Vom Glanz und Ton eines Schirms (Panorama, NZZ Online)

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14. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Vom Glanz und Ton eines Schirms
Augenschein in einem Atelier unter dem Viaduc des Arts in Paris
Im Reich des Meisters
über Sonnen- und
Regenschirme an der
Avenue Daumesnil in
Paris. (Bild: NZZ /
Manfred Rist)
Der Besuch bei einem Sammler und Restaurator in Paris gibt Einblick in die Welt der
stilvollen Schirmherstellung – ein in den Massenware-Zeiten schon fast vergessenes Metier.
Bald soll ein Museum entstehen.
Manfred Rist, Paris
Die Banalisierung und Vulgarisierung des Regenschirms gehörte zu den Sündenfällen des 20.
Jahrhunderts. Desgleichen das faktische Verschwinden des grazilen Sonnenschirms; Letzteres sei
der Verlust eines bezaubernden Accessoires schlechthin, sagt Designer und Schneider Michel
Heurtault. Und noch etwas fügt der Franzose hinzu: Der Klang des Tuchs beim Öffnen und das
Klicken beim Schliessen würden alles über den Schirm verraten, Qualität oder Massenware, echter
Stil oder das verräterische Manko am vermeintlich eleganten Outfit einer Person. Wer so denkt und
redet, ist weder ein verdrehter Historiker noch ein Romancier. Aber er ist besessen. Michel Heurtault
begann in seinem vierten Altersjahr, Regenschirme zu sammeln und zu zerlegen. Mit acht Jahren
baute er sie bereits so geschickt wieder zusammen, dass Nachbarn ihm die kaputten Exemplare zur
Reparatur überliessen.
Regenschirm als Stilelement
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Heurtault erzählt, wie viel Zeit und Geld Personen doch aufwendeten, um sich herauszuputzen und
sich im besten Licht zu zeigen, um dann beim Schritt vor die Haustüre den fatalen Griff zum billigen
Massenprodukt zu tätigen, zu jenen meistens schwarzen, viel zu kurzen und oft bereits etwas
lädierten Gestellen. Immer häufiger werden diese in China hergestellt. Davon landen alleine in
Frankreich laut Michel Heurtault jährlich 10 Millionen Exemplare am Strassenrand, im häuslichen
Abfall oder direkt in öffentlichen Mülleimern.
Dabei, so der 44-jährige Heurtault, sei ein wirklicher Regenschirm ein Stilelement, ein Begleiter fürs
Leben, den man wohl aus den Händen, jedoch nicht aus den Augen verlieren dürfe. Auf keinen Fall
lasse man einen Schirm in Schirmständern an Eingängen stehen, weder in Restaurants noch an
anderen Orten, was geradezu zur Selbstbedienung oder zur bewusst nachlässigen Verwechslung
einlade.
Erinnerungs- und Erbstücke sind Heurtault am liebsten. Er restauriert sie mit Hingebung. Doch
Fotos, die ihm bei dieser Arbeit helfen würden, sind selten. Bei Regen hat man früher nicht
fotografiert; ausser vielleicht in Paris. So helfen ihm Erfahrung, Fingerfertigkeit und seine profunden
Kenntnisse der Stilepochen, um verbogene oder altersschwache Stangen mit prachtvollen Stoffen zu
überziehen und so zu neuem Leben zu erwecken. Dann stimmt, so meint der Meister mit
hochgezogenen Augenbrauen, plötzlich auch der Ton des Regenschirms wieder.
Traum eines Museums
Aus der Kenntnis der Mechanik und der Stoffe, aus seiner Liebe zum Detail und zur Ästhetik ist seine
Vision gewachsen: ein Museum für Regen- und Sonnenschirme. «Parapluie – Ombrelle – Parasol»
soll es heissen. Noch liegen seine gesammelten Werke hauptsächlich im Untergeschoss seines
Ladens an der Avenue Daumesnil unmittelbar hinter der Place de la Bastille. Nur ein Teil davon ist
in seinem Geschäft ausgestellt, das ihm auch als Werkstätte dient. An Neugierigen, die täglich durch
die hohen Fenster der Arkaden spähen und Couturier Michel Heurtault bei seinen Bügel- und
Näharbeiten zusehen, fehlt es nicht. Einige erkunden gar mit andächtigen Schritten seine verklärt
wirkende Welt. Nur eine dünne Wand trennt dabei Werkbank, Utensilien, Nähmaschine und sein
Durcheinander von Stoffen von seinem durch Sonnen- und Regenschirmen durchkomponierten
Ausstellungsraum.
Unter dem Viaduc des Arts, einer 4 Kilometer langen Eisenbahnbrücke, die ab Ende des 19.
Jahrhunderts bis 1969 die Place de la Bastille mit den östlichen Vororten von Paris verbunden hat,
haben sich auf Initiative der Mairie unter den Bögen schon über 60 Ateliers angesiedelt. Ihr Metier
wurde von der Stadtverwaltung nicht nur als kunstvoll, sondern auch als potenziell wirtschaftlich
selbsttragend eingestuft. Demnächst will der Meister seinen Traum vom Museum verwirklichen.
Nicht irgendwo, sondern in Frankreich, wo dieses Metier früher einmal legendär war und Tausende
von Personen beschäftigte, bevor es aus Kostengründen nach Asien ausgelagert wurde. Nicht in
Toulouse, wo er aufgewachsen ist und seine Liebe zu Nadeln, Stoffen, Design und feinen Linien
entdeckt hat, sondern hier in der Kapitale der Mode. «Voici» soll das Museum verwirklicht werden.
Für das Theater geschneidert
Hier in Paris hat er zuvor während gut zweier Jahrzehnte für die grossen Modehäuser gearbeitet,
etwa für Dior, den Umgang mit kapriziösen Stoffen gelernt und Kostüme geschneidert, unter
anderem für Theaterproduktionen. Wenn er nun durch die grossen Werke der Mode blättert,
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vermittelt er durchaus den Eindruck, als kenne er jedes Kleid, das die zahlreichen Stilepochen
prägte. Dem Theater ist Heurtault treu geblieben. Die beiden seidenüberspannten Parasols, die in
diesen Tagen in minuziöser Handarbeit entstehen, sind für die Bühne bestimmt. Sie gehören zum
atemberaubend schönen Dekor in «La Fausse Suivante», einem Stück, das in diesen Tagen im
Théâtre des Bouffes du Nord aufgeführt wird. Es versetzt uns zurück in die 1920er Jahre, als
Sonnenschirme zum Outfit flanierender Damen gehörten und deren Farben, Formen und Stoffe zum
jeweiligen Kleid passen mussten.
Bildstrecke und Video der Hauptproben des Stücks «La Fausse Suivante» im Théâtre des Bouffes du Nord mit Schirmen von Michel Heurtault unter
www.nzz.ch.
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