Edward van de Vendel: Was ich vergessen habe

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Edward van de Vendel: Was ich vergessen habe
© Staatstheater Braunschweig
Edward van de Vendel:
Was ich vergessen habe
Für die Bühne dramatisiert von Andreas Steudtner nach der Übersetzung ins
Deutsche von Rolf Erdorf
2 D – 2 H in Doppelbesetzung, ab 10 Jahren, UA: Staatstheater Braunschweig,
2010
Elmer Jonas de Jong ist elf Jahre alt und er wird oft rot. Eigentlich fast immer. Es scheint in den
Füßen zu beginnen und dann läuft er langsam heiß und strahlt in Stereo nach links und rechts.
Soscha sagt, das sei toll, weil er so ihre „rote Ampel“ sein könne.
Soscha ist neu in der Klasse und sie hat sich einfach neben Elmer gesetzt, weil er nett ist. Küssen
wird sie ihn erst, wenn er es will, sagt Soscha. Und Elmer wird schon wieder rot. Soscha will eine
Menge wissen. Zum Beispiel, warum Elmer nicht von seinem Opa Remmelt erzählen mag. Sein
Opa, der Zigarren rauchte und Seemannslieder sang und Elmer auf den Knien reiten ließ! Wie
kann es denn sein, dass dieser Opa einfach alles vergessen hat und niemanden mehr erkennt?
Elmer ist hilflos und traurig. Doch als er und Soscha auf Opas alten Tonbändern eine
Frauenstimme hören, die „für Remmelt“ ein französisches Gedicht über die Liebe spricht,
beginnen sie eine Suche nach verlorenen Erinnerungen. Für Opa Remmelt. Und Elmer findet
einen Weg, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen – so lebendig wie seine eigene
Gegenwart plötzlich ist.
Alle Rechte beim
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SZENE 1
Im Klassenzimmer
LEHRERIN
Komm rein, komm nur, komm. Wo möchtest du sitzen? Kinder,
das hier ist Soscha Londerseel. Sie ist gerade umgezogen und
kommt zu uns in die Klasse. Wo möchtest du sitzen?
ELMER
Der Blick der Neuen schweift durch die Klasse und ich entdecke
hinter ihr meine Mutter. Für die Zuschauer nicht zu sehen Meine
Mutter ist die Direktorin an unserer Schule. Sie nickt der
Lehrerin zu und geht wieder zurück zu den toten Dingen des
Lebens. So nennt sie die Telefonate, die Sitzungen, den
Papierkram, die Verwaltung und alles, was sie an ihrer Arbeit
nicht mag. Wenn sie stattdessen mal wieder eine Stunde
Unterricht geben darf, dann nennt sie unsere Schule ihre
tagtägliche Rettung.
Soscha blickt durch die Klasse, tritt ins Licht
SOSCHA
Neben ihm da. Ich will neben ihn. Ich glaube, er ist nett.
Soscha zeigt auf Elmer, der wird rot. Soscha setzt sich neben ihn.
MARK
Pfff. Elm wird rot.
SOSCHA
Wie heißt du?
ELMER
Äh - Elmer.
SOSCHA
Schön. Elmer. Ich heiße Soscha.
LEHRERIN
Gut, Stillarbeit ist angesagt. Elmer, zeigst du Soscha, worum es
geht? Die Sachen für sie habe ich schon bereitgelegt.
Leherin überreicht Soscha die Schulsachen.
ELMER
Ich erkläre ihr die Aufgabe und das Rotwerden lässt etwas nach.
Es sackt irgendwohin in Magenhöhe, wo es bleibt wie eine
Zündflamme, die sofort wieder auflodern kann, wenn einer das
Gas aufdreht.
Klingel zur Pause
MARK
Elmer ist verrückt nach Mädchen.
SOSCHA
Wenn du das noch mal sagst, haue ich dir eine. Und glaub mir:
Ich meine es ernst!
MARK
lacht. Ich hab mich natürlich vertan. Ich meine: Elmers Mädchen
ist verrückt.
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SOSCHA
Du sagst es und du vertust dich in der Tat.
Soscha schlägt Mark eine geschwollene Lippe. Lehrerin kommt mit Kaffeetasse
steckt sie in ihre Manteltasche tröstet Mark.
LEHRERIN
So regeln wir so was hier nicht! Soscha, geh bitte sofort nach
drinnen.
Elmer geht mit. Lehrerin holt den Kaffeebecher aus ihrer breiten Jackentasche.
LEHRERIN
Und was jetzt?
SOSCHA
Ihren Becher austrinken und Strafarbeiten verteilen.
LEHRERIN
Ja, das scheint mir auch das Beste. nimmt einen Schluck. Schaut
nur, ich habe nicht mal gekleckert. Du schreibst hundert Mal: Ich
darf andere nicht schlagen.
ELMER
Ich helf dir. Soscha schreibt
ELMER
Warte, wir drehen den Satz um: Andere schlagen darf ich nicht.
SOSCHA
Und was soll das?
ELMER
Pass auf. Schreibt und liest laut. Andere schlagen darf ich nicht
andere schlagen. Und dann ohne Punkt und Komma die nächste
Zeile: darf ich nicht andere schlagen darf ich nicht andere
schlagen. Kapierst du?
SOSCHA
Nee.
ELMER
Darf ich nicht andere schlagen darf ich nicht andere schlagen.
Die Punkte oder, besser gesagt, die Fragezeichen soll sich die
Lehrerin selbst dazu denken. Und die Groß- und
Kleinschreibung auch.
Sie schreiben.
ELMER
Mark hatte Recht, du bist doch ziemlich verrückt.
SOSCHA
Wirklich? Du bist nett.
ELMER
Du auch, aber verrückt auch.
SOSCHA
Du bist nett und klug. Wie du alles verdrehst.
ELMER
Du bist verrückt und nett und du kannst drauf hauen.
SOSCHA
Du bist nett und klug und du hast eine witzige Nase.
ELMER
Äh...
SOSCHA
Eine witzige Nase und die schönsten Augen, die ich kenne.
ELMER
Jetzt hör aber auf.
SOSCHA
Die schönsten Augen, Elmerchen. Und da, dein Gesicht steht
schon wieder in Flammen.
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ELMER
So fängt es an und ich weiß nicht, wie mir geschieht. Aber den
ganzen nächsten Tag habe ich die Aufgabe, Soscha alles zu
erklären.
SOSCHA
Die Gruppenarbeit, den Wochenplan und die
Freitagnachmittagswerkstatt.
ELMER
Soscha schlägt niemanden mehr und keiner ruft ihr noch etwas
hinterher. Und das Tuscheln über uns hat auch aufgehört.
SOSCHA
Thanks. Ich gehe, glaube ich, manchmal zu weit. Schön, dass du
meine rote Ampel bist.
Elmer lacht.
SOSCHA
Lass uns eine Liste schreiben. Wer Freundschaft schließen will
muss über die Vorgeschichte des anderen bescheid wissen.
ELMER
Was für eine Liste?
SOSCHA
Eine Liste über uns, Lieblingssportarten, Hobbys, Freunde und
Familie.
ELMER
Gut, bis morgen?
SOSCHA
Ja bis morgen.
Zu Hause
MUTTER
Was machst du?
ELMER
Ich schreibe was.
MUTTER
Was? Eine Liste?
ELMER
Soscha sagt, wer Freundschaft schließt, muss über die
Vorgeschichte des anderen Bescheid wissen. Deshalb sollten wir
beide etwas schreiben über unser Leben.
Mama, was sage ich über Papa?
MUTTER
Was wir immer sagen. Vor zehn Jahren weggegangen und nie
mehr wiedergekommen.
ELMER
Gut.
MUTTER
Gut? Okay. Was schreibst du über Opa?
ELMER
Nichts, Mama, hör schon auf. Nein, nichts.
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Am nächsten Morgen – nach dem Unterricht
SOSCHA
Ich hab was für dich aufgeschrieben. Du auch für mich?
ELMER
Na klar.
Soscha und Elmer tauschen die Listen
SOSCHA
Du hast aber wenig. Pause Möchtest du keine Geschwister?
Magst du lieber Kartoffelpüree oder Pommes? Anja ist also eine
Schwester deiner Mutter? Hast du ein Handy?
Elmer antwortet mit Kopfschütteln, Achselzucken und Nicken
SOSCHA
Komm, wir machen eine Prüfung. Eine Prüfung in Du und Ich.
Du schreibst auf, was du von mir weißt, und umgekehrt. Zehn
Minuten. Ab jetzt.
Soscha und Elmer lesen während sie schreiben. Beide Texte sollten Satz um Satz
verschnitten werden.
SOSCHA
Elmer Jonas de Jong. Elf. Mittelfeldspieler und eine
Schuldirektorin als Mutter. Das ist bisher alles, was ich von ihm
weiß. Ich kenne sein Haar, seine Sommersprossen und seine
blauen Augen, aber sagen tut er noch nicht so viel. Im
Augenblick beobachte ich ihn, wie er dasitzt und schreibt. Er
sagt, er mag Apparate. Dinge. Solange nur irgendwo ein Knopf
oder eine Taste dran ist. Er hat wenig Freunde, finde ich, und
auch nur ganz wenige Verwandte. Tante Anja. Sein Vater ist fort.
Wir fahren jedes Jahr nach Krakau und besuchen die Familie
meiner Mutter. Was für ein Unterschied. Verrückt, aber jeder ist
anders. Hü, die Zeit ist um.
ELMER
Sie heißt Soscha Londerseel. So viel weiß ich schon: Sie ist halb
polnisch, weil ihre Mutter Polin ist. Sie hat drei große
Schwestern, die schon aus dem Haus sind, aber noch fast jeden
Tag zum Plaudern vorbeikommen. Die Schwestern haben Kinder
und bringen sie mit. Ihr neunzehnjähriger Bruder heißt Ivar —
nicht doch: Jackson — und ihr kleiner Bruder heißt Tomek,
Tomek schaut immer Kinderkanal. Es gibt jede Menge Tanten,
Onkel und Vettern, und nicht einmal sie kann sie alle zählen. Ein
Teil lebt in Polen. Und ein Teil hier. Ihr Vater heißt Wim und sie
mag alte Popstars, jeden falls sammelt sie die. Auf Briefmarken.
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Manchmal geht sie mit ihrem Vater auf eine Börse und kauft
neue hinzu. Bestraft für irgendwas wird Soscha fast nie. Das sagt
sie jedenfalls. Und das, obwohl sie so frech sein kann.
SOSCHA
Frech? Ich? Wieso?
ELMER
Na ja das ist nicht genau das richtige Wort. - Du bist
durchgefallen. Du schreibst über dich selbst.
SOSCHA
Eine Vier könntest du mir schon geben. Ich sammle übrigens
auch noch Briefmarken mit Briefmarken drauf Aber die gibt es,
glaube ich, nicht.
Ich weiß noch viel zu wenig über dich. Macht aber nichts. Das
kommt noch. Soll ich fragen, ob ich mit zu dir nach Hause darf?
ELMER
Also ...
SOSCHA
Nein, nein. Ich muss wahrscheinlich auf Tomek aufpassen. Pause
Elmer Jonas de Jong! Hast du Lust auf ein Problem? Vielleicht
hin ich gerade dabei, mich zu verlieben!
Elmer wird rot
SOSCHA
Weißt du, du brauchst keine Angst haben. Geküsst wird erst,
wenn du es willst.
ELMER
Küssen? Wieso sollte ich das wollen.
SOSCHA
Ist mir ein natürliches Bedürfnis!
Laufen nach Hause
MUTTER
Wo bist du gewesen, Lieber?
ELMER
Bei dem Mädchen.
SZENE 2
ELMER
Am Donnerstagmorgen in der Früh kratzt meine Mutter mit
dem Messer über ihren Toast.
MUTTER
Heute Abend habe ich das Achtsilbenwort.
ELMER
Ich weiß, Mitbestimmungsratsversammlung.
MUTTER
Scheußlich! Es dauert mindestens so lange, wie es heißt.
Ich kann auch allein zu Hause bleiben. Ich weiß doch, wo du
bist.
MUTTER
Nein, nein. Das will ich nicht. Aber Anja hat eine Verabredung.
Kannst du nicht zu Soscha?
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ELMER
Wie bitte?
MUTTER
Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen. Scheint eine sehr
lebendige Familie zu sein.
ELMER
Mit achtzig durcheinanderrennenden Kindern, wenn du das
meinst.
MUTTER
Na und?
ELMER
Na und? Ich weiß nicht.
MUTTER
Na los. Ja?
ELMER
Ja?
MUTTER
Ja. Ich habe eine kleine Aufmerksamkeit für Soschas Mutter
gekauft, das bringst du ihr mit. Gibt Elmer Pralinenschachtel
ELMER
Muss das sein?
MUTTER
Ja
Vor der Schule
ELMER
Als ich zur Schule gehe, versuche ich mir Soschas Gesicht wie
ein Schiebepuzzle zusammenzudenken. Ihre Augen, die
Nasenspitze in der Mitte, Haare ums Gesicht und in den
Wangen ein Grübchen. Merkwürdig, ich bekomme einfach kein
komplettes Bild von ihr in den Kopf.
Ich renne zur Schule und halte erst an, als ich direkt vor Soscha
stehe.
SOSCHA
Grüß dich!
ELMER
Hallo.
SOSCHA
Unsere Mütter treiben es miteinander.
ELMER
Was treiben sie miteinander? Was treiben sie?
SOSCHA
Sie erzählen sich den neuesten Klatsch.
ELMER
Ach so.
SOSCHA
Du scheinst heute Abend bei uns vorbeizukommen. Mann, bin
ich froh, dass ich ein breites Bett habe. Soscha knufft Elmer auf
den Arm. Sollte ein Scherz sein. Denke kaum, dass du über Nacht
bleiben wirst.
Elmer krallt seine Finger in ihren Nacken und knurrt. Soscha bückt sich und taucht
unter Elmer weg.
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SOSCHA
Gnade, Gnade!
Es klingelt zur Stunde. Die beiden flüstern Schimpfworte
ELMER
Zahnarzthelferin!
SOSCHA
Börsenmakler!
ELMER
Bodenstewardess!
SOSCHA
FIiesenleger!
ELMER
Kinderbuchautorin!
LEHRERIN
Lehrerin! sagt die Lehrerin, als die zwei an ihr vorbeigehen. In der
Schule. Da ist man reich gesegnet. Um einen herum gibt es
immer ein paar Geistesgestörte.
[…]
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