neorealistische film - Museo Nazionale del Cinema

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neorealistische film - Museo Nazionale del Cinema
NEOREALISTISCHE FILM
DER GLANZ DER WIRKLICHKEIT
IM ITALIEN DER NACHKRIEGSZEIT
Turin, 4. Juni – 29. November 2015
Der neorealistische Film
Die erste große Revolution des italienischen Films war der Neorealismus. Eine Strömung, die auf
dem gemeinsamen Geist des antifaschistischen Widerstands, der Resistenza, fußte und lauthals
nach Befreiung und Erneuerung verlangte. Das in Schutt und Asche liegende Italien war mit seinem
Wiederaufbau beschäftigt und verwandelte die Krise in eine neue Chance.
Der Kinofilm sollte zu einer nützlichen Kunstgattung werden, wie Roberto Rossellini es sagte, und
nach „der künstlerischen Form der Wahrheit” streben. Im Gegensatz zum früheren Film sollte es nun
nicht mehr um Themen nach Schema F gehen, sondern um moralische Fragen: die Darstellung der
eigenen Zeit mit den spezifischen Mitteln des Films.
Ästhetisch gesehen kennzeichnete den Neorealismus eine fruchtbare Vielfalt individueller Poesie,
woraus sich ein kompaktes Mosaik aus verschiedenen Blicken zusammensetzte. Viele neue Regisseure
einte der Wunsch, nicht mehr im Studio zu drehen, sondern eine „Dokumentarfilm-artige”,
ungeschminkte, vielschichtige Wirklichkeit zu zeigen, häufig mit Hilfe von Laienschauspielern
und möglichst voll aus dem Leben gegriffen. Die Filme, die sie auf den Straßen drehten, haben
gemein, dass sie die scheinbar unbedeutende Seite des Lebens bedeutsam machten. „Wie der Schweiß
auf der Haut klebt, klebt der Neorealismus an der Gegenwart”, schrieb Cesare Zavattini.
So stellt die beklemmende Gegenwart Italiens und des italienischen Kinos der Nachkriegszeit in der
Tat das Leitmotiv dieser Ausstellung dar, die den Zuschauer auf eine Reise führt, die mit den ersten
Vorzeichen dieser ästhetischen „Revolution” beginnt und weit über ihren historischen Zeitrahmen
hinausreicht. Die Ausstellung präsentiert die Hauptvertreter des Neorealismus in einer Vielzahl
von Dokumenten, Filmsequenzen, Plakaten, Werbematerialien, Originaldrehbüchern und -texten,
Interviewfragmenten, Notizen zur Produktion, Briefen und Verlautbarungen.
Vor dem Neorealismus
Der Geburt des „neorealistischen Films” ging in den dreißiger Jahren eine Kritikerdebatte voraus,
aus der sich der Wunsch herausbildete, die Filmstudios zu verlassen und statt dessen ein Kino zu
erschaffen, das die unendlichen Mysterien der Gesellschaft und des Lebens einzufangen vermochte.
Der erklärte Anspruch war es, die Künstlichkeit des Sets, das manierierte Gehabe der Schauspieler
und die Unbestimmtheit anonymer Schauplätze zu überwinden. Jean Renoir gelang es 1934 mit
seinem Film Toni, seinen Traum eines „kompromisslosen Realismus” zu verwirklichen: gedreht
mit einfachsten Mitteln, mit fast unbekannten Schauspielern und an den Originalschauplätzen
der Handlung. François Truffaut sagte dazu: „Mit zehn Jahren Vorsprung vor den italienischen
Filmemachern erfand Renoir den Neorealismus, d. h. die minutiöse Erzählung keiner Filmgeschichte,
sondern einer wahren Begebenheit – in einem objektiven Stil und ohne jedes Ereifern”.
Anfang der vierziger Jahre mühten sich verschiedene italienische Regisseure, vom Kino des so
genannten Telefoni bianchi-Genres („Weiße Telefone“ als Statussymbol des betuchten Bürgertums)
wegzukommen und fanden in Filmkomödien fruchtbaren Boden, die an den Originalschauplätzen
spielten. Der Neorealismus lag in der Luft.
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Von Francesco De Robertis bis Roberto Rossellini
Während der Kriegsjahre begann der italienische Marineoffizier Francesco De Robertis, sich
dem Film zu widmen, indem er Seemannsgeschichten drehte und sich als einer der Vorläufer
des Neorealismus behauptete. Sein scharfer Blick auf die menschliche Wirklichkeit inmitten der
schicksalhaften Wendungen der Geschichte basierte auf einem dokumentarischen Ansatz, der völlig
neuartig war.
Eröffnet wurde die Epoche des Neorealismus 1945 mit dem Film Rom, offene Stadt von Roberto
Rossellini, der den traditionellen Realismus in den Schatten stellte und die Geburtsstunde
eines neuen Genres markierte. „Ich zeige die Dinge, wie sie sind, ich führe sie nicht auf. Ich leiste
Wiederaufbauarbeit, Punkt und Schluss“, verkündete Rossellini Jahre später und betonte damit das
konstante Hauptmerkmal eines Blicks, der auf die Poesie im Tragischen und im Alltag gerichtet ist.
Die historischen Ereignisse spiegelten sich in den Sets wider, wie Filme wie Paisà von 1946,
Deutschland im Jahre Null, der 1948 zum größten Teil in den gespenstischen Trümmern eines
zerstörten Berlins gedreht wurde, und die nachfolgenden Werke Stromboli und Liebe ist stärker, beide
mit Ingrid Bergman, belegen.
Luchino Visconti
Visconti debütierte 1943 als Regisseur mit dem Film Besessenheit, der an James Cains Roman Wenn
der Postmann zweimal klingelt anlehnte. Hier birst die italienische Landschaft förmlich aus dem
Bild, da sie mit einer neuartigen Strenge und Dramatik in Szene gesetzt war. Gedreht wurde in den
sonnigen Ebenen Emilia-Romagnas, entlang der Ufer des Po, auf den Plätzen und engen Gassen
der Provinzstädte. Die Drehorte waren einfache Wirtshäuser, schmutzige Hotelzimmer oder triste
Amtsräume von Polizeiposten.
Visconti leistete bei seinen Filmen stets eine akribische Vorarbeit zur gründlichen Darlegung
der Handlungselemente. Unvorhergesehenes hatte bei ihm keinen Platz. Das Drehbuch barg bereits
den ganzen Film, den Visconti dann einfach von Schrifttext in Bilder verwandelte. Im Gegensatz
zu Rossellini, für den sich der Höhepunkt der Kreativität und Wahrheit im Zusammentreffen mit
der wirklichen Beschaffenheit der Dinge ereignete, strebte Visconti den größtmöglichen Realismus
durch den größtmöglichen Einsatz von Kunstgriffen an. Die Erde bebt von 1948 war eigentlich als
Dokumentarfilm über die KPI gedacht, verwandelte sich dann jedoch in einen anspruchsvollen Film
über soziale Konfrontationen. Obwohl als Episodenfilm angelegt, wird letztlich nur
die „Meeresepisode” gedreht, die an Vergas Roman Die Malavoglia inspiriert ist.
Bellissima von 1951, Viscontis dritter Spielfilm, trägt bereits die „Überwindung” des Neorealismus
in sich, die in seinen nachfolgenden Filmen endgültig besiegelt wird. Dennoch stellt die lange, vom
Traum nach dem großen Erfolg getriebene Reise einer Mutter und ihrer Tochter durch die CinecittàWelt eine klassische neorealistische Erzählung dar, die jedoch den Krieg und seine Trümmer schon
weit hinter sich gelassen hat. Im Gegensatz zu Besessenheit, der von der faschistischen Zensur prompt
verboten wurde, erzielte Bellissima einen bescheidenen Publikumserfolg in Italien
und eine wohlwollende Aufnahme im Ausland.
Vittorio De Sica
De Sica arbeitete gern mit Kindern, wie er in dieser Notiz von 1944 zum Ausdruck brachte: „ …
was ihre Glaubwürdigkeit angeht, sind Theaterschauspieler im Film die Schlimmsten, die Leute von
der Straße die Besten und Kinder die Allerbesten”. De Sica führte weiter aus: „Für Kinder gibt es keine
Künstlichkeit und keine Tricks, sie verstehen nichts von Kino oder Beleuchtung oder Nahaufnahmen, sie
verstehen einfach nur, Kind zu sein. Gleich von den ersten Drehtagen an werde ich zu ihrem Vertrauten.
Sie schließen mich in ihr Herz und ich sie in meins”. Er hat es Kindern zu verdanken, dass er seine Idee
des aufs absolute Minimum reduzierten Films zu voller Blüte bringen kann, in dem die Dramatik auf
den alltäglichen Aspekten des Erlebten basiert.
Gleich nach dem Krieg, 1946, stürzt sich De Sica auf das Projekt Schuschia (Schuhputzer), das auf den
Straßen einer endlich befreiten Stadt entsteht. „Das Sujet und sogar das Drehbuch des Films nahmen
Gestalt an, während Cesare Zavattini und ich zusammen auf der Straße gingen und der Wirklichkeit
ins Auge schauten”, erzählt De Sica. Die Hauptdarsteller von Schuschia sind nämlich die kleinen
Schuhputzer von Rom, kleine Jungen, für die das Geldverdienen eine Überlebensfrage ist.
Fahrraddiebe von 1948 erzählt nahezu in Echtzeit die Geschichte seiner Figuren und vom schwierigen
Leben der einfachen Leute, vor der Kulisse eines Nachkriegsitaliens voller Widersprüche und
Kontraste, Ungerechtigkeiten und Poesie. Die Suche nach einem gestohlenen Fahrrad verwandelt
sich so zu einer illusionslosen Reise durch eine bittere Wirklichkeit, während sie gleichzeitig den
italienischen Film auf eine weitere Wende einstimmt.
Trotz des Oscars für Fahrraddiebe lässt der große Wert des Films das Publikum erst einmal kalt, so
dass De Sica eine zweijährige Zwangspause einlegen muss, bevor er 1951 Das Wunder von Mailand in
Angriff nehmen kann. Diesmal bedient er sich der Form eines Märchens, um vom kläglichen Leben
der Stadtstreicher in ihren Notunterkünften zu erzählen. Im Cast finden sich neben professionellen
Schauspielern auch echte Obdachlose aus den Elendsvierteln des Mailänder Umlands. Ein Jahr später
folgte Umberto D., ein Film über die menschliche Sprachlosigkeit, erzählt durch die Augen eines
einsamen alten Mannes. Aber Italien war noch nicht reif für ein so schonungslos drastisches Kino
und vergalt De Sica den Film mit viel Kritik und Anfeindungen.
Lizzani, Lattuada und De Santis
Um die Zeitschrift «Cinema» herum gruppierten sich bald die anderen Hauptvertreter des
Neorealismus. Darunter Carlo Lizzani und Giuseppe De Santis, die sich dem Film als Kritiker und
Drehbuchautoren annäherten, sich an der lebhaften Debatte über das ‘vom Realismus inspirierte
Kino’ beteiligten und mit Regisseuren wie Rossellini und Visconti zusammenarbeiteten. Besonders
prägend für Lizzani war seine Mitwirkung an Deutschland im Jahre Null sowie seine Freundschaft
mit De Santis, mit dem zusammen er die Drehbücher für Tragische Jagd (1947), Bitterer Reis
(1949) und Kein Frieden unter den Olivenbäumen (1950) schrieb. Sein Regiedebüt erlebte er mit
verschiedenen Dokumentarfilmen und schließlich mit Achtung Banditi! von 1951. Ganz anders
– und viel persönlicher – sind die Filme von De Santis: Sein zentrales Thema ist die Vielschichtigkeit
und die Inszenierung des Individuums innerhalb einer Gruppe. Als Einzelgänger steht dagegen der
Mailänder Alberto Lattuada da, der die Themen des Neorealismus mit seinem Fotoalbum Occhio
quadrato („Quadratisches Auge“) von 1941 vorwegnahm und später in seinen Filmen Der Bandit
(1946) und Ohne Gnade (1948) wieder aufgriff.
Der neorealistische Dokumentarfilm
Neben dem Spielfilmgenre entwickelte der Neorealismus auch typische Formen des
Dokumentarfilms, beginnend mit Michelangelo Antonioni und seinen Werken Gente del Po von
1939, ein Film über Lastkähne im Podelta, sowie Straßenreinigung von 1948. Seine Absicht war es,
den Geist dieser Orte und ihrer Bewohner durch einen Blick mit neuen Augen zu erfassen und „zu
beginnen, die Welt über das Bild zu verstehen”. Weitere Beispiele sind die Dokumentarfilme über
den Kampf der Partisanen, unter anderem von Autoren wie Visconti, Pagliero und De Santis, die
den Fall des Mussolini-Regimes mit schnellem Rhythmus und im Stakkato-Schnitt darstellen, ganz
anders als der gefühlsbetonte Antonioni oder die still-verhaltene Betrachtungsweise, wie sie für die
Dokumentarfilme Zurlinis typisch ist.
Die Drehbuchautoren des Neorealismus
Neben den Regisseuren tragen auch verschiedene Drehbuchautoren dazu bei, den typischen Filmstil
jener Jahre zu entwickeln. Dass Sergio Amidei wirklich aktiver Widerstandskämpfer gewesen war,
erwies sich als entscheidende Bereicherung für den Film Rom, offene Stadt, in dem es ihm gelang,
nicht nur das persönliche Drama der Figuren wiederzugeben, sondern auch das kollektive.
Die ersten reifen Früchte der poetischen Ader Cesare Zavattinis zeigen sich dagegen in zwei Filmen,
die man als Vorläufer des Neorealismus betrachten kann: Lüge einer Sommernacht (1942)
des Regisseurs Blasetti und I bambini ci guardano (internationaler Titel „The children are watching
us“), mit dem seine langjährige Zusammenarbeit mit De Sica ihren Anfang nahm. „Die Zeit ist reif,
die Drehbücher wegzuwerfen und die Menschen mit der Kamera zu verfolgen“, schrieb Zavattini und
verkündete damit seine Theorie des Mitverfolgens.
Suso Cecchi d’Amico bewies von Anfang an eine Vorliebe für Teamarbeit. Sie war Mitverfasserin
von Fahrraddiebe (von ihr stammt die Schlussszene mit dem Fahrraddiebstahl) und wirkte
danach zusammen mit De Sica und Zavattini an Das Wunder von Mailand mit. 1951 begann ihre
dreißigjährige Zusammenarbeit mit Visconti, als sie das Drehbuch von Bellissima mitverfasste,
das grandiose Porträt einer Frau, das extra für Anna Magnani geschrieben worden war.
Die fünfziger Jahre und danach
Verschiedene Regisseure begannen im Schwange des Erneuerungsdrangs der Nachkriegsjahre
in den fünfziger Jahren Filme zu drehen. Über die Trümmer zerstörter Städte oder entvölkerte,
bettelarme Landstriche schweifen die Blicke von Regisseuren wie Pietro Germi, Francesco Rosi,
Renato Castellani und Citto Maselli, die von einem Italien in großem Aufruhr erzählen, das aber
wegen seiner seit jeher bestehenden Widersprüche nicht vom Fleck kommt. Ihre Themen sind
das Drama der Immigration, die Erlebnisse junger Kriegsheimkehrer sowohl in komischer wie in
tragischer Lesart, das Zurückdenken an die bitteren Kriegsjahre oder historische Ereignisse, die in
Reportageform dargestellt werden.
Die Hinterlassenschaft des Neorealismus
Während der Neorealismus einerseits nicht als eine organische Bewegung angesehen werden kann,
war er doch andererseits zweifellos eine Schule im reinsten Sinne des Wortes, nämlich eine Zeit
der Lehrjahre für Generationen von Autoren, die in allen Teilen der Welt das „Gegenwartskino”
fortgeführt haben und dies noch immer tun. Die neuen weltumfassenden Strömungen
der Filmbranche in den 60er Jahren, die als Nouvelles Vagues bekannt wurden, ließen sich vom freien
Blick des Neorealismus inspirieren und übertrugen ihn in ihre aufrüttelnden, bourgeoisiekritischen
und antikonformistischen Werke. Die eindringliche Lektion des Neorealismus hat auch in jüngerer
Zeit noch Bestand, wobei sie sich wandelt und anpasst je nach Art der Geschichten, der Lebenswelten
und der Emotionen, die zum Ausdruck gebracht werden sollen.
Der Neorealismus aus der Sicht von …
Wir haben mehrere Regisseure gebeten, uns ihre Sichtweise des „neorealistischen Blicks” zu
erläutern, ihre Gedanken zum Neorealismus und zur Inspiration, die sie daraus auf mehr oder
weniger indirekte Weise für ihre Arbeit gewonnen haben. In der vorletzten Nische finden Sie die
Ausführungen von Bertrand Tavernier, Davide Ferrario, Edgar Reitz, Abderrhamane Sissako, Marco
Bellocchio, Robert Guèdigian, Martin Scorsese und Bernardo Bertolucci.
Das Archiv des Neorealismus
Dank des großen Erfolgs und der prägenden Wirkung des Neorealismus wurde sein Vermächtnis
sorgfältig bewahrt. Seine Spuren finden sich über viele Orte verstreut, in Italien wie im Ausland,
was auch ein Verdienst seiner vielen Verehrer ist, die Wert darauf legen, diese Spuren zu erhalten
und weiterzugeben. In der letzten Nische können Sie einige dieser wertvollen Dokumente „selbst in
die Hand nehmen”: Sie stammen aus öffentlichen und privaten Sammlungen, und wir möchten Ihnen
damit die Freude am Erforschen und (Wieder-)Entdecken vermitteln.