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Lesekränzle und Salons
Stuttgarts literarische Gesellschaft im 19. Jahrhundert
Irene Ferchl
Ein Beitrag aus der Tagung:
Renaissance der literarischen Salons
Lesevergnügen und kultureller Austausch
Bad Boll, 20. - 22. April 2007, Tagungsnummer: 470607
Tagungsleitung: Albrecht Esche
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Lesekränzle und Salons
Stuttgarts literarische Gesellschaft im 19. Jahrhundert
Irene Ferchl
1. August 1793
Ein Garten am Hang, südlich der Akademie (= Hohe Karlsschule) am Stadtrand. Auf dem heutigen
Stadtplan ist das Grundstück etwa hinter der Landesbibliothek zu lokalisieren. In einem Gartenhaus
trifft sich an diesem Sommernachmittag eine erlesene Gesellschaft bei reichlich Gebäck. Man erzählt
sich Geschichten und redet über die Liebe – hat doch die Gastgeberin Amalie, eigentlich Marianne
Ehrmann geborene Brentano, darüber geschrieben. Ein Salon in dem Garten und einer geräumigen
Laube – das Ehepaar Ehrmann wohnte ansonsten recht beengt – wurde zu Ehren eines Gastes, des
Schriftstellers David Friedrich Gräter aus Schwäbisch Hall, veranstaltet, der für zweieinhalb Wochen
in Stuttgart weilte. Die Gesellschaft fand statt, schreibt er etwas eitel, um ihm „ein neues Vergnügen
zu erschaffen“ – aber gewiss war es nicht die einzige, die Marianne und Theophil Ehrmann in ihren
Stuttgarter Jahren gaben.
Genau 51 Jahre später findet sich folgender Tagebucheintrag:
„Am 1. August 1844 kam unser alljähriger lieber Schützling bei uns an, in guter Gesundheit und heiterer Stimmung.“
Bei dem Schützling handelt es sich um Nikolaus Lenau, den aus Ungarn stammenden Dichter, der
zum wiederholten Mal in den vergangenen zwölf Jahren im Hartmann-Reinbeckschen Haus absteigt,
sich von Georg von Reinbeck, vor allem aber der Hausfrau, seiner mütterlichen Freundin Emilie
Reinbeck geborene Hartmann, verwöhnen lässt. „Eine köstliche Frau!“ und „Dies göttliche Weib!“
nennt er sie und genießt, dass in der Friedrichstraße zu seinen Ehren Gesellschaften abgehalten werden, in einem Salon, den wir sogar von einem Gemälde kennen, mit Kachelofen, Biedermeiersofa und
dem von der Hausfrau gemalten Lenau-Porträt darüber an der Wand.
Im Oktober wird der Gast krank und hingebungsvoll gepflegt, muss aber als wahnsinnig in eine Anstalt gebracht werden.
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen dem ersten und dem vorläufig letzten literarischen Salon in
Stuttgart, wir verwenden den Begriff, denn die Gastgeberinnen waren Damen, wenn auch vielleicht
nicht Salonieren nach dem Berliner Verständnis …
Bevor wir sie uns näher betrachten, werfen wir einen Blick auf die Stadt Stuttgart, ihre historische,
soziale Entwicklung zwischen Aufklärung und bürgerlicher Revolution – mit besonderem Augenmerk
auf das gesellschaftliche Leben.
Stuttgart war, obwohl Residenz, eine vergleichsweise kleine Landstadt – um 1800 hatte sie 20 000
Einwohner, bis 1840 hat sich diese Zahl auf 40 000 Einwohner verdoppelt.
1775 hatte Herzog Karl Eugen den Hof von Ludwigsburg nach Stuttgart zurück verlegt und den Bau
des Neuen Schlosses forciert; die Militärakademie, nachmalige Hohe Karlsschule, wurde in einer e-
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hemaligen Kaserne hinter dem Schloss untergebracht. Friedrich Schiller war der berühmteste Zögling,
der mit seinen Mitschülern hinter dem reitenden Herzog her von der Solitude in die Stadt marschierte.
Johann Wolfgang Goethe, der 1779 das erste Mal und inkognito mit seinem Weimarer Herzog Karl
August in Stuttgart weilte, dabei die Karlsschule besuchte und Schiller als Eleven von ferne kennenlernte, urteilte:
„Stuttgart hat eigentlich 3 Regionen und Charaktere; unten sieht es einer Landstadt, in der Mitte einer
Handelsstadt und oben einer Hof- und wohlhabenden Partikülierstadt ähnlich.“
Bei seinem ersten Besuch verkehrte er nur in höfischen Kreisen, beim zweiten, 1797, war das dann
völlig anders. Schiller hatte Goethe – den verehrten Kollegen – nun seinem Verleger Johann Friedrich
Cotta brieflich angekündigt:
„Göthe reißt in etlichen Tagen nach der Schweitz und wird ohne Zweifel bei Ihnen einsprechen.
Nehmen Sie ihn freundlich auf, er sieht auf so was, und sehen Sie daß Sie ihn mit einigen interessanten Personen bekannt machen. Schreiben Sie es auch vorläufig an Kaufman Rapp, ich hab ihm dieses
Haus empfohlen, und denke daß sich Rapp dieser Bekanntschaft recht erfreuen wird.“
Goethe macht dann gleich am ersten Vormittag in Stuttgart im Anschluss an seine frühmorgendliche
„Recognoszierung“ der Stadt einen Besuch bei Rapp, einen, wie er notiert, „wohlunterrichteten, verständigen Kunstfreund“, der „als Liebhaber landschaftlicher Gegenstände recht glücklich zeichnet“.
Als Sohn eines erfolgreichen Tuchhändlers 1761 in Stuttgart geboren, wäre Gottlob Heinrich Rapp
lieber Künstler als Kaufmann geworden. Nach dem Tod des Vaters mußte der 22-Jährige dessen Geschäft übernehmen, engagierte sich aber für die Künste und auch für die sozialen Belange der Gesellschaft: später bekleidete er zahlreiche öffentliche Ämter, wurde Vorsitzender der von Königin Katharina eingerichteten Sparkasse, beteiligte sich an der Gründung von Cottas Zeitschrift Morgenblatt für
gebildete Stände, gründete mit Cotta die erste lithographische Anstalt und den Württembergischen
Kunstverein, förderte Kunstausstellungen wie die seines Schwiegersohnes Sulpiz Boisserée. Man kann
ihn sich als den Idealfall eines Bildungsbürgers denken, der sogar selbst produktiv wurde: Er schrieb
für Cottas Zeitschriften und Kalender und verfaßte 1810 eine lehrreiche Abhandlung über Das Geheimniss des Steindrucks in seinem ganzen Umfange. Charlotte Schiller charakterisierte ihn treffend: „Er vereinigt so viel feine Bildung mit einem thätigen Leben und weiß so viel Geist und Genuß in sein Leben
zu legen. Und dabei die große Güte und Zartheit des Gemüths, die so selten ist, und sein Talent. Er
ist reich von der Natur begabt.“
Goethe fand in Rapp einen „gefälligen Mann“, der ihn gleich in Danneckers Atelier begleitete und ihn
in den nächsten Tagen mit weiteren wichtigen Persönlichkeiten aus dem Kunstleben bekannt machte.
Es gefiel ihm dann so gut, dass er acht Tage, länger als geplant, in Stuttgart blieb – und alles ausführlich beschrieb: lobend (die Kunstsammlungen, die Bibliothek) oder kritisch (das Hoftheater, das Schillers Don Carlos gab).
Ein Höhepunkt für die Gastgeber und eine Episode, die das Rappsche Haus – gleich oberhalb der
Stiftskirche, in der Stiftstraße 7 – berühmt gemacht hat, dokumentiert Goethes Wertschätzung: Am 5.
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September 1797 las er vor den Familien Rapp, Dannecker und von Wolzogen sein Epos Hermann und
Dorothea vor, aus dem unveröffentlichten Manuskript. Dannecker war begeistert: „Ach Gott wie
schön, wie groß, wie voll Gefühl ist dieses Werk! Das heiß’ ich zeichnen, mahlen, bilden, kurz ich war
entzückt; es fatiguierte mich auch so, daß ich den anderen Tag zu nichts taugte.“ Und Rapps fünfjähriges Töchterchen soll am Ende in breitestem Schwäbisch ausgerufen haben: „Der Ma soll noch meh
läsa!“ Goethe fühlte sich geschmeichelt und schrieb an Schiller: „Ich hatte alle Ursache, mich des
Effekts zu erfreuen […] und es sind unter allen diese Stunden fruchtbar geworden.“ Das größte
Kompliment machte er nach dessen eigenen Worten dem Bildhauer Dannecker, von dem Goethe
sich vor seiner Weiterreise nach Tübingen am 7. September mit den Worten verabschiedete: „Nun
habe ich Tage hier verlebt, wie ich sie in Rom lebte.“
Als dann im Spätherbst Hermann und Dorothea erschienen war, schickte er den Band nach Stuttgart mit
den Worten: „Sie erhalten hierbey werthester Herr Rapp, das Gedicht in seiner reinsten typographischen Form, gönnen Sie ihm abermals eine gute Aufnahme […], empfehlen Sie mich in Ihrem Kreise
und nehmen für so mannigfaltige Gefälligkeiten nochmals meinen lebhaften Dank.
In diesen Jahrzehnten hat die Gesellschaft sich verändert: mit der Konsolidierung des Bürgertums
entstand ein anderes Wertesystem mit Kardinaltugenden wie Ordnung, Fleiß, Pflichterfüllung, die
Definition geschah weniger über den Stand als über Bildung und Leistung: Rapp ist ein Beispiel, der
Bildhauer Dannecker, der von einem Stallknecht abstammte und in die Stuttgarter Ehrbarkeit einheiratete, ein anderes.
Verglichen mit Städten wie Berlin, München, Wien hatte Stuttgart keine große Bedeutung, auch nicht
als Residenz des Königreichs Württemberg ab 1806, und es gab auch keine, sonst vielfach kulturtragende jüdische Bevölkerung – weniger als 100 Juden lebten um 1800 in der Stadt.
Aber die Hohe Karlsschule hatte, obwohl aus der Laune eines Despoten entstanden und nur ein
knappes Vierteljahrhundert existierend, eine große Bedeutung für das Bildungswesen und die Künste,
wurde gewissermaßen zum Einbruchstor der Aufklärung und veränderte die Bildungsschicht: Ursprünglich war dies nur die Geistlichkeit gewesen, jetzt waren es Leute der Verwaltung, Schriftsteller
und Gelehrte, die Impulse von dieser Schule empfangen hatten. Selbst Schiller, der ja in dieser „Sklavenplantage“ geknechtet worden und vor dem Herzog geflohen war, musste dies eingestehen. In einem Brief an seinen Freund Körner schrieb er im März 1794:
„Ich habe jetzt meinen Auffenthalt verändert, und zwar in Rücksicht auf gesellschaftlichen Umgang
sehr vortheilhaft, weil hier in Stuttgardt gute Köpfe aller Art und Hanthierung sich zusammenfinden.
[…]
Die Militairacademie ist jetzt aufgehoben; und dieß wird mit Recht beklagt, obgleich sie nicht mehr in
ihrer Blüthe war. Außer den beträchlichen Revenuen [Einkünften], welche Stuttgardt daraus zog, hat
dieses Institut ungemein viel Kenntnisse, artistisches und wissenschaftliches Interesse unter den hiesigen Einwohnern verbreitet, da nicht nur die Lehrer der Academie eine sehr beträchtliche Zahl unter
denselben ausmachen, sondern auch die mehrsten Subalternen und mittleren Stellen durch academische Zöglinge besetzt sind. Die Künste blühen hier in einem für das südliche Deutschland nicht gewöhnlichen Grade; und die Zahl der Künstler, darunter einige die keinem der Eurigen etwas nachgeben, hat den Geschmack an Malerey, Bildhauerey und Musik sehr verfeinert. Eine Lesegesellschaft ist
hier, welche des Jahres 1300 Fl. [Gulden] aufwendet, um das Neueste aus der Litteratur und Politik zu
haben. Auch ist hier ein passables Theater mit einem vortrefflichen Orchester und sehr gutem Ballet.“
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Die 1784 gegründete Lesegesellschaft und das 1807 etablierte Museum wären eigene Themenfelder,
wenigstens erwähnt werden sollen die Zeitungsgründungen und Verlage – vor allem Cotta spielte eine
große Rolle, wie wir noch sehen werden – und zwei Stätten geistigen Lebens.
Der Präsident des Oberen Tribunals und Landschaftskonsolent des Reformlandtags 1797-99, Eberhard Friedrich Georgii, versammelte seine Gäste von 1804 bis 1828 in seinem Gartensaal, einem
kleinen Gebäude innerhalb seines Gartens hinter dem Haus beim Büchsentor – wir kennen es aus
Beschreibungen Eduard Mörikes, der als 13-jähriger Halbwaise ein Jahr bei seinem Onkel Georgii
wohnte, als er das Gymnasium besuchte.
In diesem Gartensaal hielt 1810 der Philosoph Schelling private Vorlesungen, ansonsten trafen sich
die Honoratioren der Stadt, hohe Beamte, Ärzte, Juristen und Künstler im Sommer jeden Montag zur
Kegelpartie, ein Vierteljahrhundert lang! Gelegentlich waren auch Cotta, Wangenheim, Hartmann
anwesend – man kennt jedoch nur Namen von Männern.
Ein über Stuttgart hinaus bekannter Treffpunkt war das bereits erwähnte Atelier des Bildhauers Johann Heinrich Dannecker, die „Danneckerei“ am Schloßplatz, wo sich seit 1808 über Jahre jeden
Donnerstag die politisch und in Fragen von Literatur und Kunst maßgebenden Herren zusammen
fanden und natürlich auswärtige Gäste begrüßt wurden. Auch hier fehlen weibliche Namen, Therese
Huber kommentiert, Frauen seien nicht zugelassen gewesen. (Charlotte Schiller natürlich schon, als
sie die Kolossalbüste ihres verstorbenen Ehemanns begutachtete).
Noch stärker als andernorts – das behaupte nicht nur ich, das ist ein bekannter Topos – herrschte in
Stuttgart eine Männergesellschaft vor, was sicher mit der traditionellen Pfarrhauskultur (Tübinger
Stift) zu tun hatte und mit der Hohen Karlsschule natürlich tradiert wurde.
Klar, es gab die von Carl Eugen begründete „Ecole des Demoiselles“, gefolgt von einem „Lehrinstitut
für junge Frauenzimmer“, später unter Königin Katharina das „Katharinenstift“, aber gelehrt wurde
Tanz, Klavierspiel und, wie es so schön heißt: „gewöhnliche weibliche Geschäfte“. Das heißt, Mädchen hatten nach der Minimalausbildung von Lesen, Schreiben, Rechnen vor allem die Chance, eine
gute Hausfrau und Mutter zu werden.
Ausnahmen bestätigen die Regel.
Marianne Ehrmann (1755-1795)
Zu Beginn der 1790er Jahre besaß das Schriftstellerehepaar Theophil Friedrich und Marianne Ehrmann ein Hanggrundstück – in der Nähe des damals neu errichteten Akademietores – mit einem geräumigen Gartenhaus, in dem das auffallendste zwei Stehpulte waren.
„Oben war eine schöne Laube errichtet, gut geeignet für die vergnügliche Unterhaltung eines nicht
allzugroßen Kreises“, berichtet einer der Gäste der erlesenen Gesellschaft, der Schriftsteller Friedrich
David Gräter aus Schwäbisch Hall, der sich für zweieinhalb Wochen bei den Ehrmanns eingemietet
hatte, in deren Wohnung in der Engen Straße (heute Sporerstraße bei der Markthalle) und der uns
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einen Plan überliefert hat, aus dem hervorgeht, dass dort keine größeren Gesellschaften stattfinden
konnten – an dem Tisch hatten höchstens sechs Personen Platz.
Am 1. August 1793 traf sich eine „erlesene Gesellschaft“, bestehend aus dem Leibmedicus des Herzogs, dem Hofprediger, einem Hofrat, einen Professor der Akademie, einer Erzieherin aus Würzburg
und den erwähnten. Eine Schriftstellerin, die man wegen ihres egozentrischen und exzentrischen Verhaltens nicht dabei haben wollte, hatte die „Hausjungfer“ Christiane Husuwadel abhängen müssen,
bevor sie eine Tafel mit reichlich süßem Gebäck aufbaute.
Was es zu trinken gab, hat der Berichterstatter leider nicht überliefert, nur betont, Kaffee sei in der
guten Stuttgarter Gesellschaft nicht üblich, er sei „ohnehin ein Getränk, dessen ausländische Hitze
sich nicht mit unserer Natur verträgt“ und mache die Bewirtung kostspielig.
Die Stimmung scheint gut gewesen zu sein, man erzählte Gespenstergeschichten und Anekdoten, die
den Gästen „den Kopf warm“ machten und zur Abkühlung stiegen sie im Garten auf und ab. Zurück
in der Laube kam die Rede auf die Liebe und nun stand die Gastgeberin – Amalie, wie sie von ihren
Freunden gewissermaßen mit ihrem Künstlernamen genannt wurde – im Mittelpunkt, die zu diesem
Thema schon einiges publiziert hatte.
Die Gespräche dauerten bis in die Nacht, erst als der „Wachsstock“ zu Ende ging, löste sich die Gesellschaft auf.
Als Marianne Brentano ist sie 1755 in Rapperswil am Zürichsee geboren, kommt nach dem Tod ihrer
Eltern mit zwanzig Jahren zu einem Onkel nach Kempten, arbeitet als Gouvernante und heiratet einen Offizier. Der stellt sich als „Spieler, Wüstling und Tollkopf“ heraus, mißhandelt seine schwangere
Frau, so daß ihr Kind tot geboren wird, veruntreut Gelder und verschwindet, um sich der Verhaftung
zu entziehen. Marianne geht nach Wien, findet keine Stelle, wird Schauspielerin und reist in den folgenden Jahren mit verschiedenen Truppen durch Europa.
Inzwischen hat sie mit Schreiben begonnen und veröffentlicht 1784 anonym zwei Bücher: Müßige
Stunden eines Frauenzimmers und Philosophie eines Weibs. Von einer Beobachterin. Das letztgenannte hat großen Erfolg (provoziert sogar ein Gegenbuch), erscheint in zweiter Auflage und in französischer Übersetzung, wird gut besprochen, unter anderem von dem Straßburger Gelehrten Theophil Friedrich
Ehrmann. Kritiker und Autorin lernen sich kennen, heiraten heimlich – weil seine Eltern die Ehe mit
einer Schauspielerin ablehnen – und leben heimlich zusammen, bis es herauskommt und sie nach Isny
ziehen. Dort ruinieren sie sich finanziell mit einer Frauenzimmer-Zeitung.
Marianne Ehrmann hat mittlerweile ein erfolgreiches Theaterstück geschrieben und einen zweibändigen Roman Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. Sie erzählt darin – autobiografisch und auf eigenen
Erfahrungen basierend – das Leben einer Schauspielerin. Und wenn Amalie äußert: „ein wackrer Junge möchte ich gar zu gerne seyn!“, kann man das gut verstehen – wir kennen diesen Wunsch: „Ach
wär ich ein Mann doch mindestens nur“! (Droste)
Man darf Amalie als frühen Bildungsroman bezeichnen, erschienen 1788, sieben Jahre vor Goethes
Wilhelm Meister. Als Autorin steht auf dem Titel nicht ihr Name, sondern „Von der Verfasserin der
Philosophie eines Weibs“.
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Nach Stuttgart ziehen die Ehrmanns, weil man ihnen Empfehlungen an Carl Eugen mitgegeben und
der Herzog ihm offenbar eine Professur an der Hohen Karlsschule in Aussicht gestellt hatte. Wohl
deshalb widmet Marianne Ehrmann ihr neues Buch Kleine Fragmente für Denkerinnen Franziska von
Hohenheim, der „Beschüzzerinn der Wissenschaften und Selbstdenkerinn“. Die kleinen Fragmente für
Denkerinnen, 1789, im Jahr der Französischen Revolution erschienen, sind sichtlich von deren Geist
durchdrungen:
„Man lasse doch dem weiblichen Geschlecht auch einmal Freiheit zu denken, zu handeln und sich
über patriotische Tugenden zu freuen und warne es erst dann, wenn es darüber die weiblichen
Hauptpflichten vergißt oder sich übereilt von aller Weiblichkeit loswindet und überall Männerrollen
spielen will!! Soll denn dies tyrannisierte Geschlecht ewig von dem Genuß der Freiheit ausgeschlossen
bleiben und nur von dem männlichen Geschlecht geachtet werden, wenn es von ihm Liebe erbetteln
will?“
und:
„Ein gebildetes Frauenzimmer verbreitet in jeder Gesellschaft neues Leben. Sie allein ist es die den
Denker zum Entzükken hinreißt, den Weichling beschämt, den Thoren auslacht. – In unserem Jahrhundert fordert man von uns mehr, als bloßes sinnloses Geschwäz, taktmäßige Etikette oder heuchlerische Ziererei.“
Ein gebildetes Frauenzimmer ist Marianne Ehrmann:, sie schreibt Bücher und Artikel für die Zeitschrift Beobachter, die ihr Mann herausgibt.
Leider weiß man über ihr Leben in Stuttgart, zumal den Salon wenig, nur aus Erinnerungen von Theophil Ehrmann, der seiner Frau damit posthum ein „Denkmal der Freundschaft“ setzt, und aus dem
Bericht eben des Freundes Gräter, von dem wir lesen: „Was für eine Masse von Verstand, Witz, Gefühl, Fantasie und Feuer in diesem einzigen Weibe“ liege. Er schildert sie dann ausführlich, ihre
prächtigen dunkelbraunen Haare, das Gesicht, „nicht geradezu schön“, aber „äußerst interessant,
offen, sprechend u. anziehend“, Augen, Haut, Nase, Mund, Gestalt etc. Er endet „daß man sie hier
durchgängig für höchstens 28. bis 29. Jahre hält, besonders, wenn sie guter Laune ist, wo sie einen
Witz besitzt, daß sie ganze Gesellschaften von Frauenzimmern halb närrisch machen kann, und besonders auch die Männer, mit denen sie sich aber höchst selten abgibt.“
Es sind die Frauen, für die sie sich einsetzt und die Männer, die sie scharf kritisiert. Sie fordert bessere
Erziehung und Bildung für Frauen, fordert sie aber auch zu eigenem Urteilen und Handeln auf. Ein
wichtiges Thema sind die gefallenen Mädchen, denn sie möchte jungen Frauen das Schicksal einer
ungewollten Schwangerschaft ersparen. Sie selber hat übrigens den unehelichen Sohn ihres Dienstmädchens adoptiert.
Marianne Ehrmann ist von den Schriften Sophie von La Roches beeinflusst, die als erste Frau eine
Zeitschrift für „Teutschlands Töchter“ herausgegeben hat: Pomona 1783/84, aber sie ist radikaler.
1790 gründete sie ihre eigene Zeitschrift Amaliens Erholungsstunden, eine Monatsschrift, die mit der
neunten Ausgabe im Verlag von Cotta erscheint. Unter den Zeitschriften der Zeit ist es eine wirklich
feministische, obwohl die Herausgeberin immer mal ihr hausfrauliches Pflichtbewußtsein betont und
sich gelegentlich rechtfertigt, sie habe ja keine Kinder, gehe nur selten in Gesellschaften und teile ihre
Stunden gut ein.
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Bald will der Verleger mitbestimmen, er führt offenbar in der Absicht, neue Leserinnen zu gewinnen,
eine Rubrik „Nachrichten von den Pariser Moden“ ein, und nimmt Artikel gegen den Willen Marianne Ehrmanns auf. Erst distanziert sie sich, dann kommt es zum Streit und man trennt sich. Sie findet
in der Schweiz den Verlag Orell, Gessner und Füssli und führt die Zeitschrift noch zwei Jahre als Die
Einsiedlerinn aus den Alpen fort.
1795 stirbt Marianne Ehrmann mit 40 Jahren an einer Lungenentzündung.
Therese Huber (1764–1829)
Nicht viel später arbeitet in Stuttgart eine Redakteurin für den Verleger Cotta: Therese Huber. Sie
leitet von 1817 bis 1823 das Morgenblatt für gebildete Stände, und die Zeitschrift reüssiert in diesen Jahren
von der provinziellen zur national beachteten Publikation. Aber auch sie hat Grund zur Klage gegenüber Cotta, nicht nur, weil er sie schlecht – schlechter als die männlichen Kollegen – bezahlt, sondern
wegen seiner inhaltlichen Einmischung.
Mit ihrer Arbeit ernährt sie sich und zwei ihrer Kinder, die geschiedene Luise und den studierenden
Victor Aimé. Doch schon zu Hubers Lebzeiten hätte die Familie ohne ihre übersetzende und schriftstellerische Tätigkeit „in Dürftigkeit untergehen müssen“. So en passant – sagt sie einmal – durch
Tagebuch-Verfassen und Korrigieren der Bücher ihres ersten Mannes Georg Forster sei sie zum
Schreiben gekommen, habe aber nicht an ihr Talent geglaubt. Und bezeichnenderweise betont sie:
„Ich verdiente also die Hälfte unseres Einkommens, ohne je ein Hausgeschäft zu versäumen.“
Zwischen 1798 und 1804 hatte sie mit ihrem zweiten Mann Ludwig Ferdinand Huber schon einmal in
Stuttgart gelebt, Texte für Almanache des Cotta Verlags geliefert und einmal als Gastgeberin ein Abendessen für den „großen Kranz“ („Le grand Kränzchen“) gegeben: Zu Ehren des durchreisenden
Iffland wurden 25 Personen mit einem Festmenü bekocht, für das sie zwei Tage in der Küche stand.
Nun ist aus Therese Huber, der ehemaligen Anhängerin der Revolution die berühmte MorgenblattRedakteurin geworden, eine Stuttgarter „Institution“ mit Kontakten in die verschiedensten gesellschaftlichen Kreise – selbst der König Wilhelm I. lädt sie ein und führt mit ihr lange Gespräche. Von
ihr haben wir wunderbare Schilderungen des sozialen Lebens:
„Unser Gesellschaftlicher Verkehr ist sehr angenehm. Wir arbeiten von früh 9 Uhr bis Abends fünf –
und danken dem Schicksal wenn kein Besuch uns unterbricht. Das geschieht aber fast täglich mehr
oder weniger. Meine Stuttg. Bekannte sind, fast ohne Ausnahme, unter denen, die bei der neuen
Thronbesteigung [Ende Okt. 1816] gewonnen. Besonders Wangenheim, der Cultminister, Hartmann,
der Geheimrath geworden, Zeppelin, der Minister der Auswärtigen Angel. ist. […] Außer dieser
Stuttg. Bekannten finden wir bei dem pr. baadenschen und bayerischen Gesandten angenehme Abende. […] Abends 5 Uhr gehen wir aus oder haben Besuch. Von 5 – 7 geht man aus, je nachdem es
bürgerliche oder Vornehme sind. Heute gehn wir um 5 Uhr zum Arzt Schelling, des Philosophen
Bruder, Luisens Arzt. […]. Innigkeit finden wir nirgends, Artigkeit überall, Theilnahme häufig.“
Sie kommentiert Matthisson und seine Frau als stumpf und geistlos, urteilt sich ähnlich über Haug –
„eben so seicht und viel beschränkter, stumpfer […]. So ein bloßer Dichter ist doch ein jämmerliches
Ding! – Weißer seh ich nie. Reinbeck wohl wöchentlich, wo abwechselnd bei Minister Wangenheim
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und Geheimrath Hartmann der Abend zugebracht wird […]. Bei andern Bekannten aus der rußischen
Gesandtschaft wird Dienstag gelesen und Musik gemacht – das sind Pietisten bei denen gehts fromm
her.“
Und ein paar Wochen später urteilt sie:
„Die Eigenschaft welche man den Wirtb. unter den Titel: Gemüthlich anrühmt, ist ein zutäppisches
Wesen das statt Lebensart getrieben wird; aber von Theilnahme und Dienstfertigkeit ganz leer ist. […]
Für die Wohlhabenden ist das einzige Intereße was ich betreiben sah etwas aufzustecken [zu ersparen,
anzulegen]; ist dann noch ein Gefühl neben dem eignen Durchbringen, so ist es die Vetterschaft. Die
Männer sizen in täglichen Zusammenkünften bei schlechten Wein und Tabak, die Frauen mit und
ohne Karten am schläfrigen Theetisch oder sonst etwas. Aber dieses tägl. Zusammenlaufen stiftet
keine Innigkeit, Vertraun, Hülfreichigkeit – kommt Noth am Mann, so weiß keiner von dem Andern.“
Ein herbes Urteil, das verbitterter klingt, als die „Huberin“ wohl tatsächlich war. Jedenfalls stellt man
sie sich nach Justinus Kerners Worten ganz anders vor: „Die Erinnerung an die vergnügten Stunden
die ich in Stuttgardt hauptsächlich durch ihre Güte genoß begleitet mich freundlich durch diesen trüben Winter.“
Die Persönlichkeiten, mit denen sie korrespondierte, besuchten sie bei Gelegenheit: Auf ihrer Gästeliste standen neben vielen anderen Karoline von Humboldt und Henriette Herz, Varnhagen van Ense,
Jean Paul, der während seines Stuttgarter Aufenthalts mehrmals bei ihr zum Tee war und sie eine
„geist- und herrliche Frau“ nennt, oder Ludwig Börne, von dem eine amüsante Beschreibung in einem Brief an Jeanette Wohl vom November 1820 überliefert ist:
„Ich habe gestern Frau Huber besucht, die Morgenblattlaus. Sie wohnt auf Dichterart dem Himmel
näher als andere Menschen, im höchsten Stocke des Hauses. Erbärmlich genug sieht es bei ihr aus. Sie
ist eine Frau in den besten Jahren, so zwischen sechzig und mehr, klein und hager, etwas quecksilbern
und sehr jovialisch. Sie trägt eine Haube und darüber einen Schleier auf Nonnen- oder Matronenart.
Ich habe mich eine Stunde lang recht angenehm mit ihr unterhalten. […] Sie ist ein satirischer […]
Drache. Sie macht sich über alles und alle lustig, besonders über die Mitarbeiter oder Mitarbeitsuchenden beim Morgenblatte. Von denen hat sie mir nun die lustigsten Dinge erzählt.“
Therese Huber ist übrigens erst 56 Jahre alt und trotz zehn Schwangerschaften „Haltung, Gang, Lebhaftigkeit, alles ist jugendlich an ihr“. Daß es bei ihr erbärmlich aussehe, mag hingegen stimmen, denn
aus ihren eigenen Äußerungen weiß man, wie sie mit dem Geld rechnen mußte, allein für Wohnung
und Holz mußte sie die Hälfte ihres Morgenblatt-Honorars ausgeben.
Nach ihrem Weggang 1823 bezeichnete sie die Stuttgarter Jahre (man muss sagen: im Vergleich mit
dem noch provinzielleren Augsburg) wehmütig als die liebsten ihres Lebens und auch ihre Stuttgarter
Bekannten bedauerten den Verlust.
Wir können eigentlich zweierlei bedauern: dass sie als Witwe nicht die Mittel besaß, in Stuttgart einen
Salon zu pflegen, der den Namen verdiente, denn den Esprit und die Kontakte dazu hätte sie ja gehabt. Und: dass wir für die spätere Zeit auf ihre bissigen Kommentare verzichten müssen …
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Emilie Reinbeck geborene Hartmann (1794–1846)
Über Emilie Reinbecks „Salon“ hat sich Therese Huber wohl leider nicht geäußert, was zwei Gründe
haben könnte: Die Huberin kannte Emilie schon als kleines Mädchen und: als Emilie und Georg von
Reinbeck 1826 ihr eigenes Haus bezogen, hatte sie Stuttgart bereits verlassen.
Emilie Reinbeck geborene Hartmann ist vermutlich (wie Marianne Ehrmann) den wenigstens von
Ihnen bekannt, man weiß gemeinhin über sie eigentlich nur, dass sie mit ihrem Vater August Hartmann und ihrem Ehemann Georg von Reinbeck in Stuttgart eben jenen Salon oder jedenfalls ein
offenens Haus führte, dass sie Jean Paul verköstigt und Lenau beherbergt hat – oder dramatischer,
dass er bei ihr wahnsinnig wurde.
Nur in diesem Kontext war sie bisher von Interesse für die Literaturwissenschaft, schade eigentlich,
denn im Stuttgarter Stadtarchiv lagern Gemälde und Zeichnungen von ihr, in der Württembergischen
Landesbibliothek und im Deutschen Literaturarchiv Marbach gibt es Briefe und Aufzeichnungen. Ich
werde Sie Ihnen ein bisschen näher vorstellen, übrigens dank eines biografischen Romans, der dieses
Leben anschaulich macht und einige Lücken schließen kann – bei aller Skepsis gegenüber dem Genre.
Verfasst hat diesen Roman eine Nachfahrin, die durch ihre Erinnerungen an Rilke bekannt gewordene Schriftstellerin Hertha Koenig, das Buch erschien 1913 im renommierten S. Fischer Verlag.
Emilie wurde 1794 in Stuttgart geboren. Sie war die älteste Tochter des Geheimenraths August Hartmann und seiner Frau Mariette, auf sie folgten drei weitere Mädchen: schon ein Jahr später Julie
(französisch-schwäbisch „Schilli“ genannt), Mariette 1802 und Charlotte 1808. Ihre Taufzeugen waren
der Geh. Hofrath Johann Heinrich Jung-Stilling und der Dichter Friedrich Matthisson und es heißt,
sie hätte von dem einen „den frommen Sinn“ und von dem anderen „den elegischen Dichtersinn zum
Angebinde“ erhalten.
Sie war – so charakterisiert der Ehemann in seinem postumen Lebensabriß – „ein ruhiges, sinnendes,
wohlgebildetes Kind, sehr empfänglich und dankbar für jeden Beweis der Liebe, aber auch sehr gekränkt, wenn sie sich an Liebe verkürzt glaubte.“
Den ersten Unterricht erhielten Emilie und Julie – die temperamentvoller und von heiteren Sinn war
– bei einem Privatlehrer, aber großen Einfluss hatte Therese Huber, die mit der Mutter Mariette
Hartmann befreundet war. Ihre Tochter Luise wurde Emilies Jugendfreundin.
Therese Huber beschäftigte sich ernsthaft mit Emiliens Ausbildung, selbst mit der Verbesserung der
schwäbischen Aussprache und sie lud das Mädchen im Sommer 1808 nach Günzburg ein, worüber sie
schrieb: „Liebe Mariette, ich kann Dir fortwährend die besten Nachrichten von Deiner Emilie
Wohlsein und Betragen geben. Sie scheint heiter und fröhlichen Mutes … Fleißig ist Emilie immer,
aber langsam bleibt sie / und wird es wohl immer bleiben, denn das liegt in der ganzen Konstitution.“
Die Mutter legte offenbar Wert auf die traditionell weiblichen Tugenden und bildete sie – so Reinbeck
– „in allen Zweigen des Haushalts, sowie zu allen weiblichen Handarbeiten, in denen sie es zu einer
seltenen Meisterschaft brachte. Es genügte aber ihrem Geiste nicht nur so zu arbeiten, […] sondern
selbst in Kleinigkeiten, in der Verzierung von Speisen z.B. offenbarte sich oft überraschend Geschmack und Erfindungsgabe. So wurde ihre eine geräuschlose Thätigkeit zur anderen Natur: an rau-
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schenden Vergnügungen fand sie wenig Gefallen, ohne daß sie den Jugendmuth verleugnete. Er wurde ihr aber getrübt durch ein hartnäckiges Wechselfieber, das keiner ärztlichen Kunst weichen wollte.“
Wegen ihrer Kränklichkeit wird Emilie öfter zur Erholung geschickt, so zu den Verwandten Mayer
nach Heilbronn, deren ältester Sohn August ihre Jugendliebe wurde. Er war begabt (wohl mehr als
sein Bruder, der dichtende Oberamtsrichter Karl Mayer), Kerner publizierte Gedichte von ihm in
seinem poetischen Almanach, aber er wurde während des Studiums eingezogen und zählt zu den zahllosen jungen Männern, die im Winter 1812 / 1813 in Moskau mit dem Württembergischen Heer verschollen sind.
In der Familie und im Freundeskreis herrschte großer Jammer über den Tod des 20-Jährigen und man
kann sich vorstellen, daß Emilie, wenn sie ihn denn geliebt hat, zutiefst getroffen war.
In diesen Jahren unterrichtete sie die jüngsten Kinder in der Schule, die der Minister Karl August von
Wangenheim gegründet und nach der Pestalozzischen Methode ausgerichtet hatte. Sie hat das wohl
gerne und dank ihres ruhigen, geduldigen Wesens auch gut gemacht. Warum sie, als die Anstalt erweitert wurde und ihr eine Lehrstelle mit einem nicht unbedeutenden Honorar angetragen wurde, zurückzog?
Reinbecks Erklärung lautet: „Die Verhältnisse ließen es nicht zu, diesen Antrag anzunehmen, der
sonst wohl ihrer Neigung, sich zu einer Erzieherin auszubilden, entsprochen hätte.“. Ich denke, das
Bild einer Lehrerin passte einfach nicht in das Denken der Stuttgarter Ehrbarkeit; so lange es gewissermaßen ein Freundschaftsdienst war – die Familie Hartmann und Wangenheim lebten in diesen
Jahren in der Langen Straße im selben Haus und waren eng befreundet – war das Unterrichten gesellschaftsfähig, aber als Profession ging das zu weit, war vielleicht auch einer künftigen Eheanbahnung
abträglich.
Emilie malt also und macht – wie es heißt – unter der Anleitung eines geschickten Lehrers bedeutende Fortschritte im Blumen- und Köpfezeichnen, wichtig wird ein mehrmonatiger Aufenthalt in der
Schweiz, in deren Landschaft und Natur sie schwelgt.
Die Pastelle und Ölgemälde von Emilie Reinbeck sind eher konventionell: schweizerische Gebirgslandschaften oder südliche Gestade, Meer- oder Seeszenen mit stürmischen Wellen und einem gekenterten Boot. Die Stimmung ist oft Dämmerung mit rosa Himmel oder Mondlicht, das durch die dunklen Wolken bricht, meistens steht oder kniet oder ruht irgendwo eine einsame Gestalt, gewöhnlich ein
Mann, ein Mönch, ein Wanderer oder Hirte, nicht selten gibt es eine Kapelle, einen Kirchhof oder
wenigstens ein Kreuz …
Diese wenigen Stichworte genügen wohl, Ihnen einen Eindruck zu geben: es ist die romantische Malerei der Zeit mit den entsprechenden idyllischen Accessoires, voller Sehnsucht nach Harmonie wie
nach Grenzerfahrung, symbolhaft bis zum Klischee, wenn etwa unter dem Bogen eines Kreuzgangs
zwei Frauen neben einem leeren Vogelkäfig mit Blick aufs weite Wasser sitzen.
Es sind Bilder, die man sich ins Wohnzimmer hängen konnte, handwerklich nicht schlecht, aber konventionell und für die Kunstgeschichte unbedeutend. Der Ehemann lobt natürlich, ebenso die nächste
Umgebung, aber: „Äußere Aufmunterung wurde ihr wenig zu Theil, dazu war Stuttgart nicht das Ter-
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rain.“ Anfangs hatte sie Bilder zu Ausstellungen oder wohltätigen Zwecken gegeben, aber sie unterließ
es dann, offenbar weil sie sich zu wenig geschätzt fühlte. Dies änderte sich dann erst mit Lenau.
Bisher war noch kaum die Rede von der Familie und dem Hartmannschen Haus, das neben den Häusern des Tuchhändlers Rapp und des Obertribunaldirektors Georgii eine Stätte bürgerlicher Geselligkeit bildete – über 70 Jahre und an drei verschiedenen Orten in Stuttgart.
Johann Georg Hartmann (1731–1811), Emilies Großvater, war Gestütmeister in Marbach und Herzogl. Hof- und Domänenrat in Stuttgart, verheiratet mit Juliane, geborene Spittler. Er ist derjenige,
der in seinem Haus in der Casernenstraße / Ecke Gartenstraße (auf dem Bollwerk) Goethe bei seinem ersten Aufenthalt 1779 auf Empfehlung von Lavater begrüßt und durch die Stadt begleitet hatte.
Im Jahr darauf war Friedrich Nicolai zu Gast und Schubart kam – nachdem er vom Hohenasperg
entlassen war– zum Klavierspielen vorbei. Hartmanns waren mit Schillers Eltern befreundet, (sie hatten ähnliche Interessen für die Baumzucht) und auch Schiller selbst stieg bei seinem Stuttgarter Besuch dort ab.
Der älteste Sohn Johann Georg August Hartmann (1764–1849) führte das gastfreie Haus seiner
Eltern fort. Nach dem Studium wurde er Professor für Verwaltungswissenschaften in der Hohen
Karlsschule; als diese 1793 aufgelöst wurde, erhielt er ein Ruhegehalt von 500 Gulden. Er hatte verschiedene Posten und übernahm später – wie Rapp auch – für Königin Katharina viele gemeinnützige
Aufgaben; 1827 gründete er mit Rapp und Dannecker einen Kunstverein, dem sofort 473 Mitglieder
beitraten.
1792 heiratete er Anna Mariette Dannenberger, von er es heißt, sie „war das Muster einer Frau, denn
sie besaß einen unermüdlichen Fleiß und Sorge für die Ihrigen, echte Herzensgüte und einen tief religiösen Sinn, und endlich ein großes Interesse auch für geistige Genüsse“.
Das Ehepaar Hartmann gehört mit den Familien Wangenheim und Matthisson, den Schwabs und
Therese Huber dem Lesekränzchen an, das sich Donnerstagabend zu Tee oder Wein traf.
Hier findet die Scherenschneiderin Luise Duttenhofer (1776–1829), die mit ihrem Mann, dem Kupferstecher Christian Friedrich Traugott Duttenhofer, nicht weit entfernt in der Kasernenstraße 10
wohnt, Vorbilder für ihre originellen und virtuosen Porträts. Über die ambivalente Reaktion der Konterfeiten auf ihre Silhouettenkunst – die zweimal öffentlich ausgestellt wurde – hat Johann Christoph
Friedrich Haug ein treffliches Epigramm gereimt:
Ich fürchte die Schere der Parzen sehr;
Doch, weiblicher Hogarth, die Deine mehr.
Zusatz.
Allein – Ich sag’s mit Offenheit –
Trotz heimlicher Betroffenheit
Bewundr’ ich die Getroffenheit.
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Reinbeck kam spätestens 1810 in das Hartmannsche Haus, schon im selben Jahr hat er einen KartenAlmanach veröffentlicht, eine in Briefform abgefasste Erklärungen des olympischen Götterhimmels,
die an Emilie gerichtet ist.
Hertha Koenig zeigt in ihrem Roman keine große Sympathie für Reinbeck und kolportiert einen perfiden, immer wieder gefallenen Satz: Er möchte nicht der Zerstörer ihrer Jugend sein.
Seine geduldige Werbung um Emilie hatte jedenfalls Erfolg, am 7. Juni 1817 fand die Hochzeit statt:
sie war 23, er 51.
In Marbach findet sich eine handschriftliche Aufzeichnung von Emilie Reinbeck, in der sie sich über
„Das Jahr 1817“ Rechenschaft gibt und aus dem hervorgeht, dass sie ihn aus Vernunft, nicht aus Liebe geheiratet habe:
Reinbeck sei ein gebildeter und geschätzter, ein lieber und gütiger Mann, und so habe sie sich entschlossen, „die Gefühle ihrer Jugend zu unterdrücken und ihm eine treue gute Gattin zu werden“. Sie
betont seine scheinbar unendliche Zuneigung, aber sie müsse Zeit haben, sich in ihre Lage zu finden.
Warum und für wen hat sie das wohl aufgeschrieben?
Tatsächlich scheint Reinbeck sehr fürsorglich und liebevoll gewesen zu sein,
zu ihrem Geburtstag am 22. Januar schrieb er ihr alljährlich in winziger Schrift Gedichte auf kleine
Papiere mit geprägten Ranken und die Widmung in seiner 1829 erschienenen Novellensammlung
Lebensbilder ist geradezu anrührend, darin heißt es: „Für Dich zunächst habe ich dies Sträußchen gebunden. Möge es Dir Denkmal der Liebe und Achtung sein, die mein Herz bis zum letzten Schlage
für Dich fühlen wird.“
Eine kurze Bemerkung sei zu Georg von Reinbeck erlaubt. Er wurde 1767 in Berlin geboren, lebte
als Lehrer in St. Petersburg, später in Heidelberg, wo er in die Auseinandersetzungen zwischen Johann Heinrich Voß und den Romantikern Clemens Brentano und Achim von Arnim verwickelt wurde, weil er fürs Cottasche Morgenblatt schrieb. Dadurch kam er 1808 nach Stuttgart, lebte als Schriftsteller, sogar Dramatiker und unterrichtete am Gymnasium, wo er wegen seiner auffälligen Kleidung
und norddeutschen Art Zielscheibe manchen Spotts wurde.
Werfen wir nun einen Blick in den Hartmann-Reinbeckschen Salon (zunächst in der Langen Straße,
ab 1826 in der Friedrichstraße).
Jean Paul weilte von 7. Juni bis Anfang August 1819 in Stuttgart und merkte, nachdem er mit Reinbeck zusammengetroffen war, daß er „in den Strom geraten sei und ihm nichts mehr fehlen werde, als
ein bischen Einsamkeit“. Was nicht verwundert, wenn man seinen Speise- und Trinkzettel liest:
10. [Juni]
Diner bei Beroldingen – Thee bei der Paulus […]
11.
Thee bei Matthisson
12.
Diner bei Beroldingen – Thee auf der Gaisburg
14.
Thee bei Md. Huber
15.
Diner bei Reinbeck und Thee auf der Gaisburg
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17.
Diner bei Cotta und Thee bei Md. Huber
18.
Diner bei Reinbeck und Thee Gehm Rat Hartmann
19.
Diner bei dem bayr. Gesandten – Fahrt nach der Silberburg
20.
Diner bei Beroldingen – Thee bei Cotta
21.
Diner bei Reinbeck
22.
Thee bei Matthisson
Emilie Reinbeck beschrieb ihn treffend:
„Er kam auf mehrere Wochen hierher und wohnte uns gegenüber und war oft unser Gast beim einfachsten Mittagessen, wie er es eben fand, wenn er ungeladen, aber stets herzlich willkommen sich
dabei einfand. Ich erkannte gleich ein gar reines, liebevolles Gemüt, und darum stand mir diesmal
meine Schüchternheit nicht so sehr im Wege wie gewöhnlich, wenn ich ausgezeichnet bedeutende
Menschen vor mir habe. Ich gewann mir bald einen warmen Freund an ihm. Ob er’s mir bleiben
wird? Ich glaube nicht. Sein Gedächtnis ist mit viel zu viel glänzenden Gegenständen angefüllt, als daß
der schwache Schimmer meines Andenkens durchdringen könnte, aber wenn er einmal von außen
sollte wieder an mich erinnert werden, so wird er gewiß wohlwollend meiner gedenken.“
So war es, er schrieb später: „Den alten Hartmann samt Frau und schönen Mädchen kann ich gar
nicht genug loben und lieben und seine Tochter samt Mann (Reinbeck) nahmen vor Liebe zweimal
Abschied von mir wiewohl beide vorher noch etwas Innigeres für mich gezeigt, daß sie mich nämlich
zum unterschreibenden Mitzeugen ihres Testaments gewählt. So gehörte man auf einmal ins Haus
und Herz.“
Weitere auswärtige Gäste waren Ferdinand Freiligrath, Ludwig Tieck, Levin Schücking oder Emanuel
Geibel, der Stuttgart lobt, weil man wie auf dem Lande lebe und doch die Anregungen der Residenz,
lebendigen Umgang und Musik, Theater habe: „Auch im Hartmannschen Kreise bewege ich mich
gern. Dort ist der einzige Ort, wo man Musik hört, und ich kann einmal ohne Musik nicht leben.“
Eine Schilderung möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, sie stammt von F. von Hohenhausen (hinter
diesem Pseudonym verbirgt sich Elise Rüdiger, die Freundin der Droste und Laßberg hatte ein Empfehlungsschreiben mitgegeben) und berichtet über „Begegnungen in Stuttgart im Herbst 1843“:
Das Haus sei groß und komfortabel, die Wohnung im 1. Stock wohnlich und elegant, alles voller
Teppiche, Blumen und Bilder – es ist das Haus in der Friedrichstraße, im EG wohnen Hartmanns,
darüber Reinbecks.
„Emilie Reinbeck selbst in nonnenhaft dunkler Kleidung, sanft und resigniert wie eine Matrone, obwohl sie es dem Alter nach noch nicht war [49 Jahre]. Lenau ersetzte ihr den Sohn, den sie nie besessen, den Bruder, den sie früh verloren“ …
Im August 1831 kommt Nikolaus Lenau (eigentlich Niembsch Edler von Strehlenau) nach Stuttgart
und berichtet darüber nach Wien, dass Gustav Schwab schon bei der ersten Begegnung „enthusiastisch“ von seinen „Poesien ergriffen“ gewesen sei.
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Schwab führt den Gast gleich in den Leseverein ein, liest „mit großem Feuer“ dessen Gedichte vor
und am Ende des Abends hat man bereits Bruderschaft getrunken. „Einige Stunden waren genug, uns
zu Freunden zu machen“, resümiert Lenau begeistert und: „In drei Monaten ist man hier mehr bekannt als in Wien in drei Jahren.“
Tatsächlich schließt der junge Dichter aus Ungarn, der eigentlich nach Süddeutschland gekommen
war, um in Heidelberg ein Semester Medizin zu studieren, sofort zahlreiche Freundschaften, vor allem
mit Karl Mayer und Graf Alexander, reist zu Kerner nach Weinsberg, unterschreibt – durch Schwabs
Vermittlung – mit Cotta einen Vertrag über einen Gedichtband und bezaubert die Damen.
Er wohnt zunächst im Haus von Gustav und Sophie Schwab, die seine erste mütterliche Vertraute
wird. Das ist auch nötig, denn Lenau verliebt sich Hals über Kopf in Charlotte Gmelin, eine Nichte
von Sophie Schwab.
Die Liebesgeschichte verläuft unglücklich und Lenau dichtet unter dem Eindruck der Trennung die
„Schilflieder“. Dieser Zyklus aus fünf Gedichten wurde im „Morgenblatt“ abgedruckt, von Emilie
Reinbeck illustriert und später von Emilie Zumsteeg vertont.
Den ersten Brief schreibt Lenau an Emilie Reinbeck zum Tod ihrer Mutter im Mai 1832, aber vorher
war er bereits mehrmals im Hartmann-Reinbeckschen Haus zu Gast gewesen und hatte „viel Liebe
erfahren“.
Schwester Mariette hat ihn porträtiert, Schwester Julie sei ungeheuer gebildet, Lotte könne schön singen, Hartmann sei stattlich und ernst, die Mutter eine sehr lebhafte alte Frau.
„Die vierte Tochter, eigentlich die erste, (als die Älteste) ist an Hofrath Reinbeck verheiratet; mir die
allerliebste. Das ist eine köstliche Frau. […] Ein ganzes Zimmer hat sie mit herrlichen Landschaften
(Oelgemälden) behängt, alles ihre Arbeit.“ Seine Waldkapelle hat sie in zwei Bildern gemalt und ihm
eine Kopie angefertigt.
Er fühlt sich sichtlich wohl in diesem Haus:
„Was Traulicheres Liebevolleres gibts nicht als das Zusammenleben dieser Menschen. Alle Schöngeister, die nach Stuttgart gekommen, haben sich in diesem Hause eingefunden. Matthisson, Tieck, Jean
Paul, Rückert u.a. waren oder sind noch intime Hausfreunde. Ich bringe täglich mehrere Stunden zu
mit den geistreichen Frauenzimmern. Der Hofrath Reinbeck baut vortrefflichen Spargel, und hat seine Passion mit dem Ausschneiden und Essen dieser Gewächse, in letzterem bin ich oft sein getreuer
Gehülfe. Also Leib und Seele versorgt.“
Weil wir grade Saison haben, noch ein passendes Zitat aus einem Brief Lenaus an Kerner: „Heute bin
ich wieder bei Reinbeks auf ein großes Spargelfressen. Spargel wie Kirchthürme werden da gefressen.
Ich allein verschlinge 50-60 solch Kirchthürme, und komme mir dabei vor, wie eine parodie unserer
politisch prosaischen, durchaus unheiligen Zeit, die auch schon das Maul weit aufsperrt um alles Heilige, und namentlich die guten gläubigen Kirchthürme wie Spargelstangen zu verschlingen.“
Lenaus Briefe sind reizvoll, nicht immer so komisch wie die an Kerner, den er umarmt „bis Dir die
Rippen krachen“, jedoch immer anschaulich und schwärmerisch. Neben seiner Schwester Therese
und dem Schwager sind es vor allem Schwabs, Mayers, Kerner und eben Reinbecks, denen er
schreibt, fast hundert Briefe werden es in den zwölf Jahren bis 1844, mehr als ein Sechstel aller edier-
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ten – irgendwo findet sich der Satz, wir hatten doch verabredet, uns immer innerhalb von drei Tagen
zu schreiben …
Seine Briefe kommen von überall her, von seiner unglücklichen Amerikareise 1832 / 32, aus Wien,
aus Weinsberg und dem Schlösschen Serach bei Esslingen, sie handeln von Gedichten, die er schickt
(und um deren Redaktion Reinbeck sich kümmert), von ihren Bildern – „O malen Sie, theure Freundin!“ und dass er ihr von Schwind Farben besorgen will. Vor allem handeln sie natürlich von seiner
physischen und psychischen Befindlichkeit, beschwören die Erinnerungen an seine Freunde, an Stuttgart. Er lässt immer alle grüßen und webt an einem engen Netz der Freundschaft, das ihn ja auch eine
Weile trägt.
Nach der Rückkehr aus Amerika wohnt er, wenn er in Stuttgart ist, bei Reinbecks: „Ich lebe hier sehr
gemüthlich. […] Die liebe Emilie hat mir mein Zimmer gar schön geschmückt, mit drei Bildern, welche sie nach Gedichten von mir gemalt hat. […] Ein unaussprechlicher Zauber liegt in dem warmen
Colorit der lieben Künstlerin; jedes Wölkchen athmet, jedes Blatt pulsiert. Man kann nicht ohne süssen Herzschlag vor ihren Bildern stehn.“ (Juli 1833)
Und Emilie? Wie stand sie zu Lenau? Ihre Briefe sind verschollen, wahrscheinlich von ihm verbrannt,
wir sind also auf Stimmen von dritten angewiesen.
Eine Quelle ist eine Freundin Emilies, Emma von Suckow, die unter dem Namen Emma Niendorf
Reiseberichte, Erzählungen und eben das Buch „Lenau in Schwaben“ verfasst hat. In einer Art Tagebuchroman (in dem Emilie Elise heißt) beschreibt sie Lenaus letzte Jahre, das Einfühlungsvermögen
Emilies, wenn sie in ihren Bildern nach Lenaus Gedichten malt, und scheint, wenigstens dem Ton
nach, aus Briefen von ihr zu zitieren.
Da heißt es im Sommer 1843: „Du kannst Dir denken, wie schwer mir dies [Lenaus Abreise] wieder
auf dem Herzen liegt; denn es ist ja nicht die räumliche Trennung allein, die ich dann zu beklagen
habe – das Aufhören aller näheren Beziehungen schmeckt eben gar zu bitter nach einem längeren
Zusammenleben, das doch wenigstens seine traulichen Momente hatte. Und dann weißt Du ja, wie es
meinem armen Herzen zum Bedürfniß geworden ist, unserem Freunde all’ die Liebe und Sorge zu
widmen, die ich einem Kind geschenkt, wenn der Himmel mir nicht dies Glück versagt hätte …“
Emma Niendorf konnte die Faszination Lenaus gut nachfühlen, glaubt man der anschaulichen Schilderung von ihrer ersten Begegnung:
„Als ich bei Hofrat von Reinbeck in den Salon trat, war Herr von Niembsch noch nicht da. Die
Hausfrau führte mich ihm bei seinem Eintreten gleich zu. Da stand er nun vor mir, und nur schüchtern sah ich ihn an – ganz der schöne, bedeutungsvolle Kopf, den ich kenne. Die Gestalt ist kleiner als
ich dachte. Er sieht sehr bleich und düster aus. Leidenschaften und Denken haben Furchen gezogen
auf dieser edlen, ich möchte sagen königlichen Stirne. Er sprach nicht viel und zog sich meist zurück
in eine Ecke oder in das Nebenzimmer. Beim Thee wechselten wir die ersten Worte; über Kerner.“
Sie beobachtet ihn im Gespräch mit Graf Alexander und als sie später noch einmal Gelegenheit hat,
mit ihm zu plaudern, „wobei er mir mit seinen ganz geistleuchtenden Augen bis in’s Herz hinein sah“,
empfindet sie seine „Geistermacht. Er hat wirklich etwas Schauerliches, Überwältigendes und Holdes
zugleich. Er elektrisiert damit.“
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Emma Niendorf kannte den Kopf, „das Ideal eines Dichterbildes“, bereits von dem Lenau-Porträt,
das Emilie Reinbeck – die Hausfrau der beschrieben Szene – gemalt hatte und das bei ihr im Wohnzimmer hing. Sie hatte es nach einem Porträt von Karl Rahl kopiert, das dieser für Kerner anfertigte
und das in Weinsberg hängt.
Auch wenn die Freunde manchmal ausgesprochen genervt waren von Lenaus Launen, der zuerst von
Stuttgart als einem ewigen Freudenfest geschwärmt hatte und zunehmend unter dem Klima und allem
litt, aber sie ließen sich immer wieder von seinem Charme bezaubern:
„Durch sein Wiederkommen und Entschuldigen aber bestach er mich wieder sehr. Wir schieden natürlich in Liebe“, berichtet Kerner an Sophie Schwab, manchmal scheint man regelrecht eifersüchtig,
wer Lenau bemuttern darf.
An Kerner schreibt Emilie Reinbeck sehr offen, in ihrem Geburtstagsbrief im September 1840 heißt
es: „Es ist für mich heute sonst ein sehr trüber Trennungstag, ich stehe wieder am Ufer und schlage
voll Schmerz mit den Flügeln, während das anders geartete kind voll heiteren Muts davon schwimmt;
aber ich vertraue dem Himmel, daß er ihn schütze und bald wieder zu uns führe, und ich will mir mit
dieser Hoffnung den langen traurigen Winter zu erheitern suchen.“
Ob zufällig oder bewußt nimmt Theobald Kerner das Bild auf, wenn er formuliert: „Die gute Emilie
hatte mit ihrem unbändigen ungarischen Schützling, an dessen Verzärtelung sie eben selbst goße
Schuld trug, gar manches auszustehen; mein Vater verglich sie einer Henne, die ein Entlein ausgebrütet habe und nun angstvoll am Ufer auf und ab tripple und seinen waghalsigen Schwimmkünsten zuschaue“.
Reinbecks hatten wahrhaft eine Menge auszustehen. Im Frühjahr 1841 lag Lenau mit Scharlachfieber
bei ihnen und isolierte seine Gastgeber völlig von der Außenwelt. Seine Medizin nahm er nur, wenn
man sie ihm mit den Wort gab: „Die Frau Hofräthin läßt bitten!“
Aber die Katastrophe geschah dann drei Jahre später, Emilie Reinbeck hat sie minutiös geschildert in
ihrem Tagebuch über „Lenaus Erkranken 1844“.
Diese Aufzeichnungen sind nachzulesen in einem oktavformatigen Leerbuch, 122 Seiten hat sie mit
Tinte beschrieben, ohne Streichungen oder Verbesserungen, anfangs in einer sehr aufgeregten, unruhigen Schrift, die dann aber gleichmäßiger wird.
„Am 1. August 1844 kam unser alljähriger lieber Schützling bei uns an, in guter Gesundheit und heiterer Stimmung. […]
In der Nacht auf den 13. Oct. erstes Delirium.
Die Leute vom Vater, die gerade unter ihm schliefen, machten eine schreckliche Beschreibung von
dem unausgesetzten Rumor, den er gemacht mit Laufen u. Herum werfen der Möbel, Bücher u.s.w.
Er erzählte mir am Morgen, daß er in einem furchtbaren Zustand der Verzweiflung gewesen, mit
Selbstmords Gedanken umgegangen sei, u. endlich eine menge papiere zerrissen u verbrannt habe. Er
hatte diese, wie es schien, meist aus der Kiste genommen, aus versiegelten und überschriebenen Umschlägen, die halb zerrissen im Zimmer umher lagen, das in größter Unordnung war, die Waschschüssel zersprengt, unzählige abgebrannte Streichhölzer u.s.w.“
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Die Erinnerung an die Nacht versetzt ihn in größte Unruhe, er läßt sich aber beruhigen, beim Essen
ist er heiterer Stimmung, möchte mit Emilie Reinbeck ausfahren, da ärgert ihn alles, er will den Kutscher verprügeln und beim Abendessen ist er dann wieder liebenswürdig und liest Gedichte vor.
So vergehen die nächsten Tage, in ständigem Wechsel zwischen den Stimmungen. Irgendwann greift
er Reinbecks als Mörder und Giftmischer an, will sich selbst erwürgen, springt aus dem Fenster, tobt,
läßt sich nicht mehr beruhigen.
Am 21. Oktober entscheiden sich Reinbecks zusammen mit den Ärzten, ihn in die Heilanstalt für
Geisteskranke nach Winnenthal zu bringen.
Nochmal Emilie Reinbeck:
„Wie er dann in den Wagen gebracht wurde! – so im höchsten Aufruhr gegen Alles u wie sehr er auch
vorher fort verlangte, nun doch nicht gehen wollte. – Ach, das war eine so furchtbare Szene, daß ihr
Eindruck, mit all den erschütternden Auftritten, die ich in dieser Zeit erlebte, einen schwarzen Schleier auf den Rest meines Lebens geworfen hat, den nur der Tod wegnehmen kann.“
Und die Nachschrift bestätigt das noch einmal:
„Dennoch läßt der Kummer über sein unglückselig Los mir keine Ruhe und verdüstert den Rest meines schmerzvollen Lebens.“
Lassen wir abschließend den Ehemann Georg von Reinbeck zu Wort kommen:
„Von diesem schrecklichen Tage an hatte Emilie keinen gesunden Augenblick mehr und rührte auch
keinen Pinsel mehr an. Sie lebte nur noch für ihren Gatten und den liebevollen engeren Familienkreis,
der den innigstgeliebten Vater umschloß. Hier fand sie selbst noch Augenblicke der Heiterkeit, in
welcher ihr Humor oft noch seine nie verletztenden Witze schleuderte. Ernstere Lektüre, besonders
naturgeschichtliche, religiöse der Menschenkenntnis befördernde Schriften, aber auch geistreiche
Dichtungen und Erzählungen, Handarbeiten und ihre Haushaltung erfüllten ihre oft sehr einsamen
Tage, und gefaßt und ergeben, sah sie auf dem 18wöchigen Schmerzenslager deren Ende entgegen,
das ihr, von der unermüdlichen Pflege schwesterlicher Liebe erleichtert, ja erheitert, am 15. August
[1846] eintrat.“
Dieses individuelle Schicksal hat die Salon-Thematik zugegebenermaßen gesprengt, mir war es aber
wichtig, weil es jenseits des Psychologischen ein Frauenschicksal im 19. Jahrhundert dokumentiert, die
Befangenheit in der engen Rollenzuweisung.
Resümierend kann man feststellen, dass es in Stuttgart eine Art Salons gegeben hat, auch wenn sie
sich "Kränzle" oder "Thees" nannten, aber sie waren im Vergleich mit den literarischen Salons in
Berlin enger, stärker auf sich bezogen, wohl auch weniger offen für die ganz aktuelle, avantgardistische Literatur. Und sie waren männerdominiert, wie wir gesehen haben.
Verzichten musste ich leider auf eine Vorstellung einer besonderen literarischen Stätte, das kurz erwähnte Kerner-Haus in Weinsberg, in dem Hunderte von Gästen aus aller Welt sich einfanden, aus
Interesse an oder Neugier auf Justinus Kerners ärztliche Kunst und seine "Geisterseherei", allerdings
waren auch alle namhaften Literaten der Zeit zu Gast.
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Lesekränzle und Salons
Und heute?
Es existieren einerseits eine Vielzahl von Lesezirkeln und Einladungen der "besseren" Gesellschaft,
andererseits wird der Begriff des Salons als Marke benutzt: Niedlichs literarischer Salon, eigentlich
eine sonntägliche Matinee mit Autorenlesungen im Schauspielhaus oder der Mörike-Salon in der
Stadtbücherei, schlicht ein Raum für Veranstaltungen.
Vielleicht gäbe es, neben den zahlreichen öffentlichen Orten der Literatur wirklich einen Bedarf nach
einem privat geführten Salon, der gleichermaßen Kunstförderung betreibt und Kommunikation im
kleineren, vertrauten Kreis bietet.
© Irene Ferchl, April 2007
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Lesekränzle und Salons
Zum Weiterlesen:
Bausinger,
Hermann: Ein bißchen unsterblich. Schwäbische Profile. Bleicher Verlag, Gerlingen
1999
Brandstätter,
Horst / Holwein, Jürgen (Hrsg.): Stuttgart – Dichter sehen eine Stadt. Texte und Bilder
aus 250 Jahren. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1989
Ehrmann,
Marianne: Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. Hrsg. von Maya Widmer und
Doris Stump. Haupt Verlag, Bern / Stuttgart / Wien 1995
Ehrmann,
Marianne: Amaliens Erholungsstunden. Nachdruck einer Monatsschrift von 1790. Hrsg.
von Sigrid Düll. Academie Verlag, St. Augustin 1998
Elhardt,
Armin: „Legationsrat Richter? Den kennt niemand …“. Jean Pauls Besuch in Stuttgart.
Dt. Schillergesellschaft, Marbach a. N. 2001, Spuren 51
Ferchl,
Irene: Stuttgart – Literarische Wegmarken in der Bücherstadt. Klett-Cotta, Stuttgart
2000
Ferchl,
Irene und Wilfried Setzler: Landpartien in die Romantik. Auf den Spuren der Dichter
durch Baden-Württemberg. Silberburg-Verlag, Tübingen 2006
Hahn,
Andrea / Fischer, Bernhard: „Alles … von mir!“ Therese Huber (1764–1820), Schriftstellerin und Redakteurin. Dt. Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1993 ( Marbacher Magazin 65)
Hässlin,
Johann Jakob (Hrsg.): Stuttgart. Prestel Verlag, München 1968
Jamme,
Christoph und Otto Pöggeler: „O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard“. Politik,
Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 1988
Koenig,
Hertha: Emilie Reinbeck. Roman. S. Fischer, Berlin 1913
Pfäfflin,
Friedrich und Waltraud / Dickenberger, Udo: Der Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof als
literarisches Denkmal. Dt. Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1991 (Marbacher Magazin 59)
Riepl-Schmidt,
Maja: Wider das verkochte und verbügelte Leben. Frauen-Emanzipation in Stuttgart seit
1800. Silberburg Verlag, Stuttgart 1990
Sauer,
Paul: Geschichte der Stadt Stuttgart. Band 3. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1995
Scheffler,
Walter: Lenau in Schwaben. Eine Dokumentation in Bildern. Dt. Schillergesellschaft,
Marbach am Neckar 1977 (Marbacher Magazin 5)
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