Der Mann mit den zwei Plattenspielern

Transcription

Der Mann mit den zwei Plattenspielern
Kulturmagazin
Nummer 18 • Montag, 24. Januar 2011
Der Mann mit den zwei Plattenspielern
Grandmaster Flash gehörte in den 1970er Jahren zu den Erfindern des Hip-Hop – Am Wochenende war er in Stuttgart zu Gast
ist es, mich für jede Musik zu öffnen.“ Kürzlich hat er zum Beispiel Igor Strawinskys
„Le sacre du printemps“ entdeckt. „Das
Stück hätte mir bestimmt auch schon gefallen, als ich als DJ angefangen habe, weil es
so virtuos die Stimmungen wechselt, erst ist
es fröhlich, dann traurig, dann furchterregend – und als DJ versucht man eigentlich genau das Gleiche zu machen, ständig neue
Stimmungen zu erzeugen.“
Wer keinen Ärger mit ihm bekommen
möchte, sollte Grandmaster Flash auf keinen
Stil festlegen. Und ja nicht auf seine Rolle als
Hip-Hop-Pionier. „Ich spreche da nicht so
gerne drüber, weil das längst vorbei ist und alles schon gesagt wurde“, beantwortet er entsprechende Fragen mürrisch. Wer wissen
will, wie es war, als Hip-Hop noch kein Mainstream-Phänomen war, sondern ein Untergrund-Ding war, soll lieber seine Autobiografie lesen: 2008 erschien „The Adventures of
Grandmaster Flash: My Life, My Beats“.
Er hat Plattenspieler in Musikinstrumente verwandelt, dachte sich all die
Tricks aus, die heute jeder Hip-Hop-DJ
draufhaben muss, und seine Kunst,
Stile aufeinanderprallen zu lassen, ist
unerreicht. Eine Begegnung mit dem
Poppionier Grandmaster Flash, der
Freitagnacht in Stuttgart aufgelegt hat.
Von Gunther Reinhardt
„Dieser Plattenspieler ist völlig unbrauchbar.“ Der Mann am DJ-Pult ist genervt. In
ein paar Stunden soll Grandmaster Flash
hier im Romy S. beim 12inch Friday das machen, was er besser als alle anderen kann:
Platten auflegen. Doch jetzt will der 53-Jährige erst einmal einen anderen Plattenspieler, bessere Kabel, ein höheres, bequemeres
Podest. Und überhaupt: Was ist bloß mit dieser Lautsprecheranlage los?
Der Soundcheck dauert viel länger als geplant. Eigentlich sollten wir bereits in seiner
Suite im Hotel am Schlossgarten sitzen. Das
Interview wurde darum kurzfristig ins
Romy S. verlegt. An seinem DJ-Pult fühlt
sich Grandmaster Flash mit Schirmmütze
auf dem Kopf und dem übergroßen Sweatshirt sowieso wohler als in einem Nobelhotel. Seit über 30 Jahren arbeitet er als DJ.
Als Joseph Saddler in der Südbronx in New
York aufgewachsen, fing er in den 1970er
Jahren an, auf Partys Platten aufzulegen,
langweilte sich aber bald damit, immer nur
ein Lied nach dem anderen zu spielen, er fing
an, verschiedene Platten gleichzeitig laufen
zu lassen, bestimmte Breaks durch das Zurückdrehen einer Platte wieder und wieder
zu spielen, entwickelte eine unglaubliche
Fingerfertigkeit beim Scratching und schuf
mit diesen Techniken die Voraussetzungen
für den Hip-Hop-Boom, der folgen sollte.
Als erster Hip-Hop-Act in der
Rock & Roll Hall of Fame
Dass im Hip-Hop der virtuose Umgang
mit den Vinylschreiben immer weniger gefragt ist, seit die meisten DJs statt Plattenspielern mit einem Laptop arbeiten, stört
ihn kaum. „Ich selbst verwende neben Platten inzwischen auch Sounddateien. Das
macht das Touren einfacher, weil man nicht
mehr ganz so viele Platten mitschleppen
muss.“ Und um zu beweisen, dass man mit
über 50 Jahren nicht altmodisch werden
muss, möchte er auf seinem nächsten Album
vor allem mit elektronischen Beats arbeiten.
Auch wenn Grandmaster Flash nicht zum
Nostalgiker taugt, ist er doch stolz darauf,
dass seine Formation Grandmaster Flash
and the Furious Five der erste Hip-Hop-Act
war, der 2007 in die Rock & Roll Hall of
Fame aufgenommen wurde. „Es wurde langsam Zeit, dass die Rocktraditionalisten endlich merken, dass Hip-Hop heutzutage Standards für die populäre Musik setzt“, sagt er,
„doch obwohl ich mich da in Gesellschaft
von Michael Jackson, James Brown oder
Prince ziemlich wohlfühle, gibt es einige
Hip-Hop-Acts, die es ebenfalls verdient hätten, dort aufgenommen zu werden.“ Auf einen Namen möchte er sich aber lieber nicht
festlegen lassen, schiebt sich die Baseballkappe zurecht und kann es gar nicht erwarten, an die Plattenteller zurückzukehren.
Wenn Blondie auf
Queen und Chic trifft
„Viele Leute waren damals irritiert, wenn
sie sahen und hörten, was ich so am Plattenspieler mache“, sagt Grandmaster Flash, der
den Soundtrack für ein neues Musikgenre
schuf, das nicht mehr brauchte als zwei Plattenspieler und ein Mikrofon, einen Rapper
und einen DJ. Und einer der ersten Stars dieser kreativen Form des Musikrecylings war
Grandmaster Flash. Mit seiner Formation
Grandmaster Flash and the Furious Five
schuf er Anfang der 1980er Jahre frühe HipHop-Meilensteine wie „The Message“ oder
„White Lines“. Und vor allem das Sieben-Minuten-Solo „The Adventures of Grandmaster Flash on Wheels of Steel“ – ein Mash-up,
in dem er seine Virtuosität an den Plattentellern unter Beweis stellt, indem er „Rapture“
von Blondie, „Another One Bites The Dust“
von Queen, „Good Times“ von Chic und
„Apache“ von der Incredible Bongo Band
aufeinandertreffen ließ.
Seine Mash-up-Kunst wird er auch in
Stuttgart vorführen. Schon beim Soundcheck vermengt er Filmmusikschnipsel,
Black-Sabbath-Riffs und Soulbläsersätze
mit knackigen Beats. Und später in der
Nacht, wenn es im Romy S. kaum mehr ein
Durchkommen gibt, wird er nicht bloß KRSOne, Gang Starr oder Snoop Dogg spielen,
sondern auch Nirvana, Blur oder Daft Punk
verarbeiten und beweisen, dass Hip-Hop
keine Musik für engstirnige Menschen ist.
Ein Track auf seiner letzten Platte „The
Bridge“ heißt „We Speak Hip-Hop“ und erzählt von der Musik, die Sprachbarrieren
überwinden kann. „Hip-Hop ist eine universelle Sprache“, sagt er, „und mein Job als DJ
Zur Person
Grandmaster Flash
¡ 1958 kommt er am Neujahrstag auf Barbados als Joseph Saddler zur Welt und
wächst in der New Yorker Bronx auf.
¡ 1976 erfindet er eine Vielzahl der Techniken, die bis heute für Hip-Hop-DJs grundlegend sind, wie etwa das Backspinning,
und er perfektioniert das Scratching.
¡ 1977 gründet er Grandmaster Flash and
the Furious Five. Es entstehen wegweisende Nummern wie „The Adventures of
Grandmaster Flash on the Wheels of
Steel“ (1981) oder „The Message“ (1982)
¡ 2003 werden Grandmaster Flash and the
Furious Five als erster Hip-Hop-Act in die
Rock & Roll Hall of Fame aufgenommen.
¡ Grandmaster Flash hat eine Modemarke,
eine Radioshow und ist ein spielbarer
Charakter in dem Videospiel „DJ Hero“.
Grandmaster Flash beim Auftritt im überfüllten Romy S. in Stuttgart
Foto: Steffen Schmid
11
¿13 · Veranstaltungen
Wie viele Bücher, wie viel
Musik braucht der Mensch?
Denis Scheck, Moderator der ARD-Sendung „Druckfrisch“, zählt im Literaturhaus Bücher, Marc-André Hamelin spielt
Meisterliches: Wir geben Tipps für eine
spannende Kulturwoche.
Ein Finne
singt auf
Schillers Sockel
Der Stuttgarter Filmwinter zeigt,
wie wichtig ein Filmhaus sein kann
Von Bernd Haasis
Die Stadt hat viele Leinwände, man muss
sie sich nur aneignen – das führt der Stuttgarter Filmwinter am Samstagabend auf
subversive Art einmal mehr vor. Die Hamburger Gruppe A Wall Is A Screen ist zu
Gast und bespielt mit mobilem Gerät bei
einem Stadtspaziergang Oberflächen aller Art. Auf der Fassade des Buchhauses
Wittwer sind die ungeschicktesten Bankräuber aller Zeiten zu begutachten, am Sockel des Schillerdenkmals verdichtet der
finnische Entertainer M. A. Numminen
Wittgensteins „Tractatus“ singend auf einen Satz („Wovon man nicht sprechen
kann, darüber muss man schweigen“),
und in einer Tiefgarageneinfahrt erklärt
ein windiger Geselle in wenigen Minuten
die Homer’sche Dichtung. Das macht
Spaß, und trotz empfindlicher Kälte
wächst das Publikum: Zu den rund 50 Anfangszuschauern gesellen sich schnell
noch einmal so viele neugierige Passanten
– und bleiben dabei.
Später am Abend erheitert das Stuttgarter Duo Rocket Freudental im temporären, prall gefüllten Club „theflashgib“
in der Lautenschlagerstraße die FestivalBesucher mit seinem absurden und gerade deswegen treffenden Blick auf die
Realität. Im Kinosaal des Filmhauses geht
derweil der Kurzfilmwettbewerb in die
letzte Runde, dessen Hauptpreis, den
„Norman“ (4000 Euro), sich schließlich
zwei Filmemacher teilen: Der Pole Stanislaw Mucha führt in „Klappe“ die Absurdität des Filmemachens vor, während Pilvi
Takala in „Real Snow White“ zeigt, wie
aggressiv Disney seine Fantasiewelt gegen Eindringlinge schützt.
Ein erfolgreicher Filmwinter, dem es gelungen ist, das seitens der Stadt bereits abgeschriebene Filmhaus vollständig zu bespielen und zu demonstrieren, wie wichtig ein solcher Ort für die Filmszene ist.
Szene
Schachers Raum für Kunst
Marko Schacher, der sich viele Jahre
lang als freier Mitarbeiter für die Stuttgarter Nachrichten in der Kunstszene
umgesehen hat, eröffnet am 28. Januar
um 19 Uhr eine eigene Galerie. „Nach
fast fünf Jahren Festanstellung in der Galerie Schlichtenmaier und Ausstellungsprojekten als freier Kurator sehe ich das
als konsequenten Schritt in meiner Entwicklung als Kunstvermittler“, sagt er.
„Schacher – Raum für Kunst“ heißt sein
Schritt auf den Kunstmarkt, im Galerienhaus in der Breitscheidstraße 48 übernimmt er dafür die Räume von Berthold
Naumann. Zur Eröffnung spricht Tilman
Osterwold, spielt Udo Schöbel und sind
Stadt- und Landschaften von Johanna Jakowlev und Mark Thompson zu sehen.
„Mir werfen sie ja gerne Pathos vor“
Ben Becker poltert, grollt, greint und biegt sich vor Lachen, als er im Theaterhaus Gedichte aus „Der ewige Brunnen“ vorträgt
Von Thomas Morawitzky
Das müssen Weihnachtsabende gewesen
sein, als Otto Sander wieder und wieder in
den Weinkeller stieg, Bruno Ganz im Jugendstilspiegel von Ben Beckers Mutter endete, inmitten der Scherben noch mehr
Champagner forderte und man sich gegenseitig vorlas aus Ludwig Reiners voluminöser, erstmals 1955 erschienener deutscher
Gedichtanthologie „Der ewige Brunnen“.
Ben Becker, Ziehsohn Otto Sanders und
in Stuttgart kein Unbekannter, war dabei,
erinnert sich und lässt jene Weihnachtsfeste
wieder aufleben, am Samstag im Stuttgarter Theaterhauses, rund 600 Gäste sind gekommen, um die süffige Lesung zu erleben,
die Becker, nun alleine, dort aus dem „Ewigen Brunnen“ gibt. Gut ausgerüstet ist er,
mit einem Glas voll des roten Weines, das er
unter seinem Lesetisch abstellt – vielleicht
ja eine Reminiszenz an Sanders Expeditionen. Links neben Becker sitzt Yoyo Röhm
am Klavier und streut in den eh schon ungemein dramatischen Vortrag des Schauspielers zusätzliche Romantik, zusätzliches Pathos hinein. Auf dem Klavier flackert eine
Kerze. Rechts von Becker steht ein Feuerlöscher. Der steht dort, wie der Rezitator erklärt, nur für den Fall, dass sich singende
Hexen mit feuerrotem Haar auf die Bühne
getrauen sollten. In anderen Kleinstädten
kam das vor, behauptet Becker.
Man erlebt ihn an diesem Abend, anders
als bei seinen großen Bibel-Rezitationen in
der Porsche-Arena, von einer sehr persönlichen Seite. Er springt in den Seiten des dicken deutschen Gedichtbuchs umher, liest
hier, liest dort, ein Programm, das er natürlich zusammengestellt hat, dessen Pfade er
erst ganz zuletzt verlassen wird, um mit
Spontaneitäten und Favoriten aufzutrumpfen – und man erlebt immer wieder, wie er
sich in Rollen verliert oder in Anekdoten.
Tausend Dinge erfährt man, von diesem
schwadronierenden Ben Becker. Über Hotelzimmer in Stuttgart beispielsweise, die man
meiden sollte. Man erlebt einen polternden,
grollenden, jovialen, greinenden, sich vor
Lachen biegenden, aufspringenden, toll-
dreist gestikulierenden und meist ganz und
gar unernsthaften Becker, der auch einmal
die Zunge herausstreckt – obwohl: „So
frech wie früher bin ich nicht mehr“, gibt er
zu. Gerade spöttelte er noch über den Stuttgarter Hauptbahnhof. Kurios Ben Beckers
Interpretation des „Zauberlehrlings“: Hervor zaubert er einen grotesken Samthut mit
Schnalle, den er sich über den Kopf zerrt; darunter sitzt er dann, mit diabolisch verkniffenem Gesicht und bruddelt den Besen an,
ein Gollum von Goethes Gnaden. Kommt
der Meister dann nach Hause, herrscht er
das Putzwerkzeug mit Donnerstimme an.
Beckers volle, raue Stimme spielt natür-
Ben Beckers ungemein volle, raue Stimme spielt die Hauptrolle
Foto: Axel Schmidt/ddp
lich bei allen Gedichten die Hauptrolle.
Dazu die Masken, die er dieser Stimme aufzwingt: Das allerletzte Gedicht des Abends
ist Theodor Fontanes „John Maynard“. Ben
Beckers Stimme zittert, zerbricht über dieser Klage, sie beginnt zu weinen. Wie ernst
man ihn in solchen Momenten nehmen darf,
ist allerdings fragwürdig. Sehr ernst zumindest meint er es nicht mit Otto Ernsts Ballade „Nis Randers“: „Mir werfen sie ja gerne Pathos vor“, sagt er, „aber das fand ich
einfach saukomisch!“ Das erklärte er einst
auch einem anderen Publikum, woraufhin
die rothaarige Hexe aufsprang: „Herr Becker, das ist nicht komisch, das ist tragisch!“ Deshalb der Feuerlöscher.
Becker liest Gedichte, die von Rittern, Königen und Handschuhen handeln – „Schiller, ja, das mag ich!“ –, spaziert an Rilkes
„Panther“ vorbei und begibt sich auf große
Fahrt, zu den Goldgräbern: „Schluss mit
den Burgfräuleins, wir suchen jetzt das
Abenteuer!“ Von den markigen Worten echter Kerle, die ihm wie maßgeschneidert im
Mund liegen, kehrt er ganz am Schluss dann
doch zurück zu den Damen, wenn auch mit
Texten, die nicht im „Ewigen Brunnen“ stehen: Er singt für Rio Reiser und Ulrike Meinhof – und erhält dafür in Stuttgart einen
eher verzagten Applaus. Und er singt die Loreley, von einem anderen Favoriten, schön
traurig: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“. Becker und Röhm verbeugen sich, Ben
Becker geht zum Klavier, bläst die Kerze
aus, der Weihnachtsabend ist vorbei.
Marko Schacher zeigt junge Kunst, auch
aus Stuttgart
Foto: Beri Bieber
Hip-Hop trifft
klassische Musik
Breakdance-Star Daniecell, österreichische Meisterin im B-Boying, ist in Ludwigsburg gerngesehener Gast. Jetzt hat
sie im Auftrag der Tanz- und Theaterwerkstatt wieder ein Projekt mit Schülern umgesetzt. „Zuckerschock Fairy“ ist
ein Musik- und Tanzstück, in dem zwei
scheinbar unvereinbare Welten aufeinanderprallen: Eine Hip-Hop-Tänzerin und
ein Musiker, der ganz klassisch im Orchester spielt, treten beide mit kompletter Clique auf, und natürlich findet man Musik
und die Gewohnheiten der anderen völlig
daneben. Das Märchen vom Kulturschock und von der Liebe lässt allmählich
etwas Neues entstehen. Premiere hat das
Tanz- und Musikprojekt mit Schülern
und dem Jugendsinfonieorchester Ludwigsburg am 11. Februar um 20 Uhr in
der Karlskaserne, eine weitere Aufführung gibt es am 12. Februar. (StN)