkunden bis dahin, wo sie unauslotbar werden. In einem Interview hat sie das einmal so beschrieben: «Erinnerung ist die Art und Weise, wie wir uns selber unsere Geschichten erzählen und wie wir anderen Leuten eine etwas andere Version unserer Geschichten erzählen. Wir kämen nicht aus in unserem Leben ohne eine starke, ständig fortlaufende Erzählung. Und unter all den bearbeiteten, inspirierten, uns schützenden oder unterhaltenden Geschichten liegt vermutlich irgendein riesiges, bauchiges, geheimnisvolles Ding namens ‹Die Wahrheit›, nach dem wir mit unse- ren Fiktionen stochern und von dem wir einzelne Stücke erwischen. Was könnte als lebenslange Beschäftigung interessanter sein?» Wie das im einzelnen aussieht, zeigt der Fortgang der eingangs erwähnten Erzählung. Die ehemalige Schülerin hat in ihrem Buch ihre grosse Liebe zur Musiklehrerin zum Thema gemacht. Und das bittere Ende dieser Liebe. Denn dem Kind wird bald einmal klar, dass es nur deswegen für die Lehrerin interessant ist, weil es ihr Informationen über ihren Ex-Mann bringen kann, der sie nach langjähriger Ehe verlassen hat und seit kurzem mit der Mutter des Kindes zusammenlebt. Das Kind fühlt sich in seiner Schwärmerei betrogen und missbraucht. Nie wieder wird es sich so hinters Licht führen lassen. Aber dann kommt alles anders. Mit der Zeit verändern sich die Gefühle des Mädchens. Als junge Frau hört sie auf, sich über ihre Kinderliebe zu grämen, Heiterkeit für die zehn Geschichten die ses Bandes allerdings nicht. Denn es gibt hier überraschend viele Eruptionen von Gewalt, die allerdings nur in ihren Fol gen geschildert werden. Zahlreich sind auch die Rückblenden in vergangene Zeiten: Die Titelgeschich te – ein Porträt der russischen Mathe matikerin Sofia Kowalewskaja – lenkt bis ins 19. Jahrhundert zurück. Andere Stories beschreiben die kanadische Pro vinz in den Kindheitsjahren der Autorin. Dabei sind die Figuren stabil in ihrer Zeit verankert, aber ihre Konflikte wir ken aktuell. Diese Kinder werden in ihren Freundschaften und Abneigungen und in ihrer gnadenlosen Konventiona lität genauso ernst genommen wie Er wachsene. Idyllen gibt es keine. Manche Figuren werden das Kind, das sie einst waren, ihr Leben lang nicht mehr los. Noch auf dem Totenbett kämpfen sie mit Schuldgefühlen aus jener Zeit. Dass die am längsten zurückliegende Lebens phase im Alter plötzlich neu austreibt und bearbeitet werden will, auch diese manchmal quälerische Erfahrung ist in dieses reiche Altersbuch eingegangen. PETER SIBBALD / REDUX / LAIF Attraktives Altersbuch denkt jetzt mehr an die Phasen kindli cher Glückseligkeit, an die gemeinsam mit der Lehrerin gespielte Musik, und mit einem Mal heisst es: «Sie war froh darüber.» Worauf ein echt Munro’scher Satz folgt: «Es schien fast, als müsse es eine wahllose und natürlich ungerechte Sparsamkeit in der Haushaltsführung der Welt geben, wenn das grosse Glück eines Menschen – wie vergänglich und zerbrechlich auch immer – aus dem grossen Unglück eines anderen kom men konnte.» Zahlreiche Rückblenden Sätze wie diese laden Leser zum Selbst gespräch über das eigene Leben ein. Für unser Leseglück ist damit bereits ge sorgt. Aber Munro setzt noch eins drauf: Sie lässt die Lehrerin zur Lesung ihrer Schülerin gehen. Die hat sich inzwi schen komplett neu gestylt mit Goldtö nen im Haar, einer Jacke aus rosa Sei denbrokat und Goldschmuck an Hals und Ohren. Jetzt wirkt sie kühl und doch freundlich. Doch zeigt sie keine Spur von Wiederkennen, als die Lehrerin sie beim Signieren des Buchs auf die Ver gangenheit anspricht. Weiss diese junge Frau überhaupt noch, was sie geschrie ben hat? Es sieht aus, als sei das etwas, aus dem sie sich «hinausgeschlängelt und das sie im Gras liegengelassen hat». So sind sie, die Autoren, werfen schreibend ihre Haut ab, um die von an deren umso ungenierter zu Markte zu tragen. Auf ihrem Heimweg ringt die Lehrerin noch eine ganze Weile um Fas sung. Aber jetzt hat sie Lust, mitzumi schen bei diesem trickreichen Geben und Nehmen – «daraus lässt sich viel leicht sogar eine Anekdote machen, die sie selber eines Tags erzählen kann. Es würde sie nicht wundern.» «Fiction» heisst diese Erzählung, die zu so heiteren Einsichten kommt beim Nachdenken über das Verhältnis von Leben und Literatur. Typisch ist solche Die kanadische Autorin Alice Munro, 1994 zu Hause in ihrem Garten in Clinton, Ontario. Ihre Erzählungen laden zum Selbstgespräch über das eigene Leben ein. Ein Wort noch zur deutschen Überset zung. Die besorgt seit Jahren Heidi Zer ning – präzis, findig und mit der gebote nen knappen, aber doch lockeren Ele ganz. Diesmal hat ihr ein syntaktisch tückisches Zitat aus einem Gedicht des englischen Schriftstellers Walter de la Mare ein Schnippchen geschlagen. «There is no sorrow / Time heals never / No loss, betrayal / Beyond repair» – heisst wohl eher «Es gibt keinen Kum mer / Den Zeit nicht heilt» als, wie Heidi Zerning schreibt, «Kummer gibt es nicht / Zeit heilt nie.» Der Missgriff wäre unerheblich, würde er nicht die Stimmung in der Er zählung «Gesicht» stören, in der ein alter, von einem blauroten Muttermal auf seiner Wange entstellter Mann sich an seine Kinderfreundin erinnert. Die hat eines Tages – im Bedürfnis, sich mit ihrem Freund zu identifizieren – die ei gene Wange mit knallroter Farbe ange malt und ihn damit so schockiert, dass man sie für immer aus seinem Umkreis verbannte. Nun erträumt er im Alter eine letzte Begegnung mit ihr. Alt werden kann hungrig machen nach Ver söhnung. Darf man Bilanz ziehen? Auf keinen Fall. Wie ihr jüngstes Buch zeigt, ist von Alice Munro noch etwas zu erwarten. Allenfalls kann man jetzt schon feststel len, wie sehr sich ihr komplexes Alters werk von den endlos die Einbusse von Attraktivität beklagenden Altersbü chern von Philip Roth oder Martin Wal ser unterscheidet. Der schöne Spruch, den Virginia Woolf vor vielen Jahren auf George Eliot münzte, soll darum hier in einen Geburtstagstoast verwandelt wer den: Lorbeer und Rosen für die grosse kanadische Schriftstellerin! l Die Publizistin Gunhild Kübler war lange Mitglied des «Literaturclubs». Zuletzt erschien von ihr «Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur». 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Erzählungen In «Winterfisch», seinem dritten Buch, versammelt der deutsche Autor Gregor Sander Geschichten aus dem Ostseeraum. Karg und von grosser Strahlkraft Vom Schweigen der Männer Gregor Sander: Winterfisch. Wallstein, Göttingen 2011. 192 Seiten, Fr. 27.90. Zwei Freunde kennen einander seit dem Medizinstudium, das für beide die falsche Wahl gewesen ist. Sie brechen es ab, der eine studiert Malerei, der andere macht eine Ausbildung zum Fotografen. Das Leben nimmt seinen Lauf, die beiden driften ein wenig auseinander, bis sie zu ihrem 40. Geburtstag einen Segeltörn geschenkt bekommen. Von Gdingen nach St. Petersburg. «Das Ganze ist nicht meine Welt. Ich glaube, Jakob gefällt es besser. Wir lesen oder spielen Karten in unserer Freizeit, und eigentlich wartet man die ganze Zeit wieder auf die nächste Wache», heisst es in «Weisse Nächte», einer Erzählung des 43-jährigen Deutschen Gregor Sander. Obwohl oder gerade weil ihm die Tage ziemlich eintönig vorkommen, bleibt dem Ich-Erzähler genügend Zeit, über Vergangenes nachzudenken. Beispielsweise vergegenwärtigt er sich Jakobs Besäufnisse, den Entzug und die beiden Rückfälle. Und er schlägt den Bogen zu sich selbst, weil auch er manchmal eins über den Durst trinkt. Dann, wenn ihn Leere und Einsamkeit befallen und eine «Scheissangst» in ihm hochkriecht, während Frau und Töchter friedlich schlummern. Angst wovor? «Davor, dass alles kippt. Alles.» Mehrfach ausgezeichnet Es sind solche Geschichten, die den Band «Winterfisch» zu einer Trouvaille machen. Es ist diese beredte Schweigsamkeit von Sanders männlichen Protagonisten, und es ist diese ungeschminkte Ehrlichkeit, nach welcher der Autor forscht, ohne seine Figuren je der Lächerlichkeit preiszugeben. Er begegnet ihnen mit grossem Respekt und findet für sie eine Sprache so karg und rau wie der Ostseeraum, in dem sie leben. Gregor Sander kam 1968 in Schwerin zur Welt, machte eine Ausbildung zum Schlosser und Krankenpfleger, studierte eine Weile Medizin, dann Germanistik und Geschichte und besuchte schliesslich die Journalistenschule in Berlin, wo er als Autor lebt. 2002 debütierte er mit dem Geschichtenband «Ich aber bin hier geboren», für den er den Förderpreis zum Friedrich-Hölderin-Preis der Stadt Bad Homburg erhielt. Er versammelte Momentaufnahmen deutscher Befindlichkeiten nach der Wende, beschrieb leise und unaufgeregt die Kapitulation vor dem Leben genauso wie das Aufbegehren gegen die Tristesse. 2007 veröffentlichte Sander mit «Abwesend» seinen ersten und gleich für den Deutschen Buchpreis nominierten Kurzroman. Darin erzählte er mittels Andeutungen, Verknappungen und Zeit6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 FRANK HEUER / LAIF Von Sandra Leis Männer auf einem Segeltörn und andere Einzelkämpfer: Gregor Sanders Protagonisten werfen existenzielle Fragen auf. sprüngen von den Rissen einer ostdeutschen Eigenheimidylle aus der Sicht eines Sohnes, der ins Elternhaus zurückkehrt, um den kranken Vater zu beaufsichtigen, während die Mutter eine Reise unternimmt. 2009 schliesslich las Sander am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt die Geschichte «Winterfisch», in der drei Männer beinahe stumm um eine vergangene Liebe trauern, und wurde dafür mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Nicht nur in der Titelgeschichte, auch in den acht weiteren Erzählungen des Buches «Winterfisch» tragen die Protagonisten ihr Herz nicht auf der Zunge. Sie sind in sich gekehrt und zurückhaltend, im Beruf oft Einzelkämpfer wie der Arzt in «Haus Seeblick», der drei Monate im Jahr auf Mallorca malocht, dann nochmals drei Monate in Berlin, um sich die übrige Zeit von seinen Strapazen zu erholen. Dabei wird ihm bewusst, dass Leben auch Lieben heisst, und er macht sich auf zu einem Überraschungsbesuch. Er fährt ins Ostseebad Grünborn und nächtigt in einem Hotel, dessen Besitzerin er auf Mallorca behandelt hat. Gelungene weibliche Sicht Oder André aus der Geschichte «Im Dunkeln», der durch Osteuropa reist, weil seine Firma in mehreren Hotels Heizungsanlagen gebaut hat und eine kostenlose Wartung nach einem Jahr spendiert. Er hat eigentlich nichts zu tun, «ausser an ein paar Ventilen zu drehen und zu sagen, dass alles in Ordnung sei». Eines Abends versumpft er in Litauen und muss sich von einem Betrunkenen vorwerfen lassen, dass die beiden Piloten auf dem 10-Lit-Schein von den Deutschen abgeschossen worden seien. Als sich herausstellt, dass dem wohl doch nicht so gewesen ist, überkommt André eine Freude, ohne dass er genau wüsste, warum. Gregor Sanders Hauptfiguren sind fast ausnahmslos Männer, doch in einer der neun vorliegenden Erzählungen wagt er die weibliche Perspektive und reüssiert. In «Der Stand der Dinge» berichtet er von Johanna, einer Köchin auf der Stör. Sie fährt von Berlin nach Rügen, von dort bringt ein Helikopter sie weiter auf die Insel Hiddensee. In einer Ferienwohnung bereitet sie einen Ochsenschwanz zu und erfährt erst allmählich, was ihre Auftraggeber niederdrückt: Der Sohn der Familie ist vor über zwei Jahrzehnten beim Versuch, aus der DDR zu fliehen, von Grenzsoldaten erschossen worden. Die Mahlzeit ist ein Ritual, mit dem die Familie an jedem Geburtstag des toten Sohnes gedenkt. Ein anderer Druck, der auf Johanna lastet, kommt aus der eigenen Familie. Zu Hause sitzt ihr Mann, ein arbeitsloser und entsprechend sauertöpfischer Schauspieler, mit der gemeinsamen fünfjährigen Tochter. Während Johanna kocht, schreibt er per SMS: «Wir müssen reden (…). Es gibt ein Problem.» Sie ahnt, was das heissen könnte, und hofft trotzdem inständig, dass sie im kommenden Mai wie jedes Jahr mit Mann und Kind nach Hiddensee reisen wird. Die Hoffnung stirbt zuletzt – auch in Gregor Sanders Geschichten, die existenzielle Fragen aufwerfen und dank ihrer konkreten Verankerung im Alltag zutiefst menschlich sind. ● Kriminalroman In seinem vierten Fall muss Omar Jussuf die Unschuld seines Sohnes beweisen Der erste palästinensische Detektiv Matt Beynon Rees: Der Attentäter von Brooklyn. Omar Jussufs vierter Fall. Aus dem Englischen von Klaus Modick. C. H. Beck, München 2011. 288 Seiten, Fr. 28.90. Von Stefana Sabin Omar Jussuf ist ein «Lehrer, der die bedauernswerten Kinder aus dem Flüchtlingslager Dehaischa in Geschichte unterrichtet.» Er ist kein strahlender Held, sondern ein alternder Mann, in schlechter körperlicher Verfassung und in subdepressiver Dauerstimmung – ein Antiheld. Er ist der erste palästinensische Detektiv der Kriminalliteratur. Nun hat Omar Jussuf seinen vierten Fall zu lösen. Er muss die Unschuld seines eigenen Sohnes beweisen, der unter Mordverdacht verhaftet wird. Nachdem er seine Talente in Bethlehem, Gaza und Nablus vorgeführt hat, muss er jetzt in einer besonderen palästinensischen Stadt ermitteln, nämlich in Bay Ridge, in jenem Viertel von Brooklyn, wo sich so viele Palästinenser niedergelassen haben, dass es «Little Palestine» heisst. Das ist eine zugleich vertraute und fremde Umgebung: der Geruch des ara- bischen Kaffees und die Begrüssungsrituale zwischen den palästinensischen Emigranten erinnern Jussuf an zu Hause, aber die meteorologische Kälte und die zwischenmenschlichen Umgangsformen tragen zu seinem ständigen Unbehagen bei. Wie zu Hause in Bethlehem kommt sich Jussuf einsam und fremd vor, wie zu Hause ist er entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. So scheut er keine Anstrengung, die Morde, die die palästinensische Gemeinde erschüttern, aufzuklären und seinen Sohn aus dem Gefängnis wieder freizubekommen. Dabei legt er bei seinen Ermittlungen kriminelle Verstrickungen zwischen verschiedenen arabischen Gruppierungen bloss, deckt die Verlogenheit palästinensischer Politfunktionäre auf und sichert sich den Respekt des palästinensisch-amerikanischen Polizisten, mit dessen Hilfe er schliesslich einen gross angelegten terroristischen Anschlag verhindert. Eine bewährte Mischung aus kriminalistischer Handlung, sozialpolitischer Beschreibung und Lokalkolorit prägt den Roman. Es ist der vierte des englischsprachigen Autors Matt Benyon Rees. Als ehemaliger Journalist, der jah- relang für die amerikanische Wochenzeitschrift «Time» die kriegerischen Zustände im Nahen Osten beschrieben hat, verbindet Matt Benyon Rees die Dringlichkeit des Berichterstatters mit der Gelassenheit des Krimischriftstellers. Rees pflegt eine einfache Sprache und versucht, die idiomatischen Rituale des gesprochenen Arabisch nachzuahmen. Er baut Spannung auf, hält den erzählerischen Rhythmus durch und endet mit einer unerwarteten Auflösung. Obwohl Rees New York zum Ort des Geschehens macht, konzentriert er sich wie schon in den vorigen Omar-JussufRomanen auf die innerpalästinensischen Verhältnisse. Er führt die Korruptheit der Politfunktionäre, die das Volk als Verhandlungsmasse betrachtet, vor und zeigt das Bestreben anständiger Leute wie Omar Jussuf, die ideologische Manipulation durch Kulturarbeit zu konterkarieren. Dabei schöpft Rees aus seinem Hintergrundwissen über die Machtkämpfe und die Zerrissenheit innerhalb der palästinensischen Behörden, und unter der Oberfläche der Krimihandlung zeichnet er ein Sozialgemälde Palästinas, das aufschlussreicher ist als viele Reportagen. ● Das platinum-Gewinnspiel. Mitmachen lohnt sich! www.platinumedition.de Nur der Kampf ums nackte Überleben zählt … <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMDI0MAYAbH0UIw8AAAA=</wm> <wm>10CFXMoQ4CQQxF0S_q5HU6r9tSSdZtVhB8DUHz_4osDnHdyT2O4sCv-34-90cpsKYAU2HF5JgbyzKHBwuunFC9IRaQ9PjzAk03WF9G4KJsbMIUWq9gq16HRgDQ8Xm9v4Ct7-iAAAAA</wm> Mit Die Arena legt Stephen King ein faszinierendes neues Monumentalwerk vor. Urplötzlich sind die Einwohner der neuenglischen Kleinstadt Chester’s Mill durch ein undurchdringliches Kraftfeld komplett von ihrer Umwelt abgeschnitten. Und auf einmal gilt kein herkömmliches Gesetz mehr … Erstmals im Taschenbuch! 1.296 Seiten € 21,90 CHF (empf. Vk-Preis) ISBN 978-3-453-43523-0 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Entwicklungsroman Die Amerikanerin Aimee Bender schreibt über ein hochbegabtes Kind Eine Neunjährige schmeckt in Keksen die geballte Wut des Bäckers Aimee Bender: Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen. Aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner und Martina Tichy. BerlinVerlag, Berlin 2011. 320 Seiten, Fr. 31.90. Von Simone von Büren Für die neunjährige Rose ist Zitronenkuchen nicht einfach Zitronenkuchen: Sie schmeckt hinter der Zitrone und der Schokoladenglasur «eine Abwesenheit», die sie instinktiv mit ihrer Mutter verbindet: «Der köstliche Geschmack der Zutaten schien nur die Deckschicht von etwas Grösserem, Dunklerem zu sein.» Die junge Ich-Erzählerin in Aimee Benders zweitem Roman «Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen» schmeckt bald in allem, was sie isst, die verdrängten Gefühle der Menschen, die die Zutaten oder Gerichte zubereitet haben, so als ob sie unfreiwillig in deren Tagebuch lesen würde. Ein Keks enthält die geballte Wut des Bäckers, ein Sandwich schreit in voller Lautstärke, die Milch ist «lustlos, erschöpft». Die Gefühle, die der Essenshellseherin mit jedem Bissen entgegenschlagen, sind so intensiv, dass sie vorerst nur mit industriell hergestelltem Fastfood überlebt. Die Leute in ihrem Umfeld sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das Problem wahrzunehmen. Die fragile, zerstreute Mutter kann sich auf nichts einlassen. Der Vater ist ein Workaholic, der für alles Listen macht, und der verschwiegene Bruder Joseph ignoriert Rose sowieso konsequent. Nur Josephs DDR Ansichten aus einem unbekannten Land Sehr begeistert scheint das Kind nicht zu sein. Paraden sind nicht lustig, wenn man in der ersten Reihe stehen und Fähnchen schwenken muss, nur weil die Partei es verordnet hat und die Eltern keinen Ärger wollen. Eine Delegation aus Nordvietnam ist auf Staatsbesuch in der DDR, da soll das Volk zeigen, wie sehr es die Brüder aus der grossen sozialistischen Weltgemeinschaft schätzt. Thomas Hoepker hat die Menschen auf der Karl-Marx-Allee beobachtet. Er zog 1974 mit seiner damaligen Frau Eva Windmöller in den Ostteil Berlins. Sie wurde als erste «Stern»Journalistin in der DDR akkreditiert. Gemeinsam berichtete das Paar ein paar Jahre lang über den unbekannten Alltag der Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Wir schauen in die Wohnungen damals bekannter Schriftsteller und 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 Künstler. Wir sehen Schaufenster, die ihren Mangel mit surrealen Inszenierungen verbrämen. Die vielen politischen Parolen können nicht verhindern, dass einem Honecker-Bild auf einer Müllhalde die Augen ausgestochen wurden. Und immer wieder scheint auch gesamtdeutsche Befindlichkeit auf: Der Kuchen mit Buttercrème-Füllung erzählt von der Magie kalorienhaltiger Nahrung nach den Hungerjahren von Weltkrieg und Nachkriegszeit. Er hätte auch auf westdeutschen Wohnzimmertischen liegen können. Wer sich in Hoepkers Bilder vertieft, versteht die Menschen besser, die in der DDR gelebt haben. Gerhard Mack Thomas Hoepker: DDR Ansichten. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 254 Seiten, 201 Abbildungen, Fr. 47.90. einziger Freund George nimmt sich ihrer merkwürdigen Begabung an. Aimee Bender, die die Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersen als prägende Einflüsse auf ihr Schreiben nennt, ist bekannt für die magischen und surrealen Elemente in ihren Texten. In ihren Erzählungen – auf Deutsch liegt ihr Band «Das Mädchen, das Feuer fing» vor – durchlebt zum Beispiel ein Mann die Evolution rückwärts und wird am Ende als Einzeller im Meer ausgesetzt, ein Junge wird mit schlüsselförmigen Fingern geboren, und ein grosser Mann kauft einen kleinen Mann als Haustier. Die 42jährige Autorin verankert die magischen Elemente in ihren Texten meist in entschieden realistischen Alltagswelten – wie hier in einer ruhigen Wohngegend in Los Angeles. Und oft veräussern die ungewöhnlichen Fähigkeiten und Körper ihrer Figuren deren psychische Zustände. Roses Gabe wird zur Metapher für ihre Hypersensibilität, die Bender zu Beginn des Romans humorvoll und feinfühlig erforscht. Denn Rose nimmt in ihrem Leben viel mehr Information auf, als sie zu verarbeiten vermag – vor allem als sie über «eine Ladung von Verliebtheit und Schuldbewusstsein» im Roastbeef von der Affäre ihrer Mutter erfährt und im Sandwich ihres Bruders dessen wahre Verfassung erahnt: «etwas von Leere, von Klumpigkeit, von In-sich-Zusammenfallen». Da hätte es viel zu vertiefen gegeben. Doch Rose entwickelt sich in den rund dreizehn Jahren ihres Lebens, die das vierteilige Buch umfasst, nur begrenzt. Bender lässt sie zwar in der Tradition des Coming-of-Age-Romans mit ihrer Gabe immer besser umgehen. Aber als ob sie zu wenig Vertrauen hätte in diese Protagonistin und ihr Dilemma, macht sie ein Familienmitglied ums andere ebenfalls zum Sonderbegabten: Roses Grossvater kann Gefühle anderer Menschen riechen, eine noch unerforschte Gabe ihres Vaters äussert sich in dessen Abneigung gegenüber Krankenhäusern, während Joseph der Welt auf mysteriöse Weise abhanden zu kommen beginnt. Bender, die in Los Angeles Creative Writing unterrichtet, scheint nicht entscheiden zu können, wo ihr Fokus liegt. Möglichkeiten hätte es – neben einer Vertiefung von Roses Entwicklung – viele gegeben: Allen voran die Beziehung zwischen Rose und Joseph, der ihr erst in seinem Verschwinden nahe kommt. Oder die Frage nach dem Punkt, an dem Sensibilität von einer besonderen Gabe zu einer unerträglichen Belastung wird und man mit Objekten besser zurechtkommt als mit Menschen. Aber im Unterschied zu ihrer Protagonistin stösst Bender nicht auf das «Grössere, Dunklere» unter Zitronengeschmack und Schokoladenglasur vor. ● Erzählungen Die deutsche Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt überrascht mit einem breiten Repertoire an Themen und sprachlicher Virtuosität Jetzt geht’s erst recht los Kathrin Schmidt: Finito. Schwamm drüber. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 238 Seiten, Fr. 27.50. «Finito. Schwamm drüber» steht auf dem Buchdeckel, doch nach diesem gebieterischen Ausruf geht es erst richtig los. 31 Geschichten versammelt der Band, das ist nicht wenig. Aber Kathrin Schmidt kennt man als opulente Erzählerin mit einem grossen Repertoire. Bereits der Roman «Die Gunnar-Lennefsen-Expedition», mit dem sie 1998 als Prosaautorin debütierte, war ein wuchtiges und sprachlüsternes Epos, in dem sie viele erzählerische Register zog. Richtig bekannt geworden ist die Autorin indes ausgerechnet mit einem autobiographisch geprägten Roman, der den Verlust und die «Rückeroberung» der Sprache zum Gegenstand hat: Nach einer Hirnblutung ist der Schriftstellerin Helene Wesendahl die Sprache (und mehr) abhanden gekommen, und von der allmählichen Rückkehr zur Normalität erzählt der Roman «Du stirbst nicht». Im Jahre 2009 erhielt Kathrin Schmidt dafür den Deutschen Buchpreis. Kurz danach überraschte sie, die als Lyrikerin angefangen hat, mit dem Gedichtband «Blinde Bienen», der von der Kritik in hohen Tönen gepriesen wurde. Stress, Liebe, Leben So verwundert bei den 31 Geschichten von «Finito» nicht, wie breit Schmidts Repertoire an Themen und Erzählmöglichkeiten ausfällt. Bereits die erste Geschichte, «Learnin’ the Blues», führt in die Welt einer Frau, die sich ständig am Rande ihrer physischen Möglichkeiten zu bewegen scheint. Nach einem anstrengenden Tag – der Geburtstagskuchen für den Ehemann ist bereit, die Kinder sind im Bett, ebenso die pflegebedürftige Mutter – geht sie nochmals aus dem Haus, heimlich. Sie will tanzen. Bereits in der Strassenbahn begegnet sie einem jungen Mann, der das gleiche Buch in Händen hält wie sie, also gehen sie gemeinsam tanzen. Es folgt kurze Liebe im Hauseingang. Der Ehemann geht anderntags früh mitsamt Kuchen ins Büro, und als am Morgen die Mutter nicht auftaucht, stellt sich heraus: Sie ist in eben dieser Nacht gestorben. Herzversagen. Eine unglaubliche Ereignisdichte innerhalb von wenigen Stunden, und alles ist durcheinander geraten. Die Ich-Erzählerin ist nun umständehalber gebremst in ihrem Tatendrang, die Kinder auch: Dort, wo die Verstorbene gewöhnlich sass, sitzt niemand mehr, dennoch scheint sie immer noch anwesend. Und zugleich ist abzusehen, dass bald alles ERIC MARTIN / LE FIGARO / LAIF Von Martin Zingg Während die Tochter tanzen geht, stirbt die pflegebedürftige Mutter. Kathrin Schmidts Erzählungen sind ereignisdicht. wieder weitergehen wird, der Stress, die Liebe, das Leben. In den Geschichten lässt sich einige Male verfolgen, wie jemand mit grosser Energie aufbricht, irgendetwas erreichen will und zugleich vor dem eigenen Vorsatz zurückschreckt. Auch der Mann in «Heisser Brei» weiss lange nicht so recht, was er eigentlich will. Bloss, dass nun mal was passieren sollte. Er wird bald vierzig, er könnte doch einige Menschen einladen in die Pizzeria gegenüber. Diese markiert seinen Horizont, und vor allem beschäftigt ihn die junge Bedienung, die dort arbeitet, die er sehr genau beobachtet, der er sich jedoch nicht zu nähern wagt. Lust an Sprachspielen Als in seinem Treppenhaus plötzlich eine Katze auftaucht, wird der Mann vorübergehend in seine Vergangenheit zurückgeworfen. Er taucht in Erinnerungen ab, in diffuse Bilder, die er nicht einordnen kann, die aber mehr Leben signalisieren, als er in der Gegenwart zu kennen scheint. Und jetzt erst, so sieht es aus, nachdem er wie die Katze um den heissen Brei gestrichen ist, kann er sich der jungen Frau nähern. Sie hat auf ihn gewartet, stellt sich heraus, es war bloss unklar, wann er sie zu sich nach Hause nehmen würde. Das nötige Gepäck hält sie längst bereit. Zugleich scheinen beide ein wenig überrumpelt von dem, was sie tun. Vornehmen kann man sich das alles nicht. Die Geschichte hat ihr Pendant in «Ein Tag, ein Knopf …», worin eine Frau endlich den Schritt wagt aus ihrem grauen Alltag und in einem Café der Kellnerin ziemlich energisch und mit einer überzeugenden Ausrede an die Wäsche geht. Der Kellnerin ist das durchaus recht, die beiden Frauen ziehen gemeinsam von dannen, beglückt. Für das Glück, heisst das, muss etwas riskiert werden, und am ehesten das, was man von sich selber nie gedacht hätte. Vom Glücksverlangen ist in diesen Geschichten viel die Rede. Die Verhältnisse sind mitunter düster, auf anstrengende Weise begrenzt und eingrenzend. Mühsame Kinder oder dann ebenso mühsame Kinderlosigkeit, quälende Arbeit oder quälende Arbeitslosigkeit. In «Der Kirschgott», einer sehr komplexen und berührenden Geschichte, geht es um einen Lehrer, den die «ungeordneten Zeitläufe» in der DDR einst in den Selbstmord getrieben haben; erst zwanzig Jahre danach wagen es die Menschen, darüber zu sprechen. Die Nachwehen der DDR – das Verschwinden des Landes und das Schweigen über die Vergangenheit – sind in einigen Erzählungen zu spüren. Sie stiften jedes Mal Beklemmung. Und mittendrin, von den Einschränkungen kaum zu bändigen, keimt ein grosses Liebesverlangen. Kathrin Schmidt verbindet dieses mit einer sichtbaren Lust an Sprachspielen. Das ist bisweilen riskant und öfter erheiternd, etwa wenn eine Frau ihren Mann buchstäblich «bestrickt» und mit Hilfe einer Strickmaschine in eine Ganzkörperwollsache einpackt, damit sie ihn mit beidseitigem Lustgewinn wieder auspacken kann. Die süss-saure Mischung der Geschichten wimmelt von Überraschungen. «Finito» ist man damit lange nicht, keine Rede von «Schwamm drüber». ● 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Debütroman Von der Pubertät bis zur Reife – die Geschichte einer Mädchenfreundschaft Das «erste Mal» erleben Silvia Avallone: Ein Sommer aus Stahl. Aus dem Italienischen von Michael Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 414 Seiten, Fr. 30.50. 13 Jahre: erste Küsse, heisse Tränen, totale Verwirrung. Im Kopf noch ein Kind, der Körper von Tag zu Tag erwachsener, und das viel zu rasch. Romane über diese Lebensphase an der Schwelle zum Erwachsensein füllen ganze Literaturgeschichten. Zu diesem Genre gehört auch «Ein Sommer aus Stahl». Und doch hebt sich das Buch in so vieler Hinsicht ab, dass man es an dieser Stelle zum überraschendsten und bewegendsten Buch des Frühjahrs erklärt. «Ein Sommer aus Stahl» erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die so intensiv und innig wohl nur zwischen Mädchen in diesem Alter sein kann. Es ist die Geschichte von Anna und Francesca. Die Freundinnen wohnen in Piombino, das von seiner niedergehenden metallurgischen Industrie lebt. Es ist auch die Geschichte zweier früh gealterter Mütter und ihrer gewalttätigen beziehungsweise kriminellen Väter. Ihre Strasse ist die Via Stalingrado, in der die Häuser sich wie «Grabnischen» aneinanderreihen. Am Strand, an den sich niemals Touristen verirren, mischen sich Rost und Abfall mit dem Sand, tonnenweise Algen liegen herum. Elba am Horizont ist das «unmögliche Paradies», einzig bestimmt für Mailänder und Deutsche. Der Hochofen-Turm des Stahlwerks Lucchini ist das omnipräsente Wahrzeichen. Dort arbeiten sich die Männer aus den Mietskasernen ein Leben lang den Rücken krumm, die älteren trösten sich mit Nacktbildern, mit denen sie die Wände zupflastern, die jüngeren dröhnen sich mit Kokain zu. Spriessende Brüstchen Die deutsche Übersetzung des Originaltitels «Acciaio», Stahl, ist insofern nicht ganz präzise, als die Geschichte zwei Sommer einschliesst, von 2001 bis 2002. Die in dieser Zeitspanne eingestürzten Zwillingstürme in New York sind ein metaphorischer Hallraum, eine transatlantische Spiegelung von Anna und Francesca, die sich so nahe stehen wie Zwillingsschwestern und deren Jugend zerstört wird. Denn so geht das in der Unterschicht Piombinos: Mit 13 führt man seine spriessenden Brüstchen und die knackigen Pobäckchen spazieren, um bei den jungen Männern Hormonschübe zu verursachen. Kaum ein Jahr später, und schon wird aus Spiel folgenschwerer Ernst. «Die Welt kommt mit vierzehn», steht da lakonisch. «Liebe in der dunklen Kabine. Ohne weiter nachzudenken, ohne Präservativ, und wer schwanger und geheiratet wurde, hatte gewonnen. ‹Bald ist es so weit›, flüstern 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 MASSIMO VITALI / GALLERY STOCK Von Regula Freuler Am Strand der Stadt Piombino, in der zwei Mädchen zu früh erwachsen werden, mischen sich Rost und Abfall mit dem Sand. Francesca und Anna sich zu.» Zu Hause üben sie die kurz bevorstehende Zukunft. Im offenen Badezimmerfenster legen sie vor den Augen der Nachbarn gegenüber einen Teenie-Striptanz hin. Alles würde seinen gewohnten Gang nehmen, Francesca und Anna würden ihr «erstes Mal» erleben, und im nächsten Sommer wäre auch schon der nächste Jahrgang dran. Doch Francesca birgt ein Geheimnis, das hier nicht verraten sein soll. Es führt zum Bruch zwischen den Freundinnen. Hierin spielt sich bereits eine Vorform jenes unvermeidbaren weiblichen Dilemmas ab, in welchem ihre Mütter resigniert haben. Die eine ist aktive Gewerkschafterin, die andere ein duckmäuserisches Landei. Und beide sind frustriert über ihre Ehe, doch keine kann sich entschliessen, ihren Mann zu verlassen. Was sind schon die Alternativen? Wie entkommen wir dem ewigen Kreislauf? Autorin als Chronistin Silvia Avallone, die 1984 im piemontesischen Biella geboren wurde und in Bologna Philosophie studiert hat, gelang mit ihrem Debüt letztes Jahr eine Sensation: über 300 000 verkaufte Exemplare in ihrer Heimat und damit ein Bestseller, der jetzt in viele Sprachen übersetzt wird. Avallones erstes Buch war ein Gedichtband, und auch in «Ein Sommer aus Stahl» spürt man die Dichterin: «Die Worte lieben sich nicht, sie verändern dich nicht. Die Worte richten die Dinge nicht.» Und einen Sommer später, als Anna mit ihrem «Verlobten» am Strand Karten spielt, lässt sie diese sinnieren: «Mitten im Leben stehen und es nicht wissen. [...] Das ist nichts, das du verlierst. Es ist etwas, das dich verliert.» Dass Avallone trotzdem die Kitschfalle souverän umgeht, liegt an ihrer Erzählhaltung: Sie versteht sich als Chronistin, zeichnet den Text ganz am Ende mit Name, Ort und Datum, «Silvia Avallone, Bologna, den 22. September 2009». An anderer Stelle: «Die Chronistenpflicht gebietet es auch zu erwähnen ...». Von diesem Beobachterposten aus erklärt sich der radikal analytische Blick auf die Figuren. So liefert Avallone bei der Charakterzeichnung keine Interpretationen, sondern beschreibt einfach nüchtern. Das irritiert anfangs, ist jedoch absolut schlüssig: In diesem Leben sind die Wege vorgezeichnet. Einen Funken Hoffnung lässt die Autorin uns dennoch. Und damit gelingt ihr, was bei einem Debüt selten gelingt: «Ein Sommer aus Stahl» erschüttert und begeistert bis zur letzten Zeile. ● Roman Wie ein arabischer Sozialarbeiter versucht, Jude zu werden Identität ist wie ein Organ Kurzkritiken Belletristik Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der zu viel wusste. Deutsch von Renate OrthGuttmann. Manesse, 2011. 350 S., Fr. 30.90. Jonathan Lethem: Chronic City. Roman. Deutsch von M. Zöllner, J. Ch. Maass. Tropen, Stuttgart 2011. 491 Seiten, Fr. 37.90. Der Brite Gilbert Keith Chesterton (1874Ω1936) war nicht nur der Schöpfer des scheinbar gemütlichen, dabei hellwachen Ermittlers Pater Brown. In seinem verzweigten Werk finden sich auch acht Krimigeschichten um Detektiv Horne Fisher, die 1922 erstmals in Buchform erschienen. Ihr Titel, «Der Mann, der zu viel wusste», hat nichts mit Hitchcocks gleichnamigem Film zu tun. Fisher ist ein analytischer Kopf, der seine Verbindungen zur Upperclass zu nutzen weiss. Zusammen mit dem Journalisten Harold March löst er spektakuläre Fälle – sei es auf dem Jagdausflug des Finanzministers, beim Maskenball oder in einer orientalischen Oase. Dabei stellt er die Staatsraison über seinen Gerechtigkeitssinn: Das Empire darf nicht gefährdet werden. Einmal mehr zeigt sich Gilbert Keith Chesterton als glänzender Stilist. Vorzügliches Nachwort von Elmar Schenkel. Manfred Papst Jonathan Lethem (geb. 1964) gehört mit Jonathan Franzen (geb. 1959) und David Foster Wallace (1962–2008) zu jener mittleren Generation von amerikanischen Autoren, die sich ihr Renommee durch intelligente, ja intellektuelle und doch unterhaltsame Romane erschrieben haben. Diese Eigenschaften prägen sowohl «Motherless Brooklyn», mit dem Lethem 1999 der Durchbruch gelang, wie sein neues Buch «Chronic City». Schauplatz des Geschehens ist die Upper East Side von Manhatten, wo der ehemalige Kinderfilmstar Chase Insteadman und der gescheiterte Kulturkritiker Perkus Tooth aufeinandertreffen. Eine seltsame Männerfreundschaft entsteht. Wie von Jonathan Lethem gewohnt, gibt es auch in «Chronic City» wieder popkulturelle Ausflüge, und es wird reichlich surreal. Eine amüsante Sommerlektüre für etwas anspruchsvollere Leser. Regula Freuler Sunil Mann: Lichterfest. Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2011. 315 Seiten, Fr. 15.90. Konstantin Richter: Kafka war jung und brauchte das Geld. Kein & Aber, Zürich 2011. 176 Seiten, Fr. 21.90. Vijay Kumar ist eine Art Philipp Marlowe mit Migrationshintergrund. Am liebsten flösst er sich indischen Whiskey ein. Frauen-Beziehungen, die über Bettaktivitäten hinausgehen, meidet er. Der Freundeskreis des Privatdetektivs besteht aus einem Journalisten und einer Transe, sein Wirkungskreis ist Zürichs Kreis Cheib. Kumars zweiter Fall führt ihn aber auch in mehrbessere Gegenden: In kurzer Abfolge trifft er auf einen brutal verprügelten Teenager, einen Medienmogul und einen kurz vor den Wahlen aufgespiessten Rechtspopulisten. Die drei scheinen auf mysteriöse Weise verbunden. Der 39-jährige Sunil Mann, im Berner Oberland als Sohn indischer Einwanderer aufgewachsen, erzählt mit coolem Witz und in flottem Tempo. Für sein Début «Fangschuss» erhielt er den Zürcher Krimipreis 2010. Liebe Jury: Bitte «Lichterfest» auf die Shortlist 2011 setzen. Regula Freuler Auf den ersten Blick nimmt sich diese «rasante Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte» aus wie ein weiterer flapsig geschriebener Crash-Kurs für Leute, die an Literatur, Kunst und Musik eigentlich nicht interessiert sind und dennoch am Partygespräch teilnehmen wollen. Auf den zweiten Blick ist das Buch des 1971 in Berlin geborenen Journalisten Konstantin Richter, der 2007 den Roman «Bettermann» vorlegte, aber mehr als ein Schmunzel-Kurs in Halbbildung: Richter flicht seine Erläuterungen zu Renaissance und Klassik, Moderne und Postmoderne geschickt in einen heiteren Roman ein, der nach dem Prinzip von Italo Calvinos «Wenn ein Reisender in einer Winternacht» funktioniert und dem Leser also seine eigene Geschichte erzählt: hier diejenige eines Finanzmenschen, der aus amourösen Gründen zum bedeutenden Verleger avanciert. Federleicht und pfiffig. Manfred Papst Sayed Kashua: Zweite Person Singular. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin-Verlag, Berlin 2011. 395 Seiten, Fr. 33.50. DAWIN MECKEL / OSTKREUZ Von Susanne Schanda Sayed Kashua bringt den arabischen Blick in die hebräische Literatur. Als israelischer Araber gehört er äusserlich dazu. Die Checkpoints liegen in seiner Seele. Das Ringen um Identität ist das dominierende Thema des 1975 in einem palästinensischen Dorf bei Jerusalem geborenen Sayed Kashua – seit seinem ersten Roman «Tanzende Araber» im Jahr 2002. Inzwischen schreibt er regelmässig für die liberale Zeitung Ha’aretz und ist Autor der erfolgreichen israelischen Sitcom «Avoda Aravit» (Arabische Arbeit). In seinem jüngsten Roman «Zweite Person Singular» erzählt er in parallelen Handlungssträngen von zwei Männern, die ihre Vergangenheit im palästinensischen Dorf hinter sich gelassen haben. Doch bei sich angekommen sind sie noch lange nicht. «Ich erinnere mich, wie ich beim ersten Mal zitterte, als ich mich als Jude ausgab», denkt der junge Sozialarbeiter Amir, und immer wieder: «Ich will so sein wie sie.» Als Amir zum Pfleger des gleichaltrigen gelähmten Jonathan wird, phantasiert er sich immer stärker in eine zweite jüdische Identität hinein. Er benutzt die Kamera, dann einzelne Kleidungsstücke und schliesslich die Identitätskarte Jonathans. Dabei fühlt er sich als Dieb und Betrüger. Ausgerechnet die Mutter des sterbenden Jonathan versteht seinen Konflikt: «Das ist wie eine Organspende. Die Identität ist wie ein Organ, und dieses Organ ist bei dir beschädigt. Gib zu, ein Araber zu sein, ist nicht das höchste menschliche Ziel.» Fast gelingt es Amir, nach Jonathans Tod dessen Identität anzunehmen. Doch holt ihn am Ende die Realität in der Person eines arabischen Rechtsanwalts ein, der glaubt, dass der junge Sozialarbeiter der heimliche Geliebte seiner Frau sei. Fast schicksalhaft laufen hier zwei Geschichten zusammen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Während die Figur des Rechtsanwalts – der im Roman namenlos bleibt – mit seiner obsessiven Eifersucht etwas holzschnittartig erscheint, geht die Zerrissenheit von Amir unter die Haut. Die Qualität dieses Romans besteht darin, dass er den ausgeleierten Politjargon des arabisch-israelischen Konflikts vermeidet und sich ideologiefrei auf die seelischen Nöte von arabischen Israelis einlässt. Das trifft. ● 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Franziska Biermann: Der magnetische Bob. Nilpferd in Residenz, St. Pölten 2011. 64 Seiten, Fr. 23.90 (ab 7 Jahren). Chat Drei Jugendliche planen den Suizid Franz Hohler, Kathrin Schärer: Es war einmal ein Igel. Kinderverse. Hanser, München 2011. 59 S., Fr. 19.90 (ab 5 Jahren). Weiterleben oder nicht? Tobias Elsässer: Für niemand. Sauerländer, Mannheim 2011. 165 Seiten, Fr. 21.90 (ab 14 Jahren). Bob jault, sabbert, schläft und pieselt den ganzen Tag. Kein Wunder, dass Etnas anfängliche Freude über den neuen Bruder schnell verpufft. Mit dem Knirps ist nichts anzufangen. Als er bald schon durchs Haus jappelt und Etnas Spielsachen kaputt beisst, steht sie kurz vor dem Explodieren. Doch da ändert sich die Lage: Etna findet heraus, dass Büroklammern, Spielzeugautos und andere Gegenstände aus Metall an Bob klebenbleiben. Er ist magnetisch geworden! Jetzt geht sie sogar freiwillig mit ihrem Bruder nach draussen, wo der einem Bankräuber in die Quere kommt. Bob wird als Held gefeiert und das Magnetismusrätsel wird gelüftet. Mit Witz erzählt die Autorin von der Geschwisterliebe mit Startschwierigkeiten, und ihre Hundefiguren machen das Buch attraktiv für Leseanfänger. Verena Hoenig Wie bei so manchen Kinderbüchern geht es einem auch bei Franz Hohlers neuem Bändchen: Während die Kleinen ernst lauschen mögen, lacht man als Erwachsener über die Begegnungen zwischen Wurm und Turm, Alp-Kalb und Wurst-mit-Senf in Genf, Wal und Schal. Zwei bis fünf Strophen kurz sind die Verse. Manche sind einfach herzig unschuldig, andere wiederum melancholisch. Wieder andere dadaistisch-kurios, so dass man sich, kaum hat man sie gelesen, fragt: Wie war das noch? «Es war einmal ein Bonner / Der liebte Blitz und Donner / Und wenn’s am Himmel krachte / Dann tanzte er und lachte / Und war nicht mehr zu halten. / Ein Blitz hat ihn gespalten. / Er ist nach Haus gehoppelt / Und seither tanzt er doppelt.» Kathrin Schärers Farbstiftzeichnungen sind in jedem Fall augenzwinkernd. Regula Freuler Per Olov Enquist: Grossvater und die Schmuggler. Hanser, München 2011. 160 Seiten, Fr. 19.90 (ab 10 Jahren). Tania Kjeldset: Juli. Aus dem Norwegischen. Oetinger, Hamburg 2011. 217 Seiten, Fr. 24.90 (ab 12 Jahren). Ein verdächtiges Zelt, weisses Pulver und ein anonymer Anruf! Nach «Grossvater und die Wölfe» erlebt der tüddelige Grossvater – wie Enquist sich selber darstellt – mit seinen Enkelkindern erneut gefährliche Abenteuer. Der Roman enthält skurril-witzige Szenen, spart aber auch ernste Fragen nicht aus; etwa wenn es um das Einschläfern von Tieren geht. Überhaupt spielen Tiere eine wichtige Rolle: Hund Pelle wird zum Lebensretter, während Wolf und Bär jeweils im richtigen Moment am richtigen Ort sind. Nicht zuletzt aber sind die Kinder selbständige Persönlichkeiten, die den belehrenden Grossvater gern mal in die Schranken verweisen. Obwohl sie selbst vor Kalaschnikows nicht zurückschrecken, bleiben sie Kinder und werden nicht zu Superhelden stilisiert. Andrea Lüthi Die 15jährige Elin verbringt den Sommer bei ihrer Grossmutter auf einer norwegischen Insel. Wie immer trifft sie ihre Freundin Sara, die sie wegen ihres tollen Aussehens beneidet, die jetzt aber erstmals auch nervt. In diesem Sommer erlebt Elin ihre erste Liebe; mit Kato, der die Ferien in einem alten Wohnwagen verbringt. Doch manchmal ist Kato distanziert. Er versucht seine Mutter zu verbergen, die oft betrunken ist. Abwechselnd wird aus Sicht von Kato und Elin berichtet, dabei fliessen viele Pubertätsthemen ein. Aber obwohl «Juli» leichte Sommerlektüre ist, driftet der Roman nicht ins Belanglose ab. Das liegt vor allem an Katos glaubwürdigem Wandel: Er lernt, seine eigenen Pläne nicht länger wegen seiner Mutter aufzugeben. Andrea Lüthi 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 Von Christine Knödler Es gibt in der aktuellen Jugendliteratur einen Trend des gegenseitigen SichÜberbietens. Ob aus Effekthascherei, Sensationslust, zur Auflagensteigerung oder doch um aufzuklären, das sei dahingestellt. Inhaltlich wie formal geht es jedenfalls immer extremer zur Sache, nur wenige Themen scheinen einer gewissen Sorgfaltspflicht zu unterliegen. Selbstmord, eine der häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen, gehört noch dazu. Das zeigt der neue Roman von Tobias Elsässer. Der Autor, der sich bereits mit seinen Vorgängertiteln an strittige Themen gewagt hat und 2010 für «Abspringen» mit dem Kranichsteiner Literaturstipendium ausgezeichnet worden ist, hat über Suizid geschrieben: «Für niemand» mutet und traut uns etwas zu. Drei Jugendliche planen ihren Selbstmord. Im Netz verständigen sie sich über das Wann, Wie und Wo, und verhandeln ein Warum. Computerfreak Yoshua liest im Chat mit, er könnte – so der erste Satz – Held werden, weil er Leben retten könnte. Kann das wer? Zwölf Kapitel fordern mit Fragen wie Wer wird Millionär?, Wen liebst du?, Wofür hasst du dich?, Wonach suchst du? eine Debatte über das, was vermeintlich zählt. In knappen Passagen wie Shortcuts bringen die Figuren aus stets wechselnder Perspektive Träume, Enttäuschung, Kränkung, Gewalt, Schuld, Gleichgültigkeit, Angst ins bitterernste Spiel. Sie stellen Lebensentwürfe zur Disposition, suchen Freiheit, stossen an Grenzen. Und auch wenn manche Erfahrungen Stereotype gesellschaftlicher Realität sind, überzeugt die Radikalität, mit der die Protagonisten Konsequenzen ziehen. Zwei werden sich umbringen, zwei entscheiden sich fürs Weiterleben. Weil sie sich und einander gefunden haben? Das ist eine der vielen Fragen, die offen bleiben. Des weiteren lässt sich fragen, warum als Scheitern gilt, was als Herausforderung zu verstehen wäre, oder wie menschenverachtend Leistungsgesellschaft sein muss, dass der Freitod, der so frei nicht ist, Alternative wird. Dass er sich jeder Wertung enthält, ist einer der Verdienste des Autors. Antworten auf Suizid, so eine der raren Antworten dieses mutigen und wichtigen Romans, gibt es nicht. Weiterdenken muss und kann jeder selbst. ● Kurzkritiken Terrorismus Lebensläufe von zwei Dschihad-Kämpfern Gotteskrieger Karin Feuerstein, Karin Schneider: Da hielt die Welt den Atem an. Ravensburger, Ravensburg 2011. 192 S., Fr. 24.90 (ab 12 J.). Ingo und Silke Arndt: 1, 2, 3 – ganz viele! Warum Tiere sich versammeln. Knesebeck, München 2011. 78 S., Fr. 25.90 (ab 6 Jahren). Zwar steht bei Bin Laden kein Todesdatum, und Obama ist hier nur der, der das Gefängnis auf Guantánamo noch nicht geschlossen hat. Aber das reich illustrierte Lesebuch über dreizehn politische Ereignisse seit 1945 bietet ideale Einführungen für Jugendliche. Die Autorinnen verdichten und arbeiten Spezifisches heraus. Wer etwa verstehen will, was die Eltern bosnischer Schulkollegen in die Schweiz trieb, findet ein Kapitel über den «Jugoslawienkrieg»: als Einstieg eine Momentaufnahme aus Sarajevo 1994, Angaben zu Tito, Karadzic und Milosevic, Fakten zu den ethnischen Säuberungen und ein Porträt der Frauenärztin Monika Hauser, die sich für Vergewaltigungsopfer einsetzte. Zehn gut dosierte Seiten, die mit dem Vertrag von Dayton schliessen, aber auch ungeklärte Fragen benennen. Hans ten Doornkaat Wolken aus Bergfinken verdunkeln den Himmel, Heerscharen von Krabben färben Klippen rot: Die opulenten Fotos von Ingo Arndt sind die Hauptattraktion dieses Bandes. Von faszinierend bis bizarr entwickeln sie eine eigene Ästhetik und sensibilisieren für ein Phänomen, das so bislang noch nicht dargestellt worden ist. Daraus ergeben sich spannende Fragen, die Silke Arndt kindgerecht beantwortet und mit rekordverdächtigen Zahlen spickt: Wie viele Kilometer legen die Monarchfalter zu ihrem Winterquartier zurück (bis zu 4000!), aus wie vielen Kaptölpeln Eltern ihr Junges an der Stimme erkennen (aus 25 000). Die Fakten imponieren genauso wie die übrigen Informationen zu Brutpflege, Futterbeschaffung und anderen Verhaltensweisen. Da bleibt nur, von den Schwärmen zu schwärmen! Christine Knödler Robert Griesbeck, Nils Fliegner: Trickchemie. Schräge Experimente. Boje, Köln 2011. 118 Seiten, Fr. 15.90 (ab 10 Jahren). Jürgen Brater: Warum haben wir Sand in den Augen? Beltz & Gelberg, Weinheim 2011. 256 Seiten, Fr. 27.90 (ab 12 Jahren). Wenn man einen aufgeschnittenen Apfel liegen lässt, wird er braun und verrottet langsam. Wälzt man ihn dagegen in Backpulver, trocknet er zwar, hält aber ewig. Backpulver besteht aus Natron, das den Apfel sozusagen mumifiziert. Das ist Chemie. Drei Schweinejungen haben dieses Fach neu in der Schule und können nichts damit anfangen. Da gibt ihnen Tante Rosa Nachhilfe in der Küche! Statt mit Schwefel und Salpeter experimentieren sie mit Salz, Eiern und Essig. Wie beim Kochen und Backen gehe es in der Chemie nämlich darum, «Sachen zusammenzurühren, damit am Ende andere wieder rauskommen». Die drei Schweinejungen staunen, als Tante Rosa zeigt, wie man aus Milch einen Gummiball herstellt. Verena Hoenig Leonie wacht auf, weil die Sonne ins Zimmer scheint. 24 Stunden später wird ihr Zwillingsbruder Daniel von einer Erektion aus dem Schlaf geholt. Dazwischen: Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, Sport, Abendessen, TV, Zubettgehen. Das klingt nicht gerade mitreissend – und zieht einen doch in Bann, denn die äussere Handlung dient dem Autor nur als Vorwand, um selbst die abwegigsten Regungen des menschlichen Körpers zu erklären. Als Mediziner beantwortet Jürgen Brater Fragen, die sich insgeheim wohl viele stellen, aus Scham und mangels Expertise jedoch selten weiter verfolgen: Warum knattern Fürze? Ist Küssen gesund? Warum finden wir ausgespuckten Speichel eklig? Wissenschaftlich auf neuestem Stand und ohne Tabu. Dieses Körperbuch fällt aus der Reihe. Sabine Sütterlin Martin Schäuble: Black Box Dschihad. Daniel und Sa’ed auf ihrem Weg ins Paradies. Hanser, München 2011. 224 Seiten, Fr. 22.90 (ab 12 Jahren). Was lässt hoffnungsvolle junge Menschen zu fanatischen «Gotteskriegern» werden? Wenn es nach der Lektüre dieses Buches eine Antwort darauf gibt, dann die: Kein Fall ist wie der andere. Der Politologe Martin Schäuble schildert die Lebensläufe zweier DschihadKämpfer, die bis auf das Geburtsjahr 1985 kaum etwas gemeinsam haben. Der Deutsche Daniel ist wohlbehütet aufgewachsen. Er hatte ein eigenes Zimmer und einen Raum voller Spielsachen. 2007 nahm ihn die deutsche Polizei fest, als er Autobomben baute. Sa’ed aus Nablus im Westjordanland hingegen teilte sich den Schlafraum mit seinen Eltern und acht Geschwistern, und brach die Schule ab, um Geld zu verdienen. Als Siebzehnjähriger jagte er sich in Ostjerusalem mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft und riss dabei sieben weitere Menschen in den Tod. Schäuble hat sowohl im Saarland als auch in den Palästinensergebieten sorgfältig recherchiert. Er hat mit Eltern, Verwandten und anderen Wegbegleitern gesprochen, soweit sie dazu bereit waren, hat Videos, Fotos und andere Quellen ausgewertet, um den Tathergang zu erhellen: Daniel suchte seit der Scheidung seiner Eltern, die er als Elfjähriger miterlebte, in wechselnden Systemen Orientierung, von Hip-Hop-Kultur bis Islam. Sa’ed hingegen spielte schon als kleiner Junge mit Holzgewehren «Israeli gegen Palästinenser»; ein Freund von ihm wurde, nachdem ihn israelische Soldaten unter mysteriösen Umständen erschossen hatten, zum «heldenhaften Märtyrer». Gemeinsam ist Daniel und Sa’ed, dass sie jeweils von einem wortgewandten Verführer als Gotteskrieger angeworben wurden. Das Buch wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Warum wählen meist Männer diesen radikalen Weg? Welche Werte vermittelt die Wohlstandsgesellschaft jungen Menschen? Der Autor verbietet sich platte Urteile. So sachlich der Ton, so spannend liest sich seine aufklärerische Reportage. Gelegentliche stilistische Ausrutscher und Druckfehler hätten noch korrigiert werden können. ● NIELS FLIEGNER Von Sabine Sütterlin 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Am 2. Juli jährt sich Ernest Hemingways Tod zum 50. Mal. Lange galt der Nobelpreisträger als exemplarischer Autor des 20. Jahrhunderts. Derzeit wird er als Macho jedoch eher kritisch betrachtet. Der Schweizer Autor Peter Stamm liebt ihn trotzdem. Interview: Manfred Papst «Hemingway war genial sorgfältig» Bücher am Sonntag: Herr Stamm, wann sind Sie dem Werk Hemingways erstmals begegnet? Peter Stamm: Ich bin als sehr junger Mensch vor bald dreissig Jahren zum leidenschaftlichen Hemingway-Leser geworden. Es fing damit an, dass unser Englischlehrer in der Berufsschule mit uns die Kurzgeschichte «Indian Camp» las. Damals, mit 17 Jahren, verschlang ich von den Autoren, die ich neu entdeckte, alles, was ich finden konnte. Von Hemingway aus kam ich auf die ganze literarische Szene im Paris der zwanziger Jahre. Auf Joyce, Pound, Fitzgerald, den Zirkel um die Buchhandlung «Shakespeare & Company» von Sylvia Beach. Um Gertrude Stein habe ich allerdings einen Bogen gemacht. Versuchten Sie sich damals auch schon selbst als Schriftsteller? Und haben Sie Hemingway dabei nachgeeifert? In der Tat: Ich schrieb meine ersten Geschichten als Schüler. Und zweifellos hat Hemingway mich dabei beeinflusst. Jedenfalls behaupte ich das selber immer. Es erstaunt mich ein bisschen, dass Rezensenten diese Verbindung kaum je bemerken oder erwähnen. Vielleicht kennen die Hemingway einfach nicht mehr. Wenn sie von Einflüssen auf mich sprechen, nennen sie eher Carver. Der ist aber meiner Meinung nach selbst ein Hemingway-Schüler. Ihn habe ich übrigens erst viel später gelesen. Welche Werke haben Sie besonders fasziniert? GABY GERSTER Peter Stamm Peter Stamm hat in seiner Jugend alles von Hemingway gelesen. Er lebt als Schriftsteller in Winterthur. Zuletzt erschienen von ihm bei S. Fischer der Roman «Sieben Jahre» (2009) und der Erzählungsband «Seerücken» (2011). 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 Mir ging es immer um die Short Stories. In diesem Genre ist Hemingway ein Meister. Eine meiner frühen Erzählungen nimmt direkt Bezug auf ihn. Sogar der Held heisst Nick! Der Text erschien unter dem Titel «Feuer» vor über zwanzig Jahren im «Beobachter». Es war auch so eine Geschichte um Kinder im Wald. Statt in Chicago spielte sie halt im Thurgau. Was fiel Ihnen an Hemingway als Erstes auf? Die ungeheure Lebendigkeit. Wenn man ihn liest, vergisst man augenblicklich, dass man nur dasitzt mit einem Buch in der Hand. Man bewegt sich in einer anderen Welt. Auch wo Hemingway scheinbar bloss kleine Szenen beschreibt, einen Ausflug, das Entfachen eines Feuers, eine zufällige Begegnung zwischen Fremden, wirkt er unglaublich intensiv. Sie haben Ihre frühen Leseerfahrungen erwähnt. Wie sieht es heute aus? Ich muss Hemingway nicht mehr lesen, aber er ist immer noch da. Punktuell komme ich auf ihn zurück. Ich habe manche seiner Texte in Schreibseminarien verwendet und dabei gemerkt, wie gut sie gebaut sind. Sie sind keineswegs einfach in den Tag hinein erzählt! Hemingway ist ein Genie der Intuition, aber auch genial sorgfältig. Weshalb gilt er heute weitherum als passé? Das hat wesentlich mit ausserliterarischen Kriterien zu tun. Er gilt als Macho, als Frauenheld, als Raufbold und Kampftrinker. Dass er sich für Stierkämpfe und Boxen begeisterte, dass er auf Hochseefischfang und Grosswildjagd ging, macht ihn heute verdächtig. Aber diese Einwände darf man nicht allzu ernst nehmen. Eine gewagte Position! Können Sie präzisieren? Zum einen treffen die Vorwürfe nicht den ganzen Menschen. Hemingway war auch ein sensibler Intellektueller. Einer, der viel las, in Museen ging, sorgsam recherchierte. Zum andern war sein Auftritt als grosser starker Mann auch eine Inszenierung. Man muss hinter die Maske sehen. Und man muss differenzieren zwischen dem Autor und seinen Figuren. Wie meinen Sie das? Hemingways Helden sind ja gerade keine Machos. Sie sind oft impotent, feige, ratlos, schwächlich. Manche Facetten ihres Verhaltens kann man dabei aus der Herkunft ihres Schöpfers erklären. Hemingways Mutter verhätschelte ihren Sohn und zog ihm Mädchenkleider an, sein Vater brachte sich um. Ein weites Feld für Psychologen, das mich aber nicht interessiert. War Hemingway ein Selbstdarsteller? Es ist schwer zu sagen, was bei ihm Inszenierung war und was echt. Auch an der Pose muss ihm etwas gelegen haben. Er hat ein bestimmtes Bild von sich in die Welt gesetzt. Er hat sich geschildert als einen ungeheuer lebenshungrigen Mann, der liebt und sich prügelt, jagt und fischt, der sich nie schont und im Zweiten Welt- «Wenn man Hemingway liest, vergisst man, dass man nur dasitzt mit einem Buch in der Hand. Man bewegt sich in einer anderen Welt.» krieg in Paris das «Ritz» von den Deutschen zurückerobert. Er konnte ein Prahlhans sein. Doch wenn man seine Erzählungen liest, entdeckt man auch einen anderen Hemingway: einen sensiblen, verletzlichen Menschen. Was kann ein skeptischer, lakonischer Autor wie Sie heute von Hemingway lernen? Vor allem eines: Genauigkeit. Im literarischen Schreiben ist freilich nicht alles vermittelbar. Es gibt keine Ausbildung zum Genie. Aber manches lässt sich doch von Hemingway lernen: der schnelle, exakte Blick. Der untrügliche Umgang mit Nebenfiguren und Details. Die raschen Dialoge, die so natürlich wirken, obwohl sie im höchsten Masse künstlich sind. Die Ökonomie der Sprache. Die Einfachheit. In seinem Werk war Hemingway kein Blender. Wie steht es um seine Erfindungskraft? Hemingways Kreativität ist seine Neugier. Er findet Geschichten an Orten, wo sie sonst niemand entdeckt. Jemand fährt Ski und trinkt ein Bier. Eine Frau im Hotel sehnt sich nach einer Katze. Zwei Kellner unterhalten sich. Das genügt ihm. Hemingways Geschichten leben von ganz kleinen Begebenheiten. Die besten von ihnen sind bis heute unerreicht. ROBERT CAPA / INTERNATIONAL CENTER OF PHOTOGRAPHY / MAGNUM Auf der Jagd im Sun Valley, Idaho, 1940: Ernest Hemingway hält einen Hasen hoch, den er gerade erlegt hat. 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Interview natürlich auch, dass sein Erfolg nachliess. Er wollte und konnte nicht mehr. JOHN BRYSON / SYGMA / CORBIS Denken Sie, dass seine grosse Zeit vorüber ist? Nein. Die Rezeption von Riesen wie ihm bewegt sich seit jeher in Wellen. Denken Sie an Tschechow. Der war ja wohl doch eines von Hemingways Vorbildern. Auch wenn es keine konkreten Hinweise darauf gibt, dass er ihn gelesen hat. Vielleicht hat er auch die Spuren verwischt. Seine Belesenheit ist nicht zu unterschätzen. Vergnügte Tage: Ernest Hemingway mit seiner vierten Frau, Mary Welsh, im Jahr 1959. Hemingways Romane scheinen Sie weniger zu mögen. Sie sind in der Tat viel schwächer als die Erzählungen. Aber auch in ihnen gibt es immer wieder wunderbare Passagen. Das Problem ist, dass die Konstruktion oft nicht trägt. Hemingway beugte sich wohl wie so viele andere dem Gesetz, dass man Romane schreiben muss, um ernst genommen zu werden. Dabei war er in seinen Kurzgeschichten viel besser als in «Wem die Stunde schlägt» oder «In einem anderen Land». «Der alte Mann und das Meer» ist eher eine Novelle als ein Roman. Die Geschichte wurde als Buch und Film ein Welterfolg – aber sie ist von einem Pathos geprägt, das Hemingways früheren Werken eher fremd ist. Hemingway wurde in jüngerer Zeit vor allem von weiblicher Seite als Macho kritisiert, der sich für alles begeisterte, das grausam und unnötig war. Man soll Autoren grundsätzlich nicht moralisch beurteilen. Klar, es ist schön, wenn ein Genie auch ein netter Mensch ist. Aber letztlich hat das mit den Büchern nichts zu tun. Man macht es sich auch zu einfach, wenn man Hemingway als frauenfeindlich abstempelt. Er hat sich sehr differenziert über das Verhältnis der Geschlechter geäussert. Wer ihn aufmerksam liest, stellt fest, dass bei ihm die Frauen oft souveräner agieren als die Männer. Zum Mythos Hemingway gehört auch sein Selbstmord vor nunmehr fünfzig Jahren. Hat er Sie beschäftigt, vielleicht gar fasziniert? Nicht im geringsten. Ich habe nie mit dem Selbstmord geschäkert. Für mich ist Hemingways Suizid auch kein klassischer, programmatischer, als Botschaft an die Welt gedachter Bilanz-Selbstmord wie der von Cesare Pavese. Hemingway war schwer krank. Er hatte keine Energie mehr. Er war abgelebt. Und er merkte Ernest Hemingway Ernest Hemingway wurde am 21. 7. 1899 in Oak Park, Illinois, geboren und starb am 2. 7. 1961 in Ketchum, Idaho. Er war Reporter, Kriegberichterstatter, Erzähler, Abenteurer und Grosswildjäger. Von 1921 an lebte er einige Jahre als Korrespondent des «Toronto Star» in Paris. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit «Fiesta» (1927). Von 1939 bis 1960 lebte er in Havanna. Er war viermal verheiratet und hatte fünf Kinder. 1954 erhielt er für «Der alte Mann und das Meer» den Nobelpreis. Auf Deutsch sind seine Werke bei Rowohlt lieferbar; dort erscheint am 2. 7. eine erweiterte Neuübersetzung von «Paris, ein Fest fürs Leben» (320 S., Fr. 30.50). HANSRUEDI GEHRING TERMITEN AN BORD Aus dem Logbuch eines schiffsArztes KRIMINAlROMAN Was übernehmen Sie von Hemingway? Die Aufmerksamkeit, die Gespanntheit. Er ist viel gereist. Die Realität war sein Thema. Und auch sein Credo. Er hat vermutlich keinen Ort beschrieben, an dem er nicht einmal war. Wenn man die Wirklichkeit in der Sprache entstehen lassen will, dann muss man sie auch kennen. Hemingway arbeitet auch dort genau, wo es keiner merkt. Das ist für mich entscheidend. Und wo ist sein Platz in der modernen Literatur? Für die Kurzgeschichte war Hemingway wirklich ein Pionier. Lassen wir Avantgardisten wie Kleist einmal beiseite. Es gab ja auch dieses gemütliche Erzählen des 19. Jahrhunderts. Nichts dagegen! Aber mit diesem Stil hat Hemingway radikal gebrochen. Er hat den Mut, Geschichten scheinbar zufällig beginnen und enden zu lassen. Gleichwohl sind sie höchst strukturiert. Sein Stil liegt in einer Einfachheit, die dennoch eine Kunstsprache ist. Er arbeitet virtuos mit Wiederholungen. Weil er scheinbar so einfach schreibt, ist er auch so schwer zu übersetzen. Welchen Zugang empfehlen Sie Neulingen heute? Die Erzählungen. Und da kann man buchstäblich jede nehmen. Man kann sie immer wieder lesen. So wie man ein Musikstück oftmals hört. Welche praktischen Maximen haben Sie von Hemingway übernommen? Einige. Zum Beispiel die Beschränkung auf rund 600 Wörter pro Tag. Sodann das Streichen des jeweils ersten und letzten Satzes in einem Text. Man muss das nicht wirklich tun, aber man sollte erste und letzte Sätze genau prüfen. Und vor allem die frische Luft. Hemingways Bücher spielen fast immer draussen. Wie wirkt Hemingway in der Gegenwart fort? Er hat eine ganze Generation von Autorinnen und Autoren geprägt, in Amerika wie in Europa. Aber Verwandtschaft heisst nicht Nachahmung. Wenn ich von mir sprechen soll: Dürrenmatt war enorm wichtig für mich, aber ich schreibe gar nicht wie er. Da wirkt Hemingway vermutlich stärker in mir nach, vielleicht auch in Bereichen, die mir gar nicht bewusst sind. l Bernhard Falk beginnt im Hafen von Bombay eine eindrückliche Reise nach Sinn und Ziel seines Lebens. Er gerät in die Wirren rätselhafter Todesfälle, in denen er gleichzeitig ermittelt und zum Verdächtigen wird. Dabei ist die Liebesbeziehung zur Assistentin eines skurrilen Termitenforschers zunächst alles andere als hilfreich. Hansruedi Gehring erzählt in seinem neuen Buch eine Kriminalgeschichte mit unerwarteten Wendungen vor dem Hintergrund feiner, menschlicher und sympathischer Unzulänglichkeiten. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MbA0tgAAaBLoDw8AAAA=</wm> <wm>10CFWMuw7DMAwDv0gGZb2iagyyBRmC7F6Kzv3_qU63DAR5wIH7Xtbwz7od13YWA2rEipSlLK318OLsLcwLjuhgfjGLaITrwydwukDG7RCcEGMOYdIYiWXC_TBLptG-788PW8SJgYAAAAA=</wm> Hansruedi Gehring Termiten an Bord ISBN 978-3-905910-06-3 240 Seiten. CHF 38 Wolfbach Verlag Zürich w 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 „Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen. Einfach nur als Kriminalfall mit einem überraschenden Finale oder als Initiationsgeschichte eines Indienfahrers, der nach allen Ashrams und Gurus den Meister in sich selber findet.“ Erhard Taverna / Schweizerische Ärztezeitung Kolumne GAËTAN BALLY / KEYSTONE Charles Lewinskys Zitatenlese Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Gerron» erscheint Ende August bei Nagel & Kimche. Den Wert eines Menschen erkennt man zuverlässig daran, was er mit seiner Freizeit anfängt. Kurzkritiken Sachbuch Elisabeth Kaestli: Aisha, Mussa, Zawadi... Lebensgeschichten aus Tansania. Limmat, Zürich 2011. 206 Seiten, Fr. 34.50. Martin Sinzig: Louis Chevrolet. Der Mann, der dem Chevy seinen Namen gab. Huber, Frauenfeld 2011. 192 Seiten, Fr. 39.90. Die Bieler Journalistin Elisabeth Kaestli, die früher für Zeitungen und das Radio arbeitete, lebte von 2006 bis 2010 in Dodoma, der Hauptstadt von Tansania. Ihr Mann hatte im Rahmen eines Deza-Projekts eine Stelle in der Entwicklungshilfe gefunden. Das Büchlein porträtiert 13 Einheimische: von der 38jährigen Universitätsassistentin Zawadi, die an Dämonen glaubt, über die eingewanderte Chinesin Alan, die ein Restaurant führt, bis zum 77jährigen Ladenbesitzer Fatehally, der in der Bar seiner Tochter aushilft. Die Menschen erzählen von ihrer Herkunft, vom Alltag, von der Kunst, auch unter widrigen Umständen ein fröhliches Leben zu führen. Ein reich bebildertes farbiges Buch voller Zuversicht, mit viel lachenden (und ein paar ernsten) Menschen. Die Frage, warum das ostafrikanische Land trotz jahrzehntelanger westlicher Hilfe kaum vom Fleck kommt, wird leider nicht gestellt. Urs Rauber Der Chevrolet ist der Inbegriff des AmiSchlittens, ein Symbol für Freiheit und Wohlstand. Wenig bekannt ist, dass dieses die amerikanische Lebensart verkörpernde Automobil von einem Schweizer entwickelt worden ist: vom Jurassier Louis Chevrolet. Der Journalist Martin Sinzig hat eine reich bebilderte Biografie über den Erfinder geschrieben, der in Bonfol im Kanton Jura heimatberechtigt war. 1900 emigrierte dieser nach Amerika, wo er als Wagenkonstrukteur und tollkühner Rennfahrer Furore machte. Vor genau 100 Jahren legte er den Grundstein für die «Chevrolet Motor Car Company», die er aber schon bald wieder – zusammen mit seinem Namen – verkaufte. Louis liebte das Risiko, den Rausch der Geschwindigkeit und schöne Frauen. Sinzig hat mit seinem Buch nicht nur eine spannende Biografie, sondern auch ein Stück Automobil- und Auswanderergeschichte vorgelegt. Geneviève Lüscher Julia Onken: Rabentöchter. Warum ich meine Mutter trotzdem liebe. C. H. Beck, München 2011. 180 Seiten, Fr. 20.50. Hans Ruh: Ordnung von unten. Die Demokratie neu erfinden. Versus, Zürich 2011. 208 Seiten, Fr. 34.Ω. «So wie sie nie!» Die meisten Töchter wollen nur eines nicht: werden wie ihre Mutter. Weshalb ist das so? Julia Onken, die Psychologin kraftvoller Weiblichkeit, war selbst eine solche Tochter. Bei der eigenen Mutter beginnt sie denn auch ihre Erkundungen dieser Abgrenzung, hinter der sich ein Teufelskreis von Schuldgefühlen und verdrängten Emotionen verbirgt. Und stösst auf eine Lebensgeschichte der Kränkungen und der Scham, wie sie in vorhergehenden Generationen gang und gäbe war. Nur über die Biografie der Mutter, über das Verständnis für mütterliche Demütigungserfahrungen, können Töchter zu einer befreiten Beziehung zur Mutter finden und damit zu sich selbst. Onken neigt zu Verallgemeinerung, ihre feministische Opfersicht mag etwas gar einseitig anmuten. Doch ihr Buch regt ungemein an zum Nachdenken über Mütter und Töchter, eigene und fremde. Kathrin Meier-Rust Die Weltwirtschaft eilt von Krise zu Krise. Der Sozialethiker Hans Ruh hat sich auf die Suche nach den Ursachen für diese «Krisenlatenz» gemacht. Für ihn steht der Verlust an Werteorientierung im Vordergrund. Der Theologe skizziert eine neue «Ordnung von unten», die anstelle der heute dominanten «anarchischen Grundstruktur der Weltwirtschaft» treten könnte. Dafür aber müssten die Handlungsschwerpunkte zurück in die Hände einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft gelegt werden. Ruh zeigt mit einer Reihe von ausformulierten Ideen auf, wie sich das wirtschaftliche Verhalten der Akteure wieder an eine übergeordnete Werteordnung ankoppeln liesse. Die konkreten Handlungsanleitungen legen offen, wie jeder Einzelne von uns die Zukunft gestalten und damit die Grundlagen einer lebenswerten und überlebensfähigen Gesellschaft legen könnte. David Strohm Karl Heinrich Waggerl Ich kann nur hoffen, dass sich Karl Heinrich Waggerl irrt. Denn wenn ich mal viel Freizeit habe, wunderbar unverplante Stunden, wie sie jetzt der Sommerurlaub wieder verspricht, dann lese ich mit viel Vergnügen schlechte Bücher. Obwohl sie oft in einem Stil geschrieben sind, der jeden sprachbewussten Deutschlehrer in Tränen ausbrechen lässt. Ja, ich gestehe es: Wenn meine Agenda so richtig schön sommerlich leer ist, dann besorge ich mir schon mal ein paar von den Werken, die von anspruchsvollen Lesern der «Bücher am Sonntag» mit Verachtung gestraft werden. Geschrieben von Autoren, deren Namen ein anständiger Literaturkritiker noch nicht einmal buchstabieren kann. Romane, von denen sich die anderen Bände in meinem Regal mit Schaudern wenden würden. Bloss: Ich will sie ja gar nicht ins Regal stellen. Ich lese sie einmal, und damit hat es sich. Dann werden sie verschenkt oder – oh, welche Todsünde für jeden Bibliothekar! – einfach weggeschmissen. Es sind, um es so direkt zu formulieren, leserische One-NightStands. Wobei das Wort «Night» ganz wörtlich zu verstehen ist. Manchmal sind sie nämlich so spannend, dass ich die Nachttischlampe auch morgens um zwei oder drei noch nicht ausknipsen kann. Weil ich unbedingt wissen muss, ob der wagemutige Detektiv es schafft, lebendig aus der Falle zu entrinnen, in die ihn der dämonische Bösewicht gelockt hat. Auch wenn mir als geübtem Leser natürlich völlig klar ist, dass ihm diese Flucht gelingen wird. Erstens geht das Buch noch hundert Seiten weiter, und zweitens sterben die Helden solcher Romane überhaupt nicht. Wie sollte der Autor sonst eine Fortsetzung liefern können? Ja, ich gebe es zu und schäme mich nicht einmal dafür: In freien Stunden lese ich gern einmal Schund. Obwohl meine Frau den Kopf schüttelt, wenn sie die bunten Umschläge der Taschenbücher sieht. «Wie kannst du so etwas lesen?», fragt sie dann wohl. Weil auch ein Feinschmecker manchmal von der Lust auf fetttriefendes, ungesundes Junk Food gepackt wird. Das heisst nicht, dass man deshalb auf die liebevoll zubereiteten Meistermenus verzichtet. Im Gegenteil: Sie schmecken dann umso besser. Aber, wie Fritz Kortner es einmal so schön formulierte: Man wird sich ja auch mal unter seinem Niveau amüsieren dürfen. 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Rohstoffe Der britische Ökonom Paul Collier zeigt, wie die natürlichen Ressourcen zur Wohlstandsmehrung genutzt werden könnten – ohne die Umwelt zu schädigen Nachhaltig fördern Paul Collier: Der hungrige Planet. Wie wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern. Siedler, München 2011. 270 Seiten, Fr. 35.90. Von Katja Gentinetta Ideologische Grenzen zu überwinden, um die Welt von Armut zu befreien – nichts weniger als das ist der Antrieb von Paul Collier. Der britische Ökonom, der gleich zu Beginn sein ganzes Forscherteam vorstellt und im Verlauf der Kapitel immer wieder auf einzelne von ihnen zurückkommt, legt ein umfangreiches Werk vor, das den Raubbau an natürlichen Ressourcen nicht nur anprangert, sondern auch äusserst plausible Lösungswege aufzeigt. In Colliers Buch steht die Natur im Zentrum – ihre Ethik und unsere Missverständnisse, ihr Nutzen als Ressource und als Fabrik –, allerdings nicht aus biologischer Perspektive, sondern aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Warte. Abgehandelt werden der Abbau und die Nutzung von Öl und Kupfer, aber auch Lebensmittelpreise und der CO2-Ausstoss. Angetrieben wird das Buch von der Frage, wie es passieren konnte, dass der Rohstoffboom der Jahre von 2005 bis 2008 jene Länder, die davon profitiert haben, nicht reicher gemacht hat – und der Überzeugung, dass die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen dennoch die grösste Chance für die ärmsten Länder ist. Plausibel sind die Lösungsvorschläge deshalb, weil sich Collier weder von einer Ideologie noch von einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin leiten lässt. Ganz im Gegenteil: Das Buch geht mit allen hart ins Gericht: mit den «frömmelnden Romantikern» unter den Umweltschützern, die am liebsten zur «prätechnologischen, präkommerziellen und präindustriellen» bäuerlichen Lebensweise zurückkehrten, ebenso wie mit den marktgläubigen «Ignoranten», den skrupellosen «Komplizen bei der Plünderung unserer natürlichen Ressourcen»; mit den korrupten Politikern in den Entwicklungs- und Schwellenlän18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 dern ebenso wie mit den populistischen Eliten der Industrieländer. Collier ist überzeugt, dass nur eine Allianz von Umweltschützern und Ökonomen das Problem der Armut lösen kann. Und geht damit gleich zur Sache: Der Gegensatz zwischen Wirtschaftswachstum und Erhaltung der Natur ist falsch gewählt. Vielmehr geht es um die Frage, wie die Natur am besten genutzt werden kann, um den Wohlstand der Menschen nicht nur zu erhalten, sondern auch zu mehren. So ist denn auch der grosse Teil des Buchs dem Phänomen der «Plünderung» gewidmet – einem grausam klingenden Wort, aber letztlich einfachen ökonomischen Prinzip: der Tatsache nämlich, dass Eigentumsrechte übertreten werden. Plünderung untergräbt die produktive Nutzung von Rohstoffen. Chinesen in Afrika Akribisch zeichnet Collier nach, wie natürliche Rohstoffe, seien sie erneuerbar oder nicht, gefördert und genutzt oder eben auch einfach verbraucht werden können. An zahlreichen Beispielen aus den letzten Jahrzehnten legt er dar, was es braucht, damit Rohstoffe so gefördert werden, dass sie dem Land zugute kommen – und welche Fehler dabei begangen werden können, wenn das politische System nicht stimmt: Man denke etwa an das abgeholzte Haiti und die benachbarte Dominikanische Republik, die noch heute von den Wäldern zehren kann. Collier zeigt auch, dass weder staatliche Förderfirmen noch rein private Unternehmen allein ein Garant für nachhaltige Förderung sind und dass Rohstoffsuche und Förderprozesse auseinanderdividiert werden müssen. Die Besteuerung sollte sich nicht nach den Preisschwankungen richten, und die Erlöse sollten richtig investiert werden. In diesem Kontext stellt Collier selbst die Chinesen in Afrika, die Förderrechte gegen Infrastrukturbauten erworben haben, nicht einfach an den Pranger – sondern stellt lapidar fest, dass sich andere Länder daran ein Beispiel hätten nehmen können, womit Auktionen hät- ten durchgeführt werden können, mit noch besseren Resultaten für alle. Das Buch ist durchsetzt mit der äusserst plastischen Darstellung ökonomischer Gesetzmässigkeiten, die der Argumentation dienen, gleichzeitig aber den angenehmen Nebeneffekt haben, Begriffe, die einem immer wieder begegnen, besser zu verstehen. Ob er vom Trittbrettfahren, von Externalitäten oder dem zentralen Prinzip der Konkurrenz schreibt: immer ist Collier angenehm pädagogisch und selbstkritisch zugleich – indem er verständlich erläutert, aber immer auch die Grenzen seines Fachs aufzeigt und die angesprochenen Fragen in den Kontext politologischer und neuster naturwissenschaftlicher Erkenntnisse stellt. Collier und sein Team sind sich bewusst, dass Erkenntnisse das eine sind, deren Umsetzung das andere. Und sie MAURILIO CHELI / AP sind realistisch genug um zu wissen, dass eine solche Herkulesarbeit weder einfach an die betroffenen Nationalstaa ten delegiert noch auf internationale Kooperation vertraut werden kann. Das grosse Potenzial sieht Collier in der in ternationalen Vernetzung und zuneh menden Macht der Bürgerinnen und Bürger – einer globalen Zivilgesellschaft also, die sich die neuen Mittel der Kom munikationstechnologie zunutze macht. Ein Anwendungsbeispiel ist die Char ta für natürliche Ressourcen: ein Pro jekt, das innerhalb des Internationalen Währungsfonds (IWF) gescheitert war. Erst als er und sein Team in unabhän giger Position sich darum bemühten, waren die relevanten Akteure bereit, sich einzubringen und miteinander um den bestmöglichen Weg zu verhandeln. In einer solchen Charta – als Beispiel – sieht Collier den eigentlichen Hebel der Zukunft: Bürger müssen ihre Regierun gen kontrollieren können, und das wie derum setzt voraus, dass sie angemes sen informiert sind – und sich informie ren wollen. Die Natur gehört niemandem Ein Fokus des Buchs liegt auf der «Ethik der Natur», die sich daraus ergibt, dass diese keine natürlichen Eigentümer hat, weder geografisch noch generationell, und dass daher spezifische Entscheide zu treffen und Handlungen zu koordi nieren sind. Dennoch bleibt die Ethik in diesem Band wenig greifbar. Und selbst Collier räumt ein, dass eine Ethik ohne Wissen fatal sein kann. Wo immer die Ethik ein Schlüssel für eine bessere Zu kunft sein soll, besteht die Gefahr, dass es bei Appellen bleibt. Die ökonomi schen Argumente, die Collier auf den Eigentumsbegriff zurückführt und an Ausbeutung der Natur in Brasilien: Sojaernte 2009 in Campo Novo do Parecis, Mato Grosso. zahlreichen Beispielen illustriert, in denen politische Entscheide ebenso wie das Handeln engagierter Bürger eine entscheidende Rolle spielen, sind derart überzeugend, dass es des Begriffs der Ethik, die sich wie ein Guss über das Buch legt, eigentlich gar nicht bedürfte. Vielleicht aber – und das dürften Autor wie Verlag wissen – erhöht es die Bereit schaft, das Buch zu lesen. «Der hungrige Planet» erzählt, wie der Rohstoffreichtum richtig genutzt werden könnte. Das Buch, das letztlich eine mögliche Zukunft erzählt, ist wert voll für alle, die verstehen wollen, warum es einige Länder und Regionen geschafft haben, die Armut zu reduzie ren, und andere nicht. l Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte der Hochschule St. Gallen und Gesprächsleiterin «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen. 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Italien Ein Land mutiert zur Unterhaltungsdemokratie Paul Ginsborg: Italien retten. Wagenbach, Berlin 2011. 142 Seiten, Fr. 17.50. Birgit Schönau: Circus Italia. Aus dem Innern der Unterhaltungsdemokratie. Berlin Verlag, Berlin 2011. 224 Seiten, Fr. 28.90. Von Janika Gelinek Gegenwärtige Diskussionen über Italien kranken häufig daran, dass Berlusconi wie vom Himmel gefallen zu sein scheint: ein grosser Zampano, der mit Bauernschläue und Geschäftssinn, genussvollem Dolce vita und dem ganovenhaften Laissez-faire die Italiener wie verhext hat. Dass das Phänomen Berlusconi allein aber nicht die tiefe Krise erklärt, in dem sich die Demokratie des einstigen Bel Paese befindet, zeigen zwei Bücher, die das breite Spektrum andeuten, in dem mittlerweile über Italien verhandelt wird. Der in Florenz lehrende Historiker Paul Ginsborg nimmt das 150-Jahr-Jubiläum des 1861 gegründeten Nationalstaats Italien zum Anlass, Rückschau zu halten. In seinem Essay «Italien retten» zieht er Parallelen zur politisch bewegten Zeit zwischen 1815 und 1870 und der Gegenwart. Er erinnert an den einst wie heute empfundenen Niedergang des Landes, das damals noch kein Staat war, aber auch an die italienischen Tugenden der Sanftmütigkeit, Fähigkeit zur Selbstverwaltung und Offenheit gegenüber Europa, die den Individualinteressen der jetzigen Regierung zum Opfer gefallen zu sein scheinen. Bewusst polemisch stellt er die Frage, ob es sich angesichts des gegenwärtigen politischen und moralischen Verfalls überhaupt lohne, Italien zu retten. Damit bezieht er sich implizit auf die heftige inneritalienische Debatte, in der die Lega Nord immer lauter die Berechtigung des Nationalstaates in Zweifel zieht. Auch Ginsborgs Versuch, «die Stimmen des Risorgimento – als wären sie uns gegenwärtig – mit den unseren zu mischen» ist anspruchsvoll, weil die mannigfaltigen Zitate von Carlo Cattaneo bis Vincenzo Gioberti eine umfassende Kenntnis der historischen Protagonisten und ihrer Zeit voraussetzen. Sein Panorama umfasst auf nur 127 Seiten Reflexionen über den Unterschied von Nationalismus und Patriotismus, den Zusammenhang von «dolcezza» und Christentum, den Einfluss der Romantik auf das Risorgimento; am hellsichtigsten und schärfsten wird er, wenn er auf Basis dieser Überlegungen konkret die Grundübel der italienischen Gegenwart analysiert: die viel zu starke Kirche in einem schwachen Staat, der sich, als einziger in Europa, nie säkularisiert hat; der Klientelismus, die Wiederkehr der Diktatur als Regierungsform und die Ideenarmut der Linken. An diesen demokratischen Schwachstellen setzt auch Birgit Schönau an, langjährige Korrespondentin der «Zeit», die das einstige Sehnsuchtsland Arkadien konsequent als Berlusconien bezeichnet. In ihrem Buch «Circus Italia» beschreibt sie, wie aus dem geliebten Urlaubsziel der Prototyp der «Unterhaltungsdemokratie» geworden ist, die sich durchaus auch in anderen europäischen Staaten durchsetzen könnte. In zwölf Reportagen vom rassistischen Bürgermeister in Verona bis zum ANDREW MEDICHINI / AP Wie aus dem Bel Paese Berlusconien wurde Silvio Berlusconi, wie üblich umringt von Frauen, an einer Pressekonferenz in Rom, 13. Juni 2011. gigantischen Brückenprojekt in Messina erzählt Schönau von den Akteuren und Schauplätzen, die keinen Eingang in die Berichterstattung über Berlusconis Eskapaden erhalten. Und doch finden sich hier, wie im brillanten Kapitel über den Fernsehsender RAI und die Millionensendung «Porta a Porta», Erklärungen dafür, wie «Kirche und Parlament in der italienischen Postdemokratie durch einen Fernsehsalon ersetzt werden konnten», in dem täglich die Liturgie «ich quatsche, also bin ich» zelebriert wird. Wer Schönaus Reportagen in der «Zeit» verfolgt hat, wird wenig Neues finden, doch zeigt sie, wie eine Politik funktioniert, die den Unterhaltungswert über die öffentliche Sache stellt und deren einzige Ideologie die Durchsetzung von Eigeninteressen ist. ● Religion Der Schweizer Theologe, Forscher und Publizist Al Imfeld wagt eine Gesamtschau Gemeinschaft ist in Afrika wichtiger als Gott Al Imfeld: Afrika als Weltreligion. Zwischen Vereinnahmung und Idealisierung. Stämpfli, Bern 2011. 188 Seiten, Fr. 39.Ω. Von David Signer Al Imfeld ist eine schillernde Figur: Aufgewachsen als Bauernbub, in Immensee zum Priester geweiht, Student der Soziologie und Tropenagronomie in den USA, Missionar in Zimbabwe, Entwicklungsexperte, Journalist und Autor von rund fünfzig Büchern, vor allem über Afrika. Nun hat der 76-Jährige ein Buch publiziert, das als Quintessenz seines Forscherlebens gelten kann. Wenige Autoren versuchen, die vielfältigen Glaubensformen in Afrika als 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 Ganzes ins Auge zu nehmen. Imfeld wagt es, ja er schliesst auch noch die Mischreligionen wie Candomblé in Brasilien, Santeria in Kuba, Voodoo in Haiti, die «schwarzen» Pfingstkirchen in den USA und den «afrikanisierten» Islam mit ein. Gerade im Hybriden und im Verbinden erkennt er das Typische der afrikanischen Religion, die solcherart, mehr als Christentum und Islam, wirklich zur Weltreligion wurde und wird. Imfelds Buch ist wohltuend unakademisch, es lebt von seinen Erfahrungen und den immer wieder überraschenden Bezügen, die er zu Literatur, Kunst oder auch Landwirtschaft herstellt. Vieles, was für uns das Wesen der Religion ausmacht, fehlt in Afrika oder ist zweitrangig: Gottes- und Jenseitsglaube, heilige Bücher, Priester, Theologie, Ge- bet, Gotteshaus, absolute Wahrheit. Oft wurde den «heidnischen» Afrikanern deshalb Religion per se abgesprochen. Imfeld hingegen versteht es, das Spirituelle sichtbar zu machen: In der Musik, den Masken, der Trance, den Auffassungen über das Soziale, im traditionellen Verhältnis zu Natur und Fruchtbarkeit. Der afrikanische Glauben ist keine Metaphysik, ist nicht abgelöst vom alltäglichen Leben. «Es geht nicht um Gottheiten», sagt Imfeld, «sondern um Gemeinschaften.» Dabei blendet er die negativen Seiten dieses Kollektivismus nicht aus: Konformismus, Enge, Neid. Aber letztlich ist es die Suche nach Vitalität, Intensität und Werden, so typisch für afrikanische Religiosität, die es Imfeld angetan hat, und die ihn selbst als Wahlafrikaner ausweist. ● Biografie Der in Deutschland lehrende Philosoph José Sánchez de Murillo zeigt, wie die Schriftstellerin Luise Rinser ihre Erinnerungen romanhaft zurechtgebogen hat Kartengrüsse vom Führer Der Biograf weist nach, wie Rinsers Verhaftung im Oktober 1944 aufgrund einer Denunziation wegen Wehrkraftzersetzung und abträglicher Äusserungen über den Führer erfolgt war. Doch sei sie nach wenigen Monaten freigelassen worden. «Dass Adolf Hitler Luise Rinser persönlich kannte und schätzte, steht ausser Zweifel.» Der Führer hatte ihr jedenfalls Kartengrüsse zum Geburtstag geschickt. Dass Rinser in ihrer Autobiografie «die Legende von der zierlichen und zugleich starken Frau, die sich dem Drang der Männerwelt nach Macht, Krieg und Herrschaft mutig entgegenstellt», erzähle, sei eine Fälschung. José Sánchez de Murillo: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 464 Seiten, Fr. 30.20. Von Urs Rauber Luise Rinser (1911−2002) zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der deutschen Nachkriegsliteratur. Ihre Erzählungen und Romane wie «Die gläsernen Ringe», «Mirjam» oder «Abaelards Liebe» wurden in 20 Sprachen übersetzt und erreichten Millionenauflagen. Rinser galt als Integrationsfigur und moralische Instanz, war engagierte Friedensund Frauenbewegte und 1984 Kandidatin der Grünen für die Bundespräsidentenwahl. Zweifel am Bild der mutigen Frau, die wegen ihrer Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie 1944 verhaftet worden war, hatte sie empört von sich gewiesen – zuletzt in ihrer Autobiografie «Den Wolf umarmen» (1981). In Wirklichkeit war Luise Rinser, wie José Sánchez de Murillo in der soeben erschienenen Biografie schreibt, «opportunistisch der Faszination des ‹braunen› Ungeists erlegen.» Der 1943 geborene Professor für Philosophie an den Universitäten Augsburg und Granada hatte die Autorin 1995 kennengelernt und blieb ihr bis zu ihrem Tod im März 2002 freundschaftlich verbunden. «Über ihre Vergangenheit im Dritten Reich schwieg sie sich aber aus.» Mit grossem Einfühlungsvermögen und reichen Details schildert Murillo die Geschichte des aufgeweckten Mädchens aus katholischem Haus, seiner stürmischen Gefühlsverwirrungen und der jungen Lehrerin, die zur «engagierten Nazi-Pädagogin» wurde. Dabei stützt er sich neben Rinsers Werk auf unbeachtete Frühschriften, Zeitungsartikel, Briefe, die ihm Rinsers Sohn Christoph zur Verfügung gestellt hatte, und auf Gespräche mit ihrer Jugendfreundin. Einfühlsam und respektvoll Erlag dem Charme von Diktatoren: Luise Rinser, hier 1980 im trauten Gespräch mit Nordkoreas Diktator Kim Il-sung (rechts). Das Geheimnis von Luise Rinsers Erfolg liegt in ihrer Zerrissenheit. Ehebruch, Geburt eines unehelichen Sohnes, Konflikt zwischen Liebe zu Kindern und sexueller Abhängigkeit vom Liebhaber – all diese Themen aus dem Roman «Mitte des Lebens» (1950) entsprangen ihrem eigenen Leben. Die Katholikin hatte während ihrer drei Ehen zahlreiche Affären, verliebte sich in prominente Persönlichkeiten wie Ernst Jünger, Herman Hesse, Carl Orff. Sie hungerte nach Anerkennung; die Kraft der Sehnsucht war Antrieb ihres Lebens. Viele Leserinnen und Leser sind fasziniert von der Echtheit der geschilderten Gefühle. Besonders angezogen fühlte sich die Rastlose vom Benediktinerabt Johannes M. Hoeck, den sie in ihren Büchern «M.A.» (Mein Abt) nennt – er reizte sie als Mann und als literarisches Material. Eine feurige Liebe ohne Sexualität ver- band sie auch mit dem Jesuiten Karl Rahner. Mit ihm und Hoeck pflegte sie ein «klerikales Liebesdreieck». Während des 2. Vatikanischen Konzils waren alle drei in Rom: Rahner als theologischer Berater, Hoeck als Abtprimas der süddeutschen Benediktiner und Rinser als Reporterin für Zeitungen. Sie genoss das erotische Verlangen der beiden Kirchenmänner, die voneinander wussten und unter der Eifersucht ebenso litten wie unter der erzwungenen Askese. Rahner und Rinser schrieben sich im Laufe ihrer Freundschaft über 2000 Briefe, Karten und Telegramme. Rahners Briefe sind noch unter Verschluss. Politische Zweifel weckte Jahre später schliesslich Luise Rinsers Reise nach Nordkorea, wo sie 1980 von Kim Il-sung empfangen wurde. Mit ihrem warmherzigen Porträt über den Diktator und seinen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» bewies sie ein weiteres Mal, wie leicht sie sich von politischen Führern und deren Ideologien zum Opfer machen liess. Als Murillo die 84-Jährige bat, an seinem Buch über «Das Weibliche» mitzuarbeiten, befreundeten sich die beiden. Sie telefonierten sich täglich, er besuchte sie regelmässig bis zu ihrem Tod in München. Dieses letzte Kapitel ist besonders anrührend, weil es zeigt, wie sich Rinser allmählich von der Welt zurückzog, über die dunklen Punkte ihres Lebens weiter schwieg und sich aufs Sterben vorbereitete. Die einfühlsame, respektvolle Biografie wird dem widersprüchlichen Wesen von Luise Rinser in eindrücklicher Weise gerecht. ● Luise Rinser war laut Murillo eine «Hitler-Verehrerin», ihre Distanzierung vom Nazi-Staat erfolgte erst kurz vor Kriegsende. So hat sie etwa ihren jüdischen Schulleiter bei der Obrigkeit denunziert, der danach entlassen wurde und gebrochenen Herzens starb. Rinsers Erstlingswerk «Die gläsernen Ringe», mit dem sie 1941 den literarischen Durchbruch erzielte, könne durchaus auch als «Blut-und-Boden-Literatur» gelesen werden. Dennoch bleibt Murillo in seiner über 400 Seiten langen Abhandlung stets fair, differenziert und abwägend. Seine Biografie enthält sich jeder Polemik; spürbar bleibt im Gegenteil sein Respekt vor dieser Schriftstellerin, die auch Weltliteratur geschrieben habe. Die Frage sei nur, ob sie nicht Vergangenes vom gegenwärtigen Standpunkt aus umdeute. ARCHIV S. FISCHER VERLAG Verehrung für Hitler 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Nationalsozialismus Warum wurde Adolf Eichmann erst 15 Jahre nach dem Krieg verhaftet? Aufgrund neuer Quellen ergänzt Bettina Stangneth Lücken in Eichmanns Biografie «Mich reut gar nichts, ich krieche nicht zu Kreuze!» der 6 Millionen» widerlegen und den Nationalsozialismus von der Judenvernichtung reinwaschen zu können. Eichmann, über dessen Identität alle Bescheid wussten, spielte eine zwiespältige Rolle: Mit seinen Kenntnissen war er konkurrenzlos, doch machte er mit dem Stolz auf seine «Arbeit» den anderen einen Strich durch die Rechnung. In die Rolle des vermeintlich harmlosen Bürokraten schlüpfte Eichmann erst in Jerusalem – dort bezeichnete er die SassenProtokolle als «Wirtshausgespräche» unter Alkoholeinfluss. Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Arche, Zürich 2011. 655 Seiten, Fr. 53.90. Von Sieglinde Geisel Sassen-Protokolle von 1957 In ihren Recherchen hat die Autorin sich die beträchtliche Mühe gemacht, die auf drei Archive verteilten «Argentinien-Papiere» gründlich zu sichten und auszuwerten, ebenso die über 1000 Seiten umfassenden Sassen-Protokolle und die erhaltenen Tonbänder. In Argentinien, wo Eichmann 1950 unter dem Decknamen Ricardo Klement untergetaucht war, litt er unter der erzwungenen Anonymität, und entsprechend gross war sein Bedürfnis, über sich und seine Taten Auskunft zu erteilen. Er tat es in einem hochfahrenden Deutsch, voll von Klischees und verunglückten Metaphern, dessen Duktus bereits verrät, dass hier kein kleines Rädchen spricht, sondern ein Herrenmensch und leidenschaftlicher Antisemit, der unbeirrbar 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 Deutschland lässt ihn laufen AP Die Person Adolf Eichmanns ist bis heute mit Hannah Arendts Wendung von der «Banalität des Bösen» verknüpft. In Jerusalem stilisierte er sich als Angeklagter zur Ikone des klassischen Schreibtischtäters, «ein kleines Rädchen im Vernichtungsgetriebe Adolf Hitlers», der die Ermordung von Millionen organisierte, ohne dafür verantwortlich zu sein. Wenn das System schuld ist, hat der Einzelne sich nichts vorzuwerfen – ein Erklärungsmuster, das im Nachkriegsdeutschland, wo sich die NS-Eliten ungehindert neu etablieren konnten, höchst willkommen war. Dieses Bild ist seit einigen Jahren als Mythos entlarvt: Eichmann hat nicht nur Befehle umgesetzt, sondern die Judenvernichtung mit grösstem Einsatz und Erfindergeist vorangetrieben. Mit ihrer akribischen Quellenstudie führt die Philosophin Bettina Stangneth eine Forschungsarbeit weiter, die mit Irmtrud Wojaks Essay «Eichmanns Memoiren» (2001) und der Eichmann-Biografie von David Cesarani (2004) begonnen hat. Mit dem Titel «Eichmann vor Jerusalem» spielt Stangneth dabei auf Hannah Arendts berühmten Prozessbericht an, dessen Kernthese sie widerlegt. Die Auseinandersetzung mit Arendt erfolgt allerdings nur am Rand, denn die Kernfrage geht in eine andere Richtung: Wie konnte ein NS-Verbrecher vom Range eines Eichmann nach Kriegsende fünfzehn Jahre unbehelligt bleiben? an seiner Ideologie festhält. «Mich reut gar nichts! Ich krieche in keinster Weise zu Kreuze!», sagt Eichmann in einer Art Schlussrede bei den Sassen-Gesprächen. Vorzuwerfen habe er sich einzig, dass nicht alle 10,3 Millionen Juden getötet worden seien: «Unsere Aufgabe für unser Blut und unser Volk (…) hätten wir erfüllt, hätten wir den schlauesten Geist der heute lebenden menschlichen Geister vernichtet.» Anschaulich beschreibt Stangneth das Milieu, in dem solche Worte fielen, denn bei den Gesprächen, die der niederländische SS-Mann und Journalist Willem Sassen ab 1957 in Argentinien aufzeichnete und protokollierte, handelt es sich nicht um Interviews, sondern um Diskussionen in einem grösseren Kreis geflüchteter Nazis. Man las und analysierte alles, was über die Endlösung geschrieben wurde – in der grotesken Hoffnung, «die Lüge Stolz auf seine «Arbeit»: Adolf Eichmann auf dem Zenit seiner Macht (undatierte Foto, ca. 1942/43). Wichtiger noch als die Rekonstruktion von Eichmanns Argentinien-Zeit sind die Einzelheiten, die Bettina Stangneth über die Umstände von Eichmanns verzögerter Verhaftung darlegt. Bereits 1952 wussten die deutschen Behörden, dass Eichmann alias Ricardo Klement in Argentinien lebte und mit dem NS-Verleger Eberhard Fritsche verkehrte; seine Frau und seine Kinder waren gar unter dem Namen Eichmann in der deutschen Botschaft in Buenos Aires gemeldet. Ein Haftbefehl erging erst 1956, ohne allerdings dass eine Verhaftung tatsächlich angestrebt wurde: Die InterpolFahndung, um die der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gebeten hatte, wurde vom Bundeskriminalamt abgelehnt. Bauer hatte allen Grund, sich mit seinen Informationen über Eichmanns Aufenthaltsort nicht an die deutschen Behörden zu wenden, sondern an Israel. Während der Mossad die Entführung vorbereitete, streute Bauer zur Ablenkung das Gerücht, Eichmann befinde sich im Nahen Osten. Die Vorgänge in Deutschland sind noch lange nicht aufgeklärt: Die Eichmann-Akten des BND und des Verfassungsschutzes sind zu einem grossen Teil bis heute noch unter Verschluss. Bettina Stangneths Recherchen sind geprägt von einer scharfsinnigen Skepsis und einer beispielhaften Quellenkritik – doch gerade weil ihr Buch das Zeug zu einem Grundlagenwerk hat, ist es bedauerlich, dass der Text offenbar kaum lektoriert wurde. Abgesehen von einigen stilistischen Schwächen stört der moralische Ton – dass Eichmanns Verlogenheit «unfassbar», dass seine Reden «elend» und «Nazi-Getöse» überhaupt «widerwärtig» ist, muss uns niemand sagen. Bisweilen verliert man im Wust der (oft entlegenen) Quellen den Überblick über die verwickelten Geschehnisse. Doch diese Schwächen betreffen nur die Wirkung des Texts, nicht seine beeindruckende Substanz. ● Psychiatrie Der Historiker Gregor Spuhler beschreibt das unglückliche Leben eines jüdischen Flüchtlings in der Schweiz Einfühlsame Stimme für das Opfer Gregor Spuhler: Gerettet – Zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung. Chronos, Zürich 2011. 200 Seiten, Fr. 34.–. Von Urs Bitterli Es ist keine schöne Geschichte, die uns der Historiker Gregor Spuhler erzählt. Sie handelt von Rolf Merzbacher, einem jungen Mann deutsch-jüdischer Abstammung, dem es gelang, den Zweiten Weltkrieg in der Schweiz zu überleben. Die Eltern, ein angesehener Landarzt und seine Frau, wurden im Oktober 1940 ins Auffanglager Gurs im äussersten Südwesten Frankreichs deportiert und dann quer durch Europa ins Konzentrationslager Lublin-Majdanek geschafft, wo sie 1943 umgebracht wurden. Rolf Merzbacher verstarb 1983 im Alter von sechzig Jahren in der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Masans bei Chur. Was Spuhler vorlegt, ist keine Biografie im üblichen Sinne. Zwar ermöglichen die Selbstzeugnisse und die Aussagen von Zeitgenossen ein einigermassen plastisches Bild der Kindheit und Jugend; im Jahre 1944 aber tritt Rolf Merzbacher in die psychiatrische Klinik Münsterlingen ein, und er erscheint in der Folge nicht mehr als Subjekt, sondern als ein «Fall», mit dem sich der Vormund, die Ärzte, die Beamten und Institutionen zu befassen haben. Nachdem die Eltern 1937 für seine Übersiedlung in die Schweiz gesorgt hatten, besuchte Rolf die Schule in Kreuzlingen und schloss mit guten Noten ab. Dann arbeitete er in der Landwirtschaft und zeitweise auch in einem Tessiner Flüchtlingslager, erwies sich aber für harte körperliche Arbeit als ungeeignet. Psychische Probleme machten sich bemerkbar und erforderten die Einweisung in die Klinik Münsterlingen. Man diagnostizierte einen «schizophrenen Persönlichkeitszerfall» und hoffte vergeblich, durch Elektroschocks Besserung herbeizuführen. Spuhler befasst sich mit den Krankenakten des Patienten, und es gelingt ihm eine medizingeschichtlich interessante Darstellung des Krankheitsverlaufs und der Beurteilung der Krankheit durch die Ärzte. Den Schlussteil seiner Arbeit widmet der Autor den komplizierten Fragen der deutschen Wiedergutmachungszahlungen nach Kriegsende, sowohl was die Rückerstattung der Vermögenswerte der Familie, als auch, was die Kosten der medizinischen Betreuung Merzbachers anbetraf. Dabei stellte sich im Besonderen die Frage, ob dessen Leiden auf eine erbliche Belastung oder aber auf das Trauma der Verfolgung und der Trennung von den Eltern zurückzuführen war. Die entsprechenden Abklärungen waren umständlich und konnten erst gegen Ende der sechziger Jahre abgeschlossen werden – zu diesem Zeitpunkt hatten sich ungezählte Mitläufer des Hitler-Regimes in der Nachkriegsgesellschaft längst komfortabel eingerichtet. Gregor Spuhler hat die verstreuten Quellen zum traurigen Leben Rolf Merzbachers sorgfältig gesammelt. Er interpretiert mit nüchterner Zurückhaltung, hütet sich vor vorschnellem Urteil ebenso wie vor empathischer Überzeichnung. Zusammenfassend ergibt sich, dass man dem Flüchtling in der Schweiz im Allgemeinen freundlich und hilfsbereit begegnete, ohne ihm wirklich helfen zu können. Dass der Kanton Thurgau Merzbacher sechs Jahre nach Kriegsen- de, als die Fakten der Judenverfolgung im Wesentlichen bekannt waren, in den Kanton Graubünden abschob, trübt dieses Bild. Rolf Merzbacher war kein Akteur der Geschichte, sondern ihr Opfer. Er gehört zu einer riesigen Schar von Leidensgenossen, die verstummt sind und deren Lebensspur sich verloren hat. Solchen Opfern seine Stimme zu leihen, kann auch eine wichtige Aufgabe für den Historiker sein. Spuhler hat diese Aufgabe auf überzeugende Art gemeistert. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Assisi Er sprach mit den Fischen und Vögeln Der Heilige Franz von Assisi gilt heute als Patron des Umweltschutzes – sprach er doch mit den Tieren und achtete die Natur. So erzählt es jedenfalls die Legende. Franz starb 1226. Zwei Jahre später wurde in Assisi mit dem Bau seiner Grabeskirche begonnen. Sie besteht aus einer Unter- und einer Oberkirche, die beide reich mit Fresken ausgemalt wurden. Bekannt sind vor allem die Franziskus-Bilder von Giotto (im Bild die Vogelpredigt des Franzikusmeisters in der Unterkirche). Auch andere Maler haben sich hier ein Denkmal gesetzt. In Assisi steht ein Gesamt- kunstwerk, und so wird es von Gianfranco Malafarina auch vorgestellt. Nicht nur die Fresken, auch die Ausstattung der Kirchen ist Thema. Es sind aber doch die Wandbilder, die bezaubern. Die hervorragenden Fotografien wurden noch vor der Zerstörung durch das grosse Erdbeben 1997 aufgenommen, zeigen also eine bereits vergangene Welt. Geneviève Lüscher Gianfranco Malafarina (Hrsg.), Fotografien von Elio und Stefano Ciol und Ghigo Roli: Die Kirche San Francesco in Assisi. Hirmer, München 2011. 324 Seiten, über 300 Farbfotografien, Fr. 61.60. 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie Der Lebensweg des Schweizer Ingenieurs Hans Rudolf Herren vom Insektenforscher zum Weltagrarpolitiker Herbert Cerutti: Wie Hans Rudolf Herren 20 Millionen Menschen rettete. Die ökologische Erfolgsstory eines Schweizers. Orell Füssli, Zürich 2011. 150 Seiten, Fr. 39.–. Von Markus M. Haefliger Wenn es um biologische Schädlingsbekämpfung geht, gibt die Natur Stoff für Detektivgeschichten. So stellt der Zürcher Wissenschaftsjournalist Herbert Cerutti, ein ehemaliger NZZ-Wissenschaftsredaktor, die Saga der afrikanischen Maniokschädlingsbekämpfung ins Zentrum seiner lesenswerten Biografie über den Insektenforscher Hans Rudolf Herren. In knappen Exkursen greift er über den Lebenslauf Herrens, der im Wallis aufgewachsen war und an der ETH studiert hatte, aus. So erfährt der Leser die Geschichte der «grünen Revolution» der 1960er-Jahre, in der es Agrarforschern gelang, für viele Nutzpflanzen Hochleistungssorten zu züchten. Ähnliche Abschweifungen führen ein in das labile Gleichgewicht von Schädlingen und Nützlingen und die Kulturgeschichte von Nutzpflanzen oder die Problematik des Pestizids DDT. Als Leser wünschte man sich gerne mehr solcher Exkurse, beispielsweise über den Zusammenhang der Zunahme von Schädlingen mit der Entwicklung der Luftfahrt oder den mangelhaften phytohygienischen Kontrollen afrikani- CHRISTIAN GOUPI / PRISMA Vom Überlisten der Natur Maniok-Markt in Benin, Westafrika, einem der Arbeitsgebiete des Agrarforschers Hans Rudolf Herren. scher Staaten. Oder darüber, wie archaische Besitzverhältnisse den agrarischen Fortschritt in Schwarzafrika hemmen. Mit der chronologisch angelegten Biografie bleiben dem Verfasser allerdings wenig Freiräume, weil sein Thema, Herrens Werdegang, immer komplexere Tätigkeiten umfasste. Nach dem Weggang vom International Institute of Tropical Agriculture (IITA) in Cotonou (Benin) widmet sich Herren dem Neuaufbau des International Centre of Insect Physiology and Ecology in Nairobi, das der Natur angepasste Verfahren der Schädlings- und Malariabekämpfung und der Honig- und Seidengewinnung entwickelt. Nach der Auszeichnung mit dem Welternährungspreis 1995 gründet er die Stiftung Biovision; später geht er ans Millenium Institut in Arlington und ist einer der Initiatoren des 2008 veröffentlichten Weltagrarberichts. Aus dem Insektenforscher ist ein Entwicklungshelfer und Weltagrarpolitiker geworden. Wenn Ceruttis Buch mit der Dauer an Spannung nachlässt, dann auch darum, weil er sich fast nur auf Herrens eigene Ausführungen stützt. Man mag der Biografie den etwas pathetischen Titel (und den sprachlich unkorrekten Untertitel) verzeihen, weniger jedoch, dass sie zeit- weise einer langen Gesprächszusammenfassung oder gar einer Gefälligkeitspublikation gleicht. Das ist schade, denn es legt den Verdacht nahe, dass der Autor befangen sein könnte. Das äussert sich nicht nur in einigen biederen Passagen, in denen der Autor den Porträtierten mit dessen Vornamen nennt, sondern auch in ärgerlichen Einseitigkeiten. Herren ist beispielsweise ein Gegner der Gentechnologie. Gerade an seiner ehemaligen Wirkungsstätte, dem IITA im nigerianischen Ibadan, wurde letztes Jahr jedoch ein gentechnisches Verfahren gegen eine sich verheerend ausbreitende Bakterienwelke bei afrikanischen Kochbananen gefunden. Forscher des IITA sind überzeugt, dass Gentechnologie zwar kein Allheilmittel für die Ernährungsprobleme Afrikas darstellt, dass auf ihre Vorzüge aber nicht grundsätzlich verzichtet werden sollte. Die Mängel schmälern Ceruttis Verdienst, Hans Rudolf Herren einem breiteren Publikum bekannt zu machen, nur geringfügig. Gemessen an seinem Einfluss auf brennende Ernährungsfragen, ist Herren zweifellos einer der bedeutendsten Schweizer Zeitgenossen. Warum das so ist, das weiss der Leser nach der Lektüre. ● Unterwasserkunde Der Zoologe Bernd Brunner erzählt die Kulturgeschichte des Aquariums Ozean «en miniature» Bernd Brunner: Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums. Wagenbach, Berlin 2011. 144 Seiten, Fr. 17.50. Von Thomas Köster Wer Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals in die Welt öffentlicher Meerwasseraquarien tauchte, dem schwirrte schon bald nicht selten der Kopf. Diese Erfahrung musste der Zoologe Gustav Jäger machen, der 1860 in Wien als einer der ersten auf dem europäischen Festland ein maritimes Panoptikum exotischer Fische errichtete. Verwirrt sei mancher Neuling von einem Gefäss zum nächsten gewandert, beschreibt Jäger seine Beobachtungen, mit denen Bernd Brunner sein Buch zur Erfindung des Aquari24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 ums eröffnet: «Es sind mir Fälle vorgekommen, wo gebildete Leute nach längerem planlosen Laufen an der Kasse ärgerlich fragten: Ja, was sieht man den eigentlich da drin?» Was man im Aquarium damals sah – oder aus nationalistischer Warte etwa in Deutschland (heimische Süsswasserfische) im Gegensatz zu England (Salzwasserfische) sehen sollte –, ist Brunners Thema immer wieder. Darüber hinaus beleuchtet sein Buch, wie die Idee am heimischen Ozean im Kleinen langsam wuchs. Überaus vergnüglich und anekdotenreich beschreibt der Autor die Geburt des Aquariums aus dem Geist höfischer Wunderkammern und bürgerlicher Neugier. Er schildert den Siegeszug exotischer Fische in den gebildeten Kreisen Europas und die Suche der Aquariumspioniere nach geeigneten Behältnissen und mikrosubmarinen Lebensräumen. Und er wirft einen Blick auf die Ozeanarien der Gegenwart, die das Vergnügen am Blick ins Meer noch einmal potenzieren. «Mit der Zeit wird die Tiefe des Meeres, durchsichtig auf unserem Tische, uns noch manche seltsame Naturgeschichte erzählen», zitiert Brunner aus einem Beitrag der «Gartenlaube» zum «Ocean auf dem Tische» von 1854. Sein Buch hingegen macht uns Lesern die bisweilen nicht minder merkwürdige Kulturgeschichte des Aquariums transparent. So, wie der Betrachter damals staunend vor der exotischen Fischwelt hinter der Glaswand stand, so ist man heute bei der Lektüre ein ums andere mal verblüfft, was Brunner an Wissenswertem aus den Untiefen historischer Aquaristik fischte. ● Briefe Die Korrespondenz von Jean Rudolf von Salis zeigt seine Rolle als moralische Instanz Kommentator, Debattierer, Raisonneur Jean Rudolf von Salis: Ausgewählte Briefe 1930–1993. Hrsg. Urs Bitterli und Irene Riesen. NZZ Libro, Zürich 2011. 392 Seiten, Fr. 54.–. Von Klara Obermüller Der Historiker Jean Rudolf von Salis war zeit seines Lebens ein passionierter Briefschreiber. Das hatte mit seiner Welt- und Menschenzugewandtheit zu tun, mit seinem Interesse an den Zeitläufen und ein bisschen vielleicht auch mit seiner Eitelkeit. Von Salis wusste, dass er etwas zu sagen hatte – auch über den Tag hinaus. Entsprechend sorgfältig ging er mit seiner Korrespondenz um. Nie blieb ein Adressat lange ohne Antwort. Und wenn, dann gab es für diesen Umstand ebenso eine Entschuldigung wie für die Tatsache, dass ein Brief statt von Hand mit der unpersönlichen Maschine geschrieben war. «Eine Korrespondenz ist doch eine Zwiesprache», schrieb von Salis im Jahr 1987 an seinen Historikerkollegen Edgar Bonjour. Dem Autor war diese Art der Zwiesprache wichtig. Er liebte den Dialog. Er liebte die Debatte, die er anstiess, in die er eingriff, wenn es ihm nötig erschien. Aus Tausenden von Briefen konnten der von Salis-Biograf Urs Bitterli und seine Frau Irene Riesen deshalb auswählen, als sie sich an die Edition des hier vorliegenden Bandes machten. 171 Schreiben aus mehr als sechs Jahrzehnten haben sie ausgewählt, und sie haben klug gewählt. Auf einen ersten Brief des knapp Dreissigjährigen an die Mutter folgen Schreiben an Kollegen und Freunde, an Vertreter der Politik und Repräsentanten des öffentlichen Lebens: Texte, in denen J. R. von Salis noch einmal als Wissenschaftler, als politischer Kommentator wie auch als geistreicher und bisweilen angriffiger Gesprächspartner lebendig wird. in denen ihnen Unmenschlichkeit, totalitäre Methoden oder mangelnde Distanz gegenüber Altnazis vorgeworfen wurde. Doch die beiden Herausgeber haben sich, wohl aus editorischen wie juristischen Gründen, dagegen entschieden, neben Briefen auch Briefe an von Salis in den Band aufzunehmen. Umso deutlicher und facettenreicher tritt uns in ihrer Auswahl die Persönlichkeit des Autors selbst entgegen. Er ist derjenige, der die Fragen stellt und die Auseinandersetzung sucht. Er tut es geschliffen und höflich, vor allem dann, wenn es Kritik anzubringen oder Meinungsverschiedenheiten auszutragen galt. Breiten Raum nimmt dabei die Selbstreflexion ein. Die Frage nach der eigenen Berufung und der ihm zukommenden Rolle innerhalb der Gesellschaft haben von Salis bis ins Alter hinein beschäftigt. Er war kein Mann der Tat, wie er selber sagt, er war auch kein Künstler, wie er bedauernd feststellt. Er verstand sich vielmehr als «Raisonneur», wie es in einem Brief an den Freund Peter Mieg heisst: als unsichtbaren Zeugen und stillen Beobachter, der aus angeborener Scheu und innerer Unabhängigkeit nach allen Seiten hin Distanz hielt und gegenüber ideologischen Versuchungen stets immun blieb. Einige sehr persönliche Briefe, wie etwa diejenigen an Nanny WunderlyVolkart, an Friedrich Dürrenmatt oder Adolf Muschg zeigen, dass von Salis die Aussenseiterposition gesucht, gleichzei- tig aber auch darunter gelitten hat. Er hätte sich gerne mit einem Roman in der Art des «Zauberberg» oder des «Gattopardo» literarische Anerkennung verschafft und wäre nicht abgeneigt gewesen, aktiv in die Politik einzusteigen. Doch er hielt sich zurück, weil er seine Grenzen kannte und das Gefühl einer Fremdheit in dieser Zeit und dieser Gesellschaft nie ganz überwinden konnte. Er kannte seine Grenzen Jean Rudolf von Salis (Mitte) unterhält sich anlässlich eines Empfangs des PenClubs in Zürich mit Thomas Mann und dessen Frau Katia (5. Juni 1950). Urs Bitterli und Irene Riesen haben sich bei der Auswahl der Briefe nicht gescheut, auch diese dunkleren Seiten in J. R. von Salis’ Wesen offen zu legen. Sie zeigen nicht nur den renommierten Wissenschaftler und viel gelesenen Autor, sondern auch den Dozenten an der ETH, der sich von der Zürcher Gesellschaft nie ganz akzeptiert, von seinen Universitätskollegen nie ganz für voll genommen und von den Meinungsmachern der NZZ immer wieder zu Unrecht angefeindet fühlte. Vor allem aber lassen sie den Zeitgenossen zu Wort kommen, der bis zuletzt den Dialog mit Jüngeren und Andersdenkenden suchte und sich nie scheute, seine Meinung auch dort kundzutun, wo sie nicht opportun war. Sie zeigen J. R. von Salis als das, was er zweifellos war: ein Intellektueller, der dank seiner Unbestechlichkeit, seinem Pragmatismus und seinem Einfühlungsvermögen über Jahre hinweg als moralische Instanz unseres Landes wahrgenommen worden war. ● Das 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen ist in dieser Korrespondenz präsent, und man darf bei der Lektüre noch einmal bewundernd feststellen, wie luzide der Autor die einschneidenden Ereignisse seiner Zeit – das Aufkommen des Nationalsozialismus, die Bedrohung durch Hitler-Deutschland, die totalitären Tendenzen während des kalten Krieges sowie, spät noch, das Verhältnis der Schweiz zu Europa – wahrgenommen und eingeschätzt hatte. Schade nur, dass uns der Band die Antworten der Adressaten vorenthält. Zu gerne hätte man erfahren, wie ein Bundesrat Furgler, ein Hans A. Huber vom Schweizerischen Aufklärungsdienst oder Werner Weber, der Feuilletonchef der NZZ, auf Briefe reagierten, PHOTOPRESS / KEYSTONE Unsichtbarer Beobachter 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Archäologie Altertümer finden sich nicht nur im Boden, auch das Meer ist voll davon Poseidons Schätze rund um Sizilien Sebastiano Tusa: Versunkene Antike. Faszination Unterwasserarchäologie. Zabern, Mainz 2011. 298 Seiten, reich bebildert, Fr. 109.–. Von Geneviève Lüscher Innerhalb der Altertumswissenschaften ist die Unterwasserarchäologie eine junge Sparte, setzt sie doch technische Entwicklungen voraus, die den längeren Aufenthalt unter Wasser überhaupt erst ermöglichen. Tatsächlich schrieb aber schon Herodot vor rund 2500 Jahren von Tauchern, die Schätze aus dem Wasser bargen. Seither wurden immer wieder Altertümer aus den Fluten des Meeres gehoben. Erste Untersuchungen mit wissenschaftlichen Ansprüchen erfolgten Anfang des 20. Jahrhunderts, und seither hat sich die Unterwasserarchäologie zu einem universitären Fach gemausert. Gleichzeitig hat die Suche unter Wasser begonnen, zur reinen Schatzgräberei auszuarten. Mit Hilfe ausgeklügelter Techniken werden die Wracks geplündert, ohne auf den Kontext der Funde zu achten. Die kostbaren Stücke landen dann statt auf dem Schreibtisch des Archäologen unter dem Hammer internationaler Kunstauktionen. Heute wird bei korrekt durchgeführten Untersuchungen unter Wasser gleich vorgegangen wie an Land: Alles wird vermessen, dokumentiert und fotografiert. Die Arbeitsweise präsentiert Sebastiano Tusa kurz in einem Kapitel am Schluss des Buches. Im Gegensatz zum allgemein gehaltenen Titel befasst sich der Buchinhalt fast nur mit den Gewässerfunden rund um Sizilien – es ist eine Art Liebeserklärung des Unterwasserarchäologen und Dozenten an sein Untersuchungsgebiet. Sizilien war im Altertum und Mittelalter eine Schnittstelle vieler Kulturen und besass zahlreiche Häfen. Wichtige Schifffahrtsrouten führten an seinen Küsten entlang, unzählige Seeschlachten fanden hier statt. Ihnen ist je ein kleines Kapitel gewidmet. Mehr Raum erhält das Thema Handel, diente doch die Seefahrt in der Antike in erster Linie dem Transport von Gütern. Der griechische und römische Fernhandel ist durch die Funde von gesunkenen Schiffen samt Ladung recht gut bekannt. In erster Linie sind es Amphoren, diese robusten, fast unvergänglichen Transportbehälter für Wein, Olivenöl und Fischsauce, die Zeugnis ablegen von den antiken Handelsrouten. Dem Liebhaber Siziliens öffnet der grossformatige Bildband neue Aspekte und Blickwinkel auf seine Insel – das Thema Unterwasserarchäologie findet er aber nicht erschöpfend behandelt. ● Das amerikanische Buch Henry Kissinger beschreibt Chinas langen Marsch In seinem aktuellen Buch kehrt Kissinger auf Terrain zurück, das er in seinen mehrbändigen Lebenserinnerungen und seiner immer noch lesenswerten Studie «Diplomacy» von 1994 eingehend bearbeitet hat. Der Leser gewinnt jedoch neue Einsichten etwa über den Koreakrieg und kommt in den Genuss einer scharfsinnigen, auf eigene Erfahrungen gestützten Analyse der chinesischen Diplomatie unter Mao und seinen Nachfolgern von Deng Xiaoping bis Hu Jintao. Kissinger wirkt überzeugend, wenn er die Spitzen der Volksrepublik in eine Reihe mit imperialen Mandarinen stellt, die das «BarbarenManagement» und die kluge, kühle und 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011 AP duldigen, begabten und homogenen Volkes, das seinen Führern anscheinend noch die brutalsten Missgriffe nachsieht. Die «realistische» Doktrin des alten Diplomaten trägt hier Züge von Wunschdenken: Die von Kissinger gepriesene «Stabilität» in China und den internationalen Beziehungen kann letztlich doch nur aus einer Partizipation der Bevölkerung an der Macht erwachsen, die den Chinesen einen freien Ausdruck ihrer Bedürfnisse erlaubt. Dies wird auch von amerikanischen Rezensenten kritisch notiert, die das Buch jedoch durchweg als wichtigen Beitrag zu der Debatte über das Verhältnis beider Nationen empfehlen. auf lange Sicht angelegte Verfolgung chinesischer Nationalinteressen zu einer hohen Kunst entwickelt haben. Namen wie der des seit einigen Wochen verschwundenen Künstlers Ai Weiwei fehlen jedoch in «On China» ebenso, wie eine Darstellung oppositioneller Forderungen. Henry Kissinger 1973 in Peking beim Handschlag mit Mao Zedong, den er bewunderte. Als Autor heute (unten). AP Mit On China (Penguin Press, 586 Seiten) legt Henry Kissinger eine Mischung aus historischer Studie, Autobiografie und politischem Ratgeber über die Rückkehr dieser ältesten Kulturnation zur Weltgeltung nach Jahrzehnten selbstgewählter Isolation vor. Dazu hat er persönlich massgeblich beigetragen. Als Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon ist Kissinger vor vierzig Jahren zu seiner historischen Geheimmission in das Reich des «Grossen Vorsitzenden» Mao Zedong aufgebrochen und hat damit den Weg für den amerikanisch-chinesischen Ausgleich im Kalten Krieg geebnet. Der von den Nazis als Kind aus Deutschland vertriebene Kissinger konnte nach seinem Wechsel in die Privatwirtschaft auf diese historische Leistung aufbauen. Der nunmehr 88-Jährige wurde zu einem bis heute für amerikanische Präsidenten und Geschäftsleute unverzichtbaren Vermittler zu den kommunistischen Machthabern und der chinesischen Wirtschaft. Dafür macht Kissinger aus seiner Bewunderung speziell für Mao kein Hehl, den er als Philosophen kolossalen Zuschnitts beschreibt. Die gesellschaftspolitischen Experimente Maos in den 1950er und 1960er Jahren, die bis zu 40 Millionen Menschenleben gekostet haben, betrachtet Kissinger als quasi unvermeidliche Kosten der Konsolidierung Chinas unter den Kommunisten und nicht als Ergebnis grössenwahnsinnigen Mutwillens. Kissinger spricht wiederholt von der «Essenz» dieses ge- Kissingers Darstellung der Debatte unter den chinesischen Eliten über die zukünftige Weltstellung ihrer Nation ist in der Tat aufschlussreich. Daran knüpft er seine eigenen Empfehlungen an Washington: Während eine kleine, aber lautstarke «triumphalistische Denkschule» in China die Ablösung der USA durch die «weise und weitsichtige Führung» Pekings fordert, setzt Kissinger auf die Schaffung einer «pazifischen Gemeinschaft». Nach dem Muster der nordatlantischen soll diese «Community» zugleich der amerikanisch-chinesischen Partnerschaft einen Rahmen geben, sowie die anderen Nationen Asiens einbinden. Der Wert dieser Vision wird jedoch durch Tatsachen in Frage gestellt, die «On China» erstaunlicherweise ausblendet: Das Buch erwähnt die tiefe Verschuldung der USA bei China nur in einem halben Satz, der noch dazu in Klammern steht. ● Von Andreas Mink Agenda Saint Tropez Von den Fischern zu den Celebrities Agenda Juli 2011 Samstag, 2. Juli, 11 Uhr Andrej Kurkow: Die letzte Liebe des Präsidenten. Lesung, Musikwoche Braunwald im Hotel Bellevue, Tel. o55 640 40 94. JÜRG VOLLMER / MAIAK.INFO Braunwald Leukerbad Freitag, 8., bis Sonntag, 10. Juli 16. Internationales Literaturfestival mit Melinda Abonji, Michail Schischkin, Peter Stamm, Martin Walker, Rolf Hermann und vielen anderen. Infos, Programm und Tickets: www.literaturfestival.ch. Scuol Donnerstag, 21. Juli, 20 Uhr des Fischerdorfes an der Côte d’ Azur zur sommerlichen Spielwiese der Illustrierten-Schickeria. Eine strahlend junge BB , Charles Aznavour als Familienvater, Liz Taylor in Dreiviertelhose. Hier heiratet Mike Jagger seine Bianca, hier fallen die ersten BikiniOberteile. Heute ist Saint Tropez ein Laufsteg der Superreichen vor Massenpublikum: 5700 Einwohner, eine Million Parktickets und 5 Millionen Besucher pro Jahr. Kathrin Meier-Rust Helge Sobik: Mythos Saint Tropez. Feymedia, Düsseldorf 2011. 188 Seiten, Fr. 53.90. St. Moritz Belletristik Sachbuch Werdenberg 1 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 27.40. 2 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 27.40. 3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.30. 4 Blanvalet. 448 S., Fr. 20.20. 5 Hanser. 320 Seiten, Fr. 22.45. 6 Heyne. 448 Seiten, Fr. 25.45. 7 S. Fischer. 352 Seiten, Fr. 25.70. 8 Droemer/Knaur. 656 Seiten, Fr. 20.40. 9 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 27.70. 10 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 32.45. 1 2 Faro. 224 Seiten, Fr. 29.90. 3 Malik. 304 Seiten, Fr. 30.50. 4 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 272 S., Fr. 30.50. 5 Goldmann TB. 240 Seiten, Fr. 15.50. 6 A 1. 288 Seiten, Fr. 34.90. 7 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90. 8 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90. 9 Zytglogge. 272 Seiten, Fr. 36.Ω. 10 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90. Auf den frühen Schwarz-Weiss-Fotos ist die Armut noch gut sichtbar. Dann kamen Brigitte Bardot, Gunther Sachs und Pablo Picasso – im Bild Picasso vor seinem Stammlokal «La Ponche» – und verliehen der Armut den Charme des Pittoresken. Nachdem Louis de Funès hier seinen ersten Gendarmenfilm drehte, strömte alles und damit auch der Reichtum nach Saint Tropez. Die Bilder werden nun bunt, bis die knalligen Fotoshop-Farben dem Dorf seinen Charme endgültig austreiben. «Mythos Saint Tropez» dokumentiert den von Stars gesäumten Weg Bestseller Juni 2011 Donna Leon: Auf Treu und Glauben. Paulo Coelho: Schutzengel. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Susan E. Phillips: Der schönste Fehler meines Lebens. Alex Capus: Léon und Louise. Nicholas Sparks: Wie ein Licht in der Nacht. Carlos Ruiz Zafón: Marina. Karen Rose: Todesstoss. Simon Beckett: Verwesung. Martin Walker: Schwarze Diamanten. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25. Auflage. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90. Nik Hartmann: Über Stock und Stein 3. Juliane Koepcke: Als ich vom Himmel fiel. Carlo Perdersoli: Bud Spencer. Roman M. Koidl: Scheisskerle. Corinne Hofmann: Afrika, meine Passion. Barney Stinson: Der Bro Code. Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst. Mani Matter: Sudelhefte. Rumpelbuch. Nina Puri: Langenscheidt Katze – Deutsch. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 14. 6.2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 13. Juli, 20.30 Uhr Thomas C. Breuer: Gubrist mon amour. Lesung. Hotel Laudinella, Via Tegiatscha 17, Tel. 081 836 00 00. Valchava Donnerstag, 14. Juli, ca. 20 Uhr Donna Leon: Tiere und Töne, auf Spurensuche in Händels Opern. Lesung in Englisch. Museum Chasa Jaura, Tel. 081 858 53 17. Freitag, 8. Juli, 20 Uhr Jens Dittmar: Basils Welt – eine Zumutung. Lesung, Fr. 12.–. Schloss Werdenberg, Schlossberg, Tel. 081 599 19 35. Zürich Freitag, 1. Juli, 20 Uhr Tinu Heiniger: Sommerabend-Lesung. Mühle Hirslanden, Forchstrasse 244. Vorverkauf: lesen@buchhandlung-hirslanden.ch. Mittwoch, 6. Juli, 20 Uhr Martin Walker: Schwarze Diamanten. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Samstag, 9. Juli, 16 Uhr Madlaina Brogt Salah Eldin: Liebe zwischen Halbmond und Kreuz. Lesung. Arabikalam, Cramerstrasse 7, Tel. 041 43 322 07 93. Bücher am Sonntag Nr. 7 erscheint am 28. 8. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 CHRISTIAN BEUTLER AP Hommage an Jon Demarmels. Romanische Lesung mit Musik und Diskussion in Deutsch, Fr. 25.–. Center da Cultura Nairs. Infos: www.nairs.ch. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tjQ1MQQA9VZH_w8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ7DMAxEv8jRnR07yQyrsqpgGg-Zhvv_qO1YwT3w9HTbll7w37Lun_WdBKoLbXhl-vCiLbKrFtSWCLqCfDHYNcz6oxdwhMHm3QhC6JMXQ6rPwZjk_XA5Nmg5vr8TwDegOIAAAAA=</wm>