Vorwort (PDF 49,58Kb)
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Vorwort Eine Lehrerin beklagte sich und fragte: „Ich hab’ zwei Jungs in der Klasse, deren Familien bei den Zeugen Jehovas sind. Die benehmen sich immer voll daneben und sind wirklich anstrengend. Das hat sicherlich mit den verqueren Glaubensansichten der Eltern zu tun, oder?“ „In meiner Kindergartengruppe gibt es ein Kind von Zeugen Jehovas. Immer wenn Geburtstag gefeiert wird, müssen wir es in eine andere Gruppe schicken. Die Kleine tut mir so leid. Sie kann doch nichts für den Glauben ihrer Eltern“, erzählte eine Erzieherin. „Meine erste große Liebe war ein total süßer Junge aus meiner Klasse. Ich war damals 15. Wir waren ein paar Wochen heimlich zusammen. Als dann die Sache rauskam, gab es für ihn mächtig Ärger. Seine Eltern waren bei den Zeugen Jehovas“, berichtete eine Freundin. „Eine Familie aus meiner Nachbarschaft gehört zu den Zeugen Jehovas. Am Anfang waren die mir deswegen etwas suspekt. Aber das sind richtig nette und freundliche Leute“, erzählte eine Bekannte. Solche und ähnliche Erfahrungen machen zahlreiche Menschen. Obwohl die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu den bekanntesten jüngeren Religionsgemeinschaften zählt, gibt es für den deutschsprachigen Raum nur wenige sozialwissenschaftliche Untersuchungen über sie. Die meisten Informationen, die über ihre Gruppendynamik und die Alltagspraxis bekannt wurden, stammen von ehemaligen Mitgliedern, die jedoch aufgrund der eigenen Leidensgeschichte meist aus einer einseitig geprägten Perspektive berichten und nicht als unvoreingenommene Berichterstatter gelten können.1 Sarah Pohl hat im Rahmen ihrer erziehungswissenschaftlichen Promotion an der Pädagogischen Hochschule Freiburg die pädagogischen Konzepte und die Erziehungspraxis der Zeugen Jehovas untersucht.2 Wichtige Ergebnisse sind in dem vorliegenden EZW-Text zusammengefasst und um grundsätzliche Informationen zu der Religionsgemeinschaft ergänzt worden. Die Zeugen Jehovas (ZJ) gehören mit 166 837 (Stand 2011) Mitgliedern in Deutschland zu den größten christlichen Sondergruppen. Die Mitgliederzahl legt nahe, dass eine relativ hohe Zahl an Kindern bei Eltern aufwächst, die Zeugen sind. Solange sich Vgl. etwa Barbara Kohut, Mara im Kokon. Leben unter den Wachtturm-Regeln, Leipzig 2010; HansJürgen Twisselmann, Ich war ein Zeuge Jehovas, Gießen 2010; Monika Deppe, Die Zeugen Jehovas. Auch ich habe ihnen geglaubt, Gießen 2007; Martin Doering, Der schiefe Turm von Brooklyn. Über Leben und Lehre der Zeugen Jehovas, Stuttgart 2006; Martina Schmidt, Ich war eine Zeugin Jehovas. Protokoll einer Verführung, Gütersloh 2005; Ursula Neitz, Dämonen auf dem Dach. Lebensberichte von ehemaligen Zeugen Jehovas, Jena 2004; Jana Frey, Das eiskalte Paradies. Ein Mädchen bei den Zeugen Jehovas, Frankfurt a. M. 2003. 2 Sarah Ruth Pohl, Externe und interne Beobachtungen und Aussagen zur Erziehung in einem geschlossenen religiösen System am Beispiel der Zeugen Jehovas, Frankfurt a. M. 2010. 1 EZW-Texte Nr. 218/2012 3 Erwachsene der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas anschließen, ist dagegen nichts einzuwenden, weil unser Grundgesetz die Religionsfreiheit garantiert. Wie steht es jedoch um die Lage der nicht volljährigen Kinder? Das elterliche Recht auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder ist ebenfalls grundrechtlich geschützt (Art. 6 I, II GG i.V.m. Art. 4 I GG). Dieses Recht bleibt solange unantastbar, wie die Eltern die übrigen Grundrechte des Kindes wahren (z. B. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 II GG). „Problemerzeugend und konflikthaft kann eine religiös und weltanschaulich präformierte Erziehung nur aufgrund ihrer ganz spezifischen Inhalte, der vermittelten spezifischen Normen und Werte, des geforderten konkreten Umgangs mit Kindern und Jugendlichen, der im Namen religiöser Erziehung begangenen Übergriffe, Schädigungen, Misshandlungen oder auch Missbräuche von Kindern und Jugendlichen sein.“3 So präzisierte eine Enquete-Kommission des deutschen Bundestages die Gefährdungen, die durch die Erziehung in streng religiösen Familien bestehen. In dem vorliegenden EZW-Text wird genauer untersucht, wodurch die Erziehungskonzepte der Zeugen Jehovas „problemerzeugend und konflikthaft“ werden können. Die Frage, ob diese theoretisch beschriebenen potenziellen Konflikte sich jedoch auf Kinder tatsächlich so negativ auswirken, darf keinesfalls verallgemeinernd beantwortet werden. Von einer vorschnellen und prinzipiellen Verurteilung der praktischen Erziehung bei den ZJ muss Abstand genommen werden, gerade auch im Hinblick auf die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit (Art.4 I GG). Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, ob durch den Erziehungsstil der Eltern eine Gefährdung des Kindeswohls eintreten kann und ob die ab dem 14. Lebensjahr zugesicherte Religionsmündigkeit des Kindes in dieser Familie beachtet wird. Die anfangs genannten Beispiele machen deutlich, dass viele Menschen Mitgliedern der ZJ eher skeptisch bis ablehnend begegnen. Diese Haltung beruht jedoch oft auf Halbwissen, Vorurteilen und Klischeevorstellungen. Deshalb liefert Kapitel 1 einige Informationen zur Geschichte, Entwicklung und Organisationsstruktur der Glaubensgemeinschaft. In der Öffentlichkeit fallen die Mitglieder wegen ihrer intensiven Missionsbemühungen immer wieder auf. Es ist ein menschliches Bedürfnis, fremden Glauben einzuordnen, und die Zeugen Jehovas werden oft als „Sekte“ etikettiert. Deshalb wird in Kapitel 2 der Frage nachgegangen, ob diese Bezeichnung gerechtfertigt ist. Kapitel 3 bietet eine knappe Beschreibung der besonderen Lehrinhalte der Zeugen Jehovas. Wie die Alltagsgestaltung Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Endbericht der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen, Bonn 1998, 158. Eine Zusammenstellung von verschiedenen Argumentationen in Rechtsstreitigkeiten liefert die juristische Dissertation von Anja Vellmer, Religiöse Kindererziehung und religiös begründete Konflikte in der Familie. Eine rechtsübergreifende Darstellung familiärer religiöser Konflikte und der staatlichen Instrumentarien zu ihrer Lösung, Frankfurt a. M. 2010. 3 4 EZW-Texte Nr. 218/2012 eines praktizierenden Zeugen Jehovas heute aussieht, wird in Kapitel 4 dargestellt. Im Zentrum dieses EZW-Textes stehen die Erziehungstheorie der ZJ und ihre Umsetzung. In Kapitel 5 wird überprüft, ob bzw. wo sich die Leitung der Zeugen Jehovas in ihren Erziehungskonzeptionen in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Insbesondere wird untersucht, ob in den Schriften, die sich an die Öffentlichkeit, also Schulen, Gerichte oder die Presse wenden, dieselben Erziehungskonzeptionen vertreten werden wie in internen Schriften. Ergänzend dazu wird aber auch die Erziehungspraxis mit in den Blick genommen, um festzustellen, inwieweit als problematisch kritisierte Inhalte der Erziehungstheorie von Eltern umgesetzt werden. Auf der Grundlage von Ergebnissen der Religionspsychologie wird dann in Kapitel 6 diskutiert, welche Vor- und Nachteile die Erziehung und Sozialisation in sogenannten geschlossenen religiösen Gruppierungen mit sich bringen. Abschließende Bemerkungen folgen in Kapitel 7. Dieser EZW-Text weist auf einige brisante und kritikwürdige Aspekte in den Erziehungskonzepten und pädagogischen Praktiken der Zeugen Jehovas hin. Die Publikation ist mit dem Wunsch verbunden, dass sich hier in den kommenden Jahren Türen für eine Umgestaltung und Weiterentwicklung der zum Teil rigorosen Erziehungsratschläge öffnen. Sarah Pohl und Michael Utsch Berlin, im Mai 2012 EZW-Texte Nr. 218/2012 5