runnicles cargill - Staatskapelle Dresden
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runnicles cargill - Staatskapelle Dresden
SAISON 2015 2016 29. / 30.11.15 / 1.12.15 4. SYMPHONIEKONZERT Donald RUNNICLES CARGILL Karen Ihre Premiere. Besuchen Sie den Ort, an dem Automobilbau einer perfekten Komposition folgt: Die Gläserne Manufaktur von Volkswagen in Dresden. SAISON 2015 2016 29. / 30.11.15 / 1.12.15 4. SYMPHONIEKONZERT Donald RUNNICLES CARGILL Karen +49 351 420 44 11 Besucherservice glaesernemanufaktur.de 4. SYMPHONIEKONZERT SO N N TAG 2 9.11.15 11 U H R M O N TAG 3 0.11.15 20 UHR D IEN STAG 1.12.15 20 UHR PROGRAMM S E M P ER O P ER DRESDEN Donald Runnicles Sergej Rachmaninow (1873-1943) Dirigent »Die Toteninsel« Symphonische Dichtung zum Gemälde von A. Böcklin für großes Orchester op. 29 Karen Cargill Mezzosopran Edward Elgar (1857-1934) »Sea Pictures« Zyklus von fünf Liedern für Mezzosopran und Orchester op. 37 1. Sea Slumber-Song 2. In Haven (Capri) 3. Sabbath Morning at Sea 4. Where Corals lie 5. The Swimmer PAU S E Musik des Meeres Immer wieder ließen sich Komponisten von der See, den Wellen, der Weite des Horizonts inspirieren. In Rachmaninows genialer musika lischer Adaption eines Gemäldes von Böcklin gemahnt das Meer an die Vergänglichkeit des Menschen, in Elgars »Sea Pictures« bildet es die Folie für eine atmosphärisch dichte Studie über die Liebe und andere Naturgewalten des Lebens. Kein Landschaftsporträt, aber von sugges tiver poetischer Kraft ist die erste Symphonie des großen Komponisten jubilars Sibelius. Jean Sibelius (1865-1957) Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39 1. Andante, ma non troppo – Allegro energico 2. Andante, ma non troppo lento 3. Scherzo. Allegro – Lento, ma non troppo – Allegro 4. Finale. Quasi una fantasia Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper Aufzeichnung durch MDR Figaro 2 3 4. SYMPHONIEKONZERT Donald Runnicles Dirigent D onald Runnicles stammt aus Schottland und ist seit 2009 / 2010 Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin. Zugleich ist er Chefdirigent des BBC Scottish Symphony Orchestra. Seit 2006 leitet er außerdem das Grand Teton Music Festival und ist Principal Guest Conductor des Atlanta Symphony Orchestra. Runnicles studierte in seiner Heimatstadt Edinburgh sowie in Cambridge und begann seine musikalische Karriere in Deutschland, wo er u. a. Generalmusikdirektor in Freiburg war. Sein USA-Debüt geriet zur Sensation, als er 1988 kurz fristig eine »Lulu«-Produktion an der Met in New York übernahm. Zwei Jahre später leitete er den »Ring des Nibelungen« an der San Francisco Opera, was seine Berufung zum dortigen Music Director zur Folge hatte. Zwischen 1992 und 2009 dirigierte er hier über 60 Produktionen, u. a. die Uraufführungen von John Adams’ »Doctor Atomic«, Conrad Susas »The Dangerous Liaisons« und Stewart Wallaces »Harvey Milk«. Zahl reiche Dirigate führten ihn zu den Festspielen nach Bayreuth, Glynde bourne und Salzburg, an die Metropolitan Opera New York, die Opéra National de Paris, die Mailänder Scala, die Staatsoper Berlin, die Kölner Oper, die Bayerische Staatsoper München, die Hamburgische Staats oper, die Königliche Oper Kopenhagen, die Oper Zürich und die Nether lands Opera. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit der Wiener Staatsoper, wo er regelmäßig den »Ring des Nibelungen« dirigierte. Zudem arbeitet er häufig mit dem BBC Symphony Orchestra, dem NDR Sinfonieorchester, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rund funks, dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Orchestre de Paris, den Münchner Philharmonikern, den Wiener Symphonikern, dem Royal Concertgebouw Orchestra und sowohl den Berliner als auch den Wiener Philharmonikern. Zahlreiche CD-Einspielungen dokumentieren seine Arbeit, darunter Gesamtaufnahmen von Humperdincks »Hänsel und Gretel«, Glucks »Orphée et Eurydice« oder Wagners »Tristan und Isolde«. Neben seinen Aufgaben als Dirigent ist Donald Runnicles auch ein gefragter Pianist und tritt bei Kammerkonzerten und als Liedbe gleiter auf. 2004 verlieh ihm Queen Elizabeth II. den »Order of the British Empire«. Mit der Staatskapelle Dresden nahm er 2008 eine Einspielung mit Auszügen aus dem »Ring«-Zyklus auf. 4 5 4. SYMPHONIEKONZERT Karen Cargill Mezzosopran D ie schottische Mezzosopranistin Karen Cargill studierte in Glasgow, Toronto und London und begann ihre internatio nale Laufbahn 2002 als Preisträgerin des Kathleen-FerrierPreises. 2005 trat sie unter der Leitung Kurt Masurs an der Last Night of the Proms in Mendelssohns »Elias« auf. Seitdem ist sie dem BBC Symphony Orchestra und dem Scottish Symphony Orchestra, dessen »Associated Artist« sie war, eng verbunden. Aus dieser Zusammenarbeit gingen u. a. Aufnahmen von Berlioz’ »Les nuits d’été« und »La mort de Cléopâtre« unter der Leitung von Robin Ticciati hervor, die im Juni 2013 vom Grammophon-Magazin zur »Aufnahme des Monats« gekürt wurden. Karen Cargill gastiert regelmäßig in den großen Konzert- und Opernhäusern. Geistliche Programme – u. a. Bachs Matthäuspassion, Dvořáks »Stabat Mater« und Bruckners Te Deum – gehören dabei ebenso zu ihrem Repertoire wie das symphonische Fach mit Gustav Mahlers zweiter, dritter und vierter Symphonie sowie dem »Lied von der Erde«, den »Kindertotenliedern« und Richard Wagners »Wesendonck-Liedern«. Karen Cargill arbeitet häufig mit den großen amerikanischen Orchestern in Boston, Chicago, Cleveland und Philadelphia sowie mit dem Chamber Orchestra of Europe, dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra, dem Concertgebouw Orchester sowie den Berliner Philharmonikern. James Levine, Valery Gergiev, Yannick NézetSéguin, Myung-Whun Chung, Bernard Haitink, Sir Simon Rattle und Robin Ticciati zählen dabei zu ihren musikalischen Partnern. Neben ihren weltweiten Engagements im Opernfach – u. a. in Covent Garden London, an der New Yorker Met sowie der Deutschen Oper Berlin – pflegt Karen Cargill gemeinsam mit dem Pianisten Simon Lepper auch ein umfangreiches kammermusikalisches Repertoire, aus dem sie u. a. in der Wigmore Hall London, im Concertgebouw Amsterdam, im Kennedy Centre Washington und in der Carnegie Hall gesungen hat. CD-Aufnahmen runden ihr Schaffen ab. Kürzlich hat sie gemeinsam mit ihrem Liedbegleiter Simon Lepper eine von der Kritik gefeierte Aufnahme mit Liedern von Alma und Gustav Mahler vorgelegt. 6 7 4. SYMPHONIEKONZERT »Ich male nur Bilder und keine Bilderrätsel!«, soll Arnold Böcklin auf die Frage nach der Bedeutung seiner mehrfach ausgeführten »Toteninsel«-Gemälde geantwortet haben. Zu sehen sind unentrinnbare Vorgänge des Lebens, »wie man nichts halten soll, alles sich auflöst, wonach wir greifen«, wie Hofmannsthals Marschallin im »Rosenkavalier« konstatiert. Das hier abgedruckte Bild ist die dritte, 1883 entstandene Fassung aus der »Toteninsel«-Reihe. Über dem Eingang der rechten Grabkammer hat Böcklin seine Signatur hinzugefügt. Die Darstellung des eigenen Grabes ist nicht neu, sie steht in der Tradition namhafter Künstler wie Caspar David Friedrich, Karl Blechen oder Gustave Courbet. Bekannt ist Böcklins »Selbstbildnis 8 9 mit fiedelndem Tod«, das den barocken Vanitas-Gedanken im Schimmer des Fin de siècle wiederbelebt. Man feiert die Grablegung einer Epoche. 1882, ein Jahr vor Entstehung des Werkes, fragt Friedrich Nietzsches toller Mensch in der »Fröhlichen Wissenschaft«: »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?« Das Meer, ob still, ob rauschend, glättend oder stürzend, wird zum bezwingenden Bild eines sehnsuchtstrunkenen Eintauchens ins Ungewisse. 4. SYMPHONIEKONZERT Sergej Rachmaninow * 1. April 1873 in Weliki Nowgorod, Russland † 28. März 1943 in Beverly Hills, Kalifornien DIE FEIER DES VERGÄNGLICHEN Rachmaninows »Die Toteninsel« »Die Toteninsel« E Symphonische Dichtung zum Gemälde von A. Böcklin für großes Orchester op. 29 ENTSTEHUNG BESETZUNG 1908 / 09 3 Flöten (3. auch Piccoloflöte), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken, Schlagzeug, Harfe, Streicher WIDMUNG Nicolas von Struve U R AU F F Ü H R U N G 18. April 1909 in Moskau DAU ER ca. 22 Minuten 10 11 in Bild von suggestiver Kraft. Aus spiegelglatter See ragt ein Eiland auf, dahinter bewegter Himmel. Im Vordergrund ein gleitender Nachen mit einer stehenden, in Weiß verhüllten Gestalt. Gerahmt von leicht nach außen gespreizten Felswänden drängen sich in der Mitte der Insel dicht emporwachsende Zypressen. In den Felsblöcken finden sich Spuren menschlichen Wirkens. Steinerne Öffnungen weisen auf Eingänge in ein anderes Reich und machen deutlich, worauf der Betrachter blickt: auf einen mythischen Grenzort, wo das Leben in ein neues Stadium übergeht. Arnold Böcklin hat sein Bild »Die Toteninsel« genannt und es zwischen 1880 und 1886 in fünf Versionen ausgeführt. Seine Auftraggeberin, die junge Witwe Marie Berna, spätere Gräfin von Oriola, hat bei ihm »ein Bild zum Träumen« bestellt. Im Vorfeld seiner Studien schreibt Böcklin an die Witwe: »Das Bild muss so still werden, dass man erschrickt, wenn an die Türe gepocht wird.« Die erste Fassung des Werkes scheint darauf Bezug zu nehmen, sie heißt »Ein stiller Ort«. Erst mit der dritten Version 1883 erhält das Gemälde seinen bekannten Namen und bezeichnet den Endpunkt einer nach-idealistischen Epoche. Immerhin, im selben Jahr stirbt Richard Wagner in Venedig – in der legendenreichen Lagunenstadt, die unter südlichem Himmel gleichermaßen von mediterranem Wasser umspült ist und wo die Stilisierung einer sterbenden Kultur mit Aplomb zele briert wird und die jahrhundertealten Palazzi als mahnende Metapher für Bedrohtheit und Vergänglichkeit menschlichen Schaffens stehen. In der Überhöhung des Mythos gegenüber Historie und Zivilisation liegt nicht nur ein schöpferisch ergiebiger Kulturpessimismus. Zu spüren ist eine Regenerationshoffnung, ein Abschied und Neubeginn, ein Stirb und Werde. Böcklins »Toteninsel« erzählt keine Geschichte, das Werk beschreibt eine Situation. Wie der Maler sein Bild anlegt, es struktu riert, verrät zudem Böcklins ureigene Musikalität. Der in Basel gebo rene Künstler spielt mit Trommel, Querflöte und Harmonium nicht nur mehrere Instrumente und singt in Rom in einem Vokalquartett u. a. mit seinem deutschen Malerkollegen Anselm Feuerbach, der 1880 in Venedig stirbt, er komponiert außerdem gelegentlich und soll sich auch im 4. SYMPHONIEKONZERT wo der russische Impresario Serge Diaghilew – auch dieser wird später in Venedig sterben – im Mai seine Saison Russe mit fünf Konzerten durchführt und im vierten Konzert, am 26. Mai, Rachmaninows zweites Klavierkonzert in der Interpretation des Komponisten zur Aufführung kommt. Im Frühjahr 1909 vollendet Rachmaninow in Dresden seine sympho nische Dichtung »Die Toteninsel«. Gegenüber Freunden erklärt er, dass ihn die Schwarz-Weiß-Reproduktion mehr fasziniert habe als die farbigen Versionen: »Hätte ich das Original zuerst gesehen, hätte ich ›Die Toten insel‹ womöglich nicht geschrieben.« Was meint das? Liefert der SchwarzWeiß-Kontrast strengere Konturen für eine Ahnung von Vergänglichkeit? Ist Rachmaninow stärker von den Linien und einer sich daraus erge benden Symbolik gefesselt als von der Farbgestaltung? Bei Böcklin rückt die Bedeutung der Farbe zweifellos in den Vordergrund, wird fast schon ihre Verselbständigung gefeiert. Der Maler arbeitet an einem »Klang der Farben« und erzielt daraus eine außergewöhnliche Wirkung. »… wiederum ein erstklassiges Orchester« Sergej Rachmaninow Gespräch reflektiert über Musik geäußert haben. Böcklin ist überzeugt, dass Musik und Malerei gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Er strebt danach, das Gemüt durch Bilder so zu packen, wie Musik es vermag: »Er suchte in der Musik das Uranfängliche, weil dies nicht mit dem Verstande begriffen werden muss, sondern dem Menschen im Blute liegt.« (Max Schneider) Kein Wunder, dass sich zahlreiche Komponisten von Böcklins Werken, vor allem von seiner »Toteninsel«, angeregt fühlen, unter ihnen Max Reger und sein Schüler Fritz Lubrich. Sergej Rachma ninow lernt Böcklins Gemälde 1907 als Schwarz-Weiß-Reproduktion kennen, vermutlich in der 1890 von Max Klinger geschaffenen Radierung der dritten Version. Rachmaninow hält sich zu dieser Zeit in Paris auf, 12 13 Zumindest lässt sich feststellen, dass Rachmaninow das Gefühl einer Beklemmung für schöpferische Impulse für notwendig hält. Am 8. März 1909 notiert der Komponist in Dresden: »Meine Meinung über die neuen Werke ist dieselbe, d. h. sie gelingen mir schwer, und ständig bin ich unzufrieden mit ihnen. Es ist eine einzige Qual.« Gleichwohl erliegt er später im amerikanischen Exil der Verklärung: »Beim Kompo nieren finde ich es von großer Hilfe, ein Buch im Sinn zu haben, ein schönes Bild oder ein Poem … Und sie kommen: alle Stimmen zugleich. Nicht ein Stück hier, ein Stück da. Alles. Das Ganze entsteht. So die ›Toteninsel‹. Im April und Mai war alles getan. Wann es kam, wie es begann – wie kann ich es sagen. Es entstand in mir, wurde gehütet und niedergeschrieben.« Nach 2 ½ Jahren an der Elbe verlassen die Rach maninows im April 1909 endgültig die sächsische Residenzstadt. Wenige Wochen zuvor schreibt er an Tanejew: »Wie schön ist es hier in Dresden, Sergej Iwanowitsch! Und wenn Sie wüssten, wie mich die Trauer packt, dass ich hier den letzten Winter verlebe! Wenn Sie mich fragen, warum ich nicht auch weiterhin hierbleibe, dann antworte ich Ihnen darauf erstens, dass die Aufgaben der Musikgesellschaft (Direktionsmitglied) und die Konzerte der Musikgesellschaft (Dirigent) mich nach Moskau rufen, und zweitens, dass ich auch bezüglich Dresdens einen Kontrakt abgeschlossen habe – diesmal nicht mehr mit einem Agenten – sondern mit meiner Frau, kraft dessen ich versprach, nicht länger als drei Jahre im Ausland zu leben. Und diese Jahre sind schon vergangen.« Getrieben von den politisch prekären Verhältnissen in Russland suchen die Rach 4. SYMPHONIEKONZERT maninows 1906 einen Ort wirtschaftlicher und kultureller Stabilität und finden ihn in Dresden, das nicht nur für das kulturbeflissene Bürgertum mitten in Europa ein attraktiver Wohnort ist: »Die Stadt selbst gefällt mir sehr: Sehr sauber, sympathisch und viel Grün in den Gärten. Wer es braucht, findet großartige Geschäfte, und ihre Vitrinen sind verführe risch und raffiniert angerichtet«, berichtet Rachmaninow nach Russland. Nach ihrer Ankunft in Dresden 1906 mietet die Familie in der Sidonien straße 6 zwischen Hauptbahnhof und Großen Garten eine komfortable Villa, in der sich Rachmaninow sichtlich wohl fühlt. An seinen Freund Morosow in Moskau schreibt er: »Heute sind wir endlich in unsere Wohnung eingezogen. Vor allem sage ich, dass diese Wohnung oder wie sie sie hier nennen, Gartenvilla, einfach zauberhaft ist. Keine einzige Wohnung gefiel mir so sehr wie diese. Das Haus steht in der Mitte eines Gartens. Es hat sechs Zimmer. Drei unten, drei oben (alle zur Sonnen seite). Auf diese Weise begünstigt die Lage der Zimmer auch meine Arbeit. Die Schlafräume sind oben, aber mein Arbeitszimmer und das Esszimmer sind unten. Ich bin unten allein und kann ganz herrschaft lich residieren.« In Dresden komponiert Rachmaninow in den folgenden Jahren neben der »Toteninsel« u. a. seine erste Klaviersonate und die zweite Sinfonie. Die Stadt mit Oper und reger Künstlerszene – im Juni 1905 haben sich Architekturstudenten und Maler zur Künstlergruppe »Brücke« zusammengeschlossen, ein halbes Jahr später wird Strauss’ »Salome« in der Semperoper uraufgeführt – bietet ihm Abwechslung und Anregung zugleich: »Übrigens hörte ich hier Richard Strauss’ Oper ›Salome‹ und geriet in völlige Aufregung. Am meisten über das Orchester natürlich, aber es gefiel mir auch vieles in der Musik … Ich war hier auch im Symphoniekonzert. Wiederum ein erstklassiges Orchester«, teilt er nach Russland mit. Vielleicht, so ließe sich mit einiger Übertreibung denken, trägt er während der Arbeit an der »Toteninsel« den Klang der Dresdner Hofkapelle im Ohr. Auszuschließen ist es nicht. Die Verschlingung von Leben und Tod Die symphonische Dichtung wird am 18. April 1909 in Moskau mit positiver Resonanz uraufgeführt. Sie beginnt in gleichsam tönender Stille, so wie es Böcklin vorschwebt, als er an die erste Ausführung seines Gemäldes geht. Aus der Tiefe heraus wird der Mythos des Seins geboren, verschattet nimmt das Leben seinen Anfang. Wagners wogendes »Rheingold«-Vorspiel ist nicht weit entfernt davon. Die Urszene eines In-die-Welt-Kommens vermag das Vergängliche des Vorgangs erst wirkungsvoll abzubilden. Alles Sterbliche hat seine Vergangenheit, alle Vergangenheit ihre Zukunft. Darauf baut sich ein Spannungsbogen auf, 14 15 Dresden Blick vom Rathausturm, um 1910 der Rachmaninows Tondichtung bis zum Schluss trägt. Gedämpfte Strei cher und Harfe erwecken zu Beginn in einer wellenartigen fünftönigen Spielfigur die Assoziation einer seicht bewegten See. In diesem Punkt ist Böcklins Version allerdings radikaler: An den Klippen der Insel herrscht kaum Brandung. Das Meer ist still, fahl, bewegungslos. Bei Rachmaninow schwingt der Impuls des Lebens indes mit. Der Komponist begreift das Meer mit seinem lebensspendenden Element des Wassers als Gegen welt zu einer Insel, auf der der Tod herrscht. Das Meer umspült den Tod und nimmt dadurch dessen Macht, es bannt ihn an einen festen Ort. Folgerichtig kehrt Rachmaninows Wellenfigur am Ende wieder zurück. Beide Künstler feiern die Verschlingung von Leben und Tod. Während sich bei Rachmaninow in wogendem -Takt der Drang des Lebens im Wasser mitteilt und das Werk an zahlreichen Stellen grundiert, sind es bei Böcklin dicht aufragende Zypressen, die der Toteninsel ein seltsam üppig wucherndes Leben abtrotzen. Die Grenzen zwischen Tod und Leben verlaufen fließend. In Rachmaninows symphonischer Dichtung zeigt sich die Verschränkung bereits in der wellenartigen Figur des Anfangs: Die ersten drei Töne bilden umgekehrt das Tonmaterial des Beginns der mittelalterlichen »Dies irae«-Sequenz, nach der in christlicher Vorstellung die Toten am Tag des Jüngsten Gerichts auferstehen und in den Himmel oder die Hölle eintreten. Kurz vor Ende des Werks intoniert Rachmaninow in den Bässen den ersten Vers des Hymnus und nimmt jenem tränen reichen Tag durch Schönheit seinen Schrecken. Er sinkt in die Tiefe, woher er kam. ANDRÉ PODSCHUN 4. SYMPHONIEKONZERT DAS MEER UND DIE SEELE Edward Elgar * 2. Juni 1857 in Broadheath, Worcestershire † 23. Februar 1934 in Worcester Elgars »Sea Pictures« »Sea Pictures« Zyklus von fünf Liedern für Mezzosopran und Orchester op. 37 1. Sea Slumber-Song 2. In Haven (Capri) 3. Sabbath Morning at Sea 4. Where Corals lie 5. The Swimmer »S ENTSTEHUNG BESETZUNG 1899 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klari netten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken, Schlagzeug, Harfe, Orgel (ad lib.), Streicher U R AU F F Ü H R U N G 5. Oktober 1899 im Rahmen des Norwich-Festivals DAU ER ca. 25 Minuten 16 17 ea-sound, like violins«, heißt es im ersten Lied der »Sea Pictures« von Edward Elgar. Meeresklang, der Geigen gleicht. Ein Satz wie ein Tongemälde, stimmungsgeleitet, traumumwittert, das Tremolo der Geigen herausfilternd bis zur spiegelnden Glätte gereinigter Wahrnehmung. Was zählt, sind Linien, pur und natürlich in ihrem Fließen. Das Meer kommt zur Ruhe, es raunt sein Schlummerlied (Sea murmurs her soft slumber-song) auf trübem Sand: »Des Meeres dämmrige Macht haucht gute Nacht« (Ocean’s shadowy might breathes good-night), wie es am Ende des ersten Liedes zu hören ist. Was für eine Verheißung. Ruhe am Ort der Ruhelosigkeit. Ruhe, wo das Kräuseln der Wellen sein unablässiges Spiel treibt. Wo im Wechsel von Spannung und Entspannung Kräfte auf- und abtauchen, wo Bewe gung im Augenblick des Stillstands immer noch in Schwingung ist, weil das Stillstehende nur ein anderer Ausdruck ist für ein geheimnisvolles Weiterfließen. Weil unter der beruhigten Meeresoberfläche verborgene Mächte walten, unsichtbar zwar, doch unablässig wirkend auf alles Gestalthafte. Im ersten Lied der »Sea Pictures« vollzieht sich eine Verla gerung der Bewegung. Auch wenn sie zur Ruhe kommt, pulsiert sie in verhüllter Regung. Der Atem geht weiter, selbst im Schlaf der Dinge. Und auch der Traum kann sich von bewegtem Grund nicht lösen. Im Schimmer seiner Bilder zeichnen sich die Tiefen der Seele ab wie die Umrisse eines versunkenen Schiffes. Er prägt den Tag und treibt sein undurchsichtiges Spiel in der Nacht. Meer und Nacht und Traum – sie alle stehen für die Erfahrung einer Entgrenzung. Was sich auftut, ist eine Öffnung zur Fülle, ein Rauschen, das von fern zusammenschmilzt und den Blick nach innen wendet. Alles scheint möglich im Austausch zwischen Innen und Außen. Mit den Klippen des Meeres, so wird klar, werden die Riffe der Seele umschifft. 4. SYMPHONIEKONZERT Die Vermessung einer Seelenlandschaft Edward Elgars »Sea Pictures« handeln von der Vermessung einer Seelen landschaft. 1899, als der Liederzyklus komponiert und uraufgeführt wird, erscheint die Erstausgabe von Sigmund Freuds »Die Traumdeutung«, in der Freud über Strategien der Verdrängung und Unterdrückung seelischer Regungen nachdenkt. Für Elgar bilden die Untiefen des Gemüts den Ausgangspunkt seiner Wanderungen in eine Landschaft, die endlose Schattierungen der menschlichen Natur offeriert. Elgars Interesse an den Wirrungen der Seele dürfte unter anderem auch damit zusammenhängen, dass er mehrere Jahre zuvor in unmittelbarer Nähe erlebt, welche Abgründe sich in ihr auftun und wie schnell man sich in ihren Weiten verirren kann. Mit Anfang 20 übernimmt er die ungewöhn liche Position des Musikdirektors der Irrenanstalt von Powick (Worcester County Pauper and Lunatic Asylum). Das Direktorium der Anstalt vertritt die Auffassung, dass Musik einen therapeutischen Effekt erzielt, und stellt aus der Belegschaft ein Musikensemble zusammen, das für die freitags stattfindenden Tanzabende von einem Dirigenten geleitet werden soll. 1878 bewirbt sich Elgar und wird zum 1. Januar 1879 als Musikdi rektor der Einrichtung eingestellt. Sein Gehalt beläuft sich auf 30 Pfund pro Jahr, zudem erhält er 5 Shilling für jede komponierte Quadrille oder Polka. Fünf Jahre arbeitet der junge Elgar in dieser Position und macht Erfahrungen, die sein Leben prägen. Nicht zufällig greift er auf Komposi tionen aus der Powick-Zeit zurück, als er an den »Sea Pictures« arbeitet. So sind im Beginn des »Sabbath Morning« Umrisse der Polka »Helica« zu erkennen und lässt sich das Lied »Where Corals lie« auf eine Quadrille aus jenen Jahren zurückführen. Die Spuren seiner Zeit in Worcester County liegen tief. Noch Jahre später, 1917, schreibt er an den Freund Ernest Newman: »Eine Irrenanstalt ist, wenn man den ersten Schock hinter sich hat, kein durch und durch trauriger Ort. So wenige Patienten sind sich der Eigenartigkeit ihrer Situation bewusst. Die meisten von ihnen sind heiter und in einem völlig verrückten Zustand der Ruhe. Aber das Grauen des gefallenen Intellekts – das Wissen, was einst da war, und das Wissen darum, was daraus geworden ist – kann in seiner Schreck lichkeit nicht mit Worten ausgedrückt werden.« Trennung mischt sich mit Aufbruch Den Anstoß für die Komposition der »Sea Pictures« liefern die Verant wortlichen des Norwich-Festivals, die im Oktober 1898 bei Elgar anfragen, für das im Folgejahr wieder stattfindende Festival ein »kurzes Chorstück« zu schreiben. Der Komponist sagt zwar zu, steckt aber mitten 18 19 Edward Elgar um 1900 in der Fertigstellung seines ersten großen Orchesterwerks, das ein Jahr später unter dem Titel »Enigma-Variations« für Furore sorgt und ihn schlagartig zu einem der führenden englischen Komponisten macht. Als das Norwich-Festival im Januar 1899 eine Veränderung vorschlägt, kann Elgar leicht darauf reagieren, da er zu diesem Zeitpunkt noch keine maßgebliche Idee für das beauftragte Chorwerk entwickelt hat. Das Festival hat unterdessen die 27-jährige Mezzosopranistin Clara Butt engagiert und wünscht von ihm eine »Scena« für die Sängerin. Wie diese »Scena« beschaffen sein soll, bleibt allerdings offen. Am 9. Januar 1899 sucht Elgar die Mezzosopranistin in London auf, um 4. SYMPHONIEKONZERT sich mit ihr auszutauschen, wird von ihr jedoch kapriziös abge wiesen, da sie angeblich dabei ist, ein Bad zu nehmen. Im Zorn auf die Diva beschwert er sich bei ihrem Agenten, der ein weiteres, tatsächlich stattfindendes Treffen fünf Tage später arrangiert. Nach einem Besuch bei Granville Bantock, einem kenntnisreichen englischen Musiker, der später die Werke von Jean Sibelius dem englischen Publikum vorstellen wird und Widmungsträger von Sibelius’ dritter Symphonie ist, orchestriert Elgar die Lieder im Juli, geht sie am 11. August Clara Butt 1899 mit Clara Butt in London durch und dirigiert sie trotz schwerer Erkältung am 5. Oktober beim Norwich-Festival. Die Uraufführung wird ein großer Erfolg, wenngleich Clara Butt ihre Exzentrizität durch ihr Auftreten in einem Meerjungfrauenkostüm erneut unter Beweis stellt. Zwei Tage später singt sie vier der Lieder mit Elgar am Klavier in der Londoner St. James’s Hall. Im schottischen Balmoral Castle führen beide vierzehn Tage später zwei der Lieder vor Queen Victoria auf. An fernen Küsten Was Elgar letztlich bewogen hat, Gedichte zu vertonen, die das Meer zum Gegenstand der Reflexionen machen, bleibt offen. Gern wird die Tatsache angeführt, dass in England kein Ort mehr als hundert Kilometer vom Meer entfernt liegt – was bezogen auf Inspiration und Phantasie einer Künstlerseele nicht unbedingt ausschlaggebend ist. Ein Anlass könnte vielmehr in Elgars biographischem Umfeld liegen. Während er an den »Sea Pictures« schreibt, vollendet er seine »Enigma-Variations«, die der Mäzenin Lady Mary Lygon gewidmet sind. Zu ihr fühlt er sich hingezogen und leidet letztlich darunter, als sie ihrem Bruder, dem Earl of Beauchamp, 1899 über das Meer (!) ins australische New South Wales folgt, nachdem dieser zum Gouverneur der dortigen Provinz ernannt worden war. Eine der Variationen aus Elgars »Enigma-Variations« trägt den Titel »Romanza (***)« und bezieht sich mutmaßlich auf Lady Mary Lygon. Die Sternchen, so schreibt der Komponist knapp 30 Jahre nach 20 21 der Arbeit an seinem Erfolgsstück, stehen »an der Stelle des Namens einer Dame, die zur Zeit der Komposition auf einer Seereise war«. Elgars frühere Verlobte Helen Weaver war bereits 1885 nach Neuseeland ausge wandert und hatte gleichermaßen den damals üblichen Seeweg für ihre Reise genommen. Das Meer als Grenzort lässt keinen Kompromiss zu. Längst überwunden geglaubte Strategien der Bewältigung scheinen bei Elgar aufzubrechen, als Mary Lygon, wie zuvor Helen Weaver, auf einem anderen Kontinent ein neues Leben sucht – an fernen Küsten jenseits des Meeres. Im Dämmer des Zurückgelassenen versinken einstige Verspre chen in der Brandung der Seele. »Das Schiff zog fort mit ernstem Blick / erhaben nahm das Schiff den Kurs / ins Dunkel auf den Tiefen. / Erschöpft sank ich hin, wo ich stand, / denn Abschiedsschmerz und / Schlafens wunsch beschwerten mir die Lider«, heißt es im dritten Lied, das mit »Sabbath Morning at Sea« überschrieben ist. Trennung mischt sich mit Aufbruch. Bezüge zwischen den Liedern treten hervor und zeigen, dass es sich in »Sea Pictures« um einen Zyklus handelt. Der erste Themenkom plex im »Sea Slumber-Song« deutet in den Streichern auf unvermittelt aufwallende Traumfetzen. Elgar verwendet Teile daraus im dritten Lied neuerlich, wenn in der Feier des ewigen Sabbats – gemeint ist der ewige Schlaf – von einem Wasserfeuermeer die Rede ist. Die drastische Meta pher verbindet die unvereinbaren Elemente Wasser und Feuer und weckt nicht zufällig Assoziationen an den Jüngsten Tag. Die ewige Ruhe kommt nicht zur Ruhe, vielmehr tönt die Feier des permanenten Sabbats in Wagners fließender Harmonik und trägt Züge eines solennen Marsches. Solange der Mensch von den Gestaden der vollkommenen Ruhe träumt, wird diese von dem unablässigen Wogen der Wellen umspült und ist Ruhe nur Ausdruck einer Sehnsucht. Vielleicht steckt darin die Furcht vor absoluter Stille, vor den Fängen des Nichts. Und vielleicht liegt hier auch der Grund, warum Elgar im letzten Lied den in »Sabbath Morning at Sea« angedeuteten Marsch klanglich weiter ausbaut und idiomatisch seiner später entstandenen Marschsammlung »Pomp and Circum stance« vorgreift. Im auftrumpfenden Spiel überwindet sich die Angst vor dem Nichts. Wenn im letzten Lied in sturmbewegter See die Vision eines heiteren Himmels mit hellem Sand und »Plätschern und Plappern, Kräuseln und Murmeln« (Babble and prattle, and ripple and murmur) aufblitzt, flicht Elgar den dritten Themenkomplex aus dem »Sea SlumberSong« ein, wo mit »Inseln im Elfenlicht« (Isles in elfin light) ebenfalls eine Gegenwelt aufflackert. In krisenhafter Zuspitzung gewinnt ein verhei ßungsvolles Land auf der anderen Seite des Meeres umso deutlichere Konturen. Im Glauben daran scheinen Träume sich zu manifestieren. ANDRÉ PODSCHUN 4. SYMPHONIEKONZERT LIEDTEXTE Edward Elgar 2. In Haven (Capri) »Sea Pictures« G E B. R O B ER T S (18 4 8 -19 2 0) Zyklus von fünf Liedern für Mezzosopran und Orchester op. 37 1. Sea Slumber-Song 22 23 Closely let me hold thy hand, Storms are sweeping sea and land; Love alone will stand. Lass dich halten bei der Hand, Sturm braust über Meer und Land; nur die Lieb’ hält stand. Closely cling, for waves beat fast, Foam-flakes cloud the hurrying blast; Love alone will last. Halt dich fest, hart brandet’s an, Bö jagt Gischt um Gischt heran; nur die Lieb’ hält an. Kiss my lips, and softly say: Joy, sea-swept, may fade to-day; Love alone will stay. Küsse mich, dann lass mich sehn: Wonne mag im Sturm verwehn; Liebe bleibt bestehn. 3. Sabbath Morning at Sea Sabbatmorgen auf See Meeresschlummerlied T E X T: R O D E N N O E L (18 3 4 -18 94) Sea-birds are asleep, The world forgets to weep, Sea murmurs her soft slumber-song On the shadowy sand Of this elfin land; “I, the Mother mild, Hush thee, O my child, Forget the voices wild! Isles in elfin light Dream, the rocks and caves, Lull’d by whispering waves, Veil their marbles bright. Foam glimmers faintly white Upon the shelly sand Of this elfin land; Sea-sound, like violins, To slumber woos and wins, I murmur my soft slumber-song, Leave woes, and wails, and sins, Ocean’s shadowy might Breathes good-night.” Im Hafen (Capri) T E X T: C A R O L I N E A L I C E ELG A R , Seevögel nicht mehr wach, die Welt vergisst ihr Ach, die See raunt sanft ihr Schlummerlied auf dämmrigem Sand im Elfenland: »Ich, die Mutter mild, bring’ dich zur Ruh’, mein Kind, vergiss die Stimmen wild! Inseln im Elfenlicht Traum, Fels und Höhlen am Kliff, von flüsternden Wellen gewiegt, verhüllt ist die marmorne Pracht. Gischt schimmert zaghaft weiß auf dem muschligen Sand dort im Elfenland; Meeresklang Geigen gleicht, Flirten dem Schlummer weicht, ich singe mein sanft’ Schlummerlied, geht, Jammer, Sünd’ und Leid. Meeres dämmrige Macht haucht gute Nacht.« T E X T: EL I Z A B E T H B A R R E T T B R OW N I N G (18 0 6 -18 61) The ship went on with solemn face; To meet the darkness on the deep, The solemn ship went onward. I bowed down weary in the place; For parting tears and present sleep Had weighed mine eyelids downward. Das Schiff zog fort mit ernstem Blick; erhaben nahm das Schiff den Kurs ins Dunkel auf den Tiefen. Erschöpft sank ich hin, wo ich stand, denn Abschiedsschmerz und Schlafenswunsch beschwerten mir die Lider. The new sight, The new wondrous sight! The waters around me, turbulent, The skies, impassive o’er me, Calm in a moonless, sunless light, As glorified by even the intent Of holding the day glory! Welch neuer, wundersamer Blick! Die Wasser um mich, ungestüm, und ungerührt der Himmel ruhig im Licht ohn’ Mond und Sonn’, als wär er schon verklärt durch den Entschluss, des Tages Pracht zu preisen. 4. SYMPHONIEKONZERT Love me, sweet friends, This Sabbath day. The sea sings round me While ye roll Afar the hymn, unaltered, And kneel, where once I knelt to pray, And bless me deeper in your soul Because your voice has faltered. Liebt mich, Freunde, an diesem Tag. Ihr schlingert fernab, wenn die See mir singt denselben Hymnus und kniet, wo betend ich gekniet, in eurer Seele segnet mich, da euch die Stimme stockte. And though this sabbath comes to me Without the stolèd minister, And chanting congregation, God’s Spirit shall give comfort. He Who brooded soft on waters drear, Creator on creation. Obgleich mir dieser Sabbat naht ohne den Priester im Ornat und singender Gemeinde, wird Gottes Geist mich trösten. Er, der über düstern Wassern sann, der Schöpfer aller Schöpfung. He shall assist me to look higher, Where keep the saints, With harp and song, An endless sabbath morning, And, on that sea commixed with fire, Oft drop their eyelids raised too long To the full Godhead’s burning. Er steht mir bei, dorthin zu schaun, wo Heilige mit Harf’ und Sang den ew’gen Sabbat feiern, auf jenes Wasserfeuermeer, fällt oft ihr Blick, der allzu lang auf Gottes Licht gerichtet. 4. Where Corals lie Wo die Korallen blüh’n T E X T: R I C H A R D G A R N E T T (18 3 5 -19 0 6) 24 The deeps have music soft and low When winds awake the airy spry, It lures me, lures me on to go And see the land where corals lie. Aus Tiefen tönt es leis und sacht, im Wind die weiße Gischt erwacht, es lockt mich hinzuziehn ins Land, wo die Korallen blüh’n. By mount and mead, by lawn and rill, When night is deep, and moon is high, That music seeks and finds me still, And tells me where the corals lie. Auf Berg und Au, an Wies’ und Bach, bei Mondes Schein in tiefer Nacht tönt es mir zu und kündet mir vom Land, wo die Korallen blüh’n. 25 Yes, press my eyelids close, ’tis well, But far the rapid fancies fly To rolling worlds of wave and shell, And all the lands where corals lie. Ja, drück mir fest die Augen zu, und doch fliegt meine Phantasie ins Reich der Wogen und dorthin, wo Muscheln sind, Korallen blüh’n. Thy lips are like a sunset glow, Thy smile is like a morning sky, Yet leave me, leave me, let me go And see the land where corals lie. Wohl küsst du wie die Abendsonn’ und lächelst wie der neue Tag, doch geh’ von mir, geh, lass mich ziehn ins Land, wo die Korallen blüh’n. 5. The Swimmer Der Schwimmer T E X T: A DA M L I N D S AY G O R D O N (18 3 3 -1870) With short, sharp violent lights made vivid, To southward far as the sight can roam; Only the swirl of the surges livid, The seas that climb and the surfs that comb. Only the crag and the cliff to nor’ward, And the rocks receding, and reefs flung forward, Waifs wreck’d seaward and wasted shoreward, On shallows sheeted with flaming foam. Plötzlich und heftig erhellt von Blitzen gen Süden soweit das Auge reicht nichts als das Wüten wirbelnder Wellen brodelt und brandet die See heran. Nichts als Klippe und Kliff gegen Norden, weichende Felsen und ragende Riffe, Treibgut, das an der Küste zerschellt auf Untiefen überschäumt von Gischt. A grim, grey coast and a seaboard ghastly, And shores trod seldom by feet of men Where the batter’d hull and the broken mast lie, They have lain embedded these long years ten. Love! when we wandered here together, Grimmig, grau, grauenvoll diese Küste, und Ufer, die man selten betrat, wo zerschmettert der Rumpf, gebrochen der Mast diese langen zehn Jahre schon liegen. Liebe! war es, als wir Hand in Hand 4. SYMPHONIEKONZERT 26 Hand in hand through the sparkling weather, From the heights and hollows of fern and heather, God surely loved us a little then. im Sonnenschein durchs hüglige Land wanderten zwischen Heidekraut, Farn und Sand: Wir spürten Gottes liebende Hand. The skies were fairer, The shores were firmer The blue sea over the bright sand roll’d; Babble and prattle, and ripple and murmur, Sheen of silver and Glamour of gold. Heit’rer der Himmel, das Ufer fester ein blaues Meer rollte über den hellen Sand; Plätschern und Plappern, Kräuseln und Murmeln, Silbernes Schimmern und goldener Glanz. So girt with tempest and wing’d with thunder, And clad with lightning and shod with sleet, And strong winds treading the swift waves under The flying rollers with frothy feet. One gleam like a bloodshot sword-blade swims on The sky line, staining the green gulf crimson, A death-stroke fiercely dealt by a dim sun, That strikes through his stormy winding-sheet. So, sturmwindgegürtet und donnergeflügelt, in Blitzen gewandet, eisregenbeschuht trennen die starken Winde auf flinken Wellen anfliegende Brecher mit schäumendem Fuß. Wie eine blutige Klinge funkelt’s am Horizont und färbt die grünfarb’ne Bucht tiefrot, ein wilder Todesstreich der letzten Sonne durch ihr stürmisches Leichentuch. O, brave white horses! you gather and gallop, The storm sprite loosens the gusty reins; Now the stoutest ship were the frailest shallop In your hollow backs, on your high-arch’d manes. O wackere Schimmel! Ihr schart euch und sprengt, die Windsbraut lockert die Zügel der Böen; das robusteste Schiff wär’ dann das zerbrechlichste Boot auf euren gesenkten Rücken und euren flatternden Mähnen. 27 I would ride as never man has ridden In your sleepy, swirling surges hidden; To gulfs foreshadow’d through strifes forbidden, Where no light wearies and no love wanes. Ich ritt euch wie nie je ein Mensch zuvor, verborgen in euren müden rollenden Wogen, zu erahnten Buchten durch verbotene Engen, wo kein Licht ermüdet, keine Liebe vergeht. Deutsche Übersetzung: Bertram Kottmann 4. SYMPHONIEKONZERT »O SANTA INSPIRAZIONE!« Jean Sibelius * 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna, Finnland † 20. September 1957 in Järvenpää, Finnland Die erste Symphonie von Jean Sibelius Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39 1. Andante, ma non troppo – Allegro energico 2. Andante, ma non troppo lento 3. Scherzo. Allegro – Lento, ma non troppo – Allegro 4. Finale. Quasi una fantasia ZUM 150. GEBURTSTAG DES KOMPONISTEN ENTSTEHUNG BESETZUNG 1898 / 99 2 Flöten (2. auch Piccoloflöte), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken, Schlagzeug, Harfe, Streicher U R AU F F Ü H R U N G 26. April 1899 vom Philhar monischen Orchester Helsinki unter Sibelius’ Leitung DAU ER ca. 40 Minuten 28 29 »B ilde, Künstler! Rede nicht!« Goethes Satz, von Richard Strauss gern zitiert, trifft für Jean Sibelius gleichermaßen zu – und konnte seine Musik dennoch nicht vor äußerer Zuschreibung bewahren. Als Sibelius’ erste Symphonie am 26. April 1899 mit seinen Werken »Die Waldnymphe« und »Gesang der Athener« uraufgeführt wird, erscheint sie vielen seiner Zeitgenossen als ein veri tables Tondrama. Sibelius’ Biograf Erik Furuhjelm glaubt im Kopfsatz einen mythischen Schauplatz zu erkennen, auf dem sich eine heroische Tragödie abspielt. Doch vermeidet er die Beschreibung einer konkreten Handlung. Ein anderer, der finnische Musikwissenschaftler und Kompo nist Ilmari Krohn, vermutet ein genaues literarisches Programm und bringt die erste Symphonie in Verbindung zu Sibelius’ erfolgreicher Tondichtung »Kullervo«, eigentlich eine fünfsätzige Symphonie, die von dem schicksalhaft-verwickelten Leben des Knaben Kullervo erzählt. Der Mythos stammt aus dem »Kalevala«, ein im neunzehnten Jahrhundert auf Grundlage mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusam mengestelltes Epos, das maßgeblich zur Entwicklung des finnischen Nationalbewusstseins beiträgt. Auch mit seinem »Gesang der Athener« liefert Sibelius einen Beitrag zu einer stärkeren finnischen Profilierung gegenüber Russland. Im Angstruf der Athener »Der Gote kommt, der Gote kommt« vermeint das finnische Publikum nichts anderes zu hören als »Der Russe kommt, der Russe kommt«. Die Zeilen »Herrlich der Tod, wenn mutig in erster Reihe du fällst, du fällst im Kampf für dein Land, stirbst für die Stadt und dein Heim« heizen die Stimmung weiter auf. Am Ende des »Gesangs der Athener« muss das Werk im Konzert am 26. April unter Tumult wiederholt werden. Die Aufwallung der Finnen hat einen Grund. Anfang des Jahres 1899 versucht Zar Nikolaus II. im sogenannten Februarmanifest, die Autonomie des Großfürstentums Finnland erheb 4. SYMPHONIEKONZERT lich einzuschränken. Für Finnland geltende Sonderrechte sollen massiv aufgelöst werden. Druck erzeugt allerdings Gegendruck. Die finnische Nation mobilisiert sich in einer Unabhängigkeitsbewegung und sieht in Sibelius einen ihrer auffälligsten Fürsprecher. Doch lässt sich der Kompo nist im Klima allgemeiner Erregung nicht ohne weiteres vereinnahmen. Er wittert eine Reduzierung seiner künstlerischen Persönlichkeit, die er, wo er ihr begegnet, polternd zurückweist. Am Tag nach dem genannten Konzert begegnet er auf der Straße einem ehemaligen Schulkameraden, der kein Verständnis für seine Symphonie aufbringt, ihn aber aufrichtig zum »Gesang der Athener« beglückwünscht. Worauf ihn Sibelius ins Visier nimmt und ihm entgegnet: »So so, du denkst auch wie der Mob« – und sich jäh von ihm abwendet. Die Ehrerbietung des Klassenkameraden entspricht der Stimmung seiner Landsleute. Im Erwachen eines natio nalen Bewusstseins fordern die Finnen von ihren Künstlern die Formu lierung eines klaren politischen Standpunkts, sei er auch angedeutet in Mythos oder Geschichte. Man erwartet eine Funktionalisierung der Kunst, ihre Ablösung vom Sockel des Absoluten. Kunst soll sich in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen. Dass Sibelius darauf allergisch reagiert, macht klar, dass es ihm um alles andere als um eine Verkürzung des ästhetischen Anspruchs geht. »Bilde, Künstler! Rede nicht!« »Quasi una fantasia« Nach der Uraufführung der ersten Symphonie im denkwürdigen Konzert des 26. April schreibt Richard Faltin in der Nya Pressen, die Symphonie form habe Sibelius’ Phantasie »keine Fesseln angelegt. Im Gegenteil, er bewegt sich mit bewundernswerter Freiheit in ihr, er folgt seinem Geistesflug und erlaubt sich die Abweichungen vom Gewohnten, die er für gut befindet. Irgendwelche speziell finnischen Züge sind in dieser Symphonie nicht zu erkennen: Der Komponist spricht hier eine allgemein menschliche, aber doch gleichfalls seine eigene Sprache.« In ähnlicher Weise äußert sich Sibelius viele Jahre später in einem Interview mit Walter Legge, als dieser ihn über das Absolute und Programmatische in seiner Musik anspricht: »Meine Symphonien sind Musik, in musika lischen Begriffen konzipiert und ausgearbeitet und ohne literarische Vorlage. Ich bin kein literarischer Musiker; für mich beginnt die Musik da, wo die Worte aufhören … Eine Symphonie muss Musik sein, von Anfang bis Ende. Natürlich ist es vorgekommen, dass sich im Zusam menhang mit einem Satz, den ich gerade zu schreiben im Begriff stand, unerwartet irgendeine Vorstellung in mein Bewusstsein gedrängt hat, aber die Samen für meine Symphonien und ihre Befruchtung waren rein musikalischer Art.« 30 31 Jean Sibelius 1900 4. SYMPHONIEKONZERT In seiner »Symphonie fantastique« von 1830 verwendet Hector Berlioz, hier linke Abbildung, eine Idée fixe, deren weit ausholende Gestalt mit dem dritten Thema des ersten Satzes aus Sibelius’ erster Symphonie eine entfernte Verwandtschaft eingeht. Das Pathos der melodischen Erfindung in den Werken des großen russischen Komponisten Pjotr I. Tschaikowsky hat Eingang in das erste Thema des Finalsatzes in Sibelius’ Symphonie gefunden. »O santa dea!« Die Entstehung der ersten Symphonie fällt in das Jahr 1898, als Sibelius im Frühjahr in Berlin Quartier in der Potsdamer Straße nimmt. Am 21. Februar 1898, kurz nach seiner Ankunft an der Spree, beeindruckt ihn eine Berlioz-Aufführung mit den Berliner Philharmonikern unter Arthur Nikisch. »Hörte Sinfonie fantastique. O santa inspirazione! O santa dea!«, notiert er am 2. März in sein Skizzenheft. Die heilige Göttin der Einge bung, hier in Gestalt des großen französischen Phantasten, scheint den Anstoß zu geben für ein neues symphonisches Werk. Ein Notenblatt mit Themenskizzen zum Finale enthält denn auch die Randnotiz: »Berlioz?« Neben dem unruhigen französischen Feuerkopf liefert Tschaikowskys »Pathétique« eine weitere Inspiration. Tschaikowskys Werk hat Sibelius ein Jahr zuvor in Helsinki gehört und findet Widerklang in ihm: »In dem Mann gibt es vieles, was auch ich habe«, antwortet Sibelius einigen schwedischen Komponisten, die ihn auf Ähnlichkeiten seiner Ersten mit der Sechsten des Russen ansprechen. Leicht auszumachen ist Tschai 32 33 kowskys Vorbild am Pathos des Finales besonders daran, wie sich das Thema der Einleitung als Schicksalsthema wiederholt. Derweil geht die Komposition zügig voran: »Habe drei Tage fleißig gearbeitet. Es war so herrlich, so herrlich. Das neue ›alla sinfonia‹«, schreibt er Ende April. Die Idee einer gleichwie programmatisch ausgerichteten Symphonie à la Berlioz oder Tschaikowsky nimmt in dieser Zeit die Form eines abso luten, rein musikalischen Werkes an. Im »Quasi una fantasia«, das dem Finalsatz als Bezeichnung hinzugefügt ist, liegt ein deutlicher Verweis auf Beethovens »Mondscheinsonate« cis-Moll op. 27 Nr. 2. Doch meint »wie eine Phantasie« noch lange kein ausgewiesenes Programm. Es geht um Schilderung, um Beschreibung eines Zustandes, um das Einfangen einer Atmosphäre, in der sich ein Gefühl verbreitet, für das Worte nicht ausreichen. Wenn Sibelius im Zusammenhang mit seiner Tondichtung »En Saga« (Eine Sage) vom »Ausdruck eines Seelenzustandes« spricht, trifft das in ähnlicher Weise auch auf seine Symphonien zu, ohne jedoch diesen »Ausdruck« näher fassen zu können oder zu wollen. Denn was ist Inspi ration anderes als ein Vorgang der Beseelung, von dem man nicht gleich zu sagen vermag, in welche Richtung er geht? Das Nichtfassliche eines Zustands produktiver Erregung macht den Reiz schöpferischer Hervor bringung aus – und leitet nicht selten den Hervorbringenden in intuitiver Weise. Dabei entzündet sich künstlerische Einfühlung durch Kontrastie rung. Das wirkungsvolle Tutti zu Beginn des Kopfsatzes steigert Sibelius noch dadurch, indem er die Klarinette am Anfang über mehrere Takte solo spielen lässt, lediglich grundiert von einer im Pianissimo wirbelnden Pauke, die wenig später gänzlich aussetzt. Es ist die Melodie eines Tastens und langsamen Abgleitens, das sich aus dem Unmittelbaren heraus zu einem fernen Punkt entwindet und gleichsam die Szene einer Urdäm merung einfängt. Der Kontrast ist erreicht, wenn das Hauptthema wenig später im Allegro energico in vordringlicher Präsenz auftritt, vorbereitet von einem signalhaften Tremolo in Terzabstand der zweiten Violinen. Der Tonabstand dieses Tremolos wird für den gesamten Satz konstitutiv. Er setzt an zentralen Stellen Spannung frei, deren Auflösung harmonisch oft genug nicht eindeutig ist. Noch ganz am Ende bauen die Celli und Fagotte unter mächtig wirbelnder Pauke eine drohend aufsteigende Linie innerhalb der Terz auf, um die wachsende Dynamik gleichsam in die folgenden Sätze hinüberzunehmen. Harmonisch ist die Melodiebildung nicht eindeutig festgelegt, mehrfach schwebt das erste Thema zwischen seiner eigentlichen Zieltonart und ihrer Parallele und gewinnt aus dieser Uneigentlichkeit den Impuls für das Kommende. Auch hier wird das Mittel der Kontrastierung zum kompositorischen Prinzip. Wenn etwa das flatternde Überleitungsthema in den Holzbläsern mit dem träumerischen Nebenthema kombiniert wird und eine Steigerung ansetzt, die auf ihrem 4. SYMPHONIEKONZERT Gipfelpunkt in ein kurzzeitiges Nichts abstürzt. Doch dient der jähe Abbruch lediglich als Etappe innerhalb einer weiterführenden Entwick lung, die sich aus neuerlich ansetzenden Schüben wellenartig zusammen fügt und daraus einen groß angelegten Bogen spannt. Im zweiten Satz (Andante) scheint die Sehnsucht zu sich selbst zu kommen und erinnert atmosphärisch an ein Gedicht des finnlandschwedischen Dichters Bertel Gripenberg, einem der Lieblingspoeten von Sibelius, wo von »blauen Nächten der Gärten unserer Jugend« zu lesen ist. Der Atem der Sehnsucht fordert Raum zur Entfaltung von Phantasie und leiser, unterschwelliger Wehmut, in der die Heraufbeschwörung eines Zustands aus dem Traum herauszutreten scheint und die Gegenwart ausfüllt. Bemerkenswert ist ein Fugato, dessen Thema vom Fagott auf weitere Blasinstrumente über tragen wird und sich das Gegenwärtige fast schon wieder hineinstülpt in den Mantel der Erinnerung – auch hier hervorgerufen durch Kontras tierung zum Vorangegangenen. Demgegenüber verweisen der pulsie rende Rhythmus und das scharfe Profil des Scherzo-Themas deutlich auf Bruckners Scherzi. Der Finalsatz trägt Tschaikowskys Zugriff offen zur Schau. Das einleitende Klarinettensolo des ersten Satzes wird nunmehr schicksalsschwer und mit Pathos von den Streichern gespielt und evoziert eine Stimmung, die in der Folge weit aufgeladener und kompromissloser ausgeführt wird als bei Tschaikowsky. Als Kritiker Sibelius’ Stil mit dem des großen russischen Komponisten vergleichen, äußert er sich verärgert. Seine Symphonien, so sagt er später, seien »härter«. Aus dieser Haltung heraus ist Beethovens Gestus »Quasi una fantasia« als intimes, abgedun keltes Kammerstück nicht mehr möglich. An seine Stelle tritt die lastende, weit ausgreifende Leidenschaft des Art Nouveau. So scheint es folge richtig, dass im gesanglichen Bogen des zweiten Themas der Abschied vom neunzehnten Jahrhundert aufflackert – ein Abschied, der das Pathos einer ganzen Epoche mit großer Geste feiert und bereits in den Abgründe des Nihilismus blickt. Dass dabei alles miteinander verknüpft ist, zeigt die innermusikalische Konvergenz der Symphonie. Die Terz als Mittel der kompositorischen Verdichtung kehrt im Finale zurück, wenn das Haupt thema von den Holzbläsern in variierter Form in Terzparallelen aufge griffen wird. Mehr noch: Auch die letzten beiden Töne in den Violinen stehen im Bann des Intervalls. Was hier in einem nach unten gerich teten Terzsprung im Pizzicato unter Paukenwirbel wie beiläufig seinen Abschluss findet, ist die Antwort auf das Ende des ersten Satzes, als Celli und Fagotte in aufsteigender Terz neuerliche Spannung aufbauten, überdies in der gleichen Tonart e-Moll. Ein Kapitel – das erste in Sibelius’ symphonischem Œuvre – schließt sich und mit ihm der Blick zurück in die Nebel des neunzehnten Jahrhunderts. 34 ANDRÉ PODSCHUN 35 Programmzettel der Dresdner Erstaufführung von Sibelius’ erster Symphonie durch die Hofkapelle am 17. November 1903, 4 ½ Jahre nach der Uraufführung. 4. SYMPHONIEKONZERT 4. Symphoniekonzert 2015 | 2016 Orchesterbesetzung 1. Violinen Kai Vogler / 1. Konzertmeister Michael Eckoldt Thomas Meining Jörg Faßmann Federico Kasik Michael Frenzel Christian Uhlig Volker Dietzsch Brigitte Gabsch Johanna Mittag Birgit Jahn Wieland Heinze Anja Krauß Anett Baumann Anselm Telle Yoriko Muto 2. Violinen Matthias Meißner Annette Thiem Holger Grohs Stephan Drechsel Jens Metzner Ulrike Scobel Olaf-Torsten Spies Beate Prasse Emanuel Held Kay Mitzscherling Christoph Schreiber-Klein Yukiko Inose Hannah Burchardt** Steffen Gaitzsch* Bratschen Eberhard Wünsch* / Solo Stephan Pätzold Michael Horwath Uwe Jahn Ulrich Milatz Susanne Neuhaus Juliane Böcking Uta Scholl Veronika Lauer** Björn Sperling** Elke Bär* Andreas Kuhlmann* Violoncelli Nikolaus Trieb* / Konzertmeister Simon Kalbhenn / Solo Martin Jungnickel Uwe Kroggel Johann-Christoph Schulze Jörg Hassenrück Jakob Andert Anke Heyn Matthias Wilde Stefano Cucuzzella** Kontrabässe Christian Ockert* / Solo Torsten Hoppe Christoph Bechstein Fred Weiche Reimond Püschel Thomas Grosche Johannes Nalepa Paweł Jabłczyński Flöten Rozália Szabó / Solo Bernhard Kury Dóra Varga Oboen Sebastian Römisch / Solo Sibylle Schreiber Michael Goldammer Klarinetten Robert Oberaigner / Solo Dietmar Hedrich Christian Dollfuß Fagotte Joachim Hans / Solo Joachim Huschke Andreas Börtitz Hörner Posaunen Uwe Voigt / Solo Jürgen Umbreit Frank van Nooy Tuba Jens-Peter Erbe / Solo Pauken Thomas Käppler / Solo Schlagzeug Bernhard Schmidt Simon Etzold Harfe Astrid von Brück / Solo Orgel (ad lib.) Johannes Wulff-Woesten Jochen Ubbelohde / Solo Robert Langbein / Solo Andreas Langosch Julius Rönnebeck Miklós Takács Miho Hibino Trompeten Tobias Willner / Solo Siegfried Schneider Gerd Graner * als Gast ** als Akademist / in 36 37 4. SYMPHONIEKONZERT Vorschau Sonderkonzert zum 70. Geburtstag von Rudolf Buchbinder S O N N TAG 10 .1.16 11 U H R S E M P ER O P ER D R E S D E N Rudolf Buchbinder Klavier und Leitung .6 . 6 2 – . 4 2 2 016 E L A N AT I O H C S T I W O K A T S O H C S TA G E H C S I R GOH N R E T 7. I N I, OWSK E N, IL JUR NDS DRESD A H C I I M , W A R Y . E A N I T S K A Ö S E L, S E M P N U . V. NA VIN R RESDE M I T A N N E L, P E T E R S K A P E L L E D R DA S TA AT ER U AT U O CHEN T UNT DEM Q ER SÄCHSIS TION: OFOR K S ) A B 5 S 1 A T D 2.20 180 € NACH IS 31.1 WEIH PREIS VON B R U ER E (N SOND AG E. D E Z U M O W I T S C H -T S S E Ä P AL AK AG E. D FESTIV TS@SCHOST I T S C H -T W O E K S TA TICK .SCHO R WWW M IT D E EN SÄ ESD IO N P E R AT LLE DR IN K O O S TA AT S K A P E N E H C H S IS C Carl Maria von Weber Konzertstück f-Moll op. 79 Wolfgang Amadeus Mozart Klavierkonzert C-Dur KV 467 Klavierkonzert B-Dur KV 595 5. Symphoniekonzert S A M S TAG 2 3.1.16 2 0 U H R S O N N TAG 2 4 .1.16 11 U H R M O N TAG 2 5 .1.16 2 0 U H R S E M P ER O P ER D R E S D E N Robin Ticciati Dirigent Leonidas Kavakos Violine Gustav Mahler »Blumine«, Symphonischer Satz Jean Sibelius Violinkonzert d-Moll op. 47 Maurice Ravel »Valses nobles et sentimentales« Claude Debussy »La mer« Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper 4. SYMPHONIEKONZERT IMPRESSUM Sächsische Staatskapelle Dresden Künstlerische Leitung/ Orchesterdirektion Sächsische Staatskapelle Dresden Chefdirigent Christian Thielemann Spielzeit 2015 | 2016 H E R AU S G E B E R Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © November 2015 R E DA K T I O N André Podschun G E S TA LT U N G U N D L AYO U T schech.net Strategie. Kommunikation. Design. DRUCK Union Druckerei Dresden GmbH ANZEIGENVERTRIEB Christian Thielemann Chefdirigent Juliane Stansch Persönliche Referentin von Christian Thielemann Jan Nast Orchesterdirektor Tobias Niederschlag Konzertdramaturg, Künstlerische Planung André Podschun Programmheftredaktion, Konzerteinführungen Matthias Claudi PR und Marketing Agnes Monreal Assistentin des Orchesterdirektors EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351 / 25 00 670 e-Mail: info@event-module-dresden.de www.kulturwerbung-dresden.de Elisabeth Roeder von Diersburg Orchesterdisponentin B I L D N AC H W E I S E Agnes Thiel Dieter Rettig Notenbibliothek Simon Pauly (S. 5); K. K. Dundas (S. 6); Alte Nationalbibliothek Berlin (S. 8/9); S. W. Rachmaninow, Musikverlag, Moskau 1988 (S. 12); https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Dresden-blickvomrathausturm1910.jpg, aufgerufen am 17. November 2015 (S. 15); Peter Joslin, Wokingham (S. 19); EMI Archive Trust (S. 20); Erik Tawaststjerna, Jean Sibelius, aus dem Schwedischen und Finnischen von Gisbert Jänicke, Salzburg und Wien 2005 (S. 31); Berlioz, Porträt von Émile Signol, 1832 (S. 32 links); Pjotr I. Tschaikowsky, Ölgemälde von Nikolai Kusnezow, 1893, Tretjakow-Galerie Moskau (S. 32 rechts); Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater (S. 35) Eine Uhr mit Tourbillon garantiert höchste Ganggenauigkeit. Jetzt lässt sie sich auch absolut präzise einstellen. Matthias Gries Orchesterinspizient T E X T N AC H W E I S E Die Einführungstexte von André Podschun sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. Der 2008 von Lange präsentierte Sekundenstopp machte es erstmals möglich, eine TourbillonUhr gezielt anzuhalten und einzustellen. Mit der 1815 Tourbillon folgt nun der nächste Entwicklungsschritt: Durch die Integration der Zero-Reset-Funktion springt der Sekundenzeiger bei Stillstand der Uhr auf null. So kann die Uhr exakt eingestellt und sekundengenau gestartet werden. Das präzise Zusammenwirken der Mechanismen wird komplettiert durch die LangeUnruhspirale, die individuell auf jedes Kaliber abgestimmt wird. www.alange-soehne.com W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E Wir laden Sie herzlich ein, unsere Kollektion zu entdecken: A. Lange & Söhne Boutique Dresden · Quartier an der Frauenkirche 40 Töpferstraße 8 · 01067 Dresden · Tel. +49 (0)351 4818 5050