Sport und Bewegung bei Chronischem SCHMERZ
Transcription
Sport und Bewegung bei Chronischem SCHMERZ
Sport und Bewegung bei Chronischem SCHMERZ Sebastian Bierke Diplom-Sportwissenschaftler Sport-und Gesundheitspark Berlin e.V. 04.07.2013 Schmerz als physiologischer Reiz vs. chronischer Schmerz mit Verlust seiner Funktion Dauer kurz andauernd lang/wiederkehrend, mind. 3-6 Monate Ursache bekannt, ggf. therapierbar unbekannt, vielschichtig, nicht therapierbar Funktion Warnfunktion keine Warnfunktion mehr Intervention Schonung, Behandlung der Schmerzursachen, Analgetika Abbau schmerzunterstützender Faktoren Minderung der Beeinträchtigung, Umgang mit Schmerz Behandlungsziele Schmerzfreiheit Psychologische Konsequenzen Hoffnung auf Erfolg, Kontrollüberzeugung Resignation, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit Nach Kröner-Herwig, 2004 Chronischer Schmerz mit Verlust der physiologischen Funktion Bedeutung Schmerz: Schmerz ist tlw. weiterhin ein wichtiger Sinn, dient also dazu, das Gewebe vor Schaden zu bewahren Schmerz ist eine Vorstellung, abhängig von seiner Bedeutung Schmerz hat eine sensorische und emotionale Qualität Schmerz kann ohne Gewebsschädigungen auftreten Chronischer Schmerz Unterteilung Schmerzmodulatoren/Regulatoren 1. Priorisierung 2. Bedeutung 3. Übertragung „Priorisierung“ Abhängig vom Fortbestand des nozizeptiven Stimulus - Soldaten fühlen weniger Schmerz, wenn sie in Sicherheit sind - Schmerzschwelle höher, wenn Lärm dazu kommt Mosely GL et al. 2012 „Teaching people about pain: why do we keep beating around the bush?“, University of south australia, Future magazine, pain manage 2(1) 1-3 Chronischer Schmerz „Bedeutung“ - Kälte schmerzt mehr, wenn sie als sehr heiß suggeriert wird und erwähnt wird, dass Hitze dem Gewebe viel mehr schadet als Kälte (Mosely GL 2007) „Übertragung / Entwicklung“ - Einfluss auf Nozizeptor Signalübertragung und zeitgleicher Modulation z. B. von Erwartungen (Keltner JR 2007) - Neural, neurochemisch, humeral getriebene Veränderungen des Antwortprofils (Ren K 1996) Chronischer Schmerz Strukturschäden Kultur Sensorischer Input Chronischer Schmerz? Schmerzerfahrung Settings Glaube, Wissen, Logik Chronischer Schmerz Gewebepathologie korreliert oft nicht mit chronischem Schmerz - Rückenschmerz (van Tulder MW 1997, Spine 22) - Nackenschmerzen (Peterson C 2003, Spine 28) - Knie-Arthrose (Link TM 2003, Radiology 226) Clinical Findings at Various Stages of Osteoarthritis in 50 Patients KL Score WOMAC Scores: 1 (n 10) 2 (n 11) 3 (n 13) Pain 73 (37–200) 134 (60–224) 87 (41–200) Stiffness 103 (25–195) 100 (46–150) 100 (37–250) Function 214 (93–361) 206 (100–853) 176 (71–224) 4 (n 16) 120 (83–185) 175 (50–213) 165 (110–234) Data are median scores. Numbers in parentheses are IQRs. Differences between the scores were not significant (P .05), KL - Kellgren-Lawrence scale Warum Sport bei chronischem Schmerz??? 1. Trägt der Sport zur Linderung der Symptome der Krankheit bei bzw. sorgt direkt für eine Besserung im Krankheitsverlauf? 1. d 2. Kann der Sport trotz der Krankheit ausgeübt werden und somit die unspezifischen positiven Aspekte des Sport genutzt werden Warum Sport bei chronischem Schmerz??? Herz-Kreislauf-System Bewegungsapparat - Konditionell - koordinativ Psychologische Aspekte/ Soziale Komponente SPORT Immunsystem Leistungsfähigkeit im Alltag Stoffwechselveränderungen • Psychologie: Zusammenhang zwischen Schmerzbewältigung und Schmerzen nach Knie-TEP OP (Bierke et al. 2013, laufend) • Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und dem mentalen Befinden - Blumenthal JA et al. 1999 „Effects of exercise training on older patients with major depression“ Arch Intern Med. 159: 2349-56. - Glenister D 1996 „Exercise and mental health: a review“ J Royal Soc Prom Health Welcher Sport ist der Richtige??? Gruppenkurse?: • • • • • • • • • Einzeltherapien/ Wirbelsäulengymnastik Individualsport?: Rückenschule • Krankengymnastik am Gerät Aquafitness • Joggen/Fahrrad fahren Walking-Gruppe • Therapeutisches Klettern Yoga Qigong • Gerätetraining Pilates • Tier-Therapien Thai Chi • u.s.w. Feldenkrais Entspannungstechniken?: • PMR • Autogenes Training • Phantasiereisen Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz? Grundsätze für den Sport bei Patienten mit chronischen Schmerzen 1. Körperwahrnehmung schulen • Verarbeitung und Umsetzung sensorischer Informationen in eine adäquate Bewegungshandlung • Bewegung und Haltung BEWUSST machen 1. Körperwahrnehmung • Biofeedback Mindfield© Hauttemperatursensor 2. Mobilisation Hypermobilität Stabiles Gelenk: entsprechend seiner neutralen Zone kontrolliert bewegen (stabilisierende Muskeln) vs. Instabilität Merkmale stabiler Bewegungsabläufe: – größtmöglicher Gelenkflächenkontakt während Bewegung – Aktiv kontrolliert – Gelenk ordnet sich in harmonische Gesamtbewegung ein 2. Mobilisation • Mobilisation BWS 3. Sensomotorisches Training • Schulung der Wahrnehmung sowie eine Verarbeitung und Umsetzung sensorischer Informationen in eine adäquate Bewegungshandlung (Froböse 2006) 3. Sensomotorisches Training • Stabil • Isoliert • niedrige NM Anforderung • weniger stabil • einige Synergien • gute NM Anforderung • sehr instabil • Maximal Synergien • hohe NM Anforderung NM = neuromuskulär 4. Training der lokal stabilisierenden Muskulatur • Gelenknahe vs. Gelenkferne Muskulatur • Haltemuskulatur vs. Bewegungsmuskulatur Muskuläre Stabilisation der Lendenwirbelsäule Diaphragma „Globale“ Muskeln • Rectus abdominis • Obliquus externus • Obliquus internus • Erector spinae • Quadratus lumborum Beckenbodenmuskulatur „Lokale“ Muskeln • Transversus abdominis • Multifidus • Psoas (post. fibres) • Iliocost. lumb. (lumbar fibres) • Longissimus (lumbar fibres) • Quadr. lumb. (medial fibres) Modified from: Bergmark A. Stability of the lumbar spine. A study in mechanical engineering. Acta Orthop Scand 1989;230(Suppl):20-4 Voraktivierung Rumpfstabilisatoren Feed-Forward Prä-aktivierte Muskelkontrolle in Erwartung auf Belastung oder eine folgende Handlung. ”Bei schnellen Bewegungen der unteren und oberen Extremitäten ist M. transversus abdominis der erste Muskel, der kontrahiert.” Hodges et al 1997 Onset TrA • Training des M. transversus abdominis bei Rückenschmerzpatienten • Einbeinige Brücke mit Abduktion in Hüfte Susan A et al. 2010: Differences in transverse abdominis activation with stable and unstable bridging exercises in individuals with low back pain Signifikant bessere Ergebnisse nach Einüben der Koaktivität der Stabilisierenden Muskulatur vs. herkömmlicher Gymnastik Sumit B et al. 2013: Effect of core stabilization exercises versus conventional exercises on pain and functional status in patients with non-specific low back pain: A randomized clinical trial 5. Psychologie und die Patient-Therapeuten Beziehung Hoher Patientenkontakt und ein gutes Pat. Verhältnis: Vom Patient empfundener Gesamteffekt der Behandlung Veränderung im Schmerzbild Verbesserung der Funktion Patientenzufriedenheit Depression Genereller Gesundheitsstatus - Amanda M. et al. 2010 „The Influence of the Therapist-Patient Relationshipon Treatment Outcome in Physical Rehabilitation: A Systematic Review” - Paulo H et al. (University of Sidney) 2013 5. Psychologie und die Patient-Therapeuten Beziehung Ziele: • Einigkeit über Weg und Ziele der Therapie • Einbindung durch Interaktion • Vertrauen und Bindung aufbauen • Wissensvermittlung und Veränderung des Verständnisses von Entstehung des chronischem Schmerz -Reduzieren der Angst durch Erläuterung (Mosely GL 2004) Extra: Rief und Hiller in ihrem Störungsmodell zu somatoformen Störungen (aus Allg.) 5. Psychologie Entspannungsverfahren • • • • PMR Phantasiereisen Autogenes Training Atemtraining Aufmerksamkeitslenkung, Erhöhung Stresstoleranz PMR: Auf neuronaler Ebene entsteht durch die hypothalamisch gesteuerte Umschaltung eine Dämpfung des Sympathikus. • Kognitiv: eingeengte Konzentration – erhöhte Selbstaufmerksamkeit – Beachtung vorher nicht wahrgenommener Körpervorgänge – günstigere Krankheitsbewältigung • Affektiv: Gefühle von Ruhe, Gelöstheit, Wärme und Wohlbefinden werden induziert. (Egle, 1999) Chronischer Schmerz und Ausdauertraining? Joggen Passive PT (12 Wo, 3-5x 30-50 min bei 60-85 max HF) (physikalische Therapie) Vs. Signifikant Verbesserung bei - Schmerzreduzierung - psychologische Belastung (MPQ, RMDPQ) Chatzitheodorou D et al. 2007: A pilot study of the effects of high-intensity aerobic exercise versus passive interventions on pain, disability, psychological strain, and serum cortisol concentrations in people with chronic low back pain Chronischer Schmerz und Ausdauertraining? Walking (5 Wo, 2x 20-40 min bei 50% max HF) Konventionelles Gymnastikprogramm zur Rumpfkräftigung Signifikante Verbesserungen in beiden Gruppen bei: - Schmerz /Funktion - Vermeidung durch Angst - Rückenstrecker Ausdauer Test / 6 min Walking Test Schnayderman I. et al. 2012: An aerobic walking programme versus muscle strengthening programme for chronic low back pain: a randomized controlled trial Chronischer Schmerz und Ausdauertraining? Benefit durch: = neuronale, endokrine und muskuläre Effekte - Schmerzschwellenerhöhung (HypothalamusHypophysenachse) - Zentral inhibierende Mechanismen (β-Endorphin) - Endogene Opiatfreisetzung - Training z.B. M. Erector spinae - Verbesserung der Koordination/Gangbild (Lamoth CJ 2004) Sport: Kontraindikationen Dort wo strukturelle Probleme oder Schäden vorliegen, wie z.B.: • akute radikuläre Symptomatik • akut entzündliche Prozesse • Frakturen (instabil) (wobei lokal im TM gearbeitet werden kann, d.h. bei einem Beinbruch kann man trotzdem den Arm behandeln!) • Patienten / Übungen, bei denen eine intraabdominale Druckerhöhung gefährlich wäre (Herzpatienten, Tinitus, Augendruck etc.) • Andere Erkrankungen (schwere Osteoporose [langer Hebel !?], Knochentumore….) Sport und Bewegung bei spezifischen Krankheitsbildern Beispiel chronischen HWS Syndroms Patientenvorstellung • Sekretärin, 44 Jahre, normaler AZ und EZ • leidet seit Jahren unter Verspannungen der der Nackenmuskulatur • Ausschluss akuter radikulärer Symptomatik • Schon mehrere Physiotherapie Sitzungen • Kopf protrahiert, Hypomobilität cervikothorakaler Übergang Anamnese/körperliche Untersuchung auch im Sport unerlässlich Foto: aus Hüter-Becker 2006 Funktionelle Ursachenforschung Hinweise auf Instabilität: – Qualitätsdefizit einer Bewegung – Symptome unter Belastung provoziert („fühle mich unsicher“, „Ich breche durch“, „ich muss es ständig knacken lassen“) – Oft Gegenbewegung eingeschränkt Auffälligkeiten am restlichen Bewegungssystem? häufig: • Bewegungsarme Hüftgelenke • Bew. reiche LWS • Bew. arme BWS und cervikothorakaler Übergang • Bew. reiche mittlere HWS • Bew. arme Schulterblätter • Bew. reiche Glenohumeralgelenke Therapie der Instabilität • Nicht „steifhalten“ • Erst Stabilitätsgrenze festlegen, dann knapp unterhalb stabilisiert üben, niedrig anfangen 1. Entlastetes Zuordnen der Gelenkflächen 2. Beibehalten während entlasteter Bewegung (Bewegungsauftrag, Gleichgewichtsreaktionen) 3. Kontrolle unter Vollbelastung in Ruhe und Bewegung – Kreisel, Seilzug Therapie • Weiterführend Therapie der benachbarten Gelenke/Regionen wie BWS und Schultergürtel z.B. „Rumpfverschraubung“ (nach „Spiraldynamik©“) Schulterblattstabilisation mit Außenrotation Leitlinie Nackenschmerz • Problem: zu wenige Daten • Kräftigung (>15 min) unter Anleitung und Ausdauertraining (>30 min) scheinen positive Effekte zu haben (Waling K et al 2000 “pain before and after three exercise programs – a controlled clinical trial of women with work-related trapezius myalgia. Pain 2000; 85: 201-7) • Ruhe und Verlust an Muskelkraft: schlechtere Prognose (Bot SDM et al 2005 “Predictors of outcome in neck and shoulder symptoms. A cohort study in general practice” Spine. 2005; 30: E459-70 Leitlinie: Bewegungstherapie bei chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz • Empfehlungsgrad: evidenzbasiert hoch, aber: • keine Therapieart einer anderen überlegen = keine Empfehlungen zur Spezifik von Bewegungstherapie (Muskeltraining, Aerobic, McKenzie-Methode, Dehnungsübungen usw.) (Airaksinen O. et al. 2004 „European guidelines for the management of chronic non-specific low back pain. European Commission Research Directorate General) • Therapie wird am besten anhand der Präferenzen sowohl der Betroffenen als auch der Behandelnden festgelegt • Empfohlen: PMR, Rückenschule (biopsychosozial, kurzfristige Effekte) Beispiel Fibromyalgie !Patienten haben eher Angst vor Sport! Größter Benefit: • An Land oder Wasser • Dynamische aerobe Ausdauerleistungsfähigkeit • Leicht bis moderat, 2-3x/Woche, mind. 4 Wochen • z.B. „walking“, Beginn 12 min • HF = RHf + (220-LA-RHf) x 0,25 • Sportgruppen (Fremdmotivation)! • Beschwerdelinderung, Wohlbefinden, Erhöhung der Druckschwelle der Triggerpunke, keine Heilung Häuser W et al. 2010 “Efficacy of different types of aerobic exercise in fibromyalgia syndrome: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials” Arthritis Research & Therapy Beispiel Fibromyalgie Ausdauertraining: Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A andere Studien zu: - Kraft vs. Ausdauertraining (Gruppe?) (Bircan C et al 2008 “Effects of muscle strengthening versus aerobic exercise program in fibromyalgia”, Rheumatol Int.) - Reines Beweglichkeitstraining bewirkt wenig - Ebenso wie reines Entspannungstraining (Qi Gong und Thai Chi) (Mannerkorpi 2004 ) - Motivation im Ausdauertraining Anthony S et al 2013 “Moderate-vigorous physical activity improves long-term clinical outcomes without worsening pain in fibromyalgia”, Arthritis Care & Research Beispiel rheumatoide Arthritis • Passivität schadet eher • Bewegung im Wasser wir subjektiv als angenehmer empfunden (Eversdeen 2007) • Gesundheitsorientiertes Kraft - und Ausdauertraining (Fahrrad) zum Erhalt der LF • Compliance Erhöhung durch regelmäßigen Kontakt zum Therapeuten und Gruppe (van den Berg 2006) • Akuter Schub: kein Sport • Valide Studien fehlen Sport auf Rezept – Bsp. Rehasportvereinbarung • Keine Auswirkungen auf „Heilmittelbudget“ (nicht Heilmittel im Sinne §32 SozGB) Diagnose Schädigung Ziel • Diagnose / Nebendiagnose: ICD-10 M.54.2 Zervikalsyndrom • Schädigung der Körperfunktion: ICF b710.1 leichte Funktionsstörung der Gelenkbeweglichkeit ICF b735.2 mäßige Funktionsstörung des Muskeltonus • Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe ICF d430.1 leicht ausgeprägte Beeinträchtigung Gegenstände anzuheben und zu tragen • Ziel des Rehabilitationssports Stabilisierung der Hals-, Nacken- und Rumpfmuskulatur Verbesserung der Funktions- und Aktivitätseinschränkungen Zusammenfassung • Allgemeiner und spezifischer Nutzen von Sport bewiesen • Grundsätze der Sporttherapie: Körperwahrnehmung, Mobilisation, sensomotorisches Training, Training der lokalstabilisierenden Muskulatur, Psycho-soziale Einbindung • Bei vielen Erkrankungen fehlen noch die evidenzbasierten Nachweise zum langfristigen Nutzen Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit