Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik)
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Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik)
Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik) Abituraufgabe II (Brecht Der Dienstzug – Textauszug Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen) In der Abiturklausur soll • das Gedicht Der Dienstzug (1939) von Bertolt Brecht interpretiert und • überprüft werden, inwiefern das Gedicht den Kernaussagen des vorliegenden Textauszugs von Bertolt Brecht Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gerecht wird, • die politische Wirksamkeit von Lyrik erörtert werden. Das Gedicht „Der Dienstzug“ von Bertolt Brecht wurde zusammen mit anderen in der Reihe der Svendborger Gedichte 1939 veröffentlicht. Der Dichter befindet sich zu dieser Zeit im dänischen Exil, da er, um den politischen Gegnern drohenden Repressalien – bis hin zu Verhaftung und Ermordung – zu entgehen, nach dem Reichstagsbrand (27./28. Februar 1933) aus dem Dritten Reich geflohen war. Im Ausland führte Brecht den aktiven Kampf gegen das nationalsozialistische Regime fort, indem er dem Widerstand gewidmete Literatur verfasste. Dazu zählten neben der Lyrik, in der er die persönliche Exilerfahrung verarbeitete, auch ausdrücklich politische Gedichte, die er zu dieser Zeit unter der Überschrift Deutsche Satiren zusammenfasste. Das Gedicht Der Dienstzug ist in diese Reihe von Schriften einzuordnen. „Der Dienstzug“, ein Zug, der anlässlich des Nürnberger Parteitages gebaut wurde, wird hier in seiner luxuriösen Bauweise beschrieben. Dabei hebt Brecht die geruhsame Untätigkeit der Zuggäste hervor und nimmt das Schwelgen im Komfort zum Anlass, die Führungselite des NS-‐Regimes zu kritisieren, welche „auf Deutschland scheiße“ (vgl. I, Z. 25/26). Der Text wird im Folgenden zunächst anhand ausgewählter Kriterien analysiert und interpretiert. Anschließend soll überprüft werden, inwieweit das Gedicht den Ansprüchen, welche Brecht in dem in Auszügen vorliegenden Text „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ formuliert, gerecht wird. Dazu gehören unter anderem „knappste Form“ (II, Z. 3), Alltagssprache, Unregelmäßigkeit des Rhythmus’ sowie Anregung der Gedanken des Lesers als Wirkung und Intention. Schließlich wird die Frage nach der politischen Wirksamkeit von Lyrik erörtert. „Auf ausdrücklichen Befehl des Führers“ (I, Z. 1), so steigt Brecht ein, sei ein höchst komfortabler Zug gebaut und mit dem „schlichten Namen DIENSTZUG“ (I, Z. 3) betitelt worden. Durch diesen ersten Vers verdeutlicht Brecht gleich zu Beginn, dass es sich bei den folgenden Versen um eine politische Stellungnahme handelt. Mit eben dieser Aussage werden auch Anordnungen Hitlers gekennzeichnet. Da dieser seit 1933 gezielt seine Position im Staat ausgebaut hatte und zu alleiniger Macht gelangt war, duldete solch ein Befehl keinen Widerspruch. So erlangt Brecht durch den unerwarteten Einstieg nicht nur die Aufmerksamkeit des Zuhörers – seine Gedichte wurden als Agitationsmaterial, also zur intensiven Aufklärung der Bevölkerung eingesetzt und bei Deutschland feindlichen Sendern wie der BBC als vertonte Version ausgestrahlt oder verlesen, es gelingt dem Dichter ebenfalls zu verdeutlichen, dass Hitler als Zeuge dessen die Schuld für das geschehene Unrecht, das Leid und die Morde zuzuschreiben ist. Doch auch die anderen Parteifunktionäre in z.T. gehobenen Positionen entgehen Brechts Kritik nicht. Sie werden mit der Bemerkung „für den Nürnberger Parteitag“ (I, Z. 2) in ihrer Gesamtheit bezichtigt. Der sich bietende Widerspruch zwischen „schlichte[m] Namen“ (I, Z. 3) und dem Begriff „Salonzug“ (I, Z. 2) sowie den folgenden, nahezu detailverliebten Beschreibungen der Anhäufung von luxuriösen Accessoires – „Meisterstück der Wagenbaukunst“ (I, Z. 7), „Appartements“ (I, Z. 8), „breite Fenster“ (I, Z. 8), „gekachelt[e] Kabinett[e]“ (I, Z. 11), „raffinierte[s] Beleuchtungssyste[m]“ (I, Z. 13), „mit Marmor“ (I, Z. 24) etc. – ist der Einstieg und einer der Leitfäden für Brechts harsche Kritik. Am Schluss der ersten Strophe, welche durch die Nummerierung „1.“ deutlich gekennzeichnet und von der folgenden abgegrenzt ist, setzt Brecht einen weiteren Widerspruch – ein Paradox, so scheint es – hinzu: die Zuggäste würden „indem sie fahren, dem deutschen Volk / Einen Dienst erweisen“ (I, Z. 4/5). Die Diskrepanz zwischen aktiver und passiver Wortbedeutung ist nicht zu übersehen: jemandem zu dienen, ist ein mit Mühe und Arbeit bzw. Aufwand verbundener Vorgang, während das Fahren in einem Zug von ausschließlich passiver Qualität ist. Brecht reduziert seine Aussage auf zwei zentrale Punkte: Der „Dienst“ (I, Z. 5) der Parteielite besteht aus dem Nichtstun. Dieser wird durch den äußeren Schein der schlichten Notwendigkeit in seiner wahren Identität als gro.zügig ausgestalteter Luxus und Komfort verschleiert. Wie in einer Art (politischem) Aufsatz bildet die erste Strophe die Einleitung des Gedichtes, welche einen knapp umrissenen abstract des Inhalts bietet. Die erste Zeile der zweiten Strophe wirkt dabei wie die Überschrift des folgenden, zu erörternden Unterpunktes: „Der Dienstzug“ (I, Z. 6). Die daran angeschlossene, objektive Beschreibung der Qualitäten des Zuges kann höchstens anfänglich die Emotionalität Brechts verbergen, mit welcher er das Unrechtsregime der Nazis kritisiert. Innerhalb von neunzehn Zeilen entwirft Brecht das Bild eines mit allem Komfort ausgestatteten Zuges. Zuweilen scheint es, als handele es sich um den Text eines Immobilienverkäufers: der Leser wird wie ein Interessent umworben (vgl. I, Z. 10f.) und mit dem „sie“, welches sich eigentlich auf die Zuggäste bezieht, angesprochen. „Die einzelnen Appartements“ (I, Z. 16) verfügen über jegliche noble Einrichtung und machen den „Dienstzug“ (I, Z. 6) zu einem „Meisterstück der Wagenbaukunst“ (I, Z. 7). Dazu gehören, wie bereits erwähnt, „breite Fenster“ (I, Z. 8), durch die „deutsch[e] Bauern auf den Feldern schuften[d]“ (I, Z. 9) beobachtet werden können, „gekachelt[e] Kabinett[e]“ (I, Z. 11) für „Expreßbäder“ (I, Z. 12), „raffiniert[e] Beleuchtungssystem[e]“ (I, Z. 13) zum Lesen der Zeitung im Sitzen, Liegen und Stehen (vgl. I, Z. 14) sowie „Telefonleitungen“ (I, Z. 17), welche den Gästen, wie der Zimmerservice (vgl. I, Z. 22f.), die wenigen Schritte von der einen zu der anderen Räumlichkeit ersparen, und „mit Marmor ausgelegt[e] [Klosetts]“ (I, Z. 24). Es bieten sich also alle erdenklichen Annehmlichkeiten, die die Notwendigkeit für Bewegung auf ein Minimum beschränken. Die dabei eingesparte Energie, so kritisiert Brecht, wird allerdings nicht zum beruflichen Engagement genutzt, welches auch nur aus weiteren schriftlichen Taten bestehen würde. Vielmehr stagnieren die „Zuggäste“ (Z. 7) in einer allumfassenden Passivität, um nicht zu sagen Faulheit: die Zeitungslektüre erbringe als Entschädigung für den Aufwand „groß[e] Bericht[e] über die Segnungen / Des Regimes“ (I, Z. 15/16), welche zugleich als Rechtfertigung für die eigene Inaktivität herangezogen werden können. Einer Auseinandersetzung mit anderen Staaten, das heißt, eine aktive Außenpolitik, erfolgt nur durch die passive Beschallung mit „großen Berichten / Über die Nachteile anderer Regimes“ (I, Z. 21/22) über das „Radio“ (I, Z. 21), „[o]hne sich von den Betten zu erheben“ (I, Z. 20). Immer weiter spitzt Brecht das Bild der Diskrepanz zwischen Aktivität und Passivität, Arbeit und Faulheit zu. Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik) Während die „deutschen Bauern auf den Feldern schuften“ (I, Z. 9), geraten die „Zuggäste“ (I, Z. 7) – die bezeichnenderweise als solche deklariert werden, ähnlich den Urlaubsgästen in einem Luxus-‐Hotel – schon „bei diesem Anblick [in Schweiß]“ (I, Z. 10). Dem Bild eines Urlaubs im exklusiven Hotel folgend, vergleicht Brecht die NS-‐Politiker im Zug mit „[Herren] in gewissen Tanzpalästen“ (I, Z. 18), denen es an Antrieb zum Tanzen mangelt und die an Tischen (vgl. I, Z. 18) sitzend „[t]elefonisch“ (I, Z. 19) Auskunft von den „Damen an den Nachbartischen“ (I, Z. 19) erfragen. Die Frage „nach dem Preis“ (I, Z. 19) impliziert sofort Prostitution und lässt den heutigen Leser an die Veruntreuung von Geldern durch ‚Sexreisen’ von Managern und Politikern denken. Der förmliche Dienstzug erfährt also eine Verkehrung seiner Bedeutung ins Gegenteil: er wird missbraucht als Luxus-‐Bordell, als ‚Prostitutionszug’. Zum Ende der Beschreibung entwirft Brecht in seinem Gedicht ein finales Bild: nachdem die Fahrgäste „ihre Dinners / Auf Wunsch im Appartement serviert [bekommen]“ (I, Z. 22/23) haben, werden sie durch die natürliche Notwendigkeit der „Notdurft“ (I, Z. 23) dazu gezwungen, sich „in [ihre] eigenen Klosetts“ (I, Z. 24) zu begeben. Der auch diesem Ort innewohnende Luxus versucht für diese Bewegung bzw. einzige Tätigkeit zu entschädigen: Mehr-‐Gänge-‐Menu und Stuhlgang sind so in gleicher Weise elegant gestaltet. Diese pointierte, zugespitzte Darstellung ist eine für Brecht typische Form der Kritik, welche sehr zynisch wirken kann oder wirkt. Mittels der Stellung am Versende werden „ihre Dinners“ (I, Z. 22) und „ihre Notdurft“ (I, Z. 23) in direkte Beziehung zueinander gesetzt und gegenübergestellt. „Notdurft“ (I, Z. 23) erfährt in dieser Epipher eine besondere Betonung, zumal das Wort durch den folgenden Vers ergänzt wird. An dieser Stelle treibt Brecht seine Ausführungen ‚auf die Spitze’. Nach den kunstvollen Umschreibungen für schier unvorstellbare, irrational wirkende Zustände – die Parteimitglieder schwelgen im Luxus, während in und rings um Deutschland Verfolgung, Willkür, Unrecht und Krieg herrschen – konkretisiert Brecht seine Anklage zu scharfer, deutlich gesprochener Kritik: „Sie scheißen / Auf Deutschland“ (I, Z. 25/26). In der vorletzten Zeile erzeugt Brecht das konkrete Bild der ihre Notdurft verrichtenden Zuggäste. Der letzte Vers erweitert es zu einer Metapher: „Sie scheißen / Auf Deutschland“ bedeutet hier, dass eine vollständige Ignoranz gegenüber Deutschland und dem dort Geschehenen vorherrscht. Weder die Identität Deutschlands – der deutsche Geist der Dichter und Denker – noch seine Zukunft oder sein Wohlergehen scheinen ihnen am Herzen zu liegen, solange sie es zu ihrem eigenen Vorteil ausbeuten können. Die Nazis prostituieren Deutschland, sie missbrauchen es, um es ihrem eigenen Nutzen zu unterwerfen. Selbstgefällig lassen sie andere „schuften“ (I, Z. 9) und bereichern sich an der Arbeit anderer. Diese Kritik ist gekennzeichnet durch Brechts kommunistische Denkweise. Er will die „deutschen Bauern“ (I, Z. 9) in Schutz nehmen. An zwei Stellen wiederholt Brecht eine sehr zynische Aussage, die antithetisch aufgebaut ist: die Zeitungen sind gefüllt „Mit den großen Berichten über die Segnungen / Des Regimes“ (I, Z. 21/22). Brecht verkehrt die Tatsachen – Krieg, Verfolgung, Mord und Unrecht können zweifelsohne nicht als „Segnungen“ (I, Z. 15) betrachtet werden -‐, um auf die gleichgeschaltete, propagandistische Presse im Dritten Reich zu verweisen, die die Lügen der Nazis verbreitete und ihre Ideologie in den Köpfen der Menschen festsetzen sollte. Mit seinen Gedichten, die ebenfalls über Rundfunk und Presse, etwa BBC und Exilverlage, wie z.B. die „Neue[n] Deutsche[n] Blätter“, eine antifaschistische Zeitung, verbreitet wurden, will Brecht Ähnliches erreichen. Nicht die Verblendung, sondern die Aufklärung der Bevölkerung ist sein Ziel. Zudem sollen Menschen im In-‐ und Ausland zum Engagement und aktiven, politischen Kampf gegen Nazi-‐Deutschland aufgerufen werden. Brechts Lyrik sollte aufrütteln. Aus diesem Grund setzt der Dichter hier die für seine Literatur typischen Gestaltungsformen ein. Der Begründer des epischen Theaters wählt erneut den narrativen Stil119. Bei auditiver Wahrnehmung ist sein Gedicht deshalb kaum von einem Prosatext zu unterscheiden. Die Gliederung in Verse und Strophen jedoch lässt auf einen Blick erkennen, dass es sich um Lyrik handelt. Die traditionelle, harmonisch wirkende Gedichtform120 kann dem Inhalt des Gedichtes nicht entsprechen und wird aus diesem Grunde abgelehnt. Die Verbrechen der Nazis, Heimatverlust aufgrund von Vertreibung, Willkür und Unrecht können in keine starre Form gepresst werden. In verschiedenen Gedichten erwähnt Brecht unter anderem, dass ein Reim ihm wie Übermut vorkäme. In An die Nachgeborenen führt er derartige Überlegungen wie folgt aus: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (Z. 6-‐8). Daraus wird ersichtlich, dass nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt klassischer Gedichte nicht der Zeit entspricht. Es finden sich weder Reime noch ein einheitliches Metrum. Vielmehr ahmt Brecht mit Wortstellung und Rhythmus den natürlichen Sprachfluss der Menschen nach. Zusammen mit der Alltagssprache ergibt sich das ‚gestische Sprechen’121. Dies klingt wie der Ausruf der streikenden Arbeiter, welche ihr „Wir haben Hunger“ auch nicht in Versform pressten. Ihrem Beispiel gleich gibt Brecht dem Leser prägnante Sätze an die Hand, Parolen, die harsche Kritik am Regime zum Ausdruck bringen und den Menschen zum Gebrauch im sozialen sowie politischen Engagement dienen sollen. Enjambements (vgl. I, Z. 1/2, 3/4, 4/5 usw.) und veränderte Wortstellung (z.B. I, Z. 21/22) erzeugen stark verkürzte Zeilen (I, Z. 5, 6, 25f. usw.), die folglich eine besondere Betonung erfahren. Mit konsequent großgeschriebenen Versanfängen sowie zum Teil fehlender Interpunktion – vor allem Kommata werden ausgelassen (z.B. I, Z. 2/3) – wird die Leserirritation gefördert, welche dazu führt, dass die Verse aufmerksamer gelesen werden, vielleicht sogar zweifach. Dies führt dazu, dass der Inhalt vom Leser besser aufgenommen wird. Eine klare Strukturierung des Gedichts begünstigt dies weiter. Abgeschlossene Gedankengänge, verschiedene Perspektiven und anderes mehr werden in Brechts Lyrik durch Strophen begrenzt, welche meist zusätzlich durch Nummerierung gekennzeichnet sind. Mithilfe bestimmter bzw. dem jeweiligen Thema angepasster Metaphern und dem Gebrauch von Wortfeldern erzeugt Brecht komplexe Bilder, welche er dann als Schein auflöst; darauf folgend verdeutlicht er seine eigene Aussage. In dem hier vorliegenden Gedicht ist dies das stimmige Bild eines luxuriös ausgestatteten Zuges, der zum komfortablen Nichtstun einlädt. Eben dieses Bild wird zum Gegenstand von Brechts Kritik, welche er in den letzten beiden Zeilen deutlich formuliert. Parallelismen, Antithesen sowie andere Stilmittel helfen Brecht dabei, Dinge gegenüberzustellen oder in Verbindung zueinander zu setzen, hier beispielsweise „Dinners“ und „Notdurft“ (I, Z. 22/23). In anderen Gedichten des Dichters sind häufig weitere Stilmittel zu finden. Brecht verfügte über eine unglaubliche Bandbreite an Gestaltungsformen – auf inhaltlicher wie sprachlicher und formaler Ebene. Diese reichen von der Abänderung von oder Anlehnung an Legenden (z.B. Der gute Mensch von Sezuan) über ‚Gebetssprache’ (z.B. Finnland), scheinbar objektive Begriffsdefinitionen (Über die Bezeichnung Emigranten), Sonette, Liedform etc. Alliteration und Assonanz sind ebenso zu finden wie Konsonanz, Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik) Parallelismus und Anaphern. Wie in der vorangegangenen Interpretation bereits erwähnt, setzt Brecht seine Schreibkunst auf viele verschiedene Weisen ein. Die Thematik ändert sich hintergründig nicht: stets bezieht sich das Geschriebene auf die Herrschaft des NS-‐Regimes und die Auswirkungen seiner Tätigkeiten. Brecht selbst hat in seinem hier in Auszügen vorliegenden Text Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gewisse Ansprüche an seine Lyrik und die anderer Autoren gestellt. Diese lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen: Texte müssen durch ihre Kürze überzeugen, sie folgen eher dem natürlichen Sprachfluss als regelmäßigen Rhythmen; sie haben eine neue Form der Ästhetik inne und beschreiben „neue Wege“ (II, Z. 27) in „der sozialen Funktio[n]“ (II, Z. 26). Für Brecht muss jedes Gedicht vor allem eine politische Funktion erfüllen. Lyrik ist für ihn nicht der bloße Ausdruck, sondern ist gleichbedeutend mit einer Handlung. So dient das Schreiben nicht nur dem Ausdruck wirrer Gedanken, sondern es soll sie ordnen. Die Feststellung von Unrecht ist gleichzeitig eine Aufforderung, dieses zu beseitigen. Dies ist mit der Funktionalität von Lyrik gemeint. Sie soll aufklären, aufrütteln, zu Engagement anhalten und anklagen. Dieser Vorgabe wird Der Dienstzug gerecht. Mit der Intention, die Gedichte über die BBC auszustrahlen, schreibt Brecht die Deutschen Satiren. Obwohl der ‚Feindsender’ verboten war, trafen sich viele Deutsche heimlich, um unverfälschte, von der Propaganda der Nazis unberührte Informationen zu erhalten. Hörten sie das Gedicht Der Dienstzug, wäre Empörung eine logische Konsequenz. Diese könnte zum Gesprächsthema werden und die Menschen zum Handeln motivieren. Der eigene Hunger ließ die Ungerechtigkeit umso schwerer wiegen. Brecht ist der Überzeugung, dass „regelmäßige Rhythmen [...] eine mir unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung“ (II, Z. 6f.) haben. Auch wenn diese „einmal hatte erregend wirken können“ (II, Z. 9), „tat sie das nicht mehr“ (II, Z. 10, 12). Eher seien „die Sprechweise des Alltags [...] [und] der nüchterne Ausdruck“ (II, Z. 10, 12) einzubringen, da sie die „Gedanken“ (II, Z. 20) anregten und darstellten. „Sie scheißen / Auf Deutschland“ (I, Z. 25/26) entspricht diesem Kriterium. Die Aussage empört, rüttelt wach, zeigt mit dem Finger auf die Untaten und vermag es, Menschen in Bewegung zu versetzen. Das erstgenannte Kriterium, das der Knappheit bzw. Kürze, findet seine Berechtigung darin, dass beispielsweise „durch die Störsender“ (II, Z. 4) die Sendungen im Radio unterbrochen wurden, sodass es gilt, in kurzer Zeit prägnante Sätze „in [die] ferne, künstlich zerstreute Hörerschaft zu werfen“ (II, Z. 2/3): „Unterbrechungen [...] durften nicht allzu viel ausmachen“ (II, Z. 4/5). Die erste Strophe in ihrer Kürze stellt, wie bereits erläutert, einen Abstract des Inhaltes dar, der durch die zweite Strophe ausgeführt und weiter konkretisiert wird. Wurde die Übertragung nach wenigen Minuten abgebrochen, so konnte dennoch der größte Teil, wenn nicht das gesamte Gedicht, vorgetragen werden. Brechts vorliegendes Gedicht wird demnach allen gestellten Ansprüchen gerecht. Es ist kurz und regt die Gedanken des Lesers an. Damit ist bereits eine Voraussetzung für die politische Wirksamkeit von Lyrik erfüllt. Ob diese tatsächlich entfaltet werden kann, soll in dem folgenden Teil der Arbeit geprüft werden. Brechts Flucht aus Deutschland und der Gang ins Exil waren ein erstes Zeichen seines politischen und moralischen Protests gegen das Hitler-‐Regime. Frühzeitig hat der vom Kommunismus überzeugte Dichter die Gefahr erkannt, die vom Nationalsozialismus ausgeht. Wie etwa 400.000 andere Deutsche, viele davon Angehörige der intellektuellen Elite, suchte er Schutz vor Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung im europäischen Ausland. Diese erste große Auswanderungswelle geschah nach der Bücherverbrennung im Mai 1933. Die Nazis vernichteten dabei in öffentlichen Veranstaltungen die Schriften von weit über 250 Autoren und Autorinnen, die dem Regime gegenüber kritisch eingestellt waren, es ablehnten oder bekämpften. Während Brecht schon vor dem nationalsozialistischen Machtantritt auf einer Liste zu verhaftender, politischer Gegner zu finden war, wurde Oskar Maria Graf zunächst der ‚weißen Liste’ zu empfehlender Bücher hinzugefügt. Dieser protestierte heftig, da er ebenfalls zu den entschiedenen Antifaschisten gehörte. Seinen Satz „Verbrennt mich!“ griff Brecht in dem Gedicht Die Bücherverbrennung auf, welches diesem Ereignis gewidmet ist. Würde von der Literatur keine politische Wirkung, d.h. auch keine Gefahr, ausgehen, wären die Nazis nicht so entschieden gegen die geistige Elite des Landes vorgegangen. Demnach muss das Geschriebene eine Wirkung auf den Leser haben. Heutzutage ist kaum mehr eine Politisierung der Lyrik zu beobachten. Moderne Romane wie Wessis in Weimar von Rolf Hochhuth oder Nox von Thomas Hettche versuchen noch immer, die Folgen der Wende zu analysieren und zu verarbeiten. Aktuellere Themen, wie beispielsweise der Irakkrieg, finden in den Schriften vieler Exilanten Ausdruck. Diese haben jedoch ein sehr beschränktes Publikum. Vertonte Lyrik hingegen findet das Gehör vieler. Ein Projekt namens Rock against Bush, das sich gegen die amerikanische Außenpolitik wendet, fand weltweit Anerkennung und Anhänger. Eine moderne Form der Lyrik ist Slam Poetry. Diese orale Form der Poesie ist in den 80er-‐Jahren in Chicago entstanden und hat sich zunächst im Untergrund ausgebreitet. Bas Böttcher ist einer der ‚Slammer’. Er kritisiert u.a. die Machenschaften der U.S.-‐Regierung im Gefangenenlager Guantánamo Bay und übt Gesellschaftskritik. Ebenso ‚zieht’ Timo Brunke über den Schönheitswahn und ähnliche Themen her. Der Rapper Samy Deluxe prangert ebenso wie der bereits verstorbene Tupac Shakur die Rassendiskriminierung an („Weck mich auf“ und „Changes“). Doch auch in der Geschichte Deutschlands und Europas bieten sich viele Beispiele dafür, dass Lyrik eine politische Wirkung entfaltet. Der Dichter Heinrich Heine122 lebte bis zu seinem Tod im französischen Exil. Elemente der Romantik aufgreifend, wandte er sie an, um Kritik an dem Spie.bürgertum seiner Zeit sowie religiösen, gesellschaftlichen und politischen Instanzen zu üben. Die Herrscher seiner Zeit reagierten mit harter Zensur und schließlich mit einem Schreibverbot, um seinen Einfluss auf die Intellektuellen des Landes zu begrenzen. Folglich wurden seine Schriften, wie viele andere auch, unter der Hand weitergereicht und gelesen. Später widmete Hilde Domin123, eine weitere Exilantin zur Zeit des Dritten Reiches, ihr Werk der Darstellung der Exilsituation (z.B. Aufbruch ohne Gewicht, Mit leichtem Gepäck). Im Rahmen des „New York Progressive Literary Club“ entstand eine Vielzahl solcher Schriften. Die Zeitgenossen Domins wie Mascha Kaléko und Paul Celan standen durch ihre Lyrik in Verbindung. Sie erreichten eine Solidarisierung vieler Exilanten und einten weitgehend die Reihen der Regimegegner – auch über verschiedene politische Ansichten hinweg. Die antifaschistische Zeitschrift Neue Deutsche Blätter veröffentlichte ihre Gedichte im Ausland und schmuggelte sie nach Deutschland ein. Zwar war die Leserschaft durch die strikten Verbote und Kontrollen gering, dennoch gelang zumindest die Aufklärung der Bevölkerung über die eigentlichen Machenschaften Hitlers. Brecht z.B. warnte schon 1938 in seinem Gedicht Frühling 1938 vor der eminenten Kriegsgefahr. Klaus Mann stellte fest, dass Lyrik aber auch an die Regierungen anderer Länder gerichtet sein konnte, als eine Art Bittbrief oder Hilferuf mit dem Ersuchen, dass sie sich gegen das NS-‐Regime wenden sollten. Beispielklausur – Abitur – Brecht (Exillyrik) Das Maß an Unterdrückung, welches Literatur widerfährt, kann oftmals zur Messung ihrer Wirksamkeit herangezogen werden. Die Bücherverbrennung hat eine lange Tradition. Die Schriften Luthers wurden ebenso verbrannt wie die von Brecht, Graf, Celan, Zweig oder der Familie Mann. Die Zeit der Aufklärung ist wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele für die Wirkung von Literatur. Immanuel Kant prägte den Spruch, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sei. Mit dem Vormarsch des rationalen Denkens, der logischen Schlussfolgerungen und des kritischen Hinterfragens begannen die bisherigen Institutionen, vor allem die Kirche und die Monarchen, an Macht und Einfluss zu verlieren. Auch wenn die daraus folgende Französische Revolution zunächst in einem ‚Blutbad’ endete und nicht den erwünschten Umsturz herbeiführte, so bereitete sie doch den Weg für die kommenden Epochen. So wurde beispielsweise in der Klassik das Ideal, in Schillers gleichnamigem Werk durch die Figur Maria Stuart verkörpert, aufgestellt, welches den Menschen als Orientierung dienen sollte. Die Besserung des Menschen war das Ziel, welches sich zum Teil auch auf die Politik auswirkte. Im Gegenzug versuchte die Politik ebenso häufig, auf die Literatur einzuwirken. So wurde für die DDR auf der Bitterfelder Konferenz eine ‚Parteilinie’ für die Literatur (und Kunst) festgelegt. Im Dritten Reich war die Reichskultur-‐ und Schriftkammer mit Ähnlichem beauftragt. Von der Literatur, einschließlich der Lyrik, ging schon immer eine ‚Gefahr’ für etablierte Machtstrukturen aus, da sich in ihr die Ausdrucksform der Opposition und der umstürzlerischen Kräfte fand. Dies kann vor allem am Beispiel der Aufklärung nachgewiesen werden, ist jedoch auch heute von Bedeutung, wenn man gesellschaftskritische Lieder bekannter Künstler betrachtet. – Zudem wird Literatur heute verfilmt und über moderne Medien ausgestrahlt. Eine erneute Politisierung der Lyrik könnte im 21. Jahrhundert von der Slam-‐Poetry-‐Bewegung ausgehen. Welchen Erfolg diese haben wird, bleibt festzustellen. Das Wichtigste ist und bleibt, das Publikum, ganz in Brechts Sinne, ‚aufzuwecken’, wachzurütteln und zum eigenen Engagement zu bewegen, sodass es nicht alle ihm als ‚Wahrheiten’ präsentierte Fakten hinnimmt, sondern es als selbstverständlich ansieht, diese kritisch zu hinterfragen. (3479 Wörter)