25 Jahre Mauerfall: "... dass ich diese Zeit erleben durfte"
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25 Jahre Mauerfall: "... dass ich diese Zeit erleben durfte"
Titelthema KV-Blatt 11.2014 a 25 Jahre Mauerfa Foto: Schlitt 12 Titelthema KV-Blatt 11.2014 J all 25 Jahre Mauerfall „… dass ich diese Zeit erleben durfte“ 9. November 1989. Es war die Nacht, in der am Grenzübergang Bornholmer Straße für viele Ostberliner und andere DDR-Bewohner ein Traum in Erfüllung ging: Die Grenze öffnete sich – erst hier und dann überall in Berlin. Menschen standen auf der Mauer. Es ist „die pure Freude“ über das damals Erlebte. Da ging es den Medizinstudenten, den jungen Ärzten und Professoren aus Ost- und Westberlin nicht anders als den vielen anderen Menschen, die in jener Nacht aus beiden Richtungen an die Grenze eilten, um zu begreifen, was sie nicht glauben konnten: Die Mauer ist offen. 25 Jahre ist das nun her. Das Titelthema widmet sich dem damaligen Ereignis rund um die Grenzöffnung in Berlin, erst an der Bornholmer Straße und dann überall in Berlin. Im Mittelpunkt stehen Ihre Erlebnisse, ergänzt um Facetten des Umbruchs in der medizinischen Versorgung der beiden Teile Berlins. Die KV-Blatt-Redaktion dankt allen, die sich an der E-MailUmfrage zum 9. November 1989 beteiligt haben. Welche Mauer? Angst vor einer politischen Eskalation Der Hausärztin Dr. Sylva Mitterdiami aus Hellersdorf blieb die Pressekonferenz am 9. November mit Günter Schabowski in Erinnerung, weil sie als Auslöser der Grenzöffnung an der Bornholmer Straße galt. Und dann „am späten Abend und am nächsten Morgen die Berichte im Fernsehen von den Leuten auf der Mauer, die glücklichen Gesichter, die vollen Straßen und die Begrüßung der Autofahrer. All diese Bilder haben mich sehr bewegt.“ Ihr damals dreijähriger Sohn habe sie verständnislos angeschaut und gefragt: „Welche Mauer?“ Heute ist der Sohn 27 Jahre alt „und die Maueröffnung ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Für mich aber“, schreibt Sylva Mitterdiami, „ist sie immer noch ein großes Wunder“. Der Kardiologe Dr. Norbert Kokott aus Tempelhof war damals Weiterbildungsassistent am Universitätsklinikum Westend (heute DRK-Kliniken Westend) und erinnert sich im Zusammenhang mit dem 9. November 1989 „an die Sorge vor einer politischen Eskalation zwischen dem Ost- und dem Westblock.“ Mein Zimmernachbar in Leningrad rief: „The wall ist broken!“ Die Internistin Christine John aus Mitte schrieb uns: „Ich war im 6. Studienjahr in Leningrad. (…) Mein Zimmernachbar aus Damaskus war bereits Arzt und hörte immer BBC. Er kam herüber und rief: The wall is broken. (…) Ich war so außer mir, so wütend, weil ich dachte, er würde sich einen Scherz mit mir erlauben. Ich habe ihn angeschrien und ihm mit meiner sehr impulsiven Art völlig fertiggemacht. Das ist mir heute noch peinlich. Leider habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich würde mich gern bei ihm entschuldigen.“ An anderer Stelle schrieb Christine John: „Einer von uns DDR-Leuten in Leningrad fuhr einen Tag nach diesem 9. November 1989 zum Konsulat. Es war geschlossen!!! Keine Auskunft. Nichts. Es gab kein Telefon und sowieso noch keine Handys. Meine Eltern hatten auch kein Telefon.“ Und endlich: „Am 11. November hatte der erste von uns mit seinen Eltern telefoniert: Es war tatsächlich die Wahrheit. Unglaublich. Während ich diese Zeilen schreibe, laufen mir die Tränen über das Gesicht. Es ist immer noch 13 Titelthema KV-Blatt 11.2014 Fortsetzung von Seite 13 so unglaublich, dass ich diese Zeit erleben durfte.“ Mein erster Besuch ohne Zwangsumtausch Der Dermatologe Bernd Hegemann aus Wilmersdorf war damals Medizinstudent: „Ich verbrachte den Abend mit Konsemestern und Freunden im Studentenwohnheim in Lichterfelde. Es war gegen halb elf, als wir via TV über den Mauerfall erfuhren. Zunächst fuhren wir zur Entlastungsstraße, wo wir den Wagen auf dem Seitenstreifen parkten und zum Brandenburger Tor rannten. (…) Vor dem Tor standen viele Menschen, von Ostberliner Seite wurden zu dieser Zeit Wasserwerfer eingesetzt, um die Menschen von der Mauerkrone zu vertreiben. (…) Wir sind dann weiter zu Fuß zum Übergang Bernauer Straße gelaufen, wo die Masse der Menschen natürlich von Ost nach West lief. Wir hingegen waren wenige, die es in die Gegenrichtung trieb. Über die Chaussee- und Friedrichstraße liefen wir – erstmalig ohne 25 Mark Zwangsumtausch bezahlt zu haben – die Linden hinunter zum Brandenburger Tor. Dort hatte sich die Situation völlig verändert. Nun standen Hunderte von Menschen auf der Mauer und ebenso viele unter dem Torgebäude. (…) Es war nicht ganz einfach auf die Mauer zu klettern, sie war dort für mich unvorstellbar breit. Das war vom Westen aus gar nicht so wahrnehmbar. Ich war morgens gegen 5 Uhr früh im Bett und nahm erschöpft zur Kenntnis, dass die Welt sich quasi über Nacht verändert hat. Als ich meiner Mutter in Nordrhein-Westfalen, die noch von nichts wusste, von den Vorkommnissen der Nacht am Telefon erzählte, kamen mir bei den Worten und dann sind wir durch das Brandenburger Tor gelaufen die Tränen. Ich konnte nicht mehr weitersprechen.“ Nach 28 Jahren: Telefonat mit einem Klassenkameraden im Ostteil Auch für den Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. Torsten SchmidtBranden aus Wilmersdorf war es eine „Überraschung, nach so vielen Jahren die Mauer doch noch geöffnet zu erleben. Ich habe ja noch mit Entsetzen den Bau der Mauer 1961 erlebt. Meine Frau“, schreibt Schmidt-Branden, „dachte übrigens, es wäre ein Scherz, eine Art Fantasy-Sendung im Radio oder Fernsehen“. In den ersten Tagen nach der Maueröffnung hatte der Arzt einen ehemaligen Klassenkameraden angerufen, der in Ostberlin wohnte und der nach dem Mauerbau nicht mehr zur Schule kommen konnte, weil diese ja in WestBerlin lag. Foto: Schlitt 14 Touristen (hier an der Gedenkstätte Bernauer Straße) können nur erahnen, wie die Mauer Berlin teilte Titelthema KV-Blatt 11.2014 Der Facharzt für Nervenheilkunde Dr. Gerd Benesch war zum Zeitpunkt des Mauerfalls als Stationsarzt in einer geschlossenen psychiatrischen Station im Krankenhaus Moabit tätig: „Wir, sowohl das Personal als auch die Patienten, waren natürlich überwältigt von den Ereignissen, die sich unweit der innerstädtischen Grenze abspielten. Als begeisterter Jogger bin ich jahrelang verärgert auf diese Grenze gestoßen. Interessanterweise war die Station in diesen Tagen deutlich leerer als sonst. Kein Wunder, denn die meisten von uns „Verrückten“ (vor Freude) waren als Mauerpicker unterwegs. Monate später wurde mein zweiter Sohn geboren. Quasi als logische Folge seiner Geburt in ein freies Berlin hinein hat er vor wenigen Tagen sein Jura-Examen absolviert und wird hoffentlich, wie alle unsere Nachkommen, mit dafür sorgen, dass in dieser großartigen Stadt nie wieder Unrecht und Unfreiheit regieren werden.“ Kurze Zeit nach dem Mauerfall arbeitete Gerd Benesch als Oberarzt in der OstBerliner katholischen Klinik St. Joseph in Weissensee und hatte dort „sowohl fachlich als auch menschlich wunderbare Erfahrungen gemacht“. Allerdings musste er als einer der „westlichsten Wessis“ (gebürtiger Westfale aus Münster) eine Erklärung unterschreiben, nicht inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen zu sein. Mit Matthias Platzeck die Restaurierung des Belvedere diskutiert Die Diplom-Psychologin Kristina Wetzel aus Friedenau arbeitete damals in einer Familienberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sie erinnert sich: „An diesem Abend war ich im Institut für Psychotherapie (Ausbildung zur aKJP). Zu Hause angekommen, hörte ich die unglaubliche Nachricht und machte mich noch mitten in der Nacht auf den Weg in Richtung Brandenburger Tor. Etwas später gab es dann eine Begegnung mit dem SPD-Politiker Matthias Platzeck aus Potsdam. Kristina Wetzel: „Der spätere Ministerpräsident von Brandenburg kam zu Freunden von mir, welche Ärzte sind. Sie hatten sich damals mit ihm zusammen für die Restaurierung des Belvedere auf dem Potsdamer Pfingstberg engagiert.“ sigkeit unter den jungen Ärzten, doch im Ostteil konnte ich als Arzt arbeiten. Für mich war die Maueröffnung, die ich generell immer als sehr positives Ereignis für die Stadt und mein Leben gesehen habe, aus der beruflichen Perspektive betrachtet der Glücksfall meines Lebens.“ Die vielen Stadtpläne Nach der Maueröffnung im Osten Arbeit gefunden Dem Gynäkologen Dr. Matthias Bloechle aus Charlottenburg sind damals die „vielen Trabis im Westteil der Stadt“ „Die Mauer wurde geöffnet – dort wo du groß geworden bist, an der Bornholmer Straße“ in Erinnerung geblieben: „Das Bild hatte sich dadurch von einem Tag auf den anderen wundersam verändert“. Bloechle war zum Zeitpunkt der ersten Maueröffnung als Arzt im Praktikum im Krankenhaus Moabit tätig und dort in der Pathologie eingesetzt. „Und weil es immer hieß, im Osten fehlen Ärzte, habe ich mich an Ost-Berliner Kliniken beworben und im März 1990 dann in der Frauenklinik der Charité meine Stelle angetreten“, fuhr er fort. Zu diesem Zeitpunkt existierte die DDR noch als eigener Staat. Dr. Bloechle weiter: „Anfangs hatte ich noch mit täglichen Passkontrollen an der Grenzübergangsstelle und bis Juni 1990 mit Bezahlung in Mark der DDR zu tun, aber im Westteil der Stadt gab es damals Arbeitslo- Die Gynäkologin Dr. Alexandra Coumbos aus Steglitz war zum Zeitpunkt der Maueröffnung noch in der Frauenklinik des Benjamin-Franklin-Universitätsklinikums der Freien Universität tätig. Auf Foto: Schlitt Der westlichste „Wessi“ in Ostberlin und die Stasi unsere Frage nach ihren Erinnerungen antwortete sie, sich an die vielen Menschen auf West-Berliner Straßen zu erinnern, die allesamt mit Stadtplänen in der Hand herumliefen. Die erste „Mauer-Wende“-Notfallpatientin: Eine Frau aus dem Westen Der Reinickendorfer Allgemeinmediziner Dr. Klaus Beese hatte in jener turbulenten Nacht sein erstes Westberliner „Mauer-Wende-Opfer“ vor sich. Damals hatte er Nachtdienst im Rudolf-VirchowKlinikum der Freien Universität. Beese erinnert sich: „Als wissenschaftlicher Assistenzarzt (…) hatte ich Patienten mit Schädelverletzungen zu überwachen. Bis auf die Nachrichten von den 15 Titelthema KV-Blatt 11.2014 Fortsetzung von Seite 15 Leipziger Montagsdemos passierte ja in der damaligen DDR nicht viel Neues. Aber das sollte sich in dieser Nacht am 09.11.1989 ändern. Erst nach Dienstbeginn hörte ich im Radio von den Ereignissen.“ Und dann erfolgte schon bald die Neu-Aufnahme seines MauerOpfers. Erst einmal blieb keine Zeit für weitere Grenzöffnungsnachrichten. Beese erfuhr, dass die junge Frau wie Hunderte anderer auf die Mauer vor dem Brandenburger Tor geklettert war: „Das Gedränge war riesig. Sie stand am Rand, konnte ihr Gleichgewicht nicht halten und stürzte rückwärtig über die Kante. Geistesgegenwärtig griffen Helfer zu, konnten sie aber nur noch an den Beinen packen, so dass sie, wie der Klöppel einer Glocke, mit dem Hinterkopf gegen die Mauer schlug. Die Mauer hielt. Der Kopf auch. Notarztwagen, Klinikum, dort ein CT und dann die Intensivstation: „War der Kopf zu hart oder die Mauer zu weich? Erstaunlicherweise“, so Beese, „konnte kein pathologischer Befund erhoben werden. tionstalent bei Oma und Opa untergebracht. Mein Mann stürmte plötzlich ins Zimmer und rief: Komm mal an den Fernseher. Die Mauer wurde geöffnet – dort, wo du groß geworden bist, an der Bornholmer Straße. Ich wollte es nicht glauben und sagte nur: Mach die Tür zu, ich lese Korrektur. Das tat er dann auch brubbelnd. Nach weiteren 20 Minuten kam er erneut ins Arbeitszimmer und brüllte fast vor Freude: Günter Schabowski hat allen die Reisefreiheit ermöglicht. Klar war nun auch, dass das Ehepaar gemeinsam mit seinen Kindern nach Italien fahren durfte. Renate Lerch: „Das war wunderbar. Aber mir war nun auch bewusst, dass ich meine Doktorarbeit umschreiben müsste, was ich dann auch tat.“ So verzögerte sich die Fertigstellung noch einmal um geraume Zeit. Die erfolgreiche Verteidigung fand am 31. Oktober 1990 statt: „Die Tutoren bzw. Gutachter aus anderen Bundesländern waren so freundlich, an ihrem Erst am darauffolgenden Tag konnte er sein Erlebnis in der Notaufnahme richtig verarbeiten. Das ganze Ausmaß der Maueröffnung wurde ihm jetzt so richtig klar. Die Doktorarbeit umgeschrieben Die HNO-Ärztin Dr. Renate Lerch und ihr Ehemann, ein seit 1981 mit Berufsverbot belegter Karikaturist, erlebten jenen 9. November 1989 zu Hause in Mahlsdorf. Dort saß Renate Lerch gerade in ihrem Arbeitszimmer und las ihre fast fertige Doktorarbeit, eine medizinhistorische Arbeit „Zur Geschichte der Gesellschaft für Otorhinolaryngologie und orofaziale Chirurgie der DDR“ noch einmal Korrektur. (…) Renate Lerch schickte voraus: „Gerade hatten mein Mann und ich die Genehmigung erhalten, zum 50. Geburtstag meiner Schwägerin nach Italien zu fahren – natürlich ohne unsere beiden Kinder. Die hatten wir mit viel Organisa- Foto: Schlitt 16 Die Grenze „verschluckte“ auch ganze U- und S-Bahnhöfe Ich war völlig verwirrt und schlug meine Arbeit zu.“ Die Lerchs saßen vor dem Fernseher und sahen, wie die Nachrichtenlage sich förmlich überschlug. Es gab Bilder von den ersten Trabis, die am Übergang Bornholmer Straße über die Grenze nach West-Berlin fuhren. Jedoch: „Ich war zu müde, um mich noch einmal zu meinen Eltern aufzumachen. Mir war aber in Sekunden klar, dass es politisch kein Zurück gab und wir wahrscheinlich bald ‚Westen‘ sein würden.“ Feiertag, dem Reformationstag (!), nach Berlin zu kommen. Heute hat meine Arbeit einen festen Platz im Archiv der Deutschen HNO-Gesellschaft. Sie gilt als ein wertvolles Dokument der DDRGeschichte, worauf ich sehr stolz bin.“ Und auch dies berichtete die Mahlsdorfer HNO-Ärztin: „Ich bin am nächsten Tag wie immer zur Arbeit gefahren. Als Ärztin kann ich doch meine Patienten nicht im Stich lassen. Aber nur die Hälfte der Kollegen war anwesend. Und wollen Sie wissen, wer nicht zur Titelthema KV-Blatt 11.2014 Arbeit gekommen ist? Unsere Parteiriege – alles „SEDisten“, wie mein Mann immer zu sagen pflegte.“ Gekommen seien hingegen die, welche nicht auf Parteilinie waren „und die sich rechtfertigen mussten, weshalb sie ihr Kind taufen ließen, so wie es mir 1985 erging, als ich mit einer Kollegin darüber sprach und unsere Parteisekretärin sich als unerwünschte Zuhörerin entpuppte (…).“ haus sah man solche Aktivitäten aber kritisch und so kam es, dass meiner Kollegin Susanne von Bültzingslöwen „politische Tätigkeiten“ im Krankenhaus untersagt wurden. Dennoch trafen wir uns am Vorabend des 4. November zum Lakenbemalen Freie Wahlen und Keine Gewalt im Krankenhaus. Die Laken organisierte eine Ordensschwester mit den Worten: reiste Kollegin, ehemals im St.-HedwigKrankenhaus tätig, rief aus Kreuzberg an und teilte mit, dass der Empfangssekt kaltgestellt sei: „Jetzt oder nie!“ In der Tat dachte ich „jetzt oder nie“ und habe die Nacht durchgemacht auf Westberlins Straßen, noch unsicher, ob der Personalausweis für meine Rückkehr ausreichen würde. Pünktlich zu Arbeitsbeginn war ich wieder auf der Station und war überrascht, dass manche Kol- Foto: Schlitt Die pure Freude aller Beteiligten PD Dr. Jürgen Koscielny, Leiter der Gerinnungsambulanz im AGZ an der Charité in Mitte, war am 9. November 1989 Arzt im Praktikum im Saarland. Die ersten Bilder von der Grenzöffnung in Berlin hat er dort am Fernseher verfolgt. Auf die Frage, woran er sich besonders erinnert, antwortete er: „An die pure Freude aller Beteiligten.“ So weit weg vom Geschehen blieb ihm dann nur, „privat nach Berlin zu telefonieren“. Das lange Überleben einer Dialysepatientin (Ost) Der Hausarzt und Nephrologe KlausDieter Ehmke aus Neukölln erinnert sich an „typisches“ Novemberwetter: „Neblig und kühl. Aber durch die politischen Aktivitäten war es bunt und heiß. Durch die Proteste gegen die Wahlfälschung auf der Straße und die Oktoberereignisse, die ohne militärisches Eingreifen schließlich die große Demonstration am 4. November (auf dem Alexanderplatz, d. R.) möglich machte, waren wir immer schnell auf den Beinen – auch an diesem 9. November 1989. Ich war seinerzeit Assistenzarzt in der Inneren Abteilung II des St.-Hedwig-Krankenhauses und war mitten in der Facharztausbildung. Ich kann zwar nicht mitkommen, aber so habe ich meinen Teil dazu beigetragen und bin auch dabei – auf meine Weise. Ihr macht das richtig. Als wir am Morgen des 4. November zusammen vom Krankenhaus zur Großdemo am Alexanderplatz aufbrachen, hatte sich das bei den Ordensschwestern herumgesprochen und wir bekamen noch Brote, Äpfel, Tee und gute Worte mit zur Demo. legen sich entweder nicht getraut hatten über die Grenze zu gehen, oder aus Pflichtgefühl geschlafen hatten, weil sie ja wieder arbeiten mussten. Alle Gespräche drehten sich um diese Ereignisse und um die Angst, dass die Mauer wieder geschlossen wird. (…) Die Stationsordensschwester versorgte alle, die laufen konnten und wollten, mit Verpflegung und schickte sie in den Westen. Alle kehrten ordnungsgemäß zurück! Das Neue Forum rang um seine Anerkennung und ich sammelte am 7.10.1989 in meiner Heimatregion in Vorpommern Unterstützerunterschriften dazu. Im St.-Hedwig-Kranken- Der 9. November sollte noch einmal ein Aufbruch sein. Der Druck war übermächtig und das Ventil gab nach. Nach der Fernsehankündigung von Schabowski gab es kein Halten mehr. Eine ausge- Im Kollegium wuchs der Zusammenhalt weiter, denn die Ausreiseanträge waren nun nicht mehr nötig und neue Anforderungen kamen auf uns zu. Personelle Lücken galt es zu schließen und Öffentliche Gebäude, wie hier der Nordbahnhof, konnten wegen des Mauerverlaufs nicht mehr benutzt werden 17 18 Titelthema KV-Blatt 11.2014 Fortsetzung von Seite 17 die Politik erforderte unsere Aufmerksamkeit. Am „Runden Tisch Gesundheitswesen“ in Mitte saß man wöchentlich zusammen und dokumentierte, wie über Nacht auf dunklen Kanälen ganze Abteilungen aus dem Regierungskrankenhaus verschwanden. Da wurden die Gastroskope gestohlen und auch andere chaotische Meldungen ließen ein strukturelles Arbeiten gar nicht zu. (…) Am ersten Wochenende nach dem Mauerfall besuchte ich eine Kollegin aus Westberlin, die ich von Aktion Sühnezeichen und der IPPNW-Arbeit her kannte. (…) Seinerzeit arbeitete sie als Pulmologin im AOK-Ambulatorium in der Müllerstraße und hatte reiche Erfahrungen auf dem Gebiet der Allergologie. Sehr rasch arbeitete sie kostenlos bzw. unentgeltlich einen Tag lang im St.-Hedwig-Krankenhaus und baute so schnell eine Allergiesprechstunde auf. So hatten wir ab Winter 1989 eine Westsprechstunde. (…) Anzeige Ich selbst hatte auf der Station eine ältere Patientin, die einen Dialyseplatz brauchte. In Ostberlin war keiner zu bekommen: „Zu alt, zu multimorbide“, hieß es. Kurzerhand riefen wir im St.Joseph-Krankenhaus in Tempelhof an. Offene Türen bei Prof. Klaus Schaefer und Dr. von Herrath. Diese Patientin hat dann noch lange überlebt mit der Dialyse – dann aber in der neuen Dialyseabteilung des St.-Hedwig-Krankenhauses.“ Fünf Jahre später eine Ostberlinerin geheiratet Für den Neurologen Gunnar Riemer aus Schöneberg gipfelte das Ende der DDR fünf Jahre nach der Grenzöffnung in der Heirat einer „Ostberlinerin“. Die Grenzöffnung selbst hatte er in seinem damaligen Wohnort im fränkischen Erlangen erlebt: „Der Mauerfall wurde natürlich in Berlin als viel wegbereitender – und das im konkreten Wortsinn – erlebt als an der Peripherie, wo ja nur ein im Wald versteckter Stacheldraht Deutschland trennte. Damals war ich 27 Jahre alt und arbeitete in meiner ersten Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in der Abteilung für experimentelle Neuropsychiatrie. Dort war Professor Vieth bemüht, die komplizierte Methode der Magnetenzephalografie (MEG) klinisch nutzbar zu machen. Als ein über den Tellerrand der fränkischen Welt blickender Wissenschaftler war ihm bekannt, dass auch jenseits der Grenze an der FriedrichSchiller-Universität Jena auf diesem Gebiet unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Zwiener (1942–2004) geforscht wurde. So versuchte er einen Kontakt herzustellen. Bereits Ende 1988 konnten wir nach Überwindung etlicher bürokratischer Hürden nach Jena fahren und eine Zusammenarbeit initiieren. Es folgten mit der Zeit mehrere Besuche unsererseits, wobei wir stets freundlich aufgenommen wurden, obwohl die Verhältnisse dort sehr bescheiden waren. Das galt zum Beispiel für die im Einsatz befindliche Computertechnologie zur Datenanalyse. (…) Leider konnten unsere Arbeitskollegen keinen Gegenbesuch machen. Erst nach dem Mauerfall am 9. November 1989 – und zwar unmittelbar darauf – Titelthema KV-Blatt 11.2014 kamen die Forscher aus Jena zu uns nach Erlangen, was uns riesig freute. Voller Rührung zeigte ich ihnen unsere Forschungsräume im Untergeschoss der Kopfklinik und den „Krenikon-Enzephalografen“ in der alten Nervenklinik. Im weiteren Verlauf gab es dann mehrere Begegnungen zwischen den Universitäten in Jena und Erlangen, die sogar darin gipfelten, dass nach dem Ausscheiden des Direktors der Jenaer Nervenklinik, Prof. Dr. Gerhard Mühlau, der emeritierte Erlanger Professor Heribert Daun (1925–2004) aus Erlangen die Interimsleitung der Klinik in Jena von 1992–1994 übernahm. Diese Begegnungen haben mich damals sehr berührt. Ob sie dazu beigetragen haben, dass ich fünf Jahre später eine Ostberlinerin geheiratet habe, kann ich nicht sicher sagen. Jetzt arbeite ich jedenfalls als niedergelassener Neurologe in einer Praxis in Schöneberg und bin dankbar für die selbstverständlichen Begegnungen von „Ossis“ und „Wessis“, aber auch von Türken, Iranern, Japanern und Palästinensern in meinen Praxisräumen.“ Die Uni war am nächsten Tag leer Die Gynäkologin Dr. Annette Isbruch, heute Leitende Oberärztin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe am Klinikum Berlin-Buch, schrieb uns: „Ich war noch Studentin, gerade im ersten Semester und kann mich an komplett leere Uniräumlichkeiten erinnern“. In die westdeutsche Arztpraxis eingeweiht Die Internistin Dr. Renate Försterling aus Wilmersdorf lebte am Tag des Mauerfalls nicht in Berlin: „Ich hatte in jener unmittelbaren Nachwendezeit eine internistische Praxis in Karlsruhe. In den ersten beiden Jahren nach dem Umbruch nahm ich drei Internisten aus der ehemaligen DDR als Hospitanten in meiner Praxis auf, damit diese die westdeutschen Abläufe, Formate, Formalien und Kassenregularien kennenlernen konnten.“ Was wissen die Amis schon über uns? Die Augenärztin Mirjam Groß aus Zehlendorf lebte zu jener Zeit in San Francisco und arbeitete im Rahmen eines Stipendiums an der University of California. Wenige Wochen vor der Grenzöffnung in Berlin erlebte sie dort ein Erdbeben. Als sie unmittelbar nach dem 9. November 1989 ins Labor kam, erzählte ihr ein Mitarbeiter von den Ereignissen in Berlin: „Ich habe ihm natürlich nicht geglaubt und nur gedacht, dass die Amis doch keine Ahnung von den wahren Verhältnissen in Berlin haben.“ Doch dann sah sie die Bilder aus Berlin im Fernsehen. Mirjam Groß: „Ich traute meinen Augen nicht.“ Sie war betrübt, das alles nur aus einer großen Entfernung erleben zu können. (…) Redaktion: Reinhold Schlitt Konzertbesuch – als Zugabe gab’s die Maueröffnung Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Sabine Schwurack aus Hohenschönhausen erinnert sich, an jenem Abend ein Konzert im Schauspielhaus (am Gendarmenmarkt) besucht zu haben und war, wie so viele, überrascht zu hören was sich zwischenzeitlich am Grenzübergang Bornholmer Straße abgespielt hat: „Nach Ende des Konzertes erfuhren wir im Auto in den Nachrichten von der Grenzöffnung, was wir gar nicht glauben wollten.“ An ihre ersten kollegialen „Westkontakte“ hat sie sehr gute Erinnerungen und schickt voraus: „Ich habe schon damals in meiner jetzigen Praxis als angestellte Ärztin gearbeitet. Wir hatten bald Kontakt zu einem Westberliner Internisten, der uns seine Praxis zeigte. Für die Niederlassung waren uns vor allem organisatorische Fragen wie Kreditaufnahme, Versicherungen oder Angebote in der Praxis, wichtig. Es war ein sehr netter aufgeschlossener Kontakt.“ Stempel-Trophäen im DDR-Personalausweis: Über Nacht wurden solche Identitätsausweise zu „Reisepässen“ 19