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AKZEPTANZ FÜR Eine Standortbestimmung über Chancen und Grenzen der Bürgerbeteiligung in Deutschland Vorwort Peter Terium _ 07 Methodik Erkenntnisinteresse: Orientierung schaffen in der Diskussion um Bürgerbeteiligung _ 10 Methodisches Vorgehen _ 12 In Kürze Zusammenfassung: Schlüsselerkenntnisse der Untersuchung _ 16 Analyse 1. Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation: Die Konjunktur der Bürgerbeteiligung _ 22 2. Beteiligungskultur: Energiewende und Netzausbau werden zum neuen Motor der Debatte _ 29 3. Die Energie- als Standortfrage: Eine überfällige Debatte _ 40 4. Warum Bürger protestieren: Einsichten in ein überaus vielschichtiges Phänomen _ 48 5. Exkurs Stuttgart 21: Blaupause in Sachen Demokratieverständnis _ 61 6. Vorhabenträger und NGOs: Im Wettbewerb mit ungleichen Waffen _ 69 7. Ratio und Empathie: Erfolgsfaktoren für einen Dialog auf Augenhöhe _ 77 8. Partizipation – aber wie? Bürgerbeteiligung in der Kontroverse _ 85 9. Die juristische Perspektive: Braucht Bürgerbeteiligung neue Rechtsgrundlagen? _ 100 10.Wunsch und Wirklichkeit: Bürgerbeteiligung ist ein dauerhafter Lernprozess _ 109 Interviews Ansichten, Einsichten, Aussichten _ 118 Kompendium Akzeptanz von Großprojekten: Ein Quellenverzeichnis zum Nachschlagen und Vertiefen _ 270 Literatur Literaturverzeichnis _ 272 Peter Terium, Vorstandsvorsitzender RWE AG die Erwartungen der Bürger an Unternehmen steigen zunehmend. Die Menschen fordern immer mehr ein: neben Informationen und Transparenz auch immer mehr direkte Beteiligung – insbesondere bei großen Infrastrukturprojekten. Gerade die Energiewirtschaft steht durch die beschleunigte Energiewende vor besonderen Herausforderungen: Zur Umsetzung bedarf es einer entschlossenen Realisierung von Projekten, die in der Öffentlichkeit nicht immer unumstritten sein werden. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sind gefragt, gemeinschaftlich verantwortungsvolle Lösungen zu schaffen. Hierzu bedarf es einer Dialog- und Diskurskultur, in der alle Seiten bereit sind, einander zuzuhören, neue Blickwinkel einzunehmen und Konflikte offen und ehrlich zu thematisieren. Die Energiewende mit ihren Konsequenzen wird Menschen und Wirtschaft noch über Dekaden bewegen. Sie ist eine große Chance für Deutschland, wenn wir sie richtig anpacken. Wir müssen es schaffen, sie zu einem generationenübergreifenden Gemeinschaftsprojekt zu machen. Als ein wichtiger Investor in Deutschland und Europa sehen wir uns in der Verantwortung, diesen Beitrag zu leisten – auch um unser Land als Industriestandort weiter stark zu halten. Wir als RWE verstehen uns als Teil der Lösung und wollen die Zukunft gemeinschaftlich und nachhaltig mitgestalten. Mit der vorliegenden Untersuchung möchten wir relevanten gesellschaftlichen, volkswirtschaftlichen und politischen Fragen nachgehen, Perspektiven zusammenbringen und Impulse in der dynamischen und kontroversen Debatte rund um die Akzeptanz von Großprojekten und Bürgerbeteiligung geben. Dabei stimmen uns die Ergebnisse der Untersuchung zuversichtlich: Die Situation in Deutschland ist deutlich weniger kontrovers und verhärtet als in der Öffentlichkeit gemeinhin angenommen. Sicherlich wird es nicht immer möglich sein, alle Seiten ganz und gar zufriedenzustellen – dennoch sind wir optimistisch, dass die Energiewende und die großen Fragen des Standorts Deutschland von einer konsensualen und dialogorientierten Kultur getragen werden können, wenn sich jeder seiner Rolle und seiner Verantwortung bewusst ist. Wir sind dazu bereit. Auf den Dialog mit Ihnen freut sich Vorwort 07 Erkenntnisinteresse: Orientierung schaffen in der Diskussion um Bürgerbeteiligung Die Diskussion um Bürgerbeteiligung bei Infrastruktur- und Großprojekten nimmt seit geraumer Zeit eine exponierte Stellung in der öffentlichen und politischen Debatte ein. Projekte wie Stuttgart 21 oder jüngst das Nein der Bevölkerung zur geplanten neuen Startbahn am Flughafen München rücken dieses Thema immer wieder in den Fokus. Und fast schon reflexartig haben sich nach Vorlage des Entwurfs für den ersten nationalen Netzentwicklungsplan Ende Mai 2012, der eine wichtige Grundlage für den weiteren Ausbau der Übertragungsnetze im Rahmen der Energiewende ist, in einzelnen Regionen Bürgerinitiativen gebildet. 10 METHODIK Hat sich Deutschland tatsächlich zur „Dagegen-Republik“ entwickelt? Was zeichnet die aktuellen Proteste aus? Wie gehen Vorhabenträger damit um? Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Beteiligten – Unternehmen, Genehmigungsbehörden, Politik, Medien, Bürgerinitiativen/NGOs, betroffene Bürger – in diesem Prozess, welche Verantwortung tragen sie? Wie kann Bürgerbeteiligung bedarfsgerecht und zielführend gestaltet werden? Dies sind nur einige der Fragen in der Debatte über Protestkultur, Partizipation und Bürgerbeteiligung, die sich in den letzten Monaten dynamisch entwickelt hat. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Diskussion rund um das Thema Bürgerpartizipation aus verschiedenen gesellschaftlichen Blickwinkeln zu beleuchten und Orientierung zu schaffen. Dabei umfasst Bürgerbeteiligung ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Konkret versteht man unter dem Begriff die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen und Planungsprozessen. Neben formellen Beteiligungsmöglichkeiten wie der direkten Demokratie oder der im Verwaltungsrecht vorgesehenen Bürgerbeteiligung – etwa in der Bauleitplanung – finden auch immer mehr informelle Formen der Beteiligung Anwendung. Diese reichen von Bürgerpanels und Internetteilhabe über runde Tische und Mediationen bis hin zu Planungszellen. Es geht deshalb nun für alle Seiten darum, an einer besseren Umsetzung der Bürgerpartizipation zu arbeiten und sie vor allem zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Form in die Projektplanung zu integrieren. Um den Prozess in den kommenden Jahren konstruktiv zu gestalten, ist es grundlegend wichtig, die Hintergründe der Bürgerbeteiligung zu verstehen und ein Gefühl für den Gestaltungsspielraum bei der Verwirklichung von Großprojekten zu bekommen. Erkenntnisinteresse 11 Methodisches Vorgehen Der Studie ging eine intensive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand im Zeitraum von Oktober 2011 bis August 2012 voraus. Öffentliche Stimmen und Positionen aus den Bereichen Politik, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft wurden genauso in die Analyse mit einbezogen wie wissenschaftliche Überlegungen, Studien und Befragungen. Das Kompendium, ein digitales Nachschlagewerk, umfasst eine Auflistung von Quellen rund um das Thema Akzeptanz von industriellen Großprojekten sowie Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung bei der Realisierung von Großprojekten in Deutschland. Die Haupterkenntnisse der inhaltlichen Auseinandersetzung werden in der Analyse behandelt und dargestellt. Zur Vertiefung und Untermauerung wird dort unter anderem auf aktuelle Expertenstimmen zurückgegriffen, die im Rahmen einer umfassenden Befragung gewonnen werden konnten. Hierzu wurden Leitfadeninterviews mit Vertretern aus verschiedenen relevanten Gesellschaftsbereichen geführt. Vor der Auswahl der zu befragenden Personen wurden im Vorfeld alle gesellschaftlichen Bereiche definiert, die 12 METHODIK für das Thema eine hohe Relevanz haben. Diese sind: Politik Non-Profit-Bereich (Umweltschutzorganisationen, Gesellschaftspolitik, Kirche etc.) Medien Wissenschaft Wirtschaft Verwaltung Insgesamt wurden Interviewanfragen an 58 Personen versendet. Final konnten im Rahmen der Untersuchung zwischen März und August 2012 37 Personen aus Politik, NonProfit-Organisationen, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung interviewt werden. Bei der Methode der Leitfadeninterviews waren keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben, so dass die befragten Personen frei berichten und kommentieren konnten. Im Kern der Interviews stand ein Gesprächsleitfaden, die Interviewten konnten das Gespräch jedoch um neue Themen und Gesichtspunkte erweitern. Der Fragenkatalog kam dabei je nach Verantwor- tungsbereich der befragten Person individuell zum Tragen, das heißt nicht allen Interviewten wurden alle Fragen gestellt. Die Dauer der Gespräche betrug zwischen 60 und 90 Minuten. Für die Veröffentlichung wurden die Interviews der besseren Lesbarkeit halber in Abstimmung mit den Interviewten auf das Wesentliche reduziert. Die Zitate in der Analyse stammen teilweise aus der Langversion der Gespräche und lassen sich deshalb nicht alle in den veröffentlichten Interviews wiederfinden. Die Befragung ist nicht repräsentativ und spiegelt individuelle Sichtweisen wider. Durchgeführt wurde die Untersuchung von Deekeling Arndt Advisors in Communications GmbH im Auftrag von RWE. Aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Bürgerbeteiligung gingen insbesondere vier Themenfelder hervor, die sich als erkenntnisleitend für die vorliegende Untersuchung erwiesen und als strukturelle Grundlage für den Interviewfragebogen fungierten. Dabei handelt es sich um die folgenden Themen: Vermessung der gegenwärtigen Protestkultur Dieser Themenkomplex hat das Ziel, die durch Stuttgart 21 in den Fokus gerückte aktuelle Protestkultur zu analysieren. Es wird den übergeordneten Fragen nachgegangen, woher die Proteste rühren und wodurch sie sich auszeichnen. Energiewende: Widersprüche und Friktionen Auch im Kontext der Energiewende spielt die Beteiligung der Bürger immer wieder eine Rolle. Ziel dieses Komplexes ist es, dieses Thema sowie die mit der Energiewende im Allgemeinen verbundenen Herausforderungen zu beleuchten. Meinungsbildung und Teilhabe im digitalen Zeitalter Dieser Fragenkomplex soll Aufschluss darüber geben, welche Rolle die (digitalen) Medien in der Protestbewegung einnehmen und wie sie diese beeinflussen. Darüber hinaus werden die Anforderungen an die Kommunikation seitens der beteiligten Akteure aufgezeigt und diskutiert. Chancen und Grenzen von mehr Bürgerbeteiligung Abschließend soll ein Bild dessen gezeichnet werden, wie Bürgerteilhabe konkret umgesetzt werden kann und welche Chancen und Grenzen sie mit sich bringt. Diese vier Themenfelder finden auch in der folgenden Analyse in erweiterter Form Niederschlag. Methodisches Vorgehen 13 Zusammenfassung: Schlüsselerkenntnisse der Untersuchung Mehr Bürgerbeteiligung: ein Gewinn für Deutschland – und eine Notwendigkeit für die Energiewende Die Debatten und praktischen Bemühungen um Partizipation, die gegenwärtig allerorten in Deutschland zu beobachten sind und die sich in einem bemerkenswerten politischen Aktionismus äußern, gewinnen im Angesicht der Energiewende und des damit einhergehenden Netzausbaus enorm an Bedeutung. Deutschland wird diese große Zukunftsherausforderung nur meistern, wenn es sich eine neue Dialogund Beteiligungskultur aneignet. Denn für den Umbau der Energiesysteme hegen die Bundesbürger zwar viel Sympathie. Doch so sehr sie sich für eine Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen begeistern, so wenig sind den Menschen offenbar bislang die faktischen Zusammenhänge und tatsächlichen Konsequenzen dieser „dritten industriellen Revolution“ (Rifkin 2011) bewusst. Die Energiewende 16 IN KÜRZE bringt zwangsläufig eine Flut von Großprojekten mit sich. Wenn unser Land dieses ehrgeizige Vorhaben bewältigen will, ist aber nicht allein über die Beeinträchtigungen zu verhandeln, die der Einzelne durch mehr Windräder oder neue Stromtrassen wird erdulden müssen. Es wird auch darüber zu reden sein, welche Erwartungen die Gesellschaft an den Wirtschaftsstandort Deutschland hat und welche finanziellen Lasten sie bereit ist, auf sich zu nehmen für das große gemeinschaftliche Ziel der Energiewende. Die aktuelle Partizipationsdebatte ist also einerseits getrieben von der Einsicht, dass die Energiewende ohne einen intensiven Bürgerdialog nicht zu machen ist. Zugleich ist sie nach Einschätzung vieler Experten die Antwort auf ein grundsätzlich erstarktes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. Bürger sind demnach heute eher bereit als früher, Vorhaben zu hinterfragen und ihre Bedenken öffentlich zu artikulieren. Partikularinteressen werden den Beobachtungen der Fachleute zufolge vor allem von Anrainern großer Infrastrukturprojekte sehr vital vertreten. Weil das Veto der Bürger zur Normalität geworden sei, werde auch der Protest auf der Straße zur gutbürgerlichen Praxis, analysieren Zusammenfassung 17 die Experten. Nach ihrem Dafürhalten sind Demonstrationen heutzutage gesellschaftlich akzeptiert. Sie gelten je nach Blickwinkel als Ausdrucksform eines informierten und emanzipierten Bürgertums oder auch einer auf Besitzstandswahrung ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft. Wer gegen ein geplantes Vorhaben protestiert, so die vorherrschende Sichtweise, sei kein Egoist, sondern verleihe seiner persönlichen Sorge über einen ihm drohenden Nachteil Ausdruck und nehme schlichtweg ein demokratisches Recht wahr. Dass der Protestbürger sich zunehmend unbeeindruckt davon zeigt, wenn ein Projekt bereits einen behördlichen Genehmigungsstempel trägt, sollten Planer daher als Realität anerkennen, so die Empfehlung der Experten. Dieser „zivile Ungehorsam“ ist nach ihrem Verständnis zunächst einmal natürliches Merkmal einer lebendigen und im positiven Sinne streitbaren Demokratie. Den Widerstand wollen die Befragten daher auch nicht als Vorboten einer drohenden gesellschaftlichen Revolte oder gar des Untergangs unseres repräsentativen 18 IN KÜRZE Staatssystems gedeutet wissen. Wohl aber als Hinweis darauf, dass in unserer Gesellschaft gewisse Übereinkünfte neu ausbalanciert werden müssen. Nach Meinung vieler Fachleute sind Vorhabenträger gut beraten, sich von der Sichtweise zu lösen, dass eine Planung, die auf dem Papier legal ist, automatisch auch in den Augen der übrigen Gesellschaft rechtens ist. Die Legitimität eines Großvorhabens lasse sich heute nicht mehr allein mittels Paragraphen bemessen oder gar verargumentieren, so ein mehrfach vertretener Standpunkt. Sie berechne sich stattdessen zu einem Gutteil immer auch aus der kritischen Resonanz der betroffenen Öffentlichkeit auf das Projekt. Das Ringen aller beteiligten Parteien um eine Lösung, die nicht nur juristisch wasserdicht, sondern auch gesellschaftlich konsensfähig ist, werde somit zur Pflichtübung jeder Vorhabenplanung. Proteste sind aber nicht allein durch persönliche Interessen der Bürger motiviert, sondern gedeihen in Deutschland noch auf einem anderen Nährboden. Sie werden auch dadurch gespeist, dass die Menschen sich zunehmend entfremdet fühlen von den Verantwortungsträgern des Gemeinwesens. Ihnen ist das Vertrauen abhandengekommen, sowohl in die Politik als auch in große Unternehmen, diagnostizieren Experten wie empirische Untersuchungen. Beiden begegnen Bürger mit zunehmender Skepsis. In gleichem Maße wie die Unzufriedenheit mit den politischen und ökonomischen Eliten wächst offenbar das Bedürfnis der Menschen, über Planungen mitzuentscheiden und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Latente Zweifel daran, dass es den Vorhabenträgern tatsächlich um Gemeinwohlinteressen geht, sind eine belegte und nicht zu unterschätzende Triebfeder des Widerstands – und damit auch der aktuellen Partizipationsdebatte. Stuttgart 21 hat nach Auffassung vieler Experten vor Augen geführt, dass es bei der Auseinandersetzung nicht unbedingt nur um das Projekt geht. Stattdessen entzünden sich an derartigen Großvorhaben offensichtlich auch grundlegende ungelöste Konflikte unserer Gesellschaft. Dazu gehört wissenschaftlichen Erhebungen zufolge insbesondere das Gefühl der Bürger, dass Politiker über ihre Köpfe hinwegregieren und Unternehmen nur ihre Profitinteressen verfolgen. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass die Gegner von Großprojekten im Kampf um die Sympathien der Bürger und die Deutungshoheit über ein Projekt häufig die Nase vorn haben. Das Ansehen von NGOs in der Bevölkerung, so darf aus den Ausführungen der Experten geschlussfolgert werden, ist schlichtweg auch deshalb so hoch, weil sich das Vertrauen in die Vorhabenträger auf einen dramatischen Tiefpunkt zubewegt. Diese Polarisierung wiederum führt häu- fig zu regelrechten Frontstellungen zwischen Projektinitiatoren auf der einen und Widersachern auf der anderen Seite – eine Situation, in der ein konstruktiver Diskurs kaum mehr möglich scheint. Kann mehr Bürgerbeteiligung dazu beitragen, solche Eskalationen zu vermeiden? Die Studie antwortet darauf mit einem klaren Ja. Bürgerteilhabe ist ein lohnenswertes Unterfangen – für das konkrete Projekt, aber auch für unser Gemeinwesen. Sicher, Bürger zu beteiligen ist kein Allheilmittel. Nie wird man alle Betroffenen von einem Vorhaben überzeugen können. Aber praktizierte Partizipation vergrößert Handlungsspielräume – und verkleinert sie nicht etwa, wie noch immer von vielen Projektverantwortlichen befürchtet wird. In Beteiligung zu investieren, kann Prozesse unter dem Strich beschleunigen und zu mehr Planungssicherheit verhelfen, lautet eine der zentralen Erkenntnisse dieser Untersuchung. Denn wo Konflikte frühzeitig diskutiert und aus dem Weg geräumt werden, kann Akzeptanz wachsen und erhöhen sich die Chancen für einen Konsens. Auf diese Weise können Projektinitiatoren auch dem medialen Trend zur Vereinfachung und Skandalisierung entgegenwirken, der die öffentliche Konfrontation häufig noch anfacht und der von mehreren Experten kritisiert wird. Bürgerbeteiligung ist damit auch ein Gewinn für unsere Demokratie, die schließlich davon lebt, dass im konstruktiven, bisweilen auch mühsamen Diskurs über das Für und Wider mehrheitsfähige Entscheidungen und damit die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft hergestellt werden. Wie aber ist Teilhabe in der Praxis zu bewerkstelligen? Die möglicherweise ernüchternde Erkenntnis lautet: Patentrezepte für erfolgreiche Bürgerbeteiligung gibt es nicht. Aber es gibt – und das ist die gute Nachricht – doch eine große Übereinstimmung in wesentlichen Punkten. Zum einen muss die bestehende Beteiligungspraxis dringend reformiert werden. Denn den hohen Anforderungen an eine Partizipation, wie sie heute verstanden und von den Bürgern eingefordert wird, genügen die derzeitigen Verfahren im Verwaltungsrecht nicht mehr. Daneben sollte Bürgerbeteiligung zum selbstverständlichen Bestandteil jeder Projektplanung werden. Partizipationsmaßnahmen sind kein PR-Posten, sondern sie sind unverzichtbare kalkulatorische Größe bei der Verwirklichung eines Großvorhabens. Beteiligung kann auch bedeuten, dass Bürger wirtschaftlich an einem Projekt partizipieren. Gleichwohl muss Beteiligung von einer neuen Qualität der Kommunikation flankiert werden. In der frühzeitigen, transparenten und ergebnisoffenen Einbeziehung der Bürger scheint dabei der Schlüssel zu mehr Akzeptanz zu liegen. Der Bürgerdialog muss Raum lassen für den aus- führlichen Austausch von Sachargumenten. Und er muss den Menschen gleichzeitig das Gefühl vermitteln, dass sie mit ihren Sorgen, Bedenken und eigenen Ideen zu einem Projekt gehört und ernst genommen werden. Bei dieser anspruchsvollen Aufgabe sind keineswegs nur die Unternehmen gefordert, auch die Politik ist in der Mitwirkungspflicht. Sie muss Position beziehen, die komplizierten Zusammenhänge erklären und den Bürgern offen die Perspektiven und den Preis der Energiewende für Deutschland aufzeigen. Last, not least lernen wir: Bürgerbeteiligung wird nicht von heute auf morgen Erfolge zeitigen. Unsere Gesellschaft hat unter den Vorzeichen der Energiewende gerade erst damit angefangen, sich wieder intensiver mit dem Thema Partizipation zu beschäftigen. Viele konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Beteiligungspraxis liegen bereits auf dem Tisch, die jetzt miteinander diskutiert werden müssen. Das gilt auch für die noch offenen Fragen. Wie repräsentativ sind Beteiligungsformate? Braucht Bürgerbeteiligung verbindliche Standards? Und wären mehr Volksabstimmungen über Großprojekte ein Gewinn oder ein Bremsklotz für Deutschland? Der Austausch darüber sowie über praktische Erfahrungen und Best-PracticeBeispiele, wie sie unter anderem bei den Konsultationen zum Netzausbau gesammelt werden, ist seinerseits wichtiger Baustein einer neuen Partizipations- und Dialogkultur, zu der auch die vorliegende Studie ihren Beitrag leistet. Zusammenfassung 19 Podien weiterhin mit großem Eifer darüber debattiert, wie Deutschland in Zukunft mit dem Thema Beteiligung umgehen will. Auf Augenhöhe: Vorhabenträger müssen sich im Dialog mit einer zunehmend emanzipierten und streitbaren Zivilgesellschaft behaupten Widerstand ist Konsens: Bürgerproteste sind als Form der politischen Auseinandersetzung heute weitgehend gesellschaftlich anerkannt 1 AUF EINEN BLICK Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation: Die Konjunktur der Bürgerbeteiligung Wenige andere Themen haben in den vergangenen Jahren einen solchen Aufschwung erlebt wie die Diskussion um Bürgerbeteiligung. Die Ereignisse rund um das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, aber auch das klare Nein der Bürger zum geplanten Ausbau des Flughafens München im Frühjahr 2012 haben die Verantwortlichen aufgerüttelt. Inzwischen trägt die intensive Partizipationsdebatte in der Praxis erste Früchte. Beim dringend notwendigen Ausbau der Energienetze soll nun aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und in Sachen Bürgerteilhabe vieles anders und besser gemacht werden. So sind die Bürger beim Netzausbau über konsultative Verfahren von Beginn an involviert und haben beispielsweise die Möglichkeit, ihre Einwände auch online einzureichen. Sehr wohl wissend, dass Erfolg oder Misserfolg der Energiewende nicht zuletzt davon abhängt, ob es gelingt, bei den Menschen Verständnis und Akzeptanz für die Transformationsmaßnahmen zu schaffen, genießt das Thema Bürgerbeteiligung in der Politik eine ausgesprochen hohe Aufmerksamkeit. Die Bundeskanzlerin rief eigens auf ihrer Hompage, der Wirtschaftsminister über einen Online-Link zur Beteiligung an den aktuellen Konsultationsverfahren zum Netzausbau auf. Bereits im Frühjahr 2012 hatte Verkehrsminister Peter Ramsauer ein „Handbuch Bürgerbeteiligung“ und sein Amtskollege des Innern, HansPeter Friedrich, einen neuen Gesetzentwurf zur frühzeitigen Einbindung der Öffentlichkeit aus der Taufe gehoben (vgl. hierzu auch Kapitel 9 S.100 ff.). Unterdessen wird landauf, landab auf Fachtagungen wie auf öffentlichen 22 ANALYSE Beteiligung lohnt sich: Partizipation ist ein Gewinn für die Gesellschaft und eine Bereicherung der parlamentarischen Demokratie Akzeptanz durch Teilhabe: Ein Ausbau der Bürgerbeteiligung kann Planungsprozesse verbessern und Vorhabenträgern neue Handlungsspielräume eröffnen Ohne Alternative: Erfolgreich praktizierte Bürgerteilhabe ist notwendig, um Deutschland für große Zukunftsherausforderungen zu wappnen Kritisches Hinterfragen wird zur Norm Zivilen Widerstand insbesondere gegen Groß- und Infrastrukturprojekte hat es in Deutschland bereits in der Vergangenheit gegeben. Auch hat die Einbindung von Bürgern in die Planungsprozesse großer Bauvorhaben etwa bei der Bauleitplanung durchaus Tradition. Neu ist allerdings, mit welcher Intensität und Priorität das augenscheinlich erstarkende Bestreben der Bürger nach mehr Mitwirkung gegenwärtig in der Breite der Gesellschaft und auch von den Medien behandelt wird. Video-Podcast der Kanzlerin: „Es lohnt sich, die Bürger zu beteiligen.“ Wie kommt es, dass dem Thema seit geraumer Zeit eine solche Aufmerksamkeit zuteilwird? Hängt es möglicherweise damit zusammen, dass die deutsche Zivilgesellschaft insgesamt streitbarer geworden ist? Erfahrungen vor allem bei der Durchsetzung großer Bauprojekte legen das zumindest nahe. So nehmen Bürger heute für sich in Anspruch, auch gegen solche Vorhaben zu protestieren, die bereits durch Parlamente und Behörden abgesegnet wurden. Im Gegensatz zu früher sind ordnungsgemäße Genehmigungen allein kein Garant mehr für die „geräuschlose“ Durchführung von Infrastrukturprojekten. Nicht selten melden Bürger erst im Nachhinein ihre Bedenken an, fordern 1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 23 dann aber umso vehementer Mitwirkung und Mitbestimmung ein. Eine Allensbach-Studie bestätigt dieses Phänomen: Demnach äußern 68 Prozent der Bevölkerung Verständnis für Proteste gegen Bauprojekte, die bereits die ordentlichen Genehmigungsverfahren durchlaufen haben (Institut für Demoskopie Allensbach, 2011: 7). Eine Lektion, die mancher Vorhabenträger erst noch lernen muss, die aber in einem diskursiven Gemeinwesen als Realität akzeptiert werden sollte, wie Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz allen Beteiligten nahelegt: „Man darf nicht erschrocken sein, wenn nach einer ordnungsgemäßen, unter großen Mühen veranstalteten und öffentlich auch wahrgenommenen Planungsbeteiligung am Ende ein Planungsbeschluss steht – und die Diskussion über das Vorhaben trotzdem noch einmal von Neuem beginnt. So ist das eben.“ S. 258 Für den Bundestagsabgeordneten Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen ist ein solches Verhalten der Bürger durchaus plausibel: „Selbst wenn man einen Planfeststellungsbeschluss durch die Gerichte durchgefochten hat, ist es legitim, dass Menschen ein Projekt weiter hinterfragen, denn Bedingungen ändern sich oft sehr schnell.“ S. 214 Krischer hält diese Erkenntnis für eine der wichtigsten Erfahrungen aus Stuttgart 21, auf die an anderer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird (vgl. Kapitel 6 S. 69 ff.). So viel steht fest: Der strittige Bahnhofsneubau hat eine breite gesellschaftspolitische Debatte zur Bedeutung und Gestaltung bürgerlicher Partizipation ausgelöst, die bis heute fortdauert – wenngleich sie inzwischen unter veränderten Vorzeichen geführt wird (vgl. Kapitel 2 S. 29 ff.). Aus der Mitte der Gesellschaft Ob, wie im Zusammenhang mit Stuttgart 21 vielfach unterstellt wurde, die Quantität der Proteste in Deutschland tatsächlich zugenommen oder ob sich nur ihre Qualität und Ausdrucksform verändert hat, darüber sind sich die befragten Experten allerdings keineswegs einig. Eine Mehrheit ist der Auffassung, dass bürgerlicher Widerstand an sich nichts Neues ist. „Es gab auch schon in der Vergangenheit Widerstand im großen Maßstab. Denken Sie an Wyhl, Brokdorf, die Startbahn West in Frankfurt oder Gorleben“, sagt etwa Regine Günther, Leiterin des Fachbereichs Klima- und Energiepolitik des WWF. S. 179 Und auch Elisabeth Schick, Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF, betont, dass es „immer schon eine Herausforderung war, große Infrastrukturprojekte oder auch Industrieanlagen zu realisieren. Die Menschen im Vorfeld aufzuklären und mitzunehmen, war auch vor Stuttgart 21 wichtig.“ S. 249 Eine Einschätzung, die von vielen Interviewpartnern geteilt wird. Dass es Proteste schon immer gegeben hat, bestätigt auch Professor Dieter Rucht. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts habe es beispielsweise bürgerschaftlichen Widerspruch gegen den Bau von Wasserkraftwerken gegeben. Allerdings ist der renommierte Konfliktforscher überzeugt, „dass 24 ANALYSE Proteste insgesamt konsensfähiger geworden sind und weithin als normales Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert werden. Durch die Verschiebung der Protestbeteiligten, die stärker aus der gesellschaftlichen Mitte und nicht nur von Randgruppen oder objektiv benachteiligten Gruppen kommen, ist der negative Nimbus von Protestierenden als Außenseiter, Querulanten, Ideologen oder Radikale sukzessive in den Hintergrund gedrängt worden“, analysiert der Sozialwissenschaftler. „Das erleichtert es dann auch eher protestfernen Menschen zu demonstrieren.“ S.245 Zu einem ähnlichen Befund kommt Professor Frank Brettschneider. Zwar sagt auch er, Proteste habe es hierzulande schon immer gegeben, und verweist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss, der vor 30 Jahren die Bundesbürger auf die Straßen trieb. Doch gleichzeitig räumt der Kommunikationstheoretiker mit Blick auf Stuttgart 21 ein, dass die Basis für diese Proteste „nicht mehr so homogen ist wie in den achtziger Jahren.“ Die „Rahmung“ der Proteste, wie Brettschneider es nennt, habe sich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten geändert. S.144 Folgt man den beiden Wissenschaftlern, lässt sich also eine Verschiebung der Proteste in die Mitte der Gesellschaft hinein beobachten. Eine Tatsache, die gleichfalls die öffentliche Konjunktur des Themas erklären könnte: Indem die Ausdrucksform des zivilen Demonstrierens das bürgerliche Zentrum erreicht, rücken auch die Debatten um Protest- und Beteiligungskultur stärker in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. In eine ähnliche Richtung weisen die Einschätzungen des SPD-Bundestagsabgeordneten Sören Bartol. Wie der Fachmann für Infrastrukturfragen ausführt, würden Proteste heute von den meisten Leuten als ihr Bürgerrecht empfunden; entsprechend akzeptiert seien sie in der Bevölkerung. „Das Verständnis für Proteste geht heute in der Gesellschaft weit über die eigene Betroffenheit hinaus.“ S.136 Das zeigt auch die bereits zitierte Allensbach-Studie, derzufolge ein Großteil der Bevölkerung bürgerlichen Protesten gegen große Bauprojekte grundsätzlich verständnisvoll begegnen (vgl. Abb. 1.1). Eine Repräsentativumfrage bestätigt die allgemeine Sympathie und das Verständnis für Bürgerproteste, attestiert aber einer Mehrheit der Bürger, dass diese sich nicht im „Nein“ eingerichtet hat (Konrad Adenauer Stiftung 2011: 2f.). Verständnis für den „Widerstand der Betroffenen“ – auch gegen Mehrheiten Es haben Verständnis für Proteste von Anwohnern und für Versuche, Projekte zu verhindern, auch wenn die Mehrheit der Bürger das Projekt befürwortet: 83 % 76 78 % % 64 % gegen eine Hochspannungsleitung gegen eine Hochspannungsleitung, die mit Ökostrom versorgt und die von der Mehrheit befürwortet wird gegen eine Umgehungsstraße gegen eine Umgehungsstraße, die vom Durchgangsverkehr entlastet und von der Mehrheit befürwortet wird — Abb. 1.1 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, 2011 Mehr Bürgerbeteiligung? Ja, bitte! So unterschiedlich die Bewertungen der Motivation, Resonanz und der heutigen Ausprägungen ziviler Proteste auch sein mögen (zu Details vgl. Kapitel 4 S.48 ff.) – in einer Grundsatzfrage sind sich nahezu alle Experten einig: Bürger noch stärker als bislang an der Planung großer Vorhaben zu beteiligen, ist eine Notwendigkeit in unserer Gesellschaft. Bittet man um eine pauschale Abwägung von Nutzen und Risiken aus Perspektive von Wirtschaft 1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 25 vorstand der Deutschen Bahn AG, hält Instrumente wie Volksentscheide nicht für das Mittel der Wahl, denn „bei einem Volksentscheid fällt am Schluss immer eine binäre Entscheidung mit Ja oder Nein. Das ist keine Kompromiss-, sondern eine polarisierende Lösung mit einem Gewinner und einem Verlierer.“ Kefer will daher in aller Regel der parlamentarischen Demokratie und Diskussion den Vorzug geben. S.199 Aus Sicht von Rolf Martin Schmitz, Chief Operating Officer und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der RWE AG, ist die Einführung von mehr Bürger- und Volksentscheiden keine Lösung. „Zum einen ist das Risiko von Populismus sehr groß. Zudem haben wir in Deutschland das System der repräsentativen Demokratie, das sich in den letzten Jahrzehnten bewährt hat.“ S.255 Dem stimmt Hildegard Müller zu. Man dürfe nicht vergessen, „wie gut unsere Demokratie funktioniert“, findet die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). S.231 und Politik, hebt eine deutliche Mehrheit der Befragten explizit auf die Chancen der Partizipation ab, die bei weitem überwiegen. Bürgerbeteiligung könne dazu führen, dass Konflikte frühzeitig erkannt und vernünftige Lösungen gefunden werden, meint etwa Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. „Das ist letztlich eine Erweiterung des Handlungsspielraums der Politik und der Wirtschaft.“ S.127 Ähnlich die Einschätzung von Roger de Weck, Generaldirektor der Schweizerischen Radiound Fernsehgesellschaft: Politik und Wirtschaft verlören zwar kurzfristig, aber „gewinnen langfristig sehr viel mehr Handlungsspielraum“. S.155 Matthias Heck, Senior Manager bei der australischen Investmentbank Macquarie, spricht für viele seiner Experten-Kollegen, wenn er sagt: „Politik und Wirtschaft gewinnen durch Bürgerbeteiligung auf jeden Fall an Akzeptanz.“ S.186 Der gesellschaftliche Mehrwert von Bürgerbeteiligung scheint also unstrittig. Einen interessanten Denkanstoß zur Dialektik des Themas liefert indes Michael Bauchmüller; der Redakteur der Süddeutschen Zeitung gibt zu bedenken, dass das wohlfeile Credo pro Bürgerbeteiligung in der Konsequenz immer auch die Bereitschaft zur Niederlage einschließen muss. „Jeder, der Bürgerbeteiligung will, nimmt auch in Kauf, dass sie natürlich Projekte verhindern kann. Das ist eben die andere Seite der Medaille. Akzeptanz hat in Deutschland immer ein bisschen Einbahnstraßencharakter. Man will sie immer nur bei den anderen erzeugen. Der Vorhabenträger ist selten in der Lage, das zu akzeptieren.“ Wissenschaftler wie Dieter Rucht und Frank Brettschneider weisen direktdemokratischen Instrumenten denn auch nur eine sehr beschränkte Rolle zu. Bürger- und Volksentscheide sollten nicht routinemäßig mitlaufen, sondern seien ein „außergewöhnliches Instrument für politisch schwer lösbare Konf likte“, meint Ersterer. S.247 Für Brettschneider ist das Rufen nach Volksentscheiden ohnehin nur „ein Ref lex darauf, dass man mit der Art der Entscheidungsfindung in den Parlamenten unzufrieden ist“. Würden diese anders verlaufen, wäre wahrscheinlich auch der Ruf nach Volksentscheiden nicht so laut, mutmaßt der Kommunikationswissenschaftler. S.147 Auf dem Weg in die plebiszitäre Gesellschaft? Partizipation und Bürgerbeteiligung samt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber sind nach allgemeinem Dafürhalten Ausdruck eines lebendigen und sich fortentwickelnden Gemeinwesens. Wer mit Experten über diese Themen debattiert, findet sich schon bald in einer theoretischen Auseinandersetzung über das Demokratieverständnis in Deutschland wieder. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik mehr direktdemokratische Elemente braucht, um in Zukunft den gewachsenen Ansprüchen an Bürgerbeteiligung gerecht zu werden. Laut einer Umfrage wünscht sich eine große Mehrheit von 81 Prozent der Deutschen mehr Beteiligungs- und Mitsprachemöglichkeiten im politischen Prozess (Bertelsmann Stiftung 2011:11). 83 Prozent halten dies für ein Mittel, um das Interesse der Menschen an Politik und Demokratie zu fördern (vgl. Abb. 1.2). Helmut Klages stellt aber klar: „Es geht nicht darum, die Entscheidungsverhältnisse völlig zu verändern. Unsere parlamentarische Demokratie in eine Basisdemokratie zu verwandeln, kann nicht das Thema sein“, meint der emeritierte Professor für empirische Sozialwissenschaften. Auch Volker Kefer, Technik26 ANALYSE Kontrapunkt: für ein Miteinander beider Demokratieformen 4 Kann Ihrer Meinung nach durch mehr direkte Beteiligung an politischen Entscheidungen das Interesse der Menschen an Politik und Demokratie gefördert werden? JA 83% NEIN 16 % Weiß nicht 1% — Abb. 1.2 Quelle: Spiegel/TNS Emnid, 2012 Im Gegensatz dazu befürwortet der bayerische Staatsminister des Innern, Joachim Herrmann, ausdrücklich ein konstruktives Miteinander von repräsentativer und unmittelbarer Demokratie. Der CSU-Politiker fordert: „Wir sollten uns von dieser sehr theoretischen Diskussion über das konstruierte Gegeneinander von repräsentativer und direkter Demokratie lösen.“ Dass beide Systeme oft als Alternativen gegenübergestellt werden, hält Herrmann für ebenso falsch wie die Auffassung, mehr unmittelbare Plebiszite würden die repräsentative Demokratie aushöhlen. Ganz im Gegenteil entsprächen diese dem Grundgedanken der Demokratie. Das bedeute nicht, dass man wieder zur attischen Demokratie zurückkehren sollte, schließlich sei die repräsentative Demokratie akzeptiert. „Aber es gibt eben ab und zu bestimmte Themen, bei denen Bürger selbst entscheiden wollen. Und dann sollte dies auch möglich sein“, begründet der Unionspolitiker sein Plädoyer für ein stärkeres Miteinander von repräsentativen und direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten. S.191 1 Mehr Handlungsspielraum durch Partizipation 27 Geteilt wird Herrmanns Auffassung vom Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann. Er hält die Einführung einer direkten Demokratie in Deutschland zwar für keine Alternative. Trotzdem begrüßt er neben dem Ausbau informeller Beteiligungsmöglichkeiten auch mehr direkte Abstimmungen: „Wir können von beidem etwas mehr gebrauchen, ohne dass wir die grundsätzliche Kompetenz der Parlamente untergraben. Die Grundlage ist die repräsentative Demokratie. Unsere Demokratie sollte aber durch informelle und formelle Formen der Bürgerbeteiligung ergänzt werden.“ S. 266 Schweizer Modell: Sachkompetenz durch Konsultation Kann Deutschland in puncto direkter Demokratie von der Schweiz lernen? Die meisten Experten sind bei dieser Frage eher zurückhaltend und vertreten die Ansicht, dass beide Länder mit ihren historisch gewachsenen Systemen nicht zu vergleichen seien. Das gilt auch für den Schweizer Roger der Weck. Pauschal will der Medienmanager weder dem deutschen repräsentativen noch seinem heimischen direktdemokratischen Modell den Vorzug geben, jedes Land habe schließlich seine eigene Tradition. Einen Vorteil der direkten Demokratie führt de Weck aber doch ins Feld: „Wenn Bürger regelmäßig konsultiert werden, hat das einen pädagogischen Effekt. Ein Teil der Bevölkerung erwirbt dank der ständigen Auseinandersetzung mit Sachfragen eine besonders hohe demokratische Kompetenz.“ S. 152 Es bleibt festzuhalten: Ein Mehr an Bürgerbeteiligung kann nach Auffassung fast aller Fachleute die Planungsprozesse in Deutschland verbessern, Handlungsspielräume von Politik und Unternehmen vergrößern und mehr Akzeptanz für künftig anstehende große Infrastrukturprojekte schaffen. Hier gibt es offenbar noch Nachholbedarf in der deutschen Politik und Gesellschaft. Auch wenn das bestehende repräsentative Demokratiemodell im Grundsatz nicht infrage gestellt wird, ist offenbar ein kritischer Diskurs über die derzeitige Dialog- und Beteiligungspraxis notwendig. Nahezu alle Experten sehen darin einen Weg, um den berechtigten Erwartungen der Bürger an Teilhabe und Transparenz sowie den großen Zukunftsherausforderungen, vor denen das Land steht, besser gerecht zu werden. Dazu zählt allen voran die Energiewende, der sich die Untersuchung im folgenden Kapitel widmet. 2 Beteiligungskultur: Energiewende und Netzausbau werden zum neuen Motor der Debatte Waren es, wie eingangs dargestellt, zunächst vor allem die Geschehnisse rund um Stuttgart 21, die den Anstoß zur aktuellen Partizipationsdebatte gaben, verleiht ihr inzwischen ein weit bedeutsameres Thema Auftrieb. Die anstehende Energiewende samt dem damit einhergehenden Ausbau der Stromnetze ist für Deutschland nicht allein eine technologische Herausforderung. Sie ist vielmehr „eine der ganz großen Kernfragen“ unseres Landes, wie es der SPD-Politiker Sören Bartol ausdrückt. Der Umbau unserer Erzeugungssysteme hin zu einer in Zukunft ausschließlich regenerativen und stärker dezentral organisierten Energieversorgung gleicht einer industriellen Revolution. Mit entsprechend großem Nachdruck treiben derzeit Politik, Unternehmen und Verbände das Thema voran. Um die Energiewende zu beschleunigen, bestellte Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Mai 2012 die Ministerpräsidenten der Länder zu einem Energiegipfel ins Kanzleramt ein. Nur wenige Tage später veröffentlichten die Übertragungsnetzbetreiber ihren Netzentwicklungsplan, und die Öffentlichkeit war zunächst in einem ersten Schritt aufgerufen, bis Mitte Juli zum ersten Entwurf des Netzentwicklungsplans Stellung zu nehmen. Kritisches Monitoring Interessenverbände und Gewerkschaften flankieren derweil den Fortgang der Energiewende durch eigene Erhebungen. So legten die Deutsche Energie28 ANALYSE 2 Beteiligungskultur 29 Agentur (dena) und die Beratungsgesellschaft Ernst & Young Anfang Juni 2012 erstmals ihren Deutschen Energiewende-Index (DEX) vor. Die Befragung, die quartalsweise durchgeführt wird, liefert ein Stimmungsbild zur Lage der Energiewende aus Sicht der deutschen Wirtschaft (vgl. Abb. 2.1). Zeitgleich hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Kompetenzinitiative Energie ins Leben gerufen. Die Initiative, deren zentrale Bausteine drei aufeinander aufbauende Studiensegmente sind, versteht sich gleichfalls als unternehmerisches Monitoring der Energiewende. Eine ähnliche Intention verfolgt die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Mit ihrem ebenfalls im Juni 2012 vorgestellten Energie-Kompass, für den neben Unternehmen auch die Bevölkerung befragt wird, will die Gewerkschaft in regelmäßigen Abständen überprüfen, inwieweit die formulierten Zielsetzungen der Energiewende auch tatsächlich erreicht werden. 5 Stimmung der Akteure und Betroffenen der Energiewende in Deutschland nach dem Deutschen Energiewende-Index (DEX) im 2. Quartal 2012 100,80 insgesamt (DEX-Wert, 0 = sehr negativ bis 200 = sehr positiv) 95,90 Energieverbraucher 97,40 Netzbetreiber 100,60 Energieversorgungsunternehmen 105,70 Hersteller/Zulieferer Hohe Erwartungshaltung Deutschland, so mag es der Beobachter wahrnehmen, scheint sich also derzeit sehr energisch dem ehrgeizigen politischen Vorhaben Energiewende zu widmen. Die Zustimmung von Bevölkerung und Unternehmen zur Energiewende sei auch nach einem Jahr ungebrochen, diagnostiziert die IG BCE in der Erstumfrage ihres Energie-Kompasses. Zurückhaltung ist dagegen bei der Frage zu spüren, ob auch die Umsetzung bereits auf gutem Wege sei. So 108,30 Investoren 121,30 Politik/Verbände — Abb. 2.1 Quelle: dena/Ernst & Young, 2012 Nagelprobe Energiewende: Der anstehende Umbau der Versorgungssysteme und der Netzausbau stellen die bisherige Diskurs- und Beteiligungspraxis bei Großprojekten auf den Prüfstand AUF EINEN BLICK Nachholbedarf: Es gibt in Deutschland viel Sympathie für die Energiewende – aber in der Breite der Gesellschaft noch kein ausreichendes Verständnis für deren komplexe Zusammenhänge Kraft des Dialogs: Eine ehrliche Debatte über die Notwendigkeiten der Energiewende kann dazu beitragen, bestehende Konflikte aufzulösen Verantwortung wahrnehmen: Politik wie Unternehmen müssen als Vorhabenträger die Energiewende und ihre Folgen noch besser erklären sind laut IG BCE-Umfrage nur 23 Prozent der Bürger und 13 Prozent der Firmen damit zufrieden, wie die Bundesregierung die Energiewende auf den Weg bringt (IG BCE 2012: 17). Wie aus dem DEX hervorgeht, hat die deutsche 30 ANALYSE Wirtschaft mit Blick auf die Energiewende insbesondere Bedenken hinsichtlich der rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen, der Wirtschaftlichkeit und der Versorgungssicherheit (Deutscher Energiewende-Index 2012, 3. Quartal 2012: 2). Vieles von dem, was der Sommer 2012 an Entwicklungen und Erkenntnissen hervorgebracht hat, deckt sich mit den bereits vorweg erhobenen Einschätzungen der Experten. Obwohl die Energiewende ein Langfristthema ist, wird deutlich, dass die Erwartungshaltungen an ihr Gelingen schon heute extrem hoch sind. Die zu verhandelnden Fragen berühren dabei ganz grundlegende Aspekte: Wie bewältigen wir den dringend notwendigen Netzausbau? Welche Erwartungshaltung haben wir eigentlich gegenüber der Energiesicherheit? Und welche materiellen und immateriellen Lasten sind wir (als Verbraucher, als Gemeinwesen, als Wirtschaftsstandort) überhaupt bereit auf uns zu nehmen für das mittelfristige Ziel einer klimaneutralen Stromversorgung? Das sind nur einige von vielen drängenden Fragen, über die in der Gesellschaft im Zusammenhang mit der Energiewende debattiert werden muss und in die die Bevölkerung in geeigneter Form mit einzubeziehen ist. Dringender Gesprächsbedarf Nicht wenige Experten sehen hier erheblichen Nachholbedarf. In vielen Interviews schwingt die Sorge mit, dass die Energiewende in ihrer ganzen Bedeutungsdimension noch gar nicht hinreichend bei den Menschen angekommen ist. So bezweifelt etwa CSU-Politiker Joachim Herrmann, dass die Bürger über die Konsequenzen schon restlos aufgeklärt seien. Vielen sei der Umbau der Netzstrukturen mit Überlandleitungen oder die Notwendigkeit, Reservekapazitäten zu schaffen, für den Fall, dass der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, nicht bewusst. S.188 BASF-Managerin Elisabeth Schick führt an, den Menschen seien die physikalischen Zusammenhänge der Energiewende überhaupt noch nicht klar, es fehle hier an ganz grundsätzlichem Wissen. „Es gibt kaum Verständnis dafür, woher Strom kommt, wozu man neue Leitungen braucht und warum es problematisch ist, wenn man lange Wege mit Energie überbrücken muss.“ S.250 Verständnis für Eigeninteressen der Verbraucher Das nach Auffassung vieler Fachleute bislang noch mangelhaft ausgebildete Detailwissen zu den Erfordernissen und Auswirkungen der Energiewende könnte mit ein Grund dafür sein, dass im Verhalten der Verbraucher gewisse Widersprüche zu beobachten sind. Gemeint ist eine von vielen Experten 2 Beteiligungskultur 31 bestätigte Beobachtung: Zwar befürworten viele Bürger grundsätzlich die Abkehr von der Kernenergie und die Energiewende als abstrakte Ziele. Gleichzeitig setzen sie sich aber gegen konkrete Infrastrukturvorhaben wie Stromtrassen oder Windräder zum Teil heftig zur Wehr. Zudem sind sie laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage auch nicht bereit, für den Ausbau der erneuerbaren Energien höhere Kosten auf sich zu nehmen (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012, siehe Abb. 2.2). Die meisten Fachleute halten solche Reaktionen allerdings für ein allgemein menschliches und weniger für ein spezifisches Energiewende-Phänomen; sie bringen durchaus Verständnis für die Ambivalenzen der Bürger mit. Ähnlich wie Michael Vassiliadis schätzen dies auch andere Experten ein: „Wenn eine Autobahn nah an Wohnbebauung gebaut werden soll, gibt es dagegen auch Widerstände, obwohl man grundsätzlich Autobahnen befürwortet. Dieses Verhalten ändert sich nicht, nur weil es um die Energiewende geht.“ S. 261 Schließlich gebe es, um es mit Sören Bartol auszudrücken, „Interessenkonf likte nicht nur in Gesellschaften, sondern auch im Innern eines jeden Menschen“. S. 137 Sozialwissenschaftler Dieter Rucht hält die „Schelte auf die Egoisten, die zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Mallorca f liegen, aber keinen Flughafen vor ihrer Haustür haben wollen“ auch für eine wenig hilfreiche Simplifizierung und mahnt ein differenzierteres Bild der Verbraucher an. S. 246 Der Schweizer Medienmanager Roger de Weck zeigt im gleichen Zusammenhang ein gewisses Verständnis für das „ewige Dilemma zwischen langfristigen und kurzfristigen Interessen“. Eine Inkohärenz, die seiner Meinung nach allerdings nicht nur auf die breite Bevölkerung zutrifft. „Gerade die Eliten beziehungsweise das Establishment in Deutschland hat diesen Widerspruch vorgelebt. In weiten Teilen der Finanzwirtschaft überwiegen bis heute kurzfristige gegenüber langfristigen Überlegungen, obwohl die Krise jeden vernünftigen Menschen eines Besseren belehrt hat“, gibt de Weck zu bedenken. S.153 Bürgern wird Kompetenz attestiert Während ein Teil der Experten die Urteilskraft der Bevölkerung in Bezug auf die Energiewende in Zweifel zieht, zeigen insbesondere Vertreter der Umweltorganisationen durchaus Zutrauen in die Kompetenzen und die Konsensbereitschaft der Bürger. Sie sprechen den Verbrauchern heute schon die Fähigkeit zu, Folgen und Notwendigkeiten der Energiewende zu überblicken. Für den Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, Rainer Baake, ist die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien ein Beleg für die konstruktive Einstellung der Bürger zur Energiewende. S.124 Ähnlich schätzt das die Leiterin Klima- und Energiepolitik beim WWF Deutschland, Regine Günther, ein. Wie Baake argumentiert sie, man hätte den Ausbau der Erneu32 ANALYSE 6 Energiewende: große Unterstützung, geringe Zahlungsbereitschaft Sind Sie bereit, für den Ausbau erneuerbarer Energien höhere Energiepreise zu bezahlen? Weniger als 1750 Euro Haushaltsnettoeinkommen JA 27% NEIN 61% 1750 Euro bis 3000 Euro Haushaltsnettoeinkommen JA 28% NEIN 55% Mehr als 3000 Euro Haushaltsnettoeinkommen JA 41% NEIN 44 % — Abb. 2.2 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach/ FAZ-Grafik Walter, 2011 erbaren auf einen Anteil von heute 20 Prozent nicht erreichen können, wenn die Verbraucher nicht hinter dieser Entwicklung gestanden hätten. S.178 Auch Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz unterstellt den Bürgern einen realistischen Blick auf die komplexe energiepolitische Situation: „Die meisten Bürgerinnen und Bürger, die für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze sind, verstehen sehr wohl, dass das Folgen für sie persönlich haben kann“, glaubt der SPD-Politiker. S.259 Dialog als Schlüssel zur Akzeptanz Trotzdem unterstreichen selbst jene Experten, welche die Bevölkerung in Sachen Energiewende bereits für aufgeklärt halten, die Notwendigkeit einer adäquaten gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Große Einmütigkeit besteht darin, dass nur ein offener Dialog bestehende Konflikte aus dem Weg räumen kann. Die Menschen seien sehr wohl bereit, auch Einschränkungen hinzunehmen, fasst Grünen-Politiker Oliver Krischer die Meinung eines Großteils der Fachleute zusammen. „Die Frage ist immer nur, wie werden solche Projekte begonnen? Wenn die Bürger verstehen, warum eine bestimmte Entscheidung notwendig ist, dann sind sie auch bereit, Belastungen zu akzeptieren.“ S.212 In die gleiche Richtung geht die Einschätzung von Christoph Bals. Die Beteiligung von Bürgern, etwa beim Netzausbau, steigere prinzipiell die Akzeptanz; er schränkt aber ein, dass „nicht jeder direkt Betroffene, in dessen Hinterhof eine Leitung verläuft, überzeugt“ werde. Großen Teilen der Bevölkerung würde aber zumindest der Prozess „akzeptabler erscheinen“, erklärt der Geschäftsführer von Germanwatch. Fast alle Experten messen einer aufrichtigen Kommunikation mit schlüssigen Begründungen große Bedeutung für den Umsetzungserfolg der Energiewende zu. „Politik und Wirtschaft müssen viel ehrlicher kommunizieren“, fordert beispielsweise Hans-Werner Fittkau, stellvertretender Redaktionsleiter beim Nachrichtensender PHOENIX. S.167 Man könne sich nicht hinter Geschäftsgeheimnissen verstecken, meint auch Rainer Baake. „Die Leute wollen eine plausible und nachprüfbare Begründung dafür haben, warum beispielsweise eine Stromtrasse erforderlich ist.“ S.124 In Verbindung mit dem Netzausbau hält auch Hans-Jürgen Brick, Mitglied der Geschäftsführung des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, Dialog für unabdingbar. „Information und Aufklärung sind ein zentrales Erfolgskriterium für die Schaffung von Akzeptanz.“ S.148 Für Deutsche-Bahn-Vorstand Volker Kefer ist es außerdem wichtig, dass den Menschen komplexe Zusammenhänge klar werden. „Wenn sich Leute eine Meinung bilden sollen, dann müssen sie das möglichst in Kenntnis aller Umstände tun. Bezogen auf die Energiewende heißt das: Die Bevölkerung muss begreifen, wofür die Energiewende gut ist, wie sie durchgeführt werden 2 Beteiligungskultur 33 soll und welche Folgen sie hat.“ Für ein besseres Verständnis müsse die Argumentationskette deutlich gemacht werden, appelliert Kefer. S.197 Dass die Interpretation der Energiewende sich nicht in plakativen Visionen erschöpfen darf, glaubt auch der Journalist Michael Bauchmüller; er hält das Zukunftsbild einer Energieversorgung, die keine fossilen Rohstoffe mehr braucht, für nicht ausreichend, selbst wenn die Idee positiv konnotiert sei. „Als Argument allein wird das nicht verfangen. Man wird niemanden von einer Trasse überzeugen können, nur weil er die Energiewende toll findet – und deswegen bitte auch in seinem Garten einen Strommast aufstellt.“ S. 143 Herausforderung Netzausbau In der Tat ist gerade im Zusammenhang mit dem Netzausbau eine gewisse „kognitive Dissonanz“ zu beobachten, die sich darin äußert, dass Menschen die Energiewende einerseits befürworten, aber gleichzeitig konkrete Projekte ablehnen. So halten zwar 79 Prozent der Deutschen den Ausbau des Stromnetzes für notwendig (Putz & Partner 2011), dennoch formiert sich entlang der geplanten Trassen häufig erheblicher Widerstand. AmprionGeschäftsführer Hans-Jürgen Brick erklärt sich dieses Phänomen wie folgt: „Die Energiewende ist ein abstraktes Thema, das für die meisten Menschen positiv besetzt ist. Beim Netzausbau hingegen denken viele Menschen ganz konkret an die Leitung, die in ihrer Nähe gebaut wird. Und da schwindet die Zustimmung dann dramatisch.“ S. 148 Ein Grund für die Ablehnung vor Ort dürften auch Zweifel an dem im Netzentwicklungsplan vorgestellten Netzausbaubedarf sein. So vermisst Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch, derzeit noch entsprechend aussagekräftige Nachweise und mahnte bereits in den Anhörungen die Prüfung von Vorschlägen an, die den Bedarf reduzieren könnten. Dabei gehe es „überhaupt nicht darum, den Start des Ausbaus in irgendeiner Form“ zu behindern, versichert der NGO-Vertreter. „Wir fordern aber eine Priorisierung des kurzfristig benötigten Netzausbaus.“ S. 132 Wenig Verständnis zeigt der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, für diese Sichtweise. Dem Entwurf des Netzentwicklungsplans liege eine im Detail ausgearbeitete Vorstellung darüber zu Grunde, wie der Strombedarf und der Strommix des Jahres 2022 aussehen sollen. „Diese Grundvorstellung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde unter anderem mit Umweltverbänden und den Bundesländern konsultiert“, rekapituliert der Behördenvertreter das Verfahren und zeigt sich verwundert über derlei Kritikpunkte, „insbesondere wenn sie von denjenigen kommen, die bei der Ausarbeitung dabei waren und zugestimmt haben und jetzt plötzlich die Grundlage wieder infrage stellen“. S. 193 34 ANALYSE Trotz zwischenzeitlich geäußerter Bedenken gegen den Umfang der geplanten Trassen werden die frühzeitigen Beteiligungsverfahren im Rahmen des Netzausbaus von vielen NGOs und Umweltverbänden durchaus goutiert. So bezeichnet Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals die neue Form der Bürgerbeteiligung als „einen deutlichen Schritt nach vorne und als positiv“, ein Verfahren, das für mehr Transparenz sorge, auch wenn es in vielen Punkten noch Verbesserungspotenzial gebe. S.134 Kostenfaktor Akzeptanz Um zügig mit dem Netzausbau voranzukommen, muss in der breiten Bevölkerung um Akzeptanz geworben werden. Experten wie Jochen Homann sind der Auffassung, dass man dabei im Einzelfall auch höhere Investitionen in Betracht ziehen sollte. Die im Vergleich mit Freileitungen teuren und technisch noch nicht vollständig ausgereiften Erdkabel sollten nach seinem Dafürhalten zwar nur dann genutzt werden, wenn es ökologisch und wirtschaftlich sinnvoll sei. „Allerdings muss man neben den reinen Investitionskosten auch die ‚Akzeptanz-Kosten‘ betrachten, die schon bei kleinsten Verzögerungen beim Netzausbau entstehen. Wenn man alle Kosten addiert, kommt man gelegentlich zu anderen Ergebnissen – im Einzelfall kann also auch ein Erdkabel die wirtschaftlichere Alternative sein“, so Homanns Rechnung. S.192 Diese Einschätzung teilt auch der Vertreter des Netzbetreibers Amprion: „Derzeit gibt es nur für vier Pilotprojekte den rechtlichen Rahmen für Verkabelungen im Übertragungsnetz. Die Möglichkeit, in Zukunft vielleicht auch darüber hinausgehend zu verkabeln, kann einen Beitrag zu mehr Akzeptanz von Leitungsbau bedeuten“, glaubt Hans-Jürgen Brick. S.148 f. Ein noch klareres Votum für Erdkabel gibt die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in BadenWürttemberg, Gisela Erler, ab. „Manche Trassen müssen einfach unter die Erde, das ist State of the Art in einem reichen Land. Wir bauen die teuersten Straßen und Häuser der Welt, daher müssen wir auch Lärmschutz, Strahlenschutz und soweit wie möglich auch optischen Schutz gewährleisten. Natürlich muss nicht jede Trasse untertunnelt werden, aber wenn sie direkt an einem Wohngebiet vorbeiläuft, sollte sie unter die Erde gelegt werden.“ S.162 Christoph Bals dagegen bezweifelt, dass Erdkabel generell zu mehr Akzeptanz führen. „Dort, wo Erdkabel kein erhebliches Plus bedeuten, aber das Mehrfache kosten, muss man den Sinn infrage stellen.“ Der Geschäftsführer von Germanwatch erwartet in den nächsten Jahren Proteste auch gegen Erdkabel, und zwar „wenn die Bevölkerung sich bewusst ist, wie schwerwiegend die Eingriffe in den Naturschutz sind“. Heute würden die für die Verkabelung erforderlichen Eingriffe in die Natur von manchen Bürgern noch unterschätzt, meint Bals, der zugleich kritisiert: „Das Prinzip ‚aus den Augen, aus dem Sinn‘ kann nicht die Grundlage für eine gründliche ökologische Abwägung sein oder diese ersetzen.“ S.133 2 Beteiligungskultur 35 Interessenausgleich mit Augenmaß Um den Ausbau der Netze möglichst rasch voranzutreiben, bringen die befragten Experten zudem Entschädigungszahlungen für betroffene Grundstückseigentümer ins Gespräch. Ein finanzieller Interessenausgleich erfordere dabei allerdings das richtige Augenmaß, wie Hans-Jürgen Brick deutlich macht: „Selbstverständlich werden Grundstückseigentümer, deren Eigentum durch unsere Leitungen belastet wird, von uns entsprechend entschädigt. Das ist gute Praxis. Allerdings darf eine beliebige Höhe der Entschädigungssumme nicht zu extrem steigenden Strompreisen führen“, so der Geschäftsführer von Amprion. S. 150 Diese Haltung teilt auch der Präsident der Bundesnetzagentur, insbesondere mit Blick auf Forderungen aus der Landwirtschaft. „Natürlich müssen Grundbesitzer entschädigt werden – allerdings häufig nicht in dem Umfang, wie sie es gerne hätten. Einige haben die Vorstellung, dass sie jährlich eine Rendite ähnlich wie die Netzbetreiber erhalten. Das halte ich für unangemessen, insbesondere weil es gegenüber anderen Entschädigungen nicht gerechtfertigt wäre“, befindet Jochen Homann. S.192 f. Zum jetzigen Zeitpunkt führten allerdings weniger Akzeptanzprobleme zu Verzögerungen, sondern die mangelhafte Koordination zwischen den Bundesländern, wie die Netzexperten darlegen. So käme man bei den laufenden Projekten nur relativ langsam voran, weil die Planungs- und Genehmigungsverfahren auf Länderebene lägen, wie Jochen Homann bemängelt. „Wir brauchen Leitungen von Nord nach Süd, die bis zu fünf Bundesländer durchqueren. Man muss den Ländern gar nichts Böses unterstellen, wenn man erwartet, dass es bei der Abstimmung zwischen fünf Bundesländern zu Koordinierungsproblemen und Zeitverzögerungen kommt.“ Die Bundesnetzagentur plädiert daher dafür, die Verantwortung für diese Projekte an den Bund zu übertragen. Allerdings stehe noch „die Frage im Raum, ob es gelingt, die Länder davon zu überzeugen“, so Jochen Homann. S.193 Diskussionsbedarf zur Rolle der Kohle Zum Dialog über die Energiewende wird unter dem Stichwort Brückentechnologie auch eine Diskussion über den konventionellen Kraftwerkspark und die zukünftige Rolle des Energieträgers Kohle gehören, wie in den Gesprächen deutlich wird. Die Expertenmeinungen differieren in diesem Punkt erwartungsgemäß stark. Insbesondere Vertreter der Umweltverbände und von Bündnis 90/Die Grünen lehnen neue Kohlekraftwerke ab. Bestehende Anlagen müssten nicht sofort abgeschaltet werden. „Aber neue Kohlekraftwerke zu bauen, würde die Lage verschlechtern“, ist unter anderem Rainer Baake überzeugt. Dass neue Kohlekraftwerke alte Strukturen zementieren, 36 ANALYSE 6.1 glaubt auch die Leiterin des Bereichs Klima- und Energiepolitik des WWF, Regine Günther, denn „neue Kohlekraftwerke haben eine Laufzeit von rund 50 Jahren. Wenn wir unsere Klimaziele einhalten wollen, müssen alle fossilen Kraftwerke spätestens 2050 abgeschaltet werden.“ S.177 Fachleute wie sie befürworten in der Regel Gaskraftwerke als Übergangstechnologie. So auch Christoph Bals von Germanwatch, für den der Energieträger Gas beim Ausbau Vorrang hat. Dies deckt sich auch mit dem Ergebnis der Befragung des Deutschen Energie-Kompasses 2012: Demnach befürworten mehr als drei Viertel der befragten Unternehmen den Ausbau von Gaskraftwerken (IG BCE 2012: 7) (siehe Abb. 2.3). Prioritäten beim Ausbau von Kraftwerken nach Energieträgern (Befragte: Unternehmen) Ausbauen 43 % Erhalten 37% Stark ausbauen 9% Abbauen 10% — Abb. 2.3 Quelle: TNS Infratest, 2012 Ganz verzichten 1% Eine Reihe von Experten, darunter der FDP-Generalsekretär Patrick Döring und Gewerkschafter Michael Vassiliadis, halten dagegen neben Gas auch die Kohle als Brückenenergie für den Übergang ins regenerative Zeitalter für unverzichtbar. Man müsse vermitteln, „dass sich unsere Energieversorgung ohne Kohleverstromung nicht aufrechterhalten lässt, bis wir Strom in dem Ausmaß speichern können, dass wir energieintensive Prozesse auch mit Energie versorgen können“, sagt der IG-BCE-Chef und spiegelt damit die Meinung mehrerer Experten wider. S.262 Stephan Kohler wagt gar eine Prognose: Bis zum Jahr 2020 würden 20 bis 30 Prozent der zusätzlich benötigten Kraftwerksleistung weiterhin aus Kohlekraftwerken stammen, so der Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur (dena). S.210 Politik in der Verantwortung Der offenbar so notwendige Diskurs über die komplexen Zusammenhänge und die Folgen der Energiewende scheint in unserer Gesellschaft allerdings noch nicht auf breiter Basis stattzufinden. Und wer soll diesen Dialog überhaupt führen? Unter den Experten besteht große Übereinstimmung darin, dass hier im Wesentlichen die Politik in der Verantwortung ist. „Die endgültige Entscheidung über die Energiewende hat die Politik getroffen. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln warum“, befindet Deutsche-Bahn-Manager Volker Kefer. S.197 Mit Blick auf die Energiewende sei Leadership „eine klassische Führungsaufgabe für Politik“, meint auch Frank Brettschneider. S.146 Ebenso wie der Kommunikationswissenschaftler sehen allerdings viele der Fachleute an dieser Stelle erhebliche Defizite. Der Politik fehle „eine gewisse initiatorische Kraft“, klagt der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates, Günther Bachmann. S.129 IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis vergleicht die Energiewende mit großen Projekten in Unternehmen. Dort verzeichne man in der Regel nur dann Erfolge, wenn es einen Projektverantwortlichen und ein festgelegtes Projektbudget gebe sowie definierte Meilensteine zur Zielerreichung und Prozesse zum Nachsteuern. All das fehle jedoch bei der Energiewende, beanstandet nicht nur der Gewerkschaftsfunktionär. S.261 Selbstkritisch räumt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig ein: 2 Beteiligungskultur 37 „Wir haben nicht genügend deutlich gemacht, welche Aufgabe mit der Energiewende in den nächsten zehn Jahren verbunden ist. Das ist nicht wirklich verstanden worden.“ S. 224 Unklare Verantwortlichkeiten kritisiert dena-Chef Stephan Kohler. Er vermisst eine konkrete politische Roadmap für die Energiewende und fordert weiterhin: „Wir schlagen ein Ministerium vor, das federführend die Energiewende koordiniert und es wirklich als Projekt versteht, bei dem alle Beteiligten in die Pf licht genommen werden.“ S. 209 Folgen der Energiewende nicht beschönigen Zu den Erkläraufgaben der Politik gehört nach Überzeugung von Roland Koch, Vorstandsvorsitzender von Bilfinger SE, auch die Thematisierung unangenehmer Wahrheiten. Konkret kritisiert der frühere Ministerpräsident von Hessen, dass die Bundesregierung es im Zusammenhang mit der Energiewende versäumt habe, „den Bürgern in der unmittelbaren Reaktion auf Fukushima zu erklären, dass der Ausstieg aus der Kernenergie auch seinen Preis hat“. Die Regierungsverantwortlichen hätten unterschlagen, dass die Energiewende zu Kostensteigerungen führen werde und Deutschland stärker von Energielieferungen aus dem Ausland abhängig mache, so Kochs Vorwurf. „Das ist ein Fehler und ärgerlich“, findet der Manager, denn unter dem damaligen Eindruck von Fukushima wären die Menschen bereit gewesen, diese Lasten zu akzeptieren. S. 206 Agora-Direktor Rainer Baake plädiert dafür, mögliche Friktionen der Energiewende offen anzusprechen. Als Beispiel führt er mögliche Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Naturschutz an. „Alle sind gut beraten, diese nicht zu ignorieren, sondern offensiv anzugehen.“ S.125 Industrie muss sich besser erklären Und welche Rolle kommt der Industrie bei der Energiewende zu? Unternehmen hätten zum einen die Aufgabe, die Notwendigkeiten zu artikulieren, die sich aus den von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen ergäben, findet Frank Brettschneider. Zugleich müssten sie der Bevölkerung entsprechende Alternativen aufzeigen, verlangt der Kommunikationswissenschaftler. „Die Industrie ist gefordert zu sagen: Erstens, es ist eine politische Vorgabe, Strom von Nord nach Süd zu transportieren. Es gibt zweitens verschiedene Varianten, wie man diese Vorgabe umsetzen kann. Jetzt haben wir uns drittens vor dem Hintergrund folgender Parameter für diese Variante entschieden.“ Volker Kefer formuliert den Arbeitsauftrag an die Industrie so: „Aufgabe der Industrie ist es, aufzuzeigen, was technisch möglich ist und welche Kosten mit der Umsetzung verbunden sind.“ S.197 38 ANALYSE Eine Reihe von Experten moniert allerdings, dass Unternehmen sich noch nicht ausreichend in den Erklärprozess zum Umbau der Energiestrukturen einbringen. Hart ins Gericht geht Michael Fuchs mit der Industrie. Sie habe bei der Energiewende bisher keine kluge Rolle gespielt. „Das liegt unter anderem daran, dass sie widersprüchliche Interessen und keine einheitliche Position hat“, beklagt der Unionspolitiker. Dass der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine gegensätzliche Interessenlage überwinden und zu einer gemeinsamen Linie finden müsse, fordert nicht nur er. S.170 Mangelnde Koordination und Sprechfähigkeit in Sachen Energiewende wirft dem Industrieverband auch Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis vor. Zukunftsfrage Deutschland diskutieren Wie also ist es in der Zusammenfassung um Deutschland und seine Energiewende bestellt? Offenbar eint die Vision einer regenerativen Stromversorgung die Gesellschaft. So deutlich aber die allgemeine Zustimmung zu der Idee ist – der Zweifel, ob die Energiewende in der Praxis gelingen wird, und die Unzufriedenheit mit der bisherigen Umsetzung stehen der theoretischen Euphorie entgegen. Es scheint noch einen großen Gesprächsbedarf zu geben, um auf breiter Front ein gemeinsames Verständnis über die Chancen und faktischen Erfordernisse, aber auch die persönlichen Lasten der Energiewende für den Einzelnen herzustellen. Ohne eine offene und ehrliche Kommunikation wird man nach dem Dafürhalten der meisten Experten bestehende Konflikte und Missverständnisse nicht aus dem Weg räumen können. In der Verantwortung sieht das Gros der Fachleute dabei die Politik. Nach Auffassung von Roland Koch liegt es allerdings auch im ureigenen Interesse der Unternehmen, diesen Dialog über die Energiewende aktiv voranzutreiben. Sie müssten „den Menschen die Folgen erklären, die hinter den politischen Vorgaben stehen“. Versäumten die Unternehmen das, würden sie in eine Frontstellung mit der Politik geraten, mahnt der Topmanager. Dann drohe „die Gefahr großer demokratischer Spannungen, weil die Energiepreise auch in Zukunft eine hohe Relevanz haben werden“. S.206 f. Für den ehemaligen Spitzenpolitiker gehört zu der komplexen inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Herausforderung Energiewende zwingend auch ein Diskurs über die Zukunft des Industriestandortes Deutschland. Koch wie auch andere Experten sehen diesen zentralen Aspekt in der momentanen Debatte um den Umbau unserer Energieversorgung noch unterrepräsentiert – er soll daher im nachfolgendem Kapitel weiter vertieft werden. 2 Beteiligungskultur 39 die offenbar eine Reihe von Experten umtreibt, darunter den CSU-Politiker Joachim Herrmann. Die Energiewende werde in absehbarer Zeit zu einer zusätzlichen Verteuerung der Stromversorgung führen und könne Deutsch- Blickwinkel erweitern: Zur Diskussion der Energiewende gehört auch eine offene Debatte über die Zukunft des Industriestandortes Deutschland Zwischen Hoffen und Bangen: Die Erwartungen an die Energiewende als Wirtschaftsmotor sind hoch – aber auch die Furcht vor ökonomischen Risiken 3 Die Energie- als Standortfrage: Eine notwendige Debatte Wie in den Expertengesprächen klar wird, lässt sich die Energiewende nicht losgelöst von der Frage nach dem Standort Deutschland diskutieren. Als Industrie- und Exportland ist die Bundesrepublik auch in Zukunft auf eine wettbewerbsfähige Stromversorgung angewiesen, darüber besteht Konsens bei so gut wie allen befragten Fachleuten. Weniger einig ist man sich bei der Frage, welche Risiken beziehungsweise Chancen sich für die deutsche Volkswirtschaft mit dem ehrgeizigen Vorhaben Energiewende verbinden. Zu den Mahnern zählt unter anderem Stephan Kohler. Das Gelingen des Projekts will der Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur nicht infrage stellen, macht aber deutlich: „Der Punkt, an dem die Energiewende kippen kann ist, wenn wir den sehr starken Zubau der regenerativen Energien nicht mit dem Ausbau der Netze und Speicher synchronisiert bekommen. Wenn wir nicht gleichzeitig in konventionelle Kraftwerksparks investieren, können wir die Versorgungssicherheit nicht garantieren und werden Kosten und Preiseffekte haben, die uns im internationalen Vergleich zu stark belasten.“ S. 210 Deutlicher wird Matthias Heck, der ein schlüssiges Konzept der Politik vermisst: „Die Energiewende bedeutet ein erhebliches Risiko für den Industriestandort Deutschland und kann zu einer beschleunigten Deindustrialisierung führen“, warnt der Senior Manager der australischen Investmentbank Macquarie im Hinblick auf die Entwicklung der Energiepreise. S.184 Eine Problematik, 40 ANALYSE AUF EINEN BLICK Fruchtbare Kontroverse: Ein streitbarer Dialog aller Beteiligten über die Frage nach dem Standort Deutschland kann der Meinungsbildung zur Energiewende wichtige Impulse verleihen Wert der Industrie: Deutschland braucht ein noch stärkeres Bewusstsein für seine industrielle Wertschöpfung land im innereuropäischen Wettbewerb benachteiligen, befürchtet der bayerische Innenminister. S.189 In der Tat belegen statistische Erhebungen, dass Deutschland schon heute bei den Strompreisen für Industriekunden im europäischen Ländervergleich mit 11,34 Euro je 100 Kilowattstunden einen Spitzenplatz einnimmt (siehe Abb. 3.1). Die Sorge um den Industriestandort Deutschland findet Hildegard Müller daher berechtigt. „Wir sind in einer Situation, in der es kein gutes Klima für Investitionen gibt, die wir für die Energiewende brauchen. Wenn die Preise für einige Industriebereiche zu teuer werden, kann das auch bedeuten, dass diese Industrien abwandern“, zeigen sich die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) wie auch andere Befragte besorgt. S.230 7 Höhe der Strompreise für Industriekunden in ausgewählten europäischen Ländern im Jahr 2010 (in Euro je 100 kWh) 11,34 Euro 10,12 Euro 6,56 Euro Gretchenfrage Energiewende Deutschland Entscheidet sich also die Zukunft des Industriestandortes an der Energiewende? „Ich würde es andersherum ausdrücken“, sagt Günther Bachmann, der zu den Fachleuten gehört, die eher Chancen in dem Vorhaben erkennen. „Wenn die Energiewende klappt, ist dies die Gretchenfrage für den Industriestandort. Der Industriestandort ist nicht die Konditionalisierung der Energiewende, sondern die Energiewende erfolgreich umzusetzen, ist die Erfolgschance für den Industriestandort“, ist der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates überzeugt. Das Industrieland Deutschland werde mit der Energiewende nicht nur technisierter und dezentralisierter, sondern es entstünden auch Großbritannien Frankreich — Abb. 3.1 Quelle: Eurostat, 2010 3 Die Energie- als Standortfrage 41 mehr Arbeitsplätze, prognostiziert Bachmann. S. 130 Das glaubt auch Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung. „Die Energiewende setzt eher noch Innovationskräfte frei, als dass sie hemmt.“ Wenn sie funktioniere, sei die Energiewende „ein wunderbares Anschauungsmodell für die Exportmärkte von morgen“, sagt der Journalist. S. 142 Für den thüringischen Wirtschaftsminister Matthias Machnig überwiegen ebenfalls die Chancen. Die Energiewende mache den Industrie- und Innovationsstandort Deutschland mittelfristig wettbewerbsfähiger. Energie- und Ressourceneffizienz werde sich in den nächsten Jahren zum Schlüsselthema entwickeln und einen positiven Innovations- und Investitionsdruck auf die deutschen Unternehmen ausüben, zeigt sich der Politiker überzeugt. S.227 SPD-Politiker Sören Bartol erwartet gar „einen gewaltigen Modernisierungsschub“, der Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit massiv stärken werde. Christoph Bals fordert im Zusammenhang mit der Energiewende Transformationsbereitschaft von der deutschen Industrie ein. Sie müsse ihre Geschäftsmodelle so weiterentwickeln, dass sie „in der Klima-, Energie- und Rohstoffkrise dauerhaft tragfähig und damit ein Innovationsmotor für den deutschen Standort“ würden, verlangt der Geschäftsführer von Germanwatch. „Hier spielt die Musik, wenn man sich als Industrieakteur für die Zukunft aufstellen will.“ Die Politik müsse für derartige Transformationsprozesse, wie etwa die Ausrichtung auf weniger energieintensive Grundstoffe, einen Anreizrahmen setzen, so Bals. S.134 Verschiedene Untersuchungen stützen die hohen Erwartungen der Experten. So haben nach Angaben des Umweltbundesamtes (UBA) allein die erneuerbaren Energien schon heute gut 370.000 neue Jobs in Deutschland geschaffen. 630.000 weitere Arbeitsplätze seien möglich, wenn die für 2020 definierten Klimaschutzziele konsequent umgesetzt würden, heißt es in der jüngsten UBA-Jahrespublikation (Umweltbundesamt 2012: 3). Weltweit könnte der Übergang zur Green Economy einer weiteren Studie zufolge in den nächsten beiden Jahrzehnten gar 15 bis 60 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen lassen (International Labor Organization 2012). Zwischen Hoffen und Bangen Andere Experten äußern ebenfalls die Hoffnung, dass die Energiewende Erneuerung und wirtschaftliche Schubkraft für den Standort Deutschland bringt. Allerdings schwingt bei vielen neben Optimismus häufig eine gewisse Skepsis mit, wie etwa bei Hildegard Müller, wenn sie den Blick auf das Jahr 2050 richtet: „Wenn wir die Energieversorgung insgesamt umgebaut haben werden, wird Deutschland ein modernes Land mit einer hochinnovativen Energieversorgung und letztendlich mit ganz anderem Verbrauchsverhalten sein. Das kann eine ganz spannende, tolle, interessante Welt sein, wenn wir es bis dahin ordentlich hinbekommen.“ S. 230 42 ANALYSE Unter dem Strich zeichnet sich in den Gesprächen mit den Experten ein sehr ambivalentes Bild ab. Einerseits wird der Energiewende mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands enormes Potenzial zugeschrieben. Das Vorhaben könne zum Innovations- und Beschäftigungsmotor werden und den Wachstum beflügeln, so die vielfache Hoffnung. Gleichzeitig treibt aber viele Fachleute die Sorge um, der Umbau der Energieversorgung werde womöglich nicht gelingen oder sich auf das Strompreisgefüge so negativ auswirken, dass am Ende dem Industriestandort Deutschland eine dramatische Schwächung droht. Über Zusammenhänge aufklären Und wie ist es in der Breite der Gesellschaft um das Wissen über die Zusammenhänge der Energiewende bestellt? Verstehen die Menschen die Bedeutung der Industrie für den Standort Deutschland (vgl. Abb. 3.2)? Die Bundesbürger hätten ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass sie dem Industriestandort ein Wohlstandsniveau verdanken, das aufzugeben eher risikoreich sei, meint Roland Koch. Und auch Hildegard Müller stellt fest, es gebe einen „grundsoliden Stolz“ auf das Industrieland Deutschland. S.228 „Trotzdem fällt es offensichtlich schwer, diese abstrakte Erkenntnis und die Erfordernisse einer künftigen Energiepolitik im Bewusstsein der Menschen übereinanderzubringen“, so die Einschätzung des Vorstandschefs von Bilfinger SE, Roland Koch. S.207 Dass die Frage einer preisgünstigen Energieversorgung unweigerlich eine Frage der Qualität des Industriestandortes Deutschland sei, hält Koch für einen zentralen, aber noch vernachlässigten Aspekt in der Diskussion über die Energiewende. Der ehemalige Politiker fordert dazu auf, sich stärker als bislang mit den Rahmenbedingungen der energieintensiven Industrien auseinanderzusetzen, die sich in einem harten globalen Wettbewerb behaupten müssen. „Wenn wir eine Energiepolitik betreiben, die diese Aspekte ausblendet, kann es sein, dass diese Wertschöpfungen alle abwandern“, mahnt der Industriemanager. S.207 Im gleichen Zusammenhang gibt Volkswirtschaftsprofessor Justus Haucap, Vorsitzender der Monopolkommission, zu bedenken: „Selbst wenn die Industrie nicht abwandert, bleibt das Problem, dass woanders andere Unternehmen konkurrenzfähiger sind, und dann schrumpfen unsere Betriebe von allein zusammen.“ S.182 8 Die deutsche Industrie prägt die industrielle Wertschöpfung in Europa Anteil ausgewählter Länder an der industriellen Bruttowertschöpfung der Europäischen Union im Jahr 2010 in % Rest-EU 31,6 % Deutschland 26,7% Großbritannien 10,9 % Frankreich 10,6% Spanien 7,6 % Italien 12,7 % — Abb. 3.2 Quelle: Eurostat, 2010 „Die energieintensiven Branchen haben so viele Ausnahmeregeln, dass sie die großen Profiteure der Energiewende sind“, kontert Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch. Strompreise seien nach der Energiewende für Einzelkunden, nicht aber für die Großabnehmer gestiegen. Bals warnt: „Die Akteure dieser Branchen überziehen mit ihrem Geschrei derart, dass ihnen das böse auf die Füße fallen kann.“ S.133 3 Die Energie- als Standortfrage 43 Bewusstsein für Wertschöpfungsketten schärfen „Deswegen f ließt das nicht so stark in die Gesamtbewertung eines Projekts ein wie die wahrgenommenen Risiken.“ S.145 Ähnlich äußert sich FDP-Generalsekretär Patrick Döring: „Das Argument zieht nicht mehr so, weil es uns besser geht als allen anderen europäischen Ländern. Wir haben hier einen Trend zur postmateriellen Sattheit.“ S.157 „Mehr Bewusstsein dafür, welchen Wert die Industrie für den Standort Deutschland hat“, verlangt dagegen Michael Vassiliadis. Um die industrielle Basis zukunftsfähig abzusichern, bedürfe es schlagkräftiger Diskussionsketten, findet der Chef der Gewerkschaft IG BCE. „Diese durchhalten zu können, beginnt schon bei der Debatte über die EEG-Befreiung für die Industrie. Viele Menschen verstehen nicht, warum es Ausnahmen für die Industrie gibt und dass das Voraussetzungen sind, um überhaupt hier produzieren zu können“, illustriert Vassiliadis die Problematik. Das vielfach vorgebrachte Argument, Deutschland sei ohnehin auf dem Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft, lässt er nicht gelten. „Dabei wird die Wertschöpfungskette ausgeblendet, denn ein nicht unerheblicher Teil der Dienstleistungen ist ja industrienah.“ S.262 Diese Tatsache bestätigen aktuelle Erhebungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi). Zwar habe sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in Deutschland von 36,5 Prozent im Jahr 1970 auf 22 Prozent im Jahr 2011 verringert. Aus dieser Verschiebung könnte man aber nicht folgern, dass die Industrie an Bedeutung Deutschland verliert. Vielmehr sei dies Ausdruck von grundlegenden Veränderungen im 26,7% Wertschöpfungsprozess. Unternehmensnahe und produktbegleitende Dienstleistungen gewinnen laut BMWi einen immer höheren Anteil; der reine Frankreich Wertschöpfungsanteil lasse dabei die tatsächliche volkswirtschaftliche 10,6 % Bedeutung der Industrie nicht im vollen Umfang erkennen, die mit ihrer starItalien 12,7 % ken Nachfrage nach Dienstleistungen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des tertiären Sektors leiste. (vgl. Abb. 3.3) Dass solche komplexen volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in den Köpfen nicht wirklich präsent sind, bestätigt Elisabeth Schick: „Das Thema ist in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in den Hintergrund getreten. Wir müssen den Leuten aber wieder deutlicher machen, dass jeder Arbeitsplatz in der Industrie weitere Arbeitsplätze in anderen Bereichen nach sich zieht. Also auch der Bäcker und der Gastronom um die Ecke profitieren davon und noch viel mehr Beteiligte in der Dienstleistungskette“, erklärt die Kommunikationsexpertin. S.248 Stellenwert umstritten Nicht alle Experten sind allerdings davon überzeugt, dass solche ökonomischen Rationalitäten auch zwingend verfangen. Ihrer Auffassung nach haben wirtschaftliche Nutzenargumente nicht mehr den Stellenwert wie noch vor einigen Jahrzehnten. Aspekte wie Arbeitsplätze, Steuereinnahmen oder Aufschwung für die Region würden zwar positiv gesehen, aber mittlerweile als selbstverständlich betrachtet, sagt etwa Professor Frank Brettschneider. 44 ANALYSE Während Oberkirchenrat Eberhard Pausch glaubt, dass neben der Arbeitsplatzfrage zunehmend auch Aspekte wie Nachhaltigkeit, Umwelt und Frieden bei der ethischen Beurteilung von Großprojekten eine Rolle spielen S.239, meint Matthias Machnig: „Das Arbeitsplatzargument ist nach wie vor natürlich ein gewichtiges, aber man muss auch immer dafür sorgen, dass eben die Beeinträchtigung der Lebenslagen von Menschen auch kalkulierbar sind.“ Hildegard Müller schließlich macht die Akzeptanz derartiger Argumente vom jeweiligen Konjunktur- und Beschäftigungsniveau abhängig. „Wenn es im Moment eine hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland geben würde, wäre die Debatte eine andere als bei der aktuellen guten wirtschaftlichen Situation.“ S.229 9 In Deutschland nimmt die Bedeutung der Industrie gegen den Trend zu Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der jeweiligen nationalen Gesamtbruttowertschöpfung in % Deutschland 22 % Die Energiewende als Versöhnungsformel? Japan 18 % Italien 14 % Großbritannien USA 2001 bis 2007 — Abb. 3.3 Quelle: OECD, 2009 Angesichts ihrer Relevanz für die Zukunft Deutschlands drängt sich die Frage auf, ob man die Energiewende gar als einen Gemeinwohl-Prüfstein für das gesamte Land betrachten muss. Immerhin berührt der Umbau der deutschen Energielandschaft substanzielle gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Interessen. Kann die Energiewende folglich eine Art „Versöhnungsformel“ sein, anhand derer die Grundlagen des gemeinsamen Lebens und Wirtschaftens in Deutschland neu miteinander verhandelt werden? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Oberkirchenrat Eberhard Pausch ist davon überzeugt, dass das Land grundsätzlich eine solche Versöhnungsformel braucht. „Und zwar eine wie Mut für die Zukunft, die den Menschen deutlich macht, dass man die Zukunft konstruktiv und verantwortlich gestalten kann.“ S.239 Politiker Michael Fuchs glaubt indes nicht, dass die Energiewende dazu in der Lage ist. „Meine Befürchtung ist, dass uns die Energiewende insgesamt auseinandertreibt“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union. S.170 Deutlich optimistischer zeigt sich in dieser Frage Michael Vassiliadis. „Wenn die Energiewende vernünftig umgesetzt wird, kann sie ein identitätsstiftendes Projekt für die Gesellschaft werden. Nach dem Motto ‚Wir sind Vorreiter und zeigen Verantwortung‘. Das wäre eine große Chance“, meint der Gewerkschaftschef. S.262 Wissenschaftler Frank Brettschneider traut dem Projekt diese Rolle ebenfalls zu, „denn die Energiewende tangiert viele Bereiche der Gesellschaft, ist generationenübergreifend relevant und stößt auf eine breite Akzeptanz, so wie Willy Brandts Ausspruch ‚mehr Demokratie wagen‘ in den 3 Die Energie- als Standortfrage 45 siebziger Jahren“. Gleichzeitig gibt auch er zu bedenken: „Das gemeinsame Ziel muss allerdings noch deutlicher konkretisiert werden, daran mangelt es noch.“ S. 147 Dem schließt sich auch der Präsident der Bundesnetzagentur an. Die Energiewende habe das Potenzial einer gesellschaftlichen Versöhnungsformel, „sofern sie nicht zerredet wird und nicht in Verteilungsdiskussionen ausartet“. Es sei kein Zufall, dass die Energiewende eine so breite Zustimmung erfahre – „denn eine große Mehrheit befürwortet ja, dass man aus einer Risikotechnologie aus- und in eine Technologie einsteigt, die uns auch ein Stück weit unabhängiger von Dritten macht“, so die Einschätzung von Jochen Homann. S. 194 Warum also protestieren Menschen gegen bestimmte Infrastrukturvorhaben? Was bewegt sie zum Widerstand gegen Projekte, die doch vermeintlich dem Allgemeinwohl dienen? Und haben die Deutschen tatsächlich einen besonderen Hang zum Protest? Das nachfolgende Kapitel widmet sich ausführlich diesen für die Energiewende- und Partizipationsdebatte so bedeutsamen Fragen. Streitbarer Dialog tut not Fasst man die Expertenmeinungen zusammen, lässt sich daraus Folgendes ableiten: Wer sich mit Bürgern über den Umbau der Energieinfrastruktur auseinandersetzen, sie für das ehrgeizige Vorhaben Energiewende gewinnen, aber auch ehrlich deren Auswirkungen vor Augen führen will, wird den Blick erweitern und die Diskussion auf die Frage nach dem Standort Deutschland ausdehnen müssen. Wie die Interviews mit den Fachleuten zeigen, müssen Risiken wie Chancen der Energiewende offenbar noch deutlich intensiver und in breiterem Kontext als bislang debattiert werden. Szenarien mit ihren jeweiligen Konsequenzen sind im Detail zu erörtern und sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Auf einen Nenner gebracht, geht es bei der Diskussion der Energiewende um die Frage: „In welchem Land wollen wir Deutsche eigentlich künftig leben?“ In den Gesprächen mit den Fachleuten verfestigt sich der Eindruck, dass nur in einem „streitbaren Dialog“ bei allen Beteiligten und den betroffenen Bürgern eine fundierte Meinungsbildung zu dieser überaus komplexen Fragestellung in Gang gesetzt und letztlich Verständnis und Akzeptanz für bestimmte Implikationen, Pläne und Maßnahmen der Energiewende geschaffen werden kann. Empathie für Beweggründe des Einzelnen Dieser notwendige Dialog über das „große Ganze“ wird allerdings nur schwer verfangen, wenn er über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt wird und die individuellen Motivlagen des einzelnen Bürgers ausblendet. Denn bei der Energiewende (wie auch in anderen Zusammenhängen) werden Beteiligung und die Bereinigung bestehender Konflikte nur gelingen – auch das eine Schlüsselerkenntnis aus den Expertengesprächen –, wenn die Projektverantwortlichen die Beweggründe der Skeptiker und Antagonisten verstehen, antizipieren und vor allem ernst nehmen. 46 ANALYSE 3 Die Energie- als Standortfrage 47 wenn es ihren unmittelbaren Lebensraum betrifft. Bis auf wenige Ausnahmen sind sich alle Befragten einig, dass das NIMBY-Phänomen bei Protesten eine gewichtige Rolle spielt, wenn auch im Zusammenspiel mit anderen Beweggründen, wie eine Reihe von ihnen betont. „Das trifft sicherlich auf viele Projekte zu, aber längst nicht auf alle“, meint etwa Oliver Krischer, Bundestags- Eigeninteressen vertreten: Persönliche Betroffenheit ist ein zentrales und weithin akzeptiertes Motiv von Bürgerprotesten 4 Besitzstand wahren: Den Status quo zu verteidigen, kann auch Ausdruck der deutschen Wohlstandsgesellschaft und eines emanzipierten Bürgertums sein Warum Bürger protestieren: Einsichten in ein überaus vielschichtiges Phänomen Um es vorwegzunehmen: Auf die Frage, warum Bürger gegen Großprojekte protestieren, findet sich keine pauschale Antwort. Fast alle Experten sind sich einig, dass es den einen Grund nicht gibt. Im Gespräch mit ihnen offenbart sich vielmehr ein ganzes „Konglomerat“ an Beweggründen, wie Professor Frank Brettschneider es nennt, von denen einige weitestgehend unstrittig sind und andere durchaus kontrovers diskutiert werden. Es gibt offenbar Ursachen, die eher auf psychologischer Ebene und beim einzelnen Individuum zu suchen sind – und solche, deren Ursprung in übergeordneten, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu liegen scheint. „Das macht es so brisant, weil dadurch die Basis für den Protest nicht mehr so homogen ist“, merkt Kommunikationstheoretiker Brettschneider an. S. 144 Not in my backyard! Befragt man die Experten nach den Ursachen für den Protest, führen wie Brettschneider viele an erster Stelle ein Phänomen auf, das unter dem Namen NIMBY in der öffentlich-medialen Debatte Popularität erlangt hat. Wann immer über die Motive von Protestierern theoretisiert wird, fällt mit großer Wahrscheinlichkeit dieser Begriff. Grund genug, den viel zitierten „Not in my backyard“-Effekt einmal ausführlich zu hinterfragen. Wie sich im Dialog mit den Fachleuten herausstellt, ist es offenbar mehr als nur ein Klischee, dass Bürger sich bevorzugt dann gegen ein Projekt zur Wehr setzen, 48 ANALYSE AUF EINEN BLICK Vertrauenserosion: Die Entkoppelung zwischen Bürgern und ihren Volksvertretern verstärkt das zivile Widerstandspotenzial Misstrauen in die Wirtschaft: Vorbehalte gegenüber großen Unternehmen erschweren die Vertrauensbildung zwischen Planungsträgern und der Bevölkerung Stereotyp: Die oft unterstellte Technikfeindlichkeit der Deutschen scheint eher Klischee als tatsächlicher Treiber von Bürgerprotesten zu sein abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. S.212 Günther Bachmann, Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates, bestätigt das: „In der Regel kommen noch weitere Gründe hinzu, zum Beispiel weil man mit der großen Linie unzufrieden ist.“ S.128 Und auch der Vorsitzende der Monopolkommission, Justus Haucap, hat nicht den Eindruck, „dass sich das auf die Mehrheit der Leute so reduzieren lässt“. S.181 Als „wahnsinnig übervereinfachend“ kritisiert Helmut Klages das NIMBY-Bild. Eine solche Antihaltung sei in der Bevölkerung nicht vorherrschend, betont der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften, vertritt damit jedoch eher eine Minderheitsmeinung. S.201 Persönliche Betroffenheit als Treiber Das Gros der Befragten hält das NIMBY-Phänomen für evident. Auf 80 Prozent schätzt dena-Chef Stephan Kohler den Anteil derer, die demonstrieren, weil sie von einem Projekt unmittelbar tangiert sind. S.208 Laut Professor Dieter Rucht stellen NIMBY-Protestierer bei Infrastrukturprojekten die größte 4 Warum Bürger protestieren 49 Gruppe dar. Gerade bei Flughafenprojekten zeige sich, dass vor allem Grundstücksbesitzer gegen Ausbaupläne Stellung bezögen, weiß der Sozialwissenschaftler. S.244 „Die eigene Betroffenheit macht selbst den lahmsten Bürger mobil“, bringt Michael Bauchmüller es auf den Punkt. „Der Deutsche wohnt in einer ohnehin schon sehr zugebauten Umgebung und ist froh, wenn er überhaupt mal ein Fleckchen finden kann, wo er nicht auf eine Bundesstraße trifft oder von einem Flugzeug überquert wird. Also verteidigt er das bisschen Ruhe, das er sich in seiner engsten Umgebung erobert hat, mit Händen und Füßen“, erklärt der Redakteur der Süddeutschen Zeitung. S. 141 Mit der Nüchternheit des Wissenschaftlers, aber in der Tendenz vergleichbar, drückt es Ulrich von Alemann aus: „Die eigene Betroffenheit und eine Angst vor Nachteilen im eigenen Umfeld, die mit Veränderungen einhergehen“, sind für den Politikprofessor wichtige Gründe für die Proteste. S. 264 (vgl. Abb. 4.1) Viele Experten zeigen Verständnis für diesen Mechanismus, darunter Manfred Güllner. Für den forsa-Geschäftsführer ist es nachvollziehbar, „dass man in Stuttgart protestiert, weil man nicht jahrelang von seinem Balkon auf die Baustelle gucken möchte“. S. 172 f. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft IG BCE, sieht die Sorge um die Verschlechterung der eigenen Lebensqualität ebenfalls als ein legitimes Motiv an. S. 260 Genauso Frank Brettschneider, der offenbart: „Mal ganz ehrlich, wenn eine Stromüberlandleitung direkt über mein Haus führen würde, fände ich das auch nicht toll. Das sollte man nicht als rein egoistisch darstellen.“ S.146 In Bezug auf Windkraftanlangen bewertet der Vorstandschef von REpower Systems, Andreas Nauen, die NIMBY-Mentalität kritischer: „Aus der persönlichen Perspektive von Anwohnern mag eine skeptische Haltung berechtigt sein. Sachlich ist sie aber nicht begründet. Denn es gibt keine Beweise dafür, dass Immobilien oder Grundstücke durch Windräder in der Nachbarschaft an Wert einbüßen. Tatsächlich geben Betroffene ihre kritische Position häufig auf, wenn ein Windpark erst einmal fertig gebaut ist“, so Nauen. S.233 Mangelnder Gemeinsinn? In den Augen vieler Fachleute ist das NIMBY-Phänomen Abbild gesellschaftlicher Realitäten. Doch ist unserer Gesellschaft tatsächlich der Sinn für das Gemeinwohl abhandengekommen, wie einige Experten behaupten? Oder andersherum gefragt: Entfalten sich bürgerliche Proteste auf dem Nährboden eines wachsenden Egoismus der Bürger? Dieser Aspekt wird überaus kontrovers debattiert. Energiemanager Johannes F. Lambertz hält es schlichtweg für eine Folge des gesellschaftlichen Wandels, „dass jeder Einzelne primär seine eigenen Interessen verfolgt“. Der Vorstandsvorsitzende der RWE Power AG vermisst beim 50 ANALYSE 10 Zustimmung zur Aussage: Wenn in meiner Umgebung ein Großprojekt wie ein Flughafen oder ein Kraftwerk gebaut werden sollte, würde ich mich dagegen engagieren. 32% 26% 21% 13 % Stimme voll und ganz zu Stimme eher zu Lehne eher ab Keine Angabe: 2 %; weiß nicht: 5% — Abb. 4.1 Quelle: Dimap, 2011 Lehne voll und ganz ab Thema Gemeinwohl gesellschaftliche Vorbilder, weshalb es schwierig sei, den einzelnen Bürger dazu zu motivieren. S.218 Professor Manfred Güllner sieht die Wurzeln des heutigen Protestverhaltens in der 68er-Bewegung. „Denn die hat ja die Individualisierung der Gesellschaft und die Selbstverwirklichung gefordert“, analysiert der forsa-Geschäftsführer. Öffentliche Tugenden hätten mittlerweile an Wert verloren. In einem brutaler gewordenen Alltag hätten die Leute gelernt, „dass sie ihre Interessen maximieren müssen. Die Ellenbogen-Gesellschaft ist sozusagen internalisiert worden“, so Güllner. S.173 In der Wahrnehmung von Roland Koch mangelt es der Gesellschaft ganz allgemein an der Einsicht, dass Gemeinwohl auch die Hinnahme bestimmter Einschränkungen bedeute. „Zum Beispiel wird schon das Aufstellen eines Glascontainers in einer Gemeinde von den Anwohnern als potenzielle Ruhestörung wahrgenommen, die man nicht bereit ist hinzunehmen“, verdeutlicht der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE den heutigen Geist. S.206 „Die Gesellschaft ist egoistischer geworden“, lautet nicht nur beim stellvertretenden PHOENIX-Redaktionsleiter Hans-Werner Fittkau das Fazit. Nein, nur gewachsenes Selbstbewusstsein! Der Theorie vom fortschreitenden Verlust der Gemeinwohlorientierung wollen Experten wie der Werteforscher Helmut Klages so nicht zustimmen. „Die Menschen sind heute nicht egoistischer als früher oder weniger bereit, Lasten für das Allgemeinwohl zu tragen. Es gibt nur eine größere Sensibilität für Verletzungen von Interessenlagen und ein aktiveres und selbstbewussteres Selbstverständnis gegenüber der Politik“, differenziert er. S.200 Eine Einschätzung, die unter anderem von Dieter Rucht geteilt wird, der trotz Individualisierungstendenzen und stärkerer Ich-Bezogenheit vielen Menschen unterstellt, „dass sie aus tiefster Überzeugung auf persönliche Vorteile verzichten und für die Allgemeinheit einstehen“. S.246 Auch Oberkirchenrat Eberhard Pausch glaubt nicht, dass die Gemeinwohlorientierung gesunken ist, und traut den heutigen Menschen eine gewisse Opferbereitschaft zu Gunsten des Gemeinwohls zu. Die entsprechenden Belastungen müssten allerdings gut begründet werden, fordert der Theologe. S.236 Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals begrüßt ausdrücklich die kritische Begleitung durch die Bürger: „Wir haben eine Kaskade von Krisen durchlebt. Dass in so einer Situation die Bürger nachfragen, ob dieses oder jenes Großprojekt Teil der Lösung oder Teil des Problems ist, ist in meinen Augen eine ausgesprochen positive Tendenz.“ Parteien- und Demokratieforscher Ulrich von Alemann, der als einer der wenigen die These einer insgesamt eher gestiegenen Gemeinwohlorientierung vertritt, bemüht einen Vergleich: „Auch die Moralschwelle wird durch die Medien und die öffentliche Debatte eine andere Höhe erreichen. Generell sind 4 Warum Bürger protestieren 51 die Politiker oder die Moral aber nicht schlechter geworden. Richtig ist, dass die Moralmaßstäbe steigen. Dasselbe gilt für die Gemeinwohlorientierung – subjektiv besteht das Gefühl, dass sie abnimmt, objektiv nimmt sie eher zu.“ S.265 f. Ein Beleg für diese Auffassung ist die kontinuierlich stabile Engagementquote, die den Anteil freiwillig Engagierter in Deutschland zeigt (vgl. Abb. 4.2). Saturierte Gesellschaft Nicht wenige Experten interpretieren die NIMBY-Haltung als Ausdruck der Saturiertheit unserer Gesellschaft. Zu ihnen gehört Michael Fuchs, der feststellt, Deutschland sei eine „Luxusgesellschaft“ geworden. „Die Leute sagen einfach: ‚Uns geht’s gut. Ach nee, das soll alles so bleiben, wie es ist.‘“ Diese Menschen sähen den direkten Zusatznutzen nicht, den die Maßnahmen ihnen persönlich brächten, bedauert der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSUBundestagsfraktion. Das sei darauf zurückzuführen, dass „wir eine Gesellschaft sind, die im Prinzip wesentliche Probleme nicht hat, weil alle Probleme weitestgehend gelöst zu sein scheinen.“ S. 168 Einen Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau und Protestbereitschaft stellt auch Hildegard Müller her. „Die Menschen haben das Gefühl, dass es Deutschland gut geht, viel erreicht wurde und dass das ausreicht.“ Deswegen sei die Toleranz gegenüber großen Infrastrukturvorhaben gering, so die Hauptgeschäftsführerin des BDEW. S.228 Elisabeth Schick diagnostiziert „eine neue Biedermeier-Bewegung“ gerade im bürgerlichen Mittelstand. Diese kümmere sich nur „um ihren eigenen Lebensbereich – Familie, enger Freundeskreis – und alles, was vor der eigenen Haustür stattfindet. Der Rest, also die Allgemeinheit, scheint da weniger relevant zu sein. Deswegen spielt es für viele auch offensichtlich eine geringere Rolle, welchen gesamtgesellschaftlichen Nutzen Großprojekte haben“, so die Beobachtung der Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF. S.250 ziert. Fast drei Viertel (73 Prozent) aller Befragten finden, dass sie nicht vom derzeitigen Wirtschaftswachstum profitieren (ARD Deutschlandtrend/ Infratest dimap 2012). 11 Engagementquote (Anteil freiwillig Engagierter an der Bevölkerung) in Deutschland in den Jahren 1999, 2004 und 2009 Freiwillig Engagierte (längerfristig) 2009 2004 19 99 Nicht öffentlich Aktive Öffentlich Aktive (unverbindlich) — Abb. 4.2 Quelle: TNS Infratest, 2010 Vorbehalte gegenüber Großunternehmen Was das Verhalten der Unternehmen anbelangt, werden häufig einseitige Profitorientierung und mangelhafte Ausrichtung auf die Interessen des Allgemeinwohls als Defizite benannt. In den Augen von Manfred Güllner und anderen Befragten ist diese Wahrnehmung von den Unternehmen selbst verschuldet. „Denn sie haben vor einigen Jahren verstärkt den ShareholderValue zum Hauptprinzip erhoben und die soziale Verantwortung von sich geschoben“, analysiert der Meinungsforscher. S.173 Gerade die Energiekonzerne wollten in den Augen vieler Bürger nur ihre Geschäfte sichern, so Stephan Kohler. S.211 Verlust des Vertrauens in „die da oben“ Ein weiterer gewichtiger Motivationstreiber für Proteste liegt in der offensichtlichen Entkoppelung der Bürger von den wirtschaftlichen und politischen Eliten. Dass das Zutrauen in diese gesellschaftlichen Instanzen schwindet, belegen zahlreiche Studien. So kann eine deutliche Mehrheit der Deutschen (64 Prozent) nicht mehr erkennen, dass die Politik heute noch Moral vermittelt. 57 Prozent verneinen das auch für die Wirtschaft (vgl. Abb. 4.3). Lediglich 26 Prozent der Bundesbürger bringen Großunternehmen und Konzernen überhaupt Vertrauen entgegen, noch schlechter steht mit 14 Prozentpunkten nur die Politik dar (VKU/TNS Emnid 2010: 2). Angesichts dieses weit verbreiteten Misstrauens überrascht es kaum, dass die Hälfte der Deutschen mit der sozialen Marktwirtschaft unzufrieden ist und sich offenbar nur ungenügend mit dem derzeitigen System identifi52 ANALYSE Viele Experten sehen in dieser Entwicklung eine zentrale Ursache für bürgerlichen Widerstand. So glaubt etwa Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, dass die Proteste häufig von Zweifeln daran getrieben sind, „dass wirklich das Gemeinwohl hinter der Planung steckt“. S.124 Eine Einschätzung, die von einem deutlichen Misstrauen der Menschen gegenüber den Vorhabenträgern zeugt und die von zahlreichen Experten geteilt wird. „Viele Menschen haben das Gefühl, dass man eigentlich keinem mehr glauben kann“, fasst Manfred Güllner das zerrüttete Verhältnis zwischen den Menschen auf der einen Seite und der Politik und den Unternehmen auf der anderen Seite zusammen. 12 Vermitteln die folgenden gesellschaftlichen Instanzen Ihrer Meinung nach heute Moral? NEIN 64% JA 6% NEIN 57% JA 6% Politik — Abb. 4.3 Quelle: RAL-Institut, 2011 Wirtschaft NEIN 44 % JA 11% Mit Blick auf die Energiewirtschaft führt Michael Bauchmüller den Aspekt der Abhängigkeit ins Feld. „Von den Diensten eines Stromkonzerns, der Bahn oder eines Telekommunikationsanbieters hängt der Einzelne ab. Solche Abhängigkeit macht skeptisch.“ S.141 Das belegt auch das Edelman-Trust-Barometer: Demnach hat die Bevölkerung sehr wenig Vertrauen in die vier großen Energiekonzerne, insbesondere weil viele Kunden mit der Entwicklung der Strompreise nicht einverstanden sind (FTD/Edelmann 2012). Der Journalist attestiert den Deutschen außerdem ein ausgeprägtes Problem mit Obrigkeit und Machtkonzentration. „Machtvolle Unternehmen in Deutschland werden nicht als Global Player gesehen, die dieses Land im Ausland vertreten, sondern als eine ungute Anballung von Macht und Einf luss.“ S.141 Diese Vermutung teilt auch Johannes F. Lambertz: „Bei uns gilt grundsätzlich ‚small is beautiful’, so dass große, internationale Unternehmen hier immer mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden.“ S. 217 Kirche Eine Reihe unabhängiger Untersuchungen bestätigt die Experten in ihren Einschätzungen. 81 Prozent der deutschen Bevölkerung haben wenig bis gar 4 Warum Bürger protestieren 53 kein Vertrauen zu Großunternehmen (vgl. Abb. 4.4). Während kleine Familienunternehmen in Deutschland mit positiven Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Seriosität und Glaubwürdigkeit assoziiert werden, schneiden große Unternehmen bei der Vertrauensfrage deutlich schlechter ab. Sie werden von den Bundesbürgern als lobbyistisch, gierig und wirklichkeitsfern wahrgenommen (Bertelsmann Stiftung 2009: 8). Zweifel und Überforderung Für Roger de Weck hat der Vertrauensverlust auch damit zu tun, dass viele Unternehmen den Bürgern gegenüber aus einer vermeintlichen Position der Überlegenheit heraus agieren. „Viele in der Wirtschaft nehmen die Haltung ein: Wir haben die Argumente, die anderen haben die Emotionen, wir sind ernst zu nehmen, die anderen sind unseriös, wir denken langfristig, die anderen sind keine Realisten. Genau diese Haltung weckt bei Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden, und dann nehmen sie die Wirtschaft und ihre Argumente auch nicht ernst.“ S. 154 Im Gegensatz zu nichtstaatlichen Organisationen, die mit Allgemeininteressen assoziiert würden, verbinde man mit Unternehmen Eigeninteressen, erklärt Sören Bartol. Der Sozialdemokrat sieht darin eine Ursache für das Vertrauensdefizit gegenüber der Wirtschaft. „Wir sind in Deutschland gewohnt, Allgemeininteressen für gut und Eigeninteressen als etwas anrüchig oder bedenklich einzuschätzen, obwohl unsere Wirtschaft davon lebt. Deswegen haben Unternehmen oder die Wirtschaft immer einen schweren Stand, sobald die Gegenseite Allgemeininteressen ins Feld führt.“ S. 139 Die Vorbehalte der Menschen hingen unter anderem damit zusammen, dass die Wirtschaft insgesamt unübersichtlicher geworden sei, meint Johannes F. Lambertz. Komplexe Zusammenhänge, die Unternehmen beispielsweise zur Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland zwingen, seien dem Einzelnen heute nur schwer oder gar nicht zu vermitteln. Erosion des Vertrauens in die Politik Auch um das Verhältnis der Bürger zu ihren Volksvertretern ist es laut Expertenmeinung nicht zum Besten bestellt. Hier sind es nach Auffassung der Fachleute vor allem die Intransparenz und scheinbare Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen, die zur Erosion des Vertrauens beitragen. Der Verdruss der Bürger beziehe sich dabei weniger auf die allgemeine Politik, merkt Ulrich von Alemann an. „Stärker als die allgemeine Politikverdrossenheit ist die Parteienverdrossenheit oder die Politikerverdrossenheit“, so der Wissenschaftler. In der Tat vertrauen 78 Prozent der Deutschen den politischen Parteien „eher nicht“ (Europäische Kommission/TNS Infratest 2011). 54 ANALYSE 13 Wie viel Vertrauen haben Sie zu den Großunternehmen? Wenig, gar kein Vertrauen 81% Sehr großes, großes Vertrauen 18 % Weiß nicht/keine Angabe 1% — Abb. 4.4 Quelle: Infratest dimap, 2008 Für den allgemeinen Unmut der Bürger gegenüber der Politik liefern die Befragten gleich eine ganze Palette an Begründungen. Eberhard Pausch identifiziert die Ursachen zum einen in der Abstraktheit und Komplexität des politischen Apparats. „Das negative Bild zur Politik entsteht sicherlich dadurch, dass die Politik für den Bürger zunächst einfach sehr abstrakt ist. Der Staat ist ja auch ein unglaublich vielfältiges, komplexes und unübersichtliches Gebilde und die Akteure innerhalb des Großakteurs Staat sind ein Universum für sich. Es ist einfach schwierig, damit umzugehen“, glaubt der Kirchenvertreter. In der Wahrnehmung des Theologen wenden die Bürger sich aber auch deshalb von der Politik ab, weil sie sich nicht wirklich zum Dialog eingeladen fühlen. Pausch kritisiert die „oft präsentierte Rede von Alternativlosigkeit. Wenn ein Gesetzesentwurf dem Parlament vorgelegt wird, steht da meistens: ,Alternativen: keine.‘ Das ist verheerend.“ S.237 Dem pflichtet Michael Bauchmüller bei: „Die Kombination aus Nicht-gehörtwerden und alternativloser Entscheidung ist wie der Wespenstich für den Allergiker. Das ist eine tödliche Kombination.“ Der Journalist führt das Unbehagen außerdem auf die mangelnde Verlässlichkeit der politischen Organe zurück. „Der Wahlkreisabgeordnete in seinem Bürgerbüro verspricht mitunter mehr, als er am Ende halten kann oder die Politik schlussendlich einlöst. Die Erfahrung, dass am Ende alles anders kommt, kennen die meisten Bürger.“ S.140 Eine Vielzahl von Studien spiegelt den Eindruck wider, dass Bürger sich von politischen Prozessen häufig ausgeschlossen fühlen. So verneint mit 79 Prozent eine überdeutliche Mehrheit der Bundesbürger die Frage, ob das Volk in Deutschland wirklich etwas zu sagen habe (Stern/forsa 2010). Laut einer weiteren Untersuchung haben gar 94 Prozent der Befragten das Gefühl, dass sie persönlich keinerlei Einfluss auf das Handeln der Regierung haben (Friedrich-Ebert-Stiftung/USUMA 2010). Distanz und mangelnde Wahrhaftigkeit Die Skepsis der Bürger gegenüber der Politik sieht Helmut Klages in einer Interessenkollision beider Lager begründet: So sei „das politische System aufgrund seiner Eigenkomplexität nach außen hin geschlossen, weil die Politik mit sich selbst genug beschäftigt ist“. Gleichzeitig gebe es aber „ein stark zunehmendes Beteiligungsbedürfnis der Bevölkerung“, das durch ein höheres Bildungsniveau, rationalere Orientierung im Berufsleben sowie eine ansteigende Informationsdichte durch Massenmedien befördert werde. S.200 (vgl. Abb. 4.5) Andere Experten führen die Kluft zwischen den Bürgern und der politischen Klasse auf ein Anpassungsverhalten zurück, das durch wahltaktische Erwägungen diktiert wird. Das Bedürfnis der Menschen nach Authentizität und 14 Orientiert sich die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung eher am Gemeinwohl oder eher an den Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen? Gemeinwohl 26% Einzelinteressen 70% Weiß nicht: 4% — Abb. 4.5 Quelle: ZDF Politbarometer/Forschungsgruppe Wahlen, 2010 4 Warum Bürger protestieren 55 Wahrhaftigkeit wird dabei durch die Volksvertreter offenbar nicht mehr ausreichend bedient, weshalb diese durch Vertrauensentzug abgestraft werden, so die These der Fachleute. „Früher waren Politiker erfolgreich, die Ecken und Kanten hatten und bei denen man wusste, wofür sie stehen. Wenn ein Politiker heute so ist, verliert er wahrscheinlich die nächste Wahl. Die Konsequenz ist, dass wir glatt geschliffene Politiker haben und sich die Glaubwürdigkeit dieser Berufskaste – ähnlich wie bei den Managern – in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat“, beschreibt Johannes F. Lambertz das Dilemma. S. 216 f. Der Opportunismus der politischen Klasse müsse reduziert werden, fordert daher Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig. „Wir müssen für notwendige Großprojekte auch öffentlich Verantwortung tragen und von vornherein öffentlich für solche Projekte werben und uns nicht taktisch oder opportun, je nachdem wie es gerade die politische Landschaft notwendig macht, verhalten“, so der Appell des Politikers. S.224 Kollektive Visionen fehlen Fragen, die auf Widersprüche in der Gesellschaft hindeuten“, so Krischer. S.212 Patrick Döring hält persönliche Betroffenheit für den Hauptantrieb, glaubt aber, dass neben dem Forschungsbereich die Proteste gegen Energieerzeugungsanlagen und große Industrieanlagen noch ideologisch gefärbt seien. S.157 Für Frank Brettschneider trifft das eher auf die Aktivisten der Friedensbewegung und der Anti-Atomkraft-Bewegung zu, auch wenn sich heute noch viele andere Gründe dazumischten. In der breiten Öffentlichkeit spielten ideologische Motive kaum noch eine Rolle, urteilt der Wissenschaftler. S.144 Ähnlich bewertet das Eberhard Pausch. „Eine bestimmte Weltanschauung ist weniger wichtig, das war vielleicht in den siebziger und achtziger Jahren noch der Fall“, sagt der Theologe. S.236 Weltanschauliche Motive Die generellen Defizite im Verhältnis zwischen Bürgern und den politisch Verantwortlichen machen einige Experten am Beispiel der Energiewende konkret. Die Politik finde nicht das richtige Framing für ihre Anliegen, rügt der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrats, Günther Bachmann. Ein Projekt wie die Energiewende müsse die Bevölkerung als Gemeinschaftsprojekt erkennen können, das gemeinschaftlich umgesetzt werden muss. „Dazu gehört, dass von allen Seiten nicht nur etwas gefordert/verlangt, sondern auch gegeben wird.“ S.128 Andere Befragte glauben, dass kämpferisch vertretene Weltanschauungen sehr wohl noch eine Rolle bei Protesten spielen. „Es wäre zu vereinfacht zu sagen, dass es den Leuten nur um ihr persönliches Immobilienvermögen geht, so einfach ist es auch nicht“, sagt zum Beispiel Justus Haucap. S.181 Nach Meinung von Manfred Güllner sind Ideologien unter anderem in der Energiediskussion anzutreffen. „Die Einstellung zur Energie ist generell sehr stark von der parteipolitischen Orientierung abhängig.“ Ideologisch motiviert gewesen seien auch die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV. S.173 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Rolf Martin Schmitz. „Die Politik wäre in der Pf licht, das gesamte Bild zu zeigen. Dazu kann auch gehören, dass in der Nähe des eigenen Hauses Windkraftstandorte oder neue Hochspannungsleitungen gebaut werden müssen. Solche Botschaften sind unpopulär. Trotzdem müssen sie unmissverständlich vorgetragen werden, sonst kann der einzelne Bürger nicht nachvollziehen, warum er nun Lasten tragen soll.“ S.254 Ideologische Fronten sieht auch Rolf Martin Schmitz beispielsweise zwischen Industrie und NGOs verlaufen. S.255 Mit Blick auf Stuttgart 21 spricht Hans-Werner Fittkau von den „alten Hartnäckigen“, die seiner Einschätzung nach bei dem umstrittenen Bahnhofsprojekt eine durchaus ideologische Rolle gespielt hätten. „Das waren teilweise Leute aus der 68er-Bewegung, die heute in Rente sind.“ S.164 Patt bei der Ideologiefrage „German Angst“ – ein Klischee? Im Zusammenhang mit Protesten wird nicht selten der Begriff der Ideologie bemüht. Gemeint ist die Vorhaltung, Menschen agierten allein aus einer starren, übergeordneten weltanschaulichen Haltung heraus gegen ein bestimmtes Projekt – ohne zugänglich zu sein für rationale Fakten und Argumente der Gegenseite. Wie beurteilen die Experten dieses Motiv? Sind Ideologien heute noch ein Treiber für Proteste? Zustimmung und Ablehnung halten sich bei dieser Frage in etwa die Waage. In der Kontroverse um große Infrastrukturprojekte wird bisweilen unterstellt, dass die Gegner von einer typisch deutschen Technikangst getrieben seien; eine irrationale Furcht vor Hochtechnologien würde manchem Bundesbürger den sachlichen Blick auf das Vorhaben verbauen, so der latente Vorwurf. Die Technikfeindlichkeit und das Dagegensein in der Bundesrepublik kritisiert unter anderem der Journalist und Diplom-Ingenieur Gerhard Matzig. Der Autor vertritt in einer viel beachteten Streitschrift die These, dass Deutschland sich mit seiner Technophobie seine Zukunft verbaue (Matzig 2011). Politiker wie Sören Bartol und Oliver Krischer glauben nicht, dass weltanschauliche Positionen noch eine ausschlaggebende Rolle spielen. „Nein, das sind keine ideologischen Gründe, sondern da geht es um grundsätzliche 56 ANALYSE Nicht alle, aber doch eine Mehrzahl der Experten bestreitet das. „Das entspricht dem gängigen Vorurteil auf deutschen Chefetagen, hat aber mit der 4 Warum Bürger protestieren 57 Volkswirtschaftliche Verluste Wirklichkeit wenig zu tun“, befindet etwa Roger de Weck. Wäre die deutsche Grundkultur technologiefeindlich, hätte es die deutsche Wirtschafts- und Erfolgsgeschichte niemals gegeben, so der Schweizer. „Es gibt berechtigte Kritik gegenüber einigen Aspekten einiger Großtechnologien, aber ich sehe die Deutschen in keiner Weise als einen Menschenschlag, der in dieser Hinsicht völlig anders geprägt wäre als andere. Angst ist kein deutsches Monopol.“ S.153 Gegen die „gängige Wahrnehmung, dass es in Deutschland eine enorme Technikfeindschaft, ,German Angst‘ oder ,Hystérie Allemande‘, gibt“, wehrt sich unter anderem Dieter Rucht. „Es ist schon so, dass die Proteste in Deutschland im Schnitt etwas stärker als in vielen vergleichbaren Ländern sind, aber das liegt nicht an der deutschen ,Volksseele‘ mit ihrem angeblichen Hang zur Romantik, sondern daran, dass sich hier über Jahrzehnte Gruppen gebildet haben, die Aufklärungs- oder auch Agitationsarbeit leisten und im Allgemeinen besser organisiert sind als in den meisten übrigen Ländern. Um diesen angeblichen deutschen Sonderfall zu relativieren: Es gibt an vielen Orten der Welt intensive, vehemente Proteste, etwa gegen Wasserkraftwerke in Indien, die Narmada-Staudämme. In Tokio gab es beim Flughafenprojekt Narita mehrere tote Demonstranten. In Frankreich gab es auch im Zusammenhang mit Atomkraft heftige Proteste. In Norwegen gab es beim Bau von Staudämmen Belagerungen und Blockaden. Vielleicht nicht in dieser Dichte wie in Deutschland, aber doch in derselben Art und Vehemenz findet man Proteste in vielen Ländern.“ S. 245 f. Zu glauben, dass persönlich betroffene Menschen in anderen Teilen der Welt vergleichbare Projekte einfach hinnehmen, „wäre eine Verklärung der Lage“, findet auch Roland Koch. „Es gibt keinen Grund zu glauben, der Rest der Welt tue sich einfacher mit diesen Themen.“ S. 207 Deutschland sei kein Sonderfall, pflichtet Andreas Nauen bei, „denn ähnliche Diskussionen gibt es auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Kanada. Dort herrscht vereinzelt sogar die irrationale Angst, dass Kühe, die unter Windrädern grasen, tot umfallen.“ S.234 Nach Einschätzung von Helmut Klages bewegt sich die Protestbereitschaft „eher unterhalb des Mittelfeldes vergleichbarer Länder“. Ulrich von Alemann spricht für mehrere Experten, wenn er feststellt: „Es ist ein Mythos, dass sich hier und heute keine Großprojekte mehr durchführen ließen. Es herrscht keine allgemeine Technikfeindlichkeit.“ Die Technikskepsis sei in Deutschland vielmehr sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vorbehalte gebe es vor allem gegenüber Technologien, bei denen die Bevölkerung konkrete Gesundheitsbeschwerden befürchte wie bei der Gentechnologie. Andere Techniken, wie etwa im Telekommunikationsbereich, würden dagegen völlig unkritisch bewertet und seien akzeptiert, obwohl immer wieder auf mögliche Strahlungsschäden hingewiesen werde. „Proteste etwa wie bei Stuttgart 21 können nicht grundsätzlich auf alle Großprojekte in Deutschland übertragen werden“, so das Urteil des Parteien- und Demokratieforschers. S. 264 58 ANALYSE Eine gegensätzliche Auffassung vertritt Michael Fuchs. Als Ursache dafür, dass Teile der Bevölkerung Großprojekte oder bestimmte Technologien ablehnten, benennt er explizit „ein Technikfeindlichkeitsproblem in Deutschland“. Das hohe deutsche Wohlstandsniveau führe dazu, dass die Bundesbürger neue Technologien mittlerweile höchst skeptisch betrachteten, so die Wahrnehmung des Unionspolitikers. S.168 Protestierende in Strahlenschutzanzügen, Proteste gegen Gen-Food Diese Sicht wird auch von Elisabeth Schick geteilt. Im Vergleich zu aufstrebenden Tigerstaaten in Asien sei Fortschritt in Deutschland kein tragendes Motiv mehr, „stattdessen macht sich eher eine Mentalität der Besitzstandswahrung breit. Der Deutsche ist tendenziell eher ein Bedenkenträger und detailverliebt. In Asien und auch in den USA sind die Menschen fortschrittsorientierter und sehen stets auch die Chancen eines Projektes.“ S.249 Verhaltene Zustimmung zur These von der Technikskepsis der Deutschen kommt von Gerd Landsberg: „Tendenziell besteht in Deutschland schon seit Jahrzehnten im Vergleich zu Frankreich oder England eine gewisse Technikfeindlichkeit. Insofern sind Großprojekte auch schwieriger durchsetzbar“, glaubt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Dass durch die „sehr hohe Skepsis gegenüber Neuem volkswirtschaftlich etwas verloren geht“, findet Justus Haucap. Dieser Umstand sei dabei nicht nur im Energiebereich anzutreffen, sondern auch in anderen Wirtschaftszweigen wie etwa der Gentechnologie, so der Vorsitzende der Monopolkommission. Komplexität der Motive Rekapituliert man die Summe der mit den Experten debattierten Aspekte, ergibt sich ein sehr komplexes Bild der Protestkultur in Deutschland. Als Motivationstreiber zeichnen sich im Wesentlichen fünf Aspekte ab. Sie spiegeln dabei weitestgehend die Logik von Professor Frank Brettschneider wider, der zwischen fünf Gruppen von Protestgründen unterscheidet. S.144 Der NIMBY-Effekt ist unter den Fachleuten weitestgehend unstrittig. Die persönliche Betroffenheit ist offenbar ein zentrales Motiv des bürgerlichen Widerstands, für das Experten jeder Couleur durchaus Verständnis aufbringen. Puren Egoismus und mangelnden Sinn für das Gemeinwohl unterstellt jedoch nur ein Teil von ihnen den Protestierern. Für die anderen Fachleute ist das NIMBY-Verhalten eher Ausdruck eines gewachsenen Selbstbewusstseins der Bürger beziehungsweise Begleiterscheinung der saturierten deutschen Wohlstandsgesellschaft. Einigkeit besteht darüber, dass neben Partikularinteressen eine Reihe anderer Aspekte den Protest befruchtet, etwa die projekt- oder sachbezogenen 4 Warum Bürger protestieren 59 Gründe, wie Brettschneider diese eher rationale Ebene nennt. Dazu gehören etwa die Umweltfolgen und die Kostendimension eines Großprojekts. Diese, um mit Rainer Baake zu sprechen, „altruistischen Motive“ S.124 spielen nach Ansicht des Wissenschaftlers in der allgemeinen öffentlichen Diskussion eine größere Rolle als die NIMBY-Mentalität. Auffällig groß ist im Expertenkreis die Übereinstimmung in einem Punkt: Der allgemeine Vertrauensverlust der Bürger gegenüber Politik und Vorhabenträgern ist einer der schwergewichtigsten Gründe für das zivile Aufbegehren in Deutschland. Die Entkoppelung der Menschen von den wirtschaftlichen und politischen Akteuren und Defizite in der Kommunikation befördern offenbar in hohem Maße Misstrauen und Protest gegen Großprojekte. Ob dabei heute noch Ideologien oder womöglich eine latente deutsche Technikangst eine gewichtige Rolle spielen, darüber sind sich die befragten Fachleute uneins. Fakt ist, dass eine Reihe der hier zusammengefassten Gründe auch bei Stuttgart 21 eine Rolle gespielt haben dürfte. Das umstrittene Bahnhofsprojekt gilt als Metapher schlechthin und wird daher auch von den Experten immer wieder als „Anschauungsobjekt“ zur Erforschung bürgerlicher Protestmuster in Deutschland herangezogen. Den gesellschaftlichen, politischen und medialen Mechanismen von Stuttgart 21 ist daher im nachfolgenden Kapitel ein eigener Exkurs gewidmet. 5 Exkurs Stuttgart 21: Blaupause in Sachen Demokratieverständnis Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 beherrschten monatelang die Schlagzeilen in Deutschland. Während die Volksabstimmung längst zu Gunsten des Bahnhofsneubaus entschieden wurde und die Bauarbeiten voranschreiten, ist das Projekt zu einer Art „Blaupause“ geworden, anhand derer sich Wirkmechanismen studieren lassen, die auch bei der Realisierung künftiger Infrastrukturvorhaben zum Tragen kommen dürften. Dabei stellt sich zunächst die Frage, warum ein Bahnhofsprojekt in BadenWürttemberg überhaupt bundesweit eine derartige Resonanz erzeugen konnte. Einige Fachleute führen das auf die simple Tatsache zurück, dass das Thema Bahnfahren für viele Menschen ein sehr naheliegendes Sujet ist. „Faszination Eisenbahn. Jeder kann bei dem Thema mitreden“, meint der Journalist Hans-Werner Fittkau. S.165 Der stellvertretende Redaktionsleiter des Fernsehsenders PHOENIX hat die Geschehnisse rund um Stuttgart 21 intensiv begleitet. Gleichzeitig ist die Bahn aber auch ein kollektives Ärgernis für viele Bürger. Für Patrick Döring gehört die Bahn „zu einem völlig undurchsichtigen, merkwürdigen Teil unserer Gesellschaft. Sie bietet sich geradezu als Lieblingsfeind an“, spitzt es der FDP-Generalsekretär zu. „Die bundesweite Aufmerksamkeit ist den Erfahrungen vieler Menschen geschuldet, die sie jeden Tag mit der Deutschen Bahn machen“, drückt den gleichen Erklärungsansatz etwas nüchterner Oliver Krischer aus. „Dass man für ein solches Projekt Milliardenbeträge ausgibt, aber auf der anderen Seite kleinste Verbesserungsmaßnahmen bei der Bahnmobilität nicht finanzieren kann, weil 60 ANALYSE 5 Exkurs Stuttgart 21 61 um die finanzielle Dimension des Projekts eine Triebfeder für die Proteste gewesen. Mit den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt in Schwaben habe sich ein lang gehegter Wunsch nach Partizipation entladen. Deutschland sei reif für die Bürgerbeteiligungsfrage, glaubt der Journalist. „Stuttgart 21 war da ein Kulminationspunkt.“ S.165 das Geld fehlt, dafür haben die Menschen kein Verständnis“, führt der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen aus. Bahnhof als Metapher: In Stuttgart 21 wurde nicht nur über ein Bauprojekt verhandelt – sondern über das grundlegende Verständnis von Demokratie und Beteiligung in unserer Gesellschaft Zwei Paar Schuhe: Obwohl ein Projekt wie der geplante Bahnhofsneubau juristisch legal ist, ist es in der Wahrnehmung vieler betroffener Bürger noch lange nicht legitim AUF EINEN BLICK Mit Fakten überzeugen: Eine ausführliche Detaildiskussion schon im Vorweg eines Großprojekts kann offenbar Akzeptanz schaffen und eine Eskalation verhindern Stuttgarter Prototyp: Der viel zitierte „Wutbürger“ ist empirisch belegt – auch wenn die Begrifflichkeit umstritten bleibt Sinnbild des Aufbegehrens Einige Experten vertreten sehr nachdrücklich die Auffassung, dass sich in den Ereignissen um Stuttgart 21 ein grundlegenderer Konflikt Bahn gebrochen hat. „Stuttgart 21 war ein Symbol dafür, dass Bürger nicht angemessen mitgenommen wurden“, sagt etwa Sören Bartol. Die Zustimmung zu den Protesten habe nur in geringem Maße mit dem Projekt selbst zu tun gehabt. „Bundesweit ging es eher um die Frage: ‚Wie werden Bürger beteiligt?‘ Es ging um die Frage der Demokratie.“ S. 136 „Es lag jedenfalls nicht am Bahnhof, das allein hätte nicht zu so großer Aufmerksamkeit geführt“, glaubt auch Dieter Rucht. Nach Meinung des Sozialwissenschaftlers wurden bei Stuttgart 21 zwei allgemeine Themen mit verhandelt: „Erstens die Frage von Demokratieverständnis, Bürgerbeteiligung und Transparenz. Und zweitens die Frage: Was bedeutet Fortschritt? Was bedeutet Modernität?“ S. 244 Stuttgart 21 habe bei den Bürgern ein „Die-da-oben-Gefühl“ erzeugt, ist Hans-Werner Fittkau überzeugt. Die Wahrnehmung, nicht richtig in die Planungen mit einbezogen worden zu sein, sei in Kombination mit der Sorge 62 ANALYSE Dazu beigetragen hat laut Frank Brettschneider auch das damalige gesellschaftspolitische Umfeld in Deutschland. „Die allgemeine Stimmung vor dem Hintergrund der Finanzkrise und die Perspektive der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg“ haben nach Auffassung des Professors für Kommunikationstheorie das Interesse an Stuttgart 21 überregional angekurbelt. S.145 In dieser Situation habe sich die Frage gestellt, „ob die erheblichen Investitionskosten und der verkehrswirtschaftliche Zusatznutzen eigentlich in einem vernünftigen Verhältnis stehen“, ergänzt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig. Professionelle Kommunikation Volker Kefer macht die besondere Dimension des Faktors Kommunikation deutlich. Ingenieure tendierten dazu, sich sehr fachlich auszudrücken. „Etwas so zu erklären, dass es die Öffentlichkeit einigermaßen nachvollziehen und verstehen kann, ist bislang nicht die große Kunst meiner Zunft“, so das selbstkritische Resümee des Ingenieurs und Technikvorstands der Deutschen Bahn AG. Diese Erkenntnis habe inzwischen zu Veränderungen in der Argumentation und auch in der Aufbereitung der Unterlagen geführt, betont der Topmanager. S.198 Die Wichtigkeit einer einfachen Sprache betont auch der Präsident der Bundesnetzagentur: „Sie müssen diese komplizierten Zusammenhänge, die nur wenige Menschen wirklich im letzten Detail verstehen, in eine bürgernahe Sprache übersetzen. Das ist eine große und ungewohnte Aufgabe für eine Behörde“, meint Jochen Homann. S.195 Volker Kefer regt zugleich ein Nachdenken über die Begriffe Legalität und Legitimation an: „Legal war bei Stuttgart 21 alles. Dass es auch legitim war, wurde von den Projektgegnern in Abrede gestellt.“ Beides dürfe in der Gesellschaft nicht auseinanderdriften, mahnt der Bahn-Vorstand. S.199 Protest gegen Stuttgart 21 Folgt man manchen Experten, waren offenbar die Gegner des Bahnhofsprojektes im Hinblick auf die Kommunikation weitaus besser aufgestellt. Laut Patrick Döring sind die Proteste bundesweit vermarktet worden. Auch Stephan Kohler kommt zu dem Schluss: „Das professionelle Projektmanagement der Proteste hatte eine neue Qualität.“ Gepaart mit einer gut organisierten Medienkampagne habe man den Protesten so republikweite Aufmerksamkeit beschert, analysiert der Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur (dena). Für große Aufmerksamkeit sorgte laut Frank Brettschneider nicht zuletzt die Einbeziehung öffentlicher Personen wie etwa des Schauspielers Walter Sittler. S.145 5 Exkurs Stuttgart 21 63 Spätes Erwachen Dass die organisierten Proteste auf der Straße erst relativ spät einsetzten, erklärt Dieter Rucht mit der weit zurückreichenden Historie des Projekts. „Wenn man die Planungsgeschichte genauer verfolgt, dann war für die Stuttgarter lange nicht klar, ob dieses Projekt jemals Wirklichkeit wird.“ Nach einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Diskussionsprozess und dem gescheiterten Versuch eines Bürgerbegehrens im Jahr 2007 hätten „in der späten Phase dann viele Leute gesagt: ‚Jetzt ist eben die letzte Gelegenheit und jetzt bin ich auch mit dabei‘“, erläutert der Wissenschaftler. Für Helmut Klages ist das verständlich, auch weil die Menschen sich schlichtweg nicht mehr daran erinnern könnten, „dass am Beginn der Planungen vor zig Jahren eine Bürgerumfrage oder irgendeine größere Veranstaltung gemacht worden war“, wie der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften sagt. S. 202 Anders sieht das der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Fuchs: „Das Thema wurde zigmal im Stadtrat von Stuttgart behandelt und alle Presseorgane haben darüber berichtet. Die Bevölkerung hätte eigentlich informiert sein müssen.“ S. 169 Auch Rainer Baake hält die Kritik an den späten Protesten im Grundsatz für berechtigt. Gleichzeitig schränkt der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende ein: „Auf der anderen Seite haben diejenigen, die geplant und genehmigt haben, offensichtlich nicht das ihre dazu beigetragen, dass das Vorhaben und seine Folgen transparent wurden.“ Ambivalente Rolle der Medien Eine Reihe von Experten billigt den Medien eine wichtige Rolle bei den Vorgängen rund um Stuttgart 21 zu. Dass die Demonstrationen vor dem Bahnhof in der bundesweiten Wahrnehmung so präsent waren, „ist sicherlich auch der Berichterstattung geschuldet, denn über die Proteste wurde zur besten Sendezeit berichtet“, meint Manfred Güllner, Geschäftsführer von forsa. Wie einige andere Experten auch sieht der Meinungsforscher das Verhalten der Medien im Fall Stuttgart 21 nicht unkritisch. „Wenn die Medien so tun, als gehöre es zum guten Ton, dass man in Stuttgart auf die Straße geht, und die Bürger dann meinen, sie würden die Mehrheit verkörpern, dann gehen sie auch eher zu den Protesten“, rügt Güllner die in seinen Augen bestehende Tendenz der Medien, Zerrbilder zu produzieren. Frank Brettschneider bezeichnet diesen Effekt etwas neutraler als „ein sich selbst verstärkendes System“. Die nationale Aufmerksamkeit für Stuttgart 21 sei auch durch besonders medienwirksame Motive geschürt worden, glaubt der Wissenschaftler und erinnert an „die starken Bilder, wie den Bagger beim Nordf lügel und weinende ältere Frauen, die davorstanden“. S. 145 Insgesamt positiv beurteilt Volker Kefer die Rolle der Medien bei Stuttgart 21. Die Live-Berichterstattung sei ein sehr effizientes Mittel gewesen, um 64 ANALYSE viele Menschen zu erreichen. Überrascht war der Bahn-Manager „von der überwiegend ausgewogenen Berichterstattung. Mal mit einer Verstärkung des einen Argumentes, mal mit einer Verstärkung des anderen, aber immer erfreulich sachlich.“ S.198 Seine eigene Zunft nimmt auch der Journalist Michael Bauchmüller in Schutz; Stuttgart 21 sei kein leicht konsumierbares Medienspektakel gewesen, sondern „ein Prozess, der öffentlich zur Schau getragen wurde“, urteilt der Redakteur der Süddeutschen Zeitung. S.141 Web 2.0 als Katalysator Eine besondere Dynamik haben den Protesten von Stuttgart 21 nach Meinung mehrerer Experten die digitalen Medien verliehen. Gerd Landsberg ist überzeugt: „Was bei den Protesten gegen Stuttgart 21 neu war, waren die starke Vernetzung über neue Kommunikationsformen (Facebook etc.), das hiermit verbundene schnelle Aktivieren der Protestierenden und ein Stück weit auch die mediale Begleitung der Proteste.“ „Manchmal habe ich das Gefühl, es gab bei Stuttgart 21 ganze Bataillone von Wutbürgern, die dann zu Hause saßen und diese Art von Öffentlichkeit mit organisierten“, sagt auch Hans-Werner Fittkau. Heute sei es viel schneller und einfacher, sich für Dinge zu interessieren und sich dann auch dafür oder dagegen zu engagieren. „Früher hätte man ein Flugblatt in die Hand bekommen. Heute geht man einfach ins Netz“, macht der PHOENIX-Journalist plastisch. S.166 In den Augen von Manfred Güllner verfälschen die neuen Medien das seiner Meinung nach ohnehin verzerrte Meinungsbild zusätzlich. Er kritisiert: „Zum Beispiel sieht man bei Stuttgart 21 im Netz nur Gegner und denkt, die ganze Welt sei gegen das Projekt. Menschen, die sich in der wirklichen Welt nicht artikulieren, die tun das auch nicht im Netz.“ Das Internet berge die Gefahr, dass bestimmte Meinungen einseitig dominierten, beklagt der Demoskop. S.172 Lob der Transparenz Dass sich am Ende eine offenbar „schweigende Mehrheit“ der Bahnhofsbefürworter durchgesetzt hat, halten viele Experten für eine bemerkenswerte Dialektik von Stuttgart 21. Mehrfach wird die Transparenz, die mit dem Schlichtungsprozess praktiziert wurde, als entscheidendes Moment hervorgehoben. Rainer Baake etwa hält die Schlichtung für bereichernd, „weil sie von wirklich sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern verfolgt wurde – sicherlich auch von vielen, die sich vorher wenig mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. Diese Transparenz hat den Meinungsbildungsprozess enorm vorangetrieben“ (vgl. Abb. 5.1). Nicht nur Bundesumweltminister Peter Altmaier lobt in diesem Zusammen- 15 Sollte zukünftig bei strittigen Großprojekten wie Stuttgart 21 vor einer Entscheidung ein Schlichtungsprozess stattfinden? JA 74 % NEIN 20% Weiß nicht: 6% — Abb. 5.1 Quelle: ZDF Politbarometer/Forschungsgruppe Wahlen, 2010 5 Exkurs Stuttgart 21 65 hang die Rolle von Heiner Geißler: „Sein entscheidendes Verdienst besteht darin, dass er für Transparenz gesorgt und den Eindruck vermittelt hat, dass die Schlichtung ergebnisoffen war. Beides zusammen hat dazu geführt, dass sich sowohl Befürworter als auch Gegner auf ein Verfahren einlassen mussten, dessen Ausgang sie nicht kannten. Das hat die legitimierende Wirkung des Schlichterspruches erheblich verstärkt.“ Die intensive argumentative Debatte habe auch Menschen ohne unmittelbare Betroffenheit mobilisiert, so die Einschätzung des Spitzenpolitikers. S. 121 Schlüssel liegt im Detail Eine Reihe von Fachleuten erkennt in dieser Detailliertheit der Auseinandersetzung einen ausschlaggebenden Faktor. „Bis zur Schlichtung waren die Diskussionen eher schlaglichtartig“, sagt Bahn-Vorstand Volker Kefer. „In der Schlichtung hatten wird die Gelegenheit, im Detail und in Länge die einzelnen Themen auszudiskutieren. Dadurch konnten die Zuschauer beurteilen, wie tragfähig die Argumente sind.“ Ein weiterer großer Vorteil der Schlichtung sei gewesen, dass Befürworter sowie Gegner am Tisch saßen, „und zwar jeder Couleur. Da muss man sich mit allen auseinandersetzen“, resümiert der Topmanager der Bahn. S. 196 f. Die Sachlichkeit der Schlichtung hat auch Redakteur Michael Bauchmüller beeindruckt: „Diejenigen, die das verfolgt haben, wurden angenehm überrascht und erlebten, mit welcher Ernsthaftigkeit dort gerungen wurde. Das ist etwas, was man im politischen Prozess so normalerweise nicht vorfindet.“ Eine komplexere Auseinandersetzung sei dem Wahlvolk offenbar durchaus zuzumuten, findet der Medienvertreter. S. 141 f. Der Wutbürger – ein Stereotyp? Über Stuttgart 21 zu reden, heißt auch, über einen Typus nachzudenken, der wie kein anderer der Kontroverse um den Bahnhof seinen Stempel aufgedrückt hat: den 2010 vom SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit zum Leben erweckten Wutbürger (DER SPIEGEL Nr. 41/2010). Wissenschaftlich untersucht hat den Wutbürger der Demokratieforscher Professor Franz Walter. Den empirischen Untersuchungen zufolge geht es dem sozial und materiell privilegierten Wutbürger in der Tat primär um eigene Interessen. Wie die Forscher vom Göttinger Institut für Demokratieforschung unter anderem herausgefunden haben, sind Grundstückseigentümer und Hausbesitzer bei dieser Gattung von Protestierern überproportional vertreten (Walter 2011: 2–4). Dazu passt auch die Feststellung der beiden Wissenschaftler Swen Hutter und Simon Teune, Proteste seien „in erster Linie ein Mittelstandsphänomen und weniger ein Ausdrucksmittel der am stärksten Benachteiligten“ (Hutter/Teune 2012: 14). Wie bewerten die Experten den Begriff, der noch im gleichen Jahr zum „Wort des Jahres“ gekürt wurde? Ist der Typus des Wutbürgers tatsächlich repräsentativ? Oder doch nur eine Platitude? Wie sich im Gespräch mit den Fachleuten 66 ANALYSE herausstellt, polarisiert die Vokabel. Eberhard Pausch hält sie für angebracht. „Die Bürger und Bürgerinnen ärgern sich oft über bestimmte Dinge, insofern ist das Wort von den Wutbürgern hier auch nicht unberechtigt“, findet der Oberkirchenrat. „Den Phänotypus gibt es wirklich“, bestätigt auch Hans-Werner Fittkau. Er trete mit einer Vehemenz auf, die nicht demokratischem Duktus entspreche, legitimiert der PHOENIX-Journalist den plakativen Begriff des Wutbürgers. S.164 Ähnlich sieht das Stephan Kohler: „Man kann die Leute schon als ‚Wutbürger‘ bezeichnen. Das sind eben Leute, die praktisch keine Veränderung in ihrer direkten Lebensumwelt haben möchten.“ Den vielbeschworenen Wutbürger gebe es, stimmt Rainer Baake zu. „Aber das ist nicht die Mehrzahl und das sind nicht die Leute, die in der Lage wären, einen solchen Protest auf die Beine zu stellen, wie wir ihn bei Stuttgart 21 erlebt haben.“ Unzulässige Vereinfachung Wieder andere Fachleute empfinden den Begriff des Wutbürgers als völlig unzutreffend. „Ich habe ihn selber auch schon verwendet“, räumt Journalist Michael Bauchmüller ein, „aber der Begriff macht es sich zu einfach. Es ist nicht einfach nur der Bürger, der jetzt mal seiner Wut freien Lauf lässt. Im Grunde reduziert es diese Emotion einfach nur auf einen Wutausbruch. Aber es besteht ja schon auch ein berechtigtes Interesse des Bürgers, und sei es nur, gehört zu werden.“ Manfred Güllner hält es für „großen Unfug“, dass man Stuttgart 21 zu einem Protest der Wutbürger hochstilisiert habe. „Die Mehrheit war vielmehr voller Wut über die ‚Wutbürger‘ und hat sie durch das Votum abgestraft“, stellt der forsa-Chef mit Blick auf die Volksabstimmung klar. S.172 Ähnlich kritisch gehen die Politiker Sören Bartol und Oliver Krischer mit der Phrase ins Gericht. Der SPD-Bundestagsabgeordnete findet, „der Begriff reduziert Menschen, die eigentlich mitmachen und beteiligt werden wollen, auf eine Gefühlsregung. Für mich sind das Mitbürger, die mitwirken wollen und sich Zeit dafür nehmen.“ In der Expertenkritik wird der Vorwurf deutlich, dass das Klischee des Wutbürgers all jenen Menschen nicht gerecht wird, die aus echter Betroffenheit ihre Vorbehalte artikulieren. In einer demokratischen Gesellschaft müsse es aber „etwas absolut Selbstverständliches“ sein, wenn Bürger sich mit Empathie engagierten, hält der Grünen-Politiker fest. Dem kann Hans-Jürgen Brick, Mitglied der Geschäftsführung von Amprion, aus der Praxis des Netzausbaus heraus nur beipflichten: „Wir haben es bislang bei unseren Leitungsbauprojekten nicht mit Wutbürgern zu tun, sondern mit Betroffenen, die ihre Interessen zu Recht artikulieren.“ S.151 „Wutbürger“ Unionspolitiker Joachim Herrmann will daher auch lieber vom „Aktivbürger“ als vom Wutbürger sprechen. Bürgerliches Engagement sei „in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren absolut wünschenswert. Deswegen brauchen wir ‚Aktivbürger‘, die sich konstruktiv in die Gesellschaft einbringen und dabei nicht nur ihre Wut äußern, sondern aktiv nach Lösungen suchen.“ S.189 5 Exkurs Stuttgart 21 67 Explosives Gemisch Es bleibt zu rekapitulieren: Wenn man den Einschätzungen der Experten zu Stuttgart 21 folgt, gab es bei dem Bahnhofsvorhaben offenbar ein brisantes Zusammentreffen von allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen mit den ganz spezifischen Umständen zum Zeitpunkt des Spatenstichs. Die heutzutage in weiten Teilen der Bevölkerung empfundene Entfremdung von Politik und Wirtschaft (vgl. hierzu auch Kapitel 4, S.48 ff.) erzeugte vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und zusätzlich aufgeheizt durch die Vorwahlkampfstimmung im Ländle eine Gemengelage, in der viele Menschen offensichtlich gute Gründe fanden, das Projekt mit besonderem Argwohn zu begleiten. Gleichzeitig schienen die Stuttgarter Bürger trotz der in den Vorjahren ordnungsgemäß absolvierten Planungs- und Beteiligungsprozesse nicht das Gefühl zu haben, in „ihr“ Bahnhofsprojekt hinreichend mit einbezogen worden zu sein. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt, dass behördliche Genehmigungsverfahren noch lange kein „Freifahrtschein“ für die reibungslose Durchführung eines Vorhabens sind und (rechtliche) Legalität und (moralische) Legitimität in der Wahrnehmung vieler Menschen offensichtlich zweierlei sind. Ein wichtiges Learning aus Stuttgart 21 besteht folglich darin, dass es eine fortdauernde Notwendigkeit ist, selbst ein bereits genehmigtes Vorhaben ex post gegenüber den Bürgern immer wieder aufs Neue zu begründen und zu „bewerben“. Bei Stuttgart 21 wurde mit der Schlichtung und abschließenden Volksabstimmung nachgeholt, was im Vorweg versäumt worden war und was fast alle Experten den Vorhabenträgern nahelegen: eine frühzeitige und ausführliche Faktendiskussion des Projekts in all seinen Facetten. Die Mühen einer solch detaillierten Auseinandersetzung scheinen sich zu lohnen. Im konkreten Fall von Stuttgart 21 vermochten sie, wie die Experten darlegen, offenbar die schweigende Mehrheit der Bahnhofsbefürworter zu mobilisieren. Gleichwohl empfiehlt sich nach Meinung vieler Fachleute, solche Anstrengungen schon deutlich früher zu unternehmen und nicht erst, wenn, wie im Fall von Stuttgart 21, der Konflikt bereits eskaliert und zum medialen Skandalthema herangewachsen ist. Bevor es um die Frage geht, wie solch ein konstruktiver Dialog aller Parteien möglicherweise auch ohne Schlichtung gelingen kann, erörtert die Untersuchung in folgendem Kapitel zunächst die Ausgangssituation zwischen Vorhabenträgern auf der einen und NGOs auf der anderen Seite. Dabei geht es nicht nur um das instrumentelle, sondern auch um das „moralische“ Rüstzeug der jeweiligen Interessengruppen. 68 ANALYSE 6 Vorhabenträger und NGOs: Im Wettbewerb mit unterschiedlichen Waffen Wie kann die gesellschaftliche Auseinandersetzung um große Infrastrukturprojekte gelingen? Zur Beantwortung dieser Frage gehört auch eine möglichst objektive Einschätzung der „Wettbewerbsbedingungen“, unter denen die beteiligten Akteure ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen versuchen. Im Expertenkreis wird diese Ausgangssituation sehr differenziert analysiert. In den Augen der meisten Fachleute sind die NGOs den Projektplanern in Sachen Deutungshoheit, Glaubwürdigkeit und Professionalisierung überlegen. Besonders die Geschwindigkeit und Mobilisierungsfähigkeit der NGOs wird hervorgehoben. Die durch die Fachleute attestierte hohe Glaubwürdigkeit und Meinungsmacht von NGOs wird durch empirische Untersuchungen belegt. So werden einer Umfrage zufolge NGOs von Journalisten generell als glaubwürdige Quellen herangezogen, nur Forschungsinstituten und Universitäten schenken die Medienvertreter ein noch höheres Vertrauen (vgl. Abb. 6.1). 16 Glaubwürdigkeit von NGOs im Vergleich zu anderen möglichen Informationsquellen (Viel) höher (Viel) geringer 76% Parteien 14% 65% Die (Medien-)Arbeit der Nichtregierungsorganisationen genießt laut Folgeumfrage unter den Journalisten einen sehr guten Ruf. NGOs nehmen demnach eine dem Pressewesen vergleichbare Rolle als vierte beziehungsweise eigenständige fünfte Gewalt im Staate ein. Nach Einschätzung der Journalisten hat der Einfluss von NGOs in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und wird auch in Zukunft weiter wachsen (prmagazin 04/2012: 46 ff.). Gleich 10% 12% 23% 12% 24% Wirtschaftsverbände 64% Unternehmen 16% 40 % 44% Forschungsinstitutionen oder Universitäten — Abb. 6.1 Quelle: prmagazin/com.X, 2012 6 Vorhabenträger und NGOs 69 Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch, erklärt den Bedeutungszuwachs so: „An die Stelle der Romantik ist eine neue Ernsthaftigkeit getreten. NGOs sind heute als Gesprächspartner stärker akzeptiert und werden ernst genommen, weil die wissenschaftliche Untermauerung von dem, was sie sagen, wesentlich größer ist.“ S. 135 Hohes Ansehen: NGOs genießen in der Bevölkerung und bei den Medien eine besonders hohe Glaubwürdigkeit und werden als wichtige Vertreter gesellschaftlicher Interessen geschätzt Emotionale Ressourcen: Projektplaner werden mit materiellen Mitteln allein die Deutungshoheit der NGOs nicht kompensieren können AUF EINEN BLICK David gegen Goliath: Verfestigte Rollenbilder verhelfen den NGOs im Vergleich zu den Vorhabenträgern häufig zu einem Sympathievorsprung Miteinander statt gegeneinander: Die Energiewende bietet die Chance, das Verhältnis zwischen NGOs und Wirtschaft neu zu definieren Lohnende Investition: Wirtschaftliche Beteiligung der Bürger an Großvorhaben kann deren Akzeptanz in der Bevölkerung steigern Nach Auffassung vieler Experten machen die Fähigkeiten der NGOs und ihre mediale Kompetenz den klaren Vorsprung wett, den auf der anderen Seite die Unternehmen in Bezug auf ihre finanzielle Ausstattung und ihre Einflussmöglichkeiten haben. Folgt man den Fachleuten, herrscht trotz sehr unterschiedlicher Ausrüstung beider Parteien dennoch eine Art „Waffengleichheit“. Der grüne Bundestagsabgeordnete Oliver Krischer beschreibt die Ausgangslage wie folgt: „Ein Unternehmen hat viel Geld und in der Regel auch Zugang zu Medien. Wenn ein Unternehmen sich geschickt anstellt und seine Möglichkeiten voll nutzt, ist es im Vorteil. Bürgerinitiativen engagieren sich nach Feierabend und haben meistens nicht mehr als einen Computer zur Verfügung. Was sie allerdings Unternehmen oft voraus haben, ist, dass sie mit Engagement, Begeisterung und Empathie – manchmal auch negativer Begeisterung – bei der Sache sind. Das kann man bei vielen Unternehmen nicht professionell generieren.“ Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann: „Die Projektbetreiber haben viel mehr Ressourcen, um professionelle Kommunikationskampagnen einzusetzen. Die Projektgegner dagegen, wie Bürgerinitiativen, haben in der Regel weniger 70 ANALYSE Mittel. Nur diese wenigen Mittel sind häufiger mit einer höheren Glaubwürdigkeit und größerem Engagement – eben mit Herzblut, das auch mal in Wallung kommen kann – verbunden.“ S.267 Von NGOs lernen? Dass Vorhabenträger in puncto Kommunikation und Kampagnenfähigkeit von den NGOs lernen können, ist eine häufig anzutreffende Einschätzung. „Wenn die Unternehmen sich anschauen, wie die Umweltverbände agieren, welche Leute sie engagieren, welche Medien sie einsetzen, dann müssen sie anschließend selber entscheiden, ob sie nicht in ihrer eigenen Kommunikationsstrategie noch etwas verbessern können“, drückt der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, Rainer Baake, es diplomatisch aus. S.127 Deutlicher wird Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider, der feststellt: „Große NGOs sind inzwischen richtig ausgefuchste KampagnenMaschinen, die genau wissen, was sie machen müssen, um Berichterstattung zu generieren.“ Auch beim Einsatz von Social Media seien NGOs Unternehmen allein vom Tempo her überlegen. S.146 Dies erklärt Regine Günther so: „Social Media setzt ein gewisses Maß an Schnelligkeit voraus. Dies fehlt gerade großen Unternehmen sehr häufig. Plakativ gesprochen: Bis in einem Unternehmen ein Foliensatz abgestimmt ist, können Wochen vergehen. Twittern muss man aber in Minuten.“ S.179 NGOs erhielten auch viel Unterstützung von Stiftungen und würden inzwischen über eine gute finanzielle Ausstattung verfügen, stellt dena-Chef Stephan Kohler fest. „Hinzu kommt, dass sie die Diskussion schnell und professionell bedienen.“ Nach Meinung von Bundesumweltminister Peter Altmaier haben NGOs auch deshalb einen Vorsprung, weil sie oft monothematisch strukturiert seien und sich mit einem ganz konkreten Vorgang beschäftigten. S.122 (vgl. Abb. 6.2) 17 Einfluss und Verhalten von NGOs Bewertung auf einer Skala von: 1 =“stimme voll und ganz zu“ bis 6 =„stimme gar nicht zu“ Zustimmung (Skalenpunkte 1-3) 1 Gesamt 2 3 82% NGOs sind eine wichtige gesellschaftliche Kraft, die wie der Journalismus als Erweiterung der drei klassischen Gewalten beschrieben werden kann. 1 2 3 76% Medien übernehmen Informationen von NGOs eher ungeprüft als von Unternehmen oder der Politik. 1 2 3 63% Unternhemen haben es schwer, Ihre eigene Position in den Medien darzustellen, wenn sie von NGOs kritisiert werden. — Abb. 6.2 Quelle: prmagazin/com.X, 2012 Günther Bachmann sieht zwar auch die Projektträger gut aufgestellt. „Initiatoren haben viele Vorteile, Informationen und ‚Macht‘ über das Wissen um Vorläufe und technische Details“, so die Einschätzung des Generalsekretärs des Nachhaltigkeitsrates. Allerdings setzten die Projektgegner oftmals Lerneffekte rascher um. „In den Startpositionen sehe ich keine großen Unterschiede, aber die Lernkurven verlaufen sehr unterschiedlich. Projektgegner wie NGOs bewegen sich einfach schneller.“ S.131 David gegen Goliath-Bonus Die Gruppierungen der Projektgegner seien mit sehr viel Enthusiasmus dabei und verfügten häufig über ein erstaunlich großes Wissen, bestätigt Volker Kefer. Gleichzeitig sieht er deren Rolle auch kritisch: „Die Kampagnen von NGOs oder Bürgerinitiativen führen oft weg von der sachlichen Auseinandersetzung“, meint der Technikvorstand der Deutschen Bahn und wünscht sich, „dass Inhalte und Sachargumente mehr in den Vordergrund kommen“. S.197 f. 6 Vorhabenträger und NGOs 71 Ähnlich beurteilt das Elisabeth Schick: „NGOs emotionalisieren auf jeden Fall besser als Unternehmen, in dieser Hinsicht können wir sicherlich noch etwas lernen.“ Auf der anderen Seite seien Verbraucher zunehmend dafür sensibilisiert, wenn etwas aufgesetzt oder aggressiv sei, meint die Leiterin der Unternehmenskommunikation von BASF. S. 251 „NGOs besitzen in der Bevölkerung eine hohe Glaubwürdigkeit, insbesondere weil man ihnen keine Profitorientierung unterstellt“, erklärt der RWE-Manager Johannes F. Lambertz den Sympathiebonus der Projektgegner. S. 219 Dem stimmt Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, zu. Man vermute bei NGOs, „dass sie etwas Gutes tun. Damit haben sie automatisch eine bessere Position als die Industrie, der nur egoistische Motive unterstellt werden.“ S.194 Wissenschaftler sprechen in diesem Kontext auch vom „Solidarisierungseffekt mit den vermeintlich Schwächeren, die sich eines übermächtigen Gegners erwehren müssen“ (Bergmann 2012: 18 f.). Dieter Rucht schließlich hält nichts davon, die Strategien der NGOs nachzuahmen. „Denn es ist nicht eine Frage des Kopierens von bestimmten Techniken der Mobilisierung oder der Cleverness in der Imagewerbung.“ Stattdessen gehe es darum, die Menschen ernst zu nehmen und mit ihnen eine offene und ehrliche Kommunikation zu pflegen. „Schwächen und Fehler einzuräumen, Nachteile zu benennen – dies alles gehört mit dazu“, ist der Sozialwissenschaftler überzeugt. S. 246 Die wahrgenommene moralische Überlegenheit der NGOs sei keine Frage der Technik, findet auch Hans-Werner Fittkau. „Der Unternehmer an sich ist der Böse, selbst wenn der über Facebook alle Register ziehen würde. Im Gegensatz dazu kommen die NGOs im Brustton der Überzeugung, des moralischen Impetus daher“, schildert der stellvertretende Redaktionsleiter von PHOENIX die kulturelle Herausforderung. S.166 Wichtiger als die Auswahl der technischen Mittel sei, die Menschen so anzusprechen, dass man verstanden und vor allem als glaubwürdig wahrgenommen werde, meint im gleichen Zusammenhang Rainer Baake. S.127 Schulterschluss üben Mehrere Experten sehen im Schulterschluss mit den Umweltverbänden und Bürgerinitiativen einen wichtigen Aspekt der Beteiligungsarbeit, so etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol: „Sowohl die Medienkompetenz als auch die fachliche Kompetenz sind gestiegen. Die NGOs können sich auf ein ganzes Geflecht an haupt- und ehrenamtlichen Experten stützen, wie man auch bei Stuttgart 21 beobachten konnte. Für Betreiber und Behörden hat es den Vorteil, dass sie sich dieses Know-how zu Nutze machen können. Das ist nicht einfach ein Gegen-Know-how, sondern das ist fachliches Know-how.“ S.138 f. NGOs frühzeitig einzubinden, empfiehlt auch Gerd Landsberg, „weil hier häufig sehr versierte Experten arbeiten. Diese können ihr Fachwissen mit einem Mehrwert für alle in die Planung einbringen. Wenn eine Kommune diese Experten daher früh einbezieht und dann auch gemeinsam zu einer Projektent72 ANALYSE wicklung im Konsens kommt, ist das jedenfalls sehr viel sinnvoller, als wenn der Planungsträger bereits eine ‚fertige Planung‘ erstellt hat. Transparenz und Ergebnisoffenheit sind daher auch hier die Gebote der Stunde“, so der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. S.223 Was die Energiewende anbetrifft, gebe es viele NGOs, die bereit seien, sich bei Infrastrukturfragen konstruktiv einzubringen und ihre Verantwortung dafür wahrzunehmen, betont Matthias Machnig. S.227 Das bestätigt NGO-Vertreter Christoph Bals. „Im Moment erleben wir im Rahmen der Energiewende, dass sich die Wirtschaft wie die NGOs neu sortieren.“ Der Geschäftsführer von Germanwatch sieht die NGOs dabei nicht mehr allein als Protest-, sondern auch als Gemeinwohlorganisationen. Dieses neue Rollenverständnis sei durchaus eine Herausforderung für die Nichtregierungsorganisationen, so Bals selbstkritisch. „Es geht darum, die Transformation der Gesellschaft gerade hin zu neuen Technologien, die eher Teil der Lösung und weniger Teil des Problems sind, massiv voranzutreiben. Das ist tatsächlich ein Punkt, wo viele Nichtregierungsorganisationen – auch wir als Germanwatch – durchaus immer wieder ref lektieren müssen. Es ist als NGO nicht nur unsere Aufgabe zu protestieren, sondern auch notwendigen Änderungen Legitimität zu verschaffen. Nicht umsonst unterstützen und verteidigen wir den Netzausbau dort, wo er tatsächlich notwendig ist.“ S.135 David gegen Goliath – Stuttgart 21 Umstritten: Finanzabgabe an Projektgegner Könnte eine faire Sachauseinandersetzung dadurch begünstigt werden, dass ein bestimmter Prozentsatz der gesamten Projektmittel den Gegnern zu Kommunikationszwecken zur Verfügung gestellt wird? Ein entsprechender Vorschlag des Parteienforschers Ulrich von Alemann S.264 f. wird unter den Experten äußerst kontrovers diskutiert. Ein für viele wichtiger Aspekt ist dabei die Finanzierung von Gegengutachten. Rainer Baake etwa hält es für einen „ganz wichtigen Punkt, dass wir in den Verfahren die finanzielle Voraussetzung dafür schaffen, dass Gegner ihre Sachargumente gutachterlich prüfen lassen können“. In der Forderung nach Finanzierung von Gegengutachten stimmt neben anderen auch Sören Bartol mit ihm überein, der jedoch zu bedenken gibt: „Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass NGOs von außen finanziert werden wollen. Da gibt es eher ein großes Misstrauen.“ Gisela Erler hält den Vorschlag im Grundsatz für eine gute Idee. Zusätzlich zur Finanzierung schlägt die Grünen-Politikerin und Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung vor, „die von einem Projekt betroffene Region oder Kommune durch Kompensationsdeals zu entschädigen, beispielsweise durch neue Sportplätze, Arbeitsplätze für Jugendliche oder Trainingsprogramme“. S.162 Eine Auffassung, der Hildegard Müller widerspricht: „Da wäre ich vorsichtig, denn bei Projekten, die der Allge6 Vorhabenträger und NGOs 73 meinheit dienen, müssen die Bürger als Teil dieser Gesellschaft auch gewisse Lasten tolerieren“, findet die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). S.229 Volker Kefer glaubt, dass über solche Fragen die Politik entscheiden sollte. „Sie hat ja auch ein Interesse daran, Diskussionen möglichst ausgewogen stattfinden zu lassen.“ Bezahlen werde am Ende immer die Allgemeinheit. „Ein Stück mehr an Demokratie kann also durchaus auch seinen Preis haben“, meint der Bahn-Manager, betont aber zugleich, dass dieser in Relation zu den Budgets großer Infrastrukturprojekte eher im Promille-Bereich läge. S.197 Andere Fachleute wiederum begegnen dem Vorschlag mit deutlicher Zurückhaltung. „Den Vorschlag halte ich für nicht wirklich naheliegend; er zeigt lediglich, dass es auf beiden Seiten Akteure gibt, die dem jeweils anderen Lager unterstellen, mit mehr und besseren kommunikativen Möglichkeiten ausgestattet zu sein“, urteilt Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz. Gewerkschaftsfunktionär Michael Vassiliadis findet: „Das klingt sehr deutsch und auch ein bisschen nach Klientelpolitik. Wir wissen, dass es am Ende die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entweder mit der Lohnsteuer oder mit der Stromrechnung bezahlen.“ S. 263 Für Oliver Krischer macht es mehr Sinn, „von vornherein einen offenen Kommunikationsprozess zu organisieren und dafür das Geld zu investieren“. Der Vorschlag impliziere, dass im Moment keine Kommunikation auf Augenhöhe stattfinden könne, so Industrievertreter Johannes F. Lambertz. „Das ist unserer Erfahrung nach nicht der Fall.“ S. 218 Skeptisch zeigt sich auch Hildegard Müller: „Bis jetzt kann ich nicht feststellen, dass der Widerstand gegen Projekte je am Geld gescheitert ist. Eine Aktion von Greenpeace hat übrigens oftmals mehr Medienpräsenz als eine teure Medienkampagne eines Unternehmens.“ S. 231 Für „absurd“ hält die Idee Manfred Güllner. „NGOs und Bürgerinitiativen haben schon oft eine Resonanz, die gar nicht ihrer wirklichen Verankerung bei den Bürgern entspricht.“ Eventuell sei es nur eine kleine Minderheit, deren Vorschläge dann überproportional berücksichtigt würden, begründet der forsa-Chef seine ablehnende Haltung. S. 174 Man müsse aufpassen, „dass das nicht wie Bestechung aussieht“, mahnt nicht zuletzt Wettbewerbshüter Justus Haucap. Konsens: Wer profitiert, akzeptiert eher Im Gegensatz zu der äußerst umstrittenen Frage, ob Projektgegner von Projektträgern finanziell subventioniert werden sollen, herrscht in einem anderen Punkt nahezu Übereinstimmung. Fast alle Experten sind der Überzeugung, dass die wirtschaftliche Beteiligung der Bürger die Akzeptanz von Großvorhaben steigern kann. 74 ANALYSE Skeptisch ist lediglich Manfred Güllner: „Wenn es nicht um Arbeitsplätze geht, bin ich nicht sicher, ob irgendeine Art von finanzieller Bürgerbeteiligung etwas bewirkt.“ Alle übrigen Befragten hingegen sehen darin ein wirksames und probates Mittel. „Die Ökonomie ist definitiv eine Triebkraft“, glaubt nicht nur Gisela Erler. S.162 Der Vorstandschef von REpower Systems, Andreas Nauen, ist überzeugt: „Je mehr Beteiligung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Protesten.“ S.234 Christoph Bals von Germanwatch hält finanzielle Beteiligung ebenfalls für sinnvoll: „Gut gemacht, kann es ein Instrument des Benefit-Sharing sein.“ Dass eine wirtschaftliche Beteiligung sinnvoll ist, beweist laut Rainer Baake das Erneuerbare-Energien-Gesetz, „weil zigtausende Bürger selbst zu Energieproduzenten und damit zu Profiteuren der Energiewende geworden sind“. S.125 Zustimmung kommt auch von Gerd Landsberg: „Ja, es ist der richtige Weg, dass man Bürger über Genossenschaftsmodelle beteiligt und für diese einen greifbaren Mehrwert schafft. Denn man kann betroffenen Bürgern oder Gemeinden nicht vermitteln, dass sie aus Gründen des Allgemeinwohls durch den Überbau von Stromtrassen einseitig über die damit verbundenen Nachteile die Lasten tragen sollen.“ Das bedeute nicht zuletzt Wertschöpfung für Kommunen. S.222 Dass die Region profitiert, ist für Oliver Krischer ebenfalls ein Argument. Nach seiner Meinung hat sich das Modell der Bürgerbeteiligung insbesondere bei Windparks bewährt. „Ich kenne viele Fälle, wo es keine Proteste gegen Windkraftanlagen gibt, sondern sogar die Forderung da ist, mehr Flächen auszuweisen, weil die Leute das vor Ort selber machen und da das eigene Kapital investieren.“ Die Menschen hätten ein anderes Verhältnis, wenn sie sagen können, „das ist unser Windrad, das da steht" oder „unsere Solaranlage", als wenn die Anlage von einem Großkonzern oder anonymen Investor errichtet werde, so der Grünen-Politiker. Mehr finanzielle Beteiligung der Bürger gerade in der dezentralen Energieerzeugung hält auch Krischers Politikerkollege Olaf Scholz für sinnvoll. Laut Hildegard Müller fördern solche Modelle nicht nur die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen, sondern führen „generell auch ein anderes Bewusstsein im Umgang mit der Sache herbei“. S.229 Ähnlich argumentiert Michael Vassiliadis. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft IG BCE hält finanzielle Beteiligungen für erfolgversprechend und sieht in ihnen „eine Basis nicht nur für Akzeptanz, sondern für wirkliche Zusammenarbeit“. S.262 Auch inhaltlich auseinandersetzen Welchen Erkenntnisgewinn bringt die vorangegangene Analyse der Ausgangssituation? Sie zeigt, dass Unternehmen und Investoren trotz ihrer finanziellen Überlegenheit offenbar gegenüber NGOs einen Wettbewerbsnachteil haben, was Aspekte wie Glaubwürdigkeit, Mobilisierungskraft und 6 Vorhabenträger und NGOs 75 Reaktionsgeschwindigkeit betrifft. Projektgegner mit Kapital zu unterstützen, bleibt wohl auch deshalb eine umstrittene Idee. Sinnvoller erscheint dagegen das Investment in Form von wirtschaftlichen Beteiligungen der Bürger, die anscheinend den Zuspruch für Großvorhaben merklich erhöhen können. Das allerdings darf nicht als Freibrief für Vorhabenträger verstanden werden, sich der Kommunikation zu entziehen – im Gegenteil. Wie wichtig eine konstruktive inhaltliche Auseinandersetzung ist und wie allen Projektbeteiligten solch ein Dialog auf Augenhöhe gelingen kann, untersucht das folgende Kapitel. 7 Ratio und Empathie: Erfolgsfaktoren für einen Dialog auf Augenhöhe Die Auseinandersetzungen um Groß- und Infrastrukturprojekte, wie sie im Zusammenhang mit der Energiewende anstehen, werfen grundsätzlich Fragen zur Konflikt- und Diskurskultur all jener Akteure auf, die an den entsprechenden Planungsverfahren beteiligt sind. Insbesondere in den Kontroversen zwischen NGOs und der traditionellen Wirtschaft werden von beiden Seiten gerne Stereotype bedient und wird Schwarzweiß malerei betrieben. Wie kann die Gesellschaft es schaffen, diese Frontstellungen zu überwinden und miteinander in den erforderlichen konstruktiven Dialog zu kommen, den viele Experten gerade auch im Hinblick auf die Energiewende so dringend anmahnen? „Indem man den Graben verlässt. Einer muss damit anfangen“, so der Appell von Günther Bachmann, Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates. S.131 Dass Industrie und NGOs in der Vergangenheit in der Tat zu wenig miteinander geredet hätten, räumt RWE-Vorstandsmitglied Rolf Martin Schmitz ein. „Wir brauchen aber in Zukunft einen viel intensiveren Dialog miteinander, denn wir haben schließlich eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.“ S.255 Für eine frühzeitige Einbindung der Betroffenen spricht sich auch die große Mehrheit der Fachleute aus. Noch hake es allerdings auf dieser diskursiven Ebene, so der SPD-Politiker Sören Bartol. Sowohl den Behörden als auch manchem Betreiber falle es schwer, auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Stattdessen wird sehr stark von oben herab, formalistisch und nach Vorgaben kommuniziert.“ S.138 76 ANALYSE 7 Ratio und Empathie 77 Für Projekte werben Wie auch aus anderen Expertengesprächen hervorgeht, scheinen Politik und Behörden sowie die Wirtschaft hier noch erhebliche Defizite zu haben. Unter allen Befragten besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung darin, dass Aufeinander zugehen: Konflikte lassen sich eher überwinden, wenn Vorhabenträger aktiv das Gespräch mit den betroffenen Bürgern suchen Zuhören und verstehen: Menschen für ein Projekt zu gewinnen, bedeutet auch, ihre Sorgen und Vorbehalte ernst zu nehmen Verschiedene Wege aufzeigen: Zu einem konstruktiven Dialog gehört die ergebnisoffene Diskussion echter Alternativen AUF EINEN BLICK Mit Fakten überzeugen: Der intensive Austausch von Sachargumenten fördert einen Konsens eher als aufwendige „PR-Schlachten“ Position beziehen: Vorhaben und Zusammenhänge müssen immer auch durch die Politik erklärt werden – die Bürger erwarten klare Statements Einfache Formel: Medien werden den komplexen Sachverhalten von Großprojekten oftmals nicht gerecht und produzieren daher Zerrbilder vor allem Unternehmen ihre Kommunikation verbessern sollten, um in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben zu gewinnen – nicht unbedingt in Bezug auf die Instrumente, sondern vielmehr was Art und Inhalte betrifft. So sieht der Vorsitzende der Monopolkommission, Justus Haucap, die Unternehmen in der Verantwortung, „sich vorher schon in die Köpfe der potenziellen Betroffenen hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, ob es möglicherweise wichtige Gründe geben kann, die gegen die Realisierung eines Projekts sprechen“. S. 183 Auch Matthias Machnig findet: „Unternehmen sollten frühzeitig Projekte zur Diskussion stellen und für diese Projekte werben.“ Dabei müssten sie sowohl Themen wie den Naturschutz ernst nehmen als auch regional- und strukturpolitische Belange deutlich machen, so der Wirtschaftsminister von Thüringen. S. 225 Den lokalen Bezug wieder stärker in den Vordergrund zu stellen, empfiehlt Manfred Güllner insbesondere Energieunternehmen als vertrauensbildende Maßnahme. „Wenn das Vertrauen in Unternehmen wächst, dann wächst auch das Vertrauen in die Pro78 ANALYSE jekte, die das Unternehmen angeht“, ist der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa überzeugt. S.175 „Wenn man den Menschen verständlich erklärt, worum es geht, und sie früh einbezieht, verringern sich aus unserer Erfahrung die Konf likte drastisch“, so Andreas Nauen, der Vorstandsvorsitzende des Windindustrieunternehmens REpower Systems. S.234 „Nicht gegen allgemeine Entwicklungen ankämpfen, sondern verstärkt deren Folgen aufzeigen“, legt Rolf Martin Schmitz den Unternehmen als Maxime nahe. S.254 Dabei sollten sie den Blick für das Ganze nicht vergessen, rät Michael Vassiliadis. Sich bei einem konkreten Projekt um Glaubwürdigkeit zu bemühen, aber zur gleichen Zeit beispielsweise Personalabbau oder eine sehr unangemessene Erhöhung der Vorstandsbezüge anzukündigen, sei „völlig unglaubwürdig“, befindet der Gewerkschaftsvorsitzende der IG BCE. S.263 Handlungsbedarf erkannt Bürger informiert zu halten, sei aufwendig, aber extrem wichtig, urteilt wie fast alle Fachleute Roland Koch. „Gerade weil die Menschen heute so selbstbewusst sind und Einf luss nehmen wollen.“ Dem werde allerdings in den Entscheidungswelten mancher Unternehmern noch nicht genügend Platz eingeräumt, findet der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE. S.206 Wie Koch ist auch Investmentbanker Matthias Heck von der australischen Bank Macquarie davon überzeugt, dass heute die finanzielle Dimension von Bürgerbeteiligung eine rechnerische Größe für Unternehmen sein muss; diese müssten die Bevölkerung stärker als Stakeholder betrachten, sagt der Finanzexperte. „Ich sehe Bürgerbeteiligung mittlerweile als Bestandteil der wirtschaftlichen Kalkulation von Unternehmen." S.186 Mehrere Experten denken, dass sich die Einsicht in derartige Notwendigkeiten bei den Investoren zunehmend durchsetzt. Auch wenn es noch Nachholbedarf gebe, ist sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann doch sicher, „dass die Mehrzahl der Unternehmen langfristig einsehen wird, dass es sinnvoll ist, aktiv den Dialog zu suchen, und zwar schon aus Eigeninteresse. Es ist wesentlich erfolgversprechender, wenn Unternehmen selbst auf die Bürger zugehen, als das den Genehmigungsbehörden oder der Kommune vor Ort zu überlassen.“ S.190 „Da entsteht eine völlig neue Kultur des Dialogs und des Miteinanders“, zeigt sich auch Patrick Döring optimistisch. S.159 Politik soll Stellung beziehen Seiner eigenen Zunft rät der FDP-Generalsekretär, sich bei der Beteiligung der Bürger einzubringen und klar Position zu beziehen: „Gerade die Politik gewinnt durch das Führen von auch komplexen Debatten Akzeptanz. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Debatten nicht anderen überlassen dürfen. Wir müssen mehr anerkennen, dass wir gewählt sind, um die Interessen 7 Ratio und Empathie 79 der Bevölkerung zum Wohle der Allgemeinheit zu vertreten, und durchaus parteiisch sein dürfen“, sagt der Berufspolitiker. Redakteur Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung verlangt von der Politik, dass sie für bestimmte Technologien „auch in die Bütt steigt“. S. 143 Auf eine ähnlich kurze Formel bringt Johannes Lambertz seine Erwartungen an die Politik: „Sie kann nicht nur Wellness verkünden, sondern muss deutlich machen, dass alles Risiken und Nebenwirkungen hat“, fordert der Vorstandsvorsitzende der RWE Power AG. S. 216 Ebenfalls aus Sicht des privaten Investors formuliert Rolf Martin Schmitz: „Die Politik trägt Verantwortung, sich aktiv in den Prozess einzubringen. Sie muss sich positionieren und Nutzen und Konsequenzen eines Projekts aus ihrer Perspektive erklären. Das Wichtigste ist aber, dass man mindestens innerhalb von Koalitionen an einem Strang zieht.“ S. 252 Nach Meinung von Roland Koch profitiert die Politik von Dialog- und Beteiligungsverfahren. „Je mehr man sich darauf einlässt, umso weniger Raum gibt es letztlich für eine Empörung, die häufig aus der Nichtbeteiligung herrührt“, schildert der ehemalige Ministerpräsident von Hessen seine Erfahrungen mit Mediationsverfahren, wie sie beim Ausbau des Frankfurter Flughafens praktiziert wurden. S. 204 Debatte um Lastenverteilung Roland Koch sieht es zudem als Aufgabe von politisch Verantwortlichen an, die mit einem Großprojekt zwangsläufig verbundenen Einschränkungen gegenüber den Betroffenen zu erklären. „Regierungspolitik wird immer auch darin bestehen, Lasten zu verteilen – und zu erklären, warum diese Lasten notwendig sind“, hält der Manager fest. S. 206 Für eine klare Rollenverteilung plädiert Volker Kefer. „Wovon ich nichts halte, ist, wenn die Industrie versucht die Rolle der Politik und umgekehrt die Politik die Rolle der Industrie zu übernehmen. Jeder sollte seine Rolle kennen und wahrnehmen.“ Die Politik sei im großen Rahmen für die gesellschaftliche Meinungsbildung zuständig, findet der Bahn-Vorstand. S. 197 Kraft der Argumente Viele Experten halten eine sachbezogene Auseinandersetzung für das A und O beim Werben um Akzeptanz für Großprojekte. „Unternehmen müssen weg von der PR“, fordert etwa Sören Bartol. S.139 „Propaganda verbietet sich. Sie müssen offen erklären, warum sie dieses oder jenes machen“, verlangt auch FDP-Generalsekretär Patrick Döring von den Unternehmen. S.159 Für Roger de Weck geht es vor allem um Überzeugungskraft. In der heutigen Interaktionsgesellschaft gewinne die Kraft der Argumente gegenüber der Kraft der Interessen an Bedeutung, glaubt der Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. „Also muss man argumentieren, 80 ANALYSE argumentieren und argumentieren.“ S.154 Dem kann Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz nur zustimmen: „Wer auf Argumente verzichtet und nicht bereit ist, seine Fakten vorzutragen, darf sich nicht wundern, wenn die Skepsis überwiegt. Ich werbe sehr dafür, auf die Kraft der Argumente und der Fakten zu setzen.“ S.259 Das nehmen laut Rainer Baake genauso die Bürger für sich in Anspruch: „Die Bürger wollen mit ihren Argumenten gehört werden und erwarten, dass mit diesen Argumenten vernünftig umgegangen wird“, sagt der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 In Alternativen denken! Neben der Kraft der Argumente sehen auffallend viele Experten in der Bereitschaft, Alternativen zu diskutieren, einen wesentlichen Erfolgsfaktor für eine konstruktive Planungsdiskussion von Großprojekten. „Nur wo Handlungsspielraum da ist, kann man von ernsthafter Beteiligung sprechen“, findet Germanwatch-Geschäftsführer Christoph Bals. „Man sollte sich auseinandersetzen mit den vorgetragenen Alternativmöglichkeiten und diese ernst nehmen, statt sie mit Halbsätzen vom Tisch zu fegen. Das ist sehr mühsam, kann aber am Ende schneller gehen, als wenn man 300 oder 400 Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss beim Verwaltungsgericht verhandelt“, ist auch Patrick Döring überzeugt. S.159 Sein Politikerkollege Peter Altmaier glaubt, dass der legitimierende Charakter von parlamentarischen Entscheidungen unter anderem davon abhängt, „ob es aus Sicht der Betroffenen eine Chance gibt, diese Entscheidungen zu revidieren“. Daher müsse man der Entscheidungsfindung eine stärkere Aufmerksamkeit widmen, was wiederum eine gewisse Planungsunsicherheit bedeute. S.121 Für Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig ist es wichtig, in einem diskursiven Prozess zu verdeutlichen, dass eine bestimmte Lösung erst nach Abwägung von verschiedenen Alternativen beschlossen wurde. In Richtung Unternehmen fordert Gisela Erler: „Vorstände müssen sich einfach von dem Denken, dass ein angedachter Plan alternativlos sei, verabschieden. Dieses Denken ist in einem Land, das so dicht besiedelt ist und dessen Bevölkerung so gebildet ist wie die unsrige, nicht mehr zeitgemäß.“ Die Wirtschaft sollte sich von der Angst lösen, dass Bürgerbeteiligung Projekte endlos in die Länge ziehe. Es gehe nicht darum, Projekte zu verzögern, sondern darum, wie man sie verbessern kann, so die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung. S.160 f. Es sei legitim, dass Unternehmen zunächst intern verschiedene Alternativen diskutierten und nicht sofort an die Öffentlichkeit gingen, findet Dieter Rucht. „Unternehmen sollten allerdings mehr in Alternativen denken. Derzeit ist es so, dass Entscheidungen durch den Vorstand oder Aufsichtsrat gefällt und dann häufig als alternativlos präsentiert werden. Wenn es aber intern diskutierte Alternativen gibt, wäre es sinnvoll, diese in der Kommunikation nach außen zu thematisieren und öffentlich abzuwägen, so dass es für die Bürger klarer wird, warum man sich für oder gegen eine Alternative entschieden hat. So kann man vermeiden, dass 7 Ratio und Empathie 81 nach langer Diskussion plötzlich eine Gruppe auf den Plan tritt und eine andere und vielleicht nahe liegende Alternative fordert“, lautet die Empfehlung des Sozialwissenschaftlers. S.247 Ideen und Alternativen auch seitens der Bürger zu hören, findet Oliver Krischer sinnvoll. Denn „für Probleme gibt es oft Lösungen, die nicht sofort auf der Hand liegen“, so die Erfahrung des Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen. S. 213 Für nicht glaubwürdig hält Justus Haucap das Argument der Alternativlosigkeit. „An ein paar Stellen wird es Alternativen geben. Von daher muss man auch eine gewisse Ehrlichkeit erwarten.“ S. 181 Oberkirchenrat Eberhard Pausch hält fest: „Eine alternativlos vorgetragene Idee hat den Charakter der Nötigung, und das würden natürlich mündige Bürger und Bürgerinnen nicht schätzen. Zu Recht.“ Der Theologe und Experte für Demokratiefragen spiegelt damit die Meinung eines Großteils der Experten wider. Und die Medien? Die Diskurskultur zwischen den an einem Großvorhaben beteiligten Parteien lässt sich schwerlich betrachten, ohne die Rolle der Medien zu beleuchten. Denn eine Reihe von Experten vertritt die Auffassung, dass die Medien einen wichtigen Anteil an der Meinungsbildung und auch an den Protesten zu umstrittenen Projekten haben (vgl. dazu auch Kapitel 5, S. 61 ff.). Als problematisch empfinden mehrere Fachleute dabei die häufig verkürzte Darstellung von komplexen Sachverhalten. „Die Medien stehen in einem Wettbewerb, der sich in den letzten Jahren verschärft hat und der seriöse, längere, kontemplative Artikel abgedrängt und in den Hintergrund geschoben hat. Das Kurzlebigere dominiert“, bemängeln sowohl Günther Bachmann als auch Hildegard Müller: „Die Medien sind heute von einer extremen Schnelligkeit und einer sehr kurzen inhaltlichen Aufmerksamkeitsspanne dominiert. Damit passen sie sich dem heutigen Zeitgeist an, das ist auch völlig verständlich. Andererseits sind die Probleme so komplex geworden, dass sie gerne mal ausgeblendet werden.“ S.231 RWE-Vorstand Rolf Martin Schmitz bestätigt diese Einschätzung. „Leider stelle ich häufig die Tendenz fest, dass es Medien in den letzten Jahren immer weniger um differenzierte Vermittlung von Inhalten und sachlichen Informationen als um Emotionen geht. Das betrifft nicht nur Boulevardblätter, sondern auch Wirtschaftszeitungen und vor allem verschiedene Formate im Fernsehen.“ Die Medien passten sich der Aufnahmefähigkeit der Menschen an, die es heute gewohnt seien, nur noch Stakkato-Nachrichten aufzunehmen. S.255 Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Wahrnehmung der Experten. Proteste erfüllten demnach viele der klassischen Aufmerksamkeitskriterien, die für Medien entscheidend seien. Es handele sich um Konfliktthemen, die oft neuartig seien und sich auf griffige Formeln herunterbrechen ließen. „Es ist insbesondere für Bildmedien einfacher zu transportieren als parlamentarischer Alltag“, schreibt Knut Bergmann, Fellow der stiftung neue verantwortung, in einem aktuellen Aufsatz. Die tägliche Kompromisssuche sei dagegen 82 ANALYSE medial kaum abzubilden. Für Bergmann zählt die Simplifizierung zu den Erfolgskriterien des Protests, „der auch eine Kommunikationsleistung ist“. Komplexe Fragen, auf die Experten wie Politiker genauso wenig wie Journalisten und Bürger eine Antwort hätten, spielten jenseits der absoluten Qualitätsmedien kaum mehr eine Rolle, heißt es in seiner Analyse (Bergmann 2012: 18 f.). Hans-Werner Fittkau vermisst eine sachliche, zielorientierte Aufklärung. „Was ich beurteilen kann, ist, dass es einen generellen Trend zum Skandalisieren und Hysterisieren gibt, der nicht gut in den Medien ist. Dieser aufgeregte Journalismus bezieht sich auch auf die Wirklichkeit bei solchen Auseinandersetzungen.“ Auch Patrick Döring konstatiert: „Journalisten spitzen lieber eine schon zugespitzte Position zu als eine abgewogene, normale unaufgeregte Haltung.“ Dazu merkt Olaf Scholz an: „Es wäre gut, wenn die Medien sich häufiger eine Haltung zutrauen würden. Es ist zum Beispiel nicht hilfreich, den Bau einer Anlage zu skandalisieren und zugleich ihren Nichtbau, was durchaus vorkommt.“ S.259 Nach Frank Brettschneider wird dieser mediale Trend auch dadurch verstärkt, dass in der Berichterstattung nachgewiesenermaßen Probleme zunehmend häufiger thematisiert würden als Problemlösungen. „Damit entsteht der Eindruck, als hätte die Gesellschaft immer größere Schwierigkeiten, die sie lösen muss.“ S.145 Nicht pauschalisieren Man dürfe nicht den gesamten Journalismus über einen Kamm scheren, sondern müsse differenzieren, meint dagegen Roger de Weck. „Man kann nicht vom ‚Mediensystem‘ als Ganzem sprechen. Es gibt herkömmliche Medien, die trotz wirtschaftlicher Krise eine intellektuelle Blüte erleben, während sich ein Teil des Mediensystems der versuchten Volksverdummung schuldig macht“, so der Schweizer. S.154 Auch Theologe Eberhard Pausch will über die Medien kein Pauschalurteil fällen. „Es gibt bei diesen Konflikten keine einfachen Wahrheiten“, meint Redakteur Michael Bauchmüller. „Man kann manchen Medien sicher vorwerfen, dass sie nicht immer mit der nötigen Tiefe an Themen herangehen, sich oft eher zum Advokaten der scheinbar schwachen Bürger machen. Es ist aber nicht verwerflich, wenn sie einer Stimmung im Volk Stimme verleihen und diese Stimmung dann zur Mehrheitsmeinung wird“, nimmt der Journalist die Presse in Schutz. S.142 Verzerrtes Meinungsbild? Hans-Werner Fittkau hält genau diesen Effekt für problematisch und macht das am Beispiel Stuttgart 21 deutlich: „Dort entstand das Bild, das dann auch wieder von Berichterstattern reproduziert wurde, dass die Protestler in der Mehrheit sind. Die Medien verzerren das Meinungsbild und die schweigende 7 Ratio und Empathie 83 Mehrheit kommt nicht zu Wort“, bemängelt der Medienvertreter. Diese Gefahr sieht auch Johannes F. Lambertz. Stuttgart 21 mache deutlich, dass die Protestbewegung sowie das in den Medien gezeigte Meinungsbild auf der einen Seite und der Bürgerwille auf der anderen Seite nicht dasselbe gewesen seien. S. 216 (vgl. Abb. 7.1) Gewisse Verzerrungen durch die Medien seien empirisch belegt, bestätigen die Wissenschaftler Swen Hutter und Simon Teune. „Als gesichert gilt etwa, dass über teilnehmerstarke und gewaltförmige Ereignisse eher berichtet wird“, heißt es in einer jüngstenErhalten Publi37% kation der Politik- und Protestforscher (Hutter/Teune 2012: 11). Laut Wissenschaftler Dieter Rucht gibt es in den Medien tatsächlich eine Tendenz, das Meinungsbild zu verzerren. Auflagenstarke Medien, dieAbbauen stär10 % ker von Schwankungen im Kaufverhalten abhängig seien, müssten sich allerdings auch ein Stück weit an der schweigenden Mehrheit orientieren. Dass über die schweigende Mehrheit so wenig berichtet werde, liegt für Rainer Baake in der Natur der Sache. „Wenn sie schweigen, werden sie nicht gehört. Wenn sie gehört werden wollen, müssen sie sich äußern.“ Allerdings sei es weder in einer repräsentativen Demokratie noch bei Volksentscheiden so, dass diejenigen, die sich am lautesten artikulieren, automatisch Recht bekämen, relativiert der Umweltexperte diesen Effekt. Von der Theorie zur Praxis Lässt man die Empfehlungen der Experten Revue passieren, ergibt sich ein klarer Arbeitsauftrag an die Vorhabenträger. Sie sind aufgefordert, den Dialog mit den Bürgern aktiv zu suchen und bei den Betroffenen mit Empathie für die eigenen Pläne zu werben. Dabei scheint ein langer Atem gefragt zu sein. Denn zu einem gelingenden Diskurs gehören offenbar sowohl die ergebnisoffene Diskussion von Alternativen als auch eine detaillierte Sachargumentation. Im Idealfall können Planungsverantwortliche auf diese Weise einen Kontrapunkt zu der häufig verkürzten und bisweilen skandalgetriebenen Medienberichterstattung setzen. Weitestgehende Einigkeit besteht darin, dass die Einbindung der Bürger in die Vorhabenplanung grundsätzlich ausgedehnt werden sollte, um potenzielle Konflikte frühzeitig zu erkennen und im Diskurs zu einer mehrheitlich akzeptablen Lösung zu kommen. Wie Bürgerbeteiligung in der Praxis umgesetzt werden kann und worin dabei die Herausforderungen bestehen, damit befasst sich eingehend das nächste Kapitel. 84 ANALYSE 18.1 Endgültiges Ergebnis der Volksabstimmung über das Bahnprojekt Stuttgart 21 am 27.11.2011 PRO S21 58,9% CONTRA S2141,1% — Abb. 7.1 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2011 8 Partizipation – aber wie? Bürgerbeteiligung in der Kontroverse Über die Notwendigkeit, Bürger in die Vorhabenplanung intensiver einzubeziehen, und den Nutzwert entsprechender Anstrengungen gibt es einen allseitigen Konsens (vgl. hierzu auch Kapitel 1, S.22 ff.). Wie Meinungsumfragen zeigen, korrespondiert die Expertensicht durchaus mit den Bedürfnissen der Bürger. So halten 81 Prozent von ihnen mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten für wünschenswert. Eine Mehrheit der Deutschen ist bereit, sich über Wahlen hinaus an politischen Prozessen zu beteiligen – auch wenn nur eine Minderheit (22 Prozent) glaubt, dass bürgerliche Mitbestimmung von Politikern gewollt ist (vgl. Abb. 8.1). Viele Fachleute sehen in Bürgerbeteiligung einen Gewinn für das Gemeinwesen, so etwa Helmut Klages: „Wenn Bürgerbeteiligung richtig umgesetzt wird, stärkt sie die Kommunikation zwischen den politischen Eliten und den Bürgern, die zurzeit aus unterschiedlichen Gründen völlig unterentwickelt ist“, glaubt der emeritierte Professor für empirische Sozialwissenschaften. Die Politik gewinne an Legitimität und die Verwaltung an Planungssicherheit. S.203 Ähnlich argumentiert Justus Haucap. „Wenn man Bürgerbeteiligung und mehr plebiszitäre Elemente mit Bedacht einführt, verbessert es die Kommunikation und schafft Akzeptanz“, ist neben dem Vorsitzenden der Monopolkommission eine Reihe anderer Experten überzeugt. Dazu gehört unter anderem Gisela Erler. Nach Auffassung der baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung können Beteiligungsformate dazu beitragen, „dass das Gros der beteiligten Bürger das Projekt besser versteht“. S.160 18 Meinungsbild zur Bereitschaft der Bürger zu politischer Beteiligung JA 81% NEIN 16 % Mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten gewünscht JA 60 % NEIN 39 % Bereitschaft zur Teilnahme an politischen Prozessen über Wahlen hinaus JA 22 % NEIN 76 % Einschätzung: mehr Mitbestimmung der Bürger von Politikern gewollt k. A. 3 % k. A. 1% k. A. 2 % — Abb. 8.1 Quelle: Bertelsmann Stiftung/TNS Emnid, 2011 8 Partizipation – aber wie? 85 Ein besseres Verständnis für die Projekte zu erhalten, ist auch für den Präsidenten der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, ein wichtiges Ziel der Konsultationen im Rahmen des Netzausbaus, bei denen sich alle Bürger in unterschiedlichen Phasen online und offline beteiligen können: „Unser Ehrgeiz ist es, dass jeder Bürger Informationen darüber erhält, warum bestimmte Dinge gemacht und andere Dinge nicht gemacht werden. Transparenz heißt zuvorderst, dass alle vorliegenden Informationen umfassend dem Bürger zur Verfügung gestellt werden.“ S. 195 Beteiligung internalisieren: Die Teilhabe der Bürger sollte als originärer Bestandteil der Projektplanung begriffen und praktiziert werden Partizipation rechnet sich: Konstruktive Bürgerbeteiligung bringt unter dem Strich einen Zeitgewinn und mehr Planungssicherheit Verbesserungsbedarf: Defizite und Hemmschwellen der bestehenden Beteiligungspraxis machen eine Reform dringend erforderlich Erfolgsparameter: Transparenz und intensive Kommunikation sind das Fundament einer gelungenen Bürgerbeteiligung AUF EINEN BLICK Zeitig beginnen: Bürger möglichst frühzeitig in Planungen einzubinden, kann Widerstände reduzieren und im besten Fall Konflikte vermeiden Mitwirkung ermöglichen: Echte Beteiligung bedeutet, Bürgern tatsächlich die Einflussnahme bei bestimmten Planungsaspekten einzuräumen Ultima Ratio: Volksentscheide sind kein Allheilmittel – Bürgerteilhabe sollte idealerweise beginnen, lange bevor sich Fronten verhärten Nach den Erfahrungen von Frank Brettschneider und Joachim Herrmann geht bereits von der Einladung zu einem Dialogprozess ein Positiveffekt aus. „Schon allein die Ankündigung, ein solches Format durchzuführen, ist ja ein Signal“, meint der Kommunikationstheoretiker. S. 147 Das kann Bayerns Innenminister aus der Praxis heraus bestätigen: „Allein das Angebot hatte schon eine gewisse Wirkung und hat Ressentiments abgebaut“, berichtet CSUPolitiker Herrmann von seinen Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung beim Ausbau der A3 in Würzburg. S. 190 86 ANALYSE Ohne Alternative Ausschlaggebend scheint dabei die Wahrnehmung zu sein, mit seinen eigenen Interessen und auch Bedenken respektiert zu werden. „Wenn Bürger das Gefühl haben, dass Vorhabenträger und Genehmigungsbehörden ihre Argumente ernst genommen und sachgerecht abgewogen haben, dann gibt es eine gute Chance auf Akzeptanz“, sagt Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 Das sieht Oliver Krischer ähnlich. Mehr Bürgerbeteiligung bedeute, dass mehr Menschen eingebunden seien und „dass es am Ende weniger Menschen geben wird, die das Gefühl haben, dass da etwas über ihren Kopf hinweg geplant worden ist“. Für den Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen gibt es schlichtweg keine andere Option, als Bürgerbeteiligung auszubauen. „Man muss sich ja immer fragen, was die Alternative ist. Die Alternative ist, man macht es in der bisher praktizierten Form und dann geht man das Risiko ein, dass man sich nicht verständigt und sich dann vor Gericht wiedersieht“, so Krischer. „Keine Risiken, sondern vor allem Chancen“, sieht auch Politiker Sören Bartol. Voraussetzung seien die richtigen „Leitplanken“, so der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete. S.139 Befund: „nicht praxistauglich“ Doch wie ist es um diese „Leitplanken“ und die praktische Umsetzung von Bürgerbeteiligung bei der Realisierung von Großprojekten in Deutschland bestellt? Unter den Fachleuten besteht große Übereinstimmung, dass die bislang bestehenden Möglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht ungenügend beziehungsweise nicht praxistauglich sind. „Auf dem Papier gibt es genügend Beteiligungsmöglichkeiten, die aber häufig für den Bürger zu kompliziert sind. Die Rampe ist zu steil, um sie wirklich wahrzunehmen“, illustriert Michael Bauchmüller von der Süddeutschen Zeitung die von zahlreichen Experten empfundene Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit. „Wir haben aufwendige Planungsverfahren, die aber im Ergebnis Bürgerbeteiligung eher verhindern als befördern“, glaubt auch Grünen-Abgeordneter Oliver Krischer. S.214 Ähnlich sieht das sein liberaler Politikerkollege Patrick Döring: „Die verwaltungsrechtlichen Möglichkeiten reichen aus, aber sie haben für viele eine abschreckende Wirkung“, so der FDPGeneralsekretär. S.159 Eine Reihe von Fachleuten sieht die breite Bevölkerung mit den gegenwärtigen Beteiligungsformen überfordert. Die bestehenden Instrumentarien seien „eine Sache für Spezialisten, weil es sich auf Bürgerseite nur wenige leisten können, sich durch die Pläne zu ackern. Man versteht ja größtenteils gar nicht, was da steht, wenn man nicht gerade Bauexperte ist“, bemängelt Ulrich von Alemann unter anderem die momentane Praxis der Verwaltungsbeteili8 Partizipation – aber wie? 87 gung über Planfeststellungsverfahren. S. 266 „Wichtig ist vor allem, die Verfahren so verständlich zu machen, dass sich nicht nur spezialisierte Topanwälte, sondern auch normale Bürger beteiligen können“, verlangt daher die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Hildegard Müller. S.230 Die Notwendigkeit, Unterlagen möglichst verständlich aufzubereiten, betont auch Jochen Homann. Gleichzeitig müssten aber auch die Bürger eine gewisse Bereitwilligkeit zur detaillierten Sachauseinandersetzung mitbringen. „Das ist die andere Seite von Bürgerbeteiligung: Man muss bereit sein, sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen“, verlangt der Präsident der Bundesnetzagentur. S.195 Harsche Kritik übt Dieter Rucht an der gegenwärtigen Situation. „Viele bestehende Formen der Bürgerbeteiligung sind eine Farce“, so das Urteil des Sozialwissenschaftlers. Das liege unter anderem an der erdrückenden Informationsfülle und an suboptimalen Verfahrensbedingungen. Mit Auslegungsfristen von lediglich zwei bis vier Wochen, noch dazu nur zu den Bürozeiten der Baubehörde, schließe man viele Menschen aus. „Das größte Defizit ist aber, dass die Einspruchsverfahren in der Regel in einem Stadium erfolgen, in dem schon so gut wie alles gelaufen ist“, hält Rucht fest. Er plädiert daher für ein zweistufiges Verfahren mit einer öffentlichen Anhörung zum Für und Wider des Projekts und einem späteren rechtsverbindlichen Planfeststellungsverfahren. S. 247 Modernere Bürgerbeteiligung Kritisch gegenüber der aktuellen Verwaltungsbeteiligung äußert sich auch Rainer Baake. „Die bestehenden Möglichkeiten im Verwaltungsrecht reichen nicht aus; es muss dringend überarbeitet werden“, fordert er. Wie Dieter Rucht kritisiert auch Baake die unzureichenden Möglichkeiten für Bürger, bei den Verwaltungen Einsicht in die Pläne zu nehmen. „In Zeiten des Internets ist das ein Unding. Planunterlagen müssen ins Netz gestellt werden.“ S. 126 Für die Experten, die im Zusammenhang mit dem Netzausbau Beteiligung praktizieren, ist das Internet ein wichtiges Vehikel, das jedoch erst in Kombination mit der persönlichen Einbindung der Bürger seinen Nutzen entfaltet. So hält Jochen Homann es für richtig und notwendig, dass die erste Runde der Konsultationen zum Netzausbau im Wesentlichen online stattgefunden habe, fügt aber hinzu: „Online-Beteiligung allein ist allerdings nicht ausreichend, weil man dadurch viele Menschen nicht erreicht. Deswegen schalten wir jetzt auch Hotlines und führen in der nächsten Runde in sechs verschiedenen Städten Veranstaltungen durch. Die Beteiligung vor Ort ist vor allem wichtig, um die Menschen in der Fläche zu erreichen.“ S. 195 Diese Einschätzung teilt Hans-Jürgen Brick: „Das Internet spielt als zentrale Wissensplattform für unsere Leitungsbauprojekte eine ganz wichtige Rolle. Es ersetzt allerdings nicht das persönliche Gespräch vor Ort“, zeigt sich der Vertreter des Übertragungsnetzbetreibers Amprion überzeugt. 88 ANALYSE Qualität statt Quantität Deutschland brauche nicht ein Mehr an Beteiligung, sondern eine qualitative Veränderung der Prozesse, glaubt Günther Bachmann. „Quantitativ haben wir alle Möglichkeiten, die führen aber erstens zu langen Planungsprozessen und zweitens erkennen die Menschen am Beginn eines Projekts die Bedeutung einer Beteiligung oftmals nicht. Genau zu dem Zeitpunkt hätten sie aber den meisten Einfluss und die Möglichkeiten nehmen ab, je mehr sie die Bedeutung erkennen“, schildert der Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrates das derzeitige Paradox. S.131 Für den Präsidenten der Bundesnetzagentur ist das nachvollziehbar: „Solange Projekte abstrakt sind, haben Bürger meist wenige Einwände. Das ändert sich, sobald es konkret wird“, so die Erfahrung von Jochen Homann. In der ersten Runde der Konsultationen zu den Übertragungsnetzen seien nur rund 2.000 und damit deutlich weniger Bürgereingaben als erwartet eingegangen. „Das liegt daran, dass die Projekte noch nicht konkret genug sind und vor allem der genaue Verlauf der Leitungen noch nicht feststeht. Sobald es um konkrete Leitungsverläufe geht, wird die Beteiligung sicherlich stark zunehmen“, prognostiziert der Behördenchef. S.192 Mehr Transparenz und Kommunikation Selbst jene Experten, die die bestehenden Partizipationsformen im Prinzip für ausreichend halten, fordern flankierend mehr Transparenz und Kommunikation ein. Zu ihnen gehört Michael Fuchs. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion glaubt zwar, dass es ausreichend prozessuale Möglichkeiten für jeden Bürger gebe. „Vielleicht muss man das aber noch ein Stück transparenter machen.“ S.169 Ähnlich ambivalent äußert sich dena-Chef Stephan Kohler: „Aus meiner Sicht reichen die Beteiligungsmöglichkeiten aus. Die Frage ist, wann man mit der Kommunikation beginnt. Ich denke, die Beteiligung der Bevölkerung über Kommunikation sollte früher beginnen.“ S.211 Auch Justus Haucap findet, dass es im Verwaltungsrecht schon heute gute Mitspracherechte gebe. „Was fehlt, ist eher die Kommunikation über die Mitspracherechte. Der breite Teil der Bevölkerung merkt viel zu spät, dass etwas passiert.“ Für den Vorsitzenden der Monopolkommission ist Bürgerbeteiligung „eher eine Frage der Kommunikation als der faktischen Rechte“. S.183 „Viele Menschen sind allerdings nicht bereit, sich so tief in die Themen einzuarbeiten“, ist die Erfahrung von Rolf Martin Schmitz. „Das müssen Unternehmen berücksichtigen und parallel zu dem Genehmigungsverfahren intensiv mit den Menschen kommunizieren und die Pläne darlegen“, folgert der RWE-Vorstand, der die formellen Beteiligungsmöglichkeiten für ausreichend hält. S.255 Nicht viel anders fällt die Einschätzung von Matthias Heck aus: „Möglichkeiten haben wir genug.“ Dennoch müsse man die Bevöl8 Partizipation – aber wie? 89 kerung „früher und proaktiver einbeziehen“, fordert der Senior Manager der australischen Investmentbank Macquarie. S. 186 In der Tat sind sich die meisten Fachleute darin einig, dass die Kommunikation möglichst frühzeitig einsetzen muss. „Je früher man den Dialog sucht, desto stärker kann man Widerstände reduzieren“, sagt Sören Bartol. S.139 Die im Verwaltungsrecht vorgesehenen Beteiligungsmöglichkeiten kämen zu einem viel zu späten Zeitpunkt, kritisiert als einer von vielen Frank Brettschneider, „nämlich dann, wenn es nicht mehr um Alternativen geht“. Der Wissenschaftler stellt fest: „Die bestehenden Verfahren sind nicht dazu geeignet, eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen zu führen, sondern sie sind dafür da, Rechtssicherheit herzustellen. Das ist eine ganz andere Funktion, die absolut notwendig ist. Diese ersetzt aber nicht eine zusätzliche Bürgerbeteiligung, die früher stattfinden sollte.“ Dabei gehe es nicht um direkte Demokratie, sondern um Anhörungen und um Dialog-Verfahren, so der Kommunikationstheoretiker. S. 147 Dialog vor Verfahrensbeginn starten Doch wann genau ist der beste Zeitpunkt, um Bürger an den Vorhabenplanungen zu beteiligen? Die Experten bleiben in diesem Punkt eher vage, nur wenige benennen einen konkreten Termin. Nach Hildegard Müllers Meinung könnte man den Scoping-Termin, an dem die Projekte vorgestellt werden, für alle Bürger öffnen. S. 231 Helmut Klages beruft sich dagegen auf die Heidelberger „Leitlinien für mitgestaltende Bürgerbeteiligung“, nach denen eine Information der Bevölkerung „spätestens drei Monate vor der Ersterörterung in einem kommunalen Gremium“ erfolgen soll. S.202 Patrick Döring hält den Beginn des Raumordnungsverfahrens für geeignet, „weil es schon in ein Verfahren eingebettet werden muss. Es kann keine Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden, nur weil jemand eine Idee hat.“ S. 159 Für Justus Haucap muss das Projekt bereits „einen gewissen Reifegrad erreicht haben“. S. 183 „Man kann die Bevölkerung sicherlich nicht gleich bei der ersten Idee beteiligen. Ein Projekt muss schon hinreichend konkret sein“, findet auch Matthias Heck. Er spricht sich dafür aus, die Bevölkerung ins Boot zu holen, wenn man den Bauantrag stellt. S. 186 In den Augen von Günther Bachmann und anderen Experten ist das deutlich zu spät. „Zuhören fängt irgendwo bei der Konzeptionierung eines Baus an und nicht beim Bauantrag.“ Das Gros der Fachleute, darunter viele Politiker, teilt die Auffassung, dass der Dialog schon in einem sehr viel früheren Stadium beginnen sollte. „Meines Erachtens ist es schon zu spät, wenn sie anfangen, den ersten Plan zu zeichnen, der über eine Skizze hinausgeht“, sagt etwa Oliver Krischer. Ein Unternehmen oder die staatliche Planungsbehörde sollten an die Öffentlichkeit gehen, wenn sie sich darüber im Klaren 90 ANALYSE seien, dass sie ein Projekt realisieren wollten. Zumindest in der betroffenen Region sollte man darüber informieren, was man sich im Groben vorstellt, meint der Grünen-Politiker. S.213 Für Hans-Werner Fittkau hängt der Beginn der Bürgerkommunikation von der Dimension des Projekts ab. „Wenn einer eine Standard-Windkraftanlage irgendwo hinstellt, ist das etwas anderes, als wenn eine riesige Solaranlage in die Landschaft gebaut wird oder eine Starkstromtrasse durch das Erzgebirge geplant ist. In diesen Fällen würde ich immer sagen: so früh wie möglich.“ S.167 Bundesumweltminister Peter Altmaier hält es für das Entscheidende, „dass man vor dem formalen Verwaltungsverfahren die Möglichkeit der Information und Diskussion vorschaltet“ S.122, und ist mit dieser Haltung nicht allein. Sein CDU-Parteikollege Michael Fuchs erachtet „eine frühere Öffentlichkeitsbeteiligung in Form von Bürgerforen oder kommunalen Zukunftskonferenzen“ für sinnvoll, die das anschließende Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahren bei Großvorhaben besser vorbereiten sollen. S.169 Dem SPDPolitiker Sören Bartol geht es ebenfalls darum, schon „vor dem Planfeststellungsverfahren konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen“. Die SPD fordere „einen Beteiligungstermin, bei dem die Pläne erörtert werden, und weitere Termine, wenn Pläne geändert werden“. Die Anhörung sollte nicht nur den im rechtlichen Sinne Betroffenen offenstehen, sondern allen Bürgern. Private Betreiber seien als Planungsträger ebenfalls gut beraten, „sich kommunikativ sehr früh zu engagieren“, so der Sozialdemokrat. S.138 Ergebnisoffene Diskussion Die meisten Fachleute begründen ihre Forderung nach frühzeitiger Einbindung der Bürger mit dem Argument, dass die Planungen dann noch ergebnisoffen und Projekte somit modifizierbar seien. Wie viele andere fordert auch Michael Vassiliadis: „Bürgerbeteiligung muss zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem Einf lussnahme noch möglich ist. Unsere Praxis ist im Moment so, dass ein Unternehmen ein größeres Projekt plant und dann auf die Genehmigungsbehörde zugeht. Wenn diese nach dem Planungsrecht ihren Erörterungstermin durchführt und die Planung des Unternehmens bekannt gibt, ist das Projekt nur noch mit einem sehr hohen Aufwand modifizierbar.“ Bürger, die an solchen Terminen teilnähmen, fühlten sich dann verständlicherweise außen vor und verstünden nicht, was da vor sich gehe, beschreibt der IG-BCE-Vorsitzende die derzeitige Problematik. Der Gewerkschafter begrüßt daher den Ansatz, „die Öffentlichkeit frühzeitig in die Planungsverfahren einzubeziehen und auch Dialoge zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt zu organisieren, an dem Unternehmensplanung noch gestaltbar ist“. S.263 Mit Nachdruck spricht sich dafür auch Rainer Baake aus. Er vermisst in Deutschland einen Verfahrensschritt, in dem die Notwendigkeit einer Planung öffentlich erörtert und tatsächlich ergebnisoffen geprüft wird. „Aus meiner Sicht sollte am Anfang eine ergebnisoffene Debatte über das Ob und 8 Partizipation – aber wie? 91 dann anschließend erst über das Wie geführt werden. Gegenwärtig legt eine Genehmigungsbehörde Pläne meist erst dann aus, wenn sie sich bereits eine vorläufige Meinung gebildet hat und für sie der Bedarf grundsätzlich feststeht. Das schließt schon fast eine Ergebnisoffenheit der Prüfung im anschließenden Verfahren aus. Deshalb haben die Bürger auch häufig das Gefühl, dass ihre Einwände nur noch als lästig empfunden und pro forma abgearbeitet werden, um zu einer rechtssicheren Genehmigung zu kommen. Auf diese Art und Weise gewinnen wir keine Akzeptanz in der Bevölkerung“, so kritisiert der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 Sören Bartol plädiert für frühzeitig beginnende und ergebnisoffene Verfahren, „weil der respektvolle Umgang ganz schnell vorbei ist. Wenn ein Initiator mit einer endgültigen Lösung kommt, bleibt dem anderen nur noch das Schimpfen. Viele Konf likte schaukeln sich durch die Ohnmacht oder gefühlte Ohnmacht der Gegner erst hoch“, illustriert der Politiker den Eskalationsmechanismus. S. 138 „Bevor man sich in die Schützengräben eingegraben hat, sollte man ein Projekt auf jeden Fall der Öffentlichkeit mit allen Vor- und Nachteilen vorstellen“, findet deshalb auch Johannes F. Lambertz, Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG. S. 219 Einige Experten machen deutlich, dass Bürgerbeteiligung nicht als „Placebo“ missverstanden werden darf. „Ergebnisoffenheit muss es in dem Sinne geben, dass man idealerweise vor der Planung eines Projekts wirklich alle Alternativen und Einwände gewissenhaft prüft“, sagt etwa Gisela Erler. S. 160 „Es darf keine Alibi-Veranstaltung sein. Es wäre absurd, wenn ich einen wichtigen Einwand nicht anhöre, weil das Ergebnis schon feststeht“, betont auch Justus Haucap. S. 183 Genauso sieht das Christoph Bals, Geschäftsführer von Germanwatch: „Wenn die Argumente tragen, müssen diese Argumente auch tatsächlich etwas verändern können.“ S. 135 Primat der Politik Der Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages stellt dagegen klar: „Bürgerbeteiligungsprozesse können in dem Sinne ergebnisoffen sein, als den Bürgern reale Beteiligungschancen beziehungsweise reale Chancen des Gehörs und der Mitwirkung gegeben werden.“ Bürgerbeteiligung impliziere keinesfalls zwingend eine reguläre Mitentscheidung oder Exklusiventscheidung der Bürger, wie das beim Bürgerentscheid vorgesehen sei. „Das Letztentscheidungsrecht sollte vielmehr bei den in der Verfassung vorgesehenen Instanzen bleiben“, so die Auffassung des emeritierten Professors. Die Mehrheit der Bürger erwarte im Übrigen auch nicht, die Entscheidungsaufgabe der Politik übernehmen zu müssen, meint Klages, denn die Bürger akzeptierten ganz überwiegend politische Führung und die Grundinstitutionen der parlamentarischen Demokratie. S.202 Das sieht Manfred Güllner genauso. „Den meisten Bürgern reicht es, alle vier oder fünf Jahre ihr Urteil über die Arbeit der Politik abzugeben. Zwischen den 92 ANALYSE Wahlen soll die Politik ordentlich arbeiten“, ist der forsa-Chef überzeugt. „Daher sollte man nicht noch mehr unausgereifte Angebote zur Schein-Partizipation machen, sondern wieder zu einer Politik zurückkehren, die die Interessen aller Schichten der Bevölkerung beachtet.“ S.174 Michael Fuchs will das Primat der Politik ebenfalls nicht infrage stellen: „Prinzipiell finde ich Bürgerbeteiligung richtig, aber man muss auch eine Struktur finden, um die Planungsverfahren nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu verzögern. Es muss einen Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung geben. Man muss irgendwann sagen, das machen wir jetzt so. Das ist Aufgabe und Verantwortung der Politik“, stellt er klar. S.169 Verantwortlichkeit und Finanzierung noch ungeklärt Während die finale Entscheidungsbefugnis in Planungsverfahren also bei Politik und Behörden gesehen wird, zeigen sich die Experten bei der Frage, wer für die vorgelagerte Bürgerbeteiligung verantwortlich ist, unentschieden. Nur wenige Befragte beziehen zu diesem Aspekt konkret Stellung, darunter Matthias Heck, der findet: „Da liegt der Ball vor allem bei den Unternehmen“. S.186 Verbandsvorsitzende Hildegard Müller meint: „Derjenige, der etwas umsetzen will, hat auch eine gewisse Verantwortung, solche Verfahren anzustoßen. Die Politik hat dann die Verantwortung, die zeitlichen Restriktionen im Auge zu behalten, damit sie noch vernünftig sind und den Prozess nicht künstlich verlängern oder verkürzen.“ S.231 Sören Bartol sieht „alle Beteiligten, die Behörden genauso wie private oder halbprivate Planungsträger, die sich schon aus Eigeninteresse beteiligen sollten“, in der Verantwortung. „Aber die Frage, wer den Prozess vor Ort führt, muss auch vor Ort entschieden werden. Die Vorgaben richten sich erst mal an die Behörden, diese können aber mittelbar die Planungsträger in die Pflicht nehmen.“ S.138 Ähnlich differenziert Frank Brettschneider: „Wenn es ein übergeordnetes gesellschaftliches Interesse gibt, dann ist der Treiber derjenige, der diese übergeordneten Interessen formuliert – also die Politik und die Verwaltung. Wenn es um sehr klar benennbare Individualinteressen eines Unternehmens in einer räumlich begrenzten Situation geht, dann ist es die Sache des Vorhabenträgers selbst.“ Und wer soll die Kosten für Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung tragen? Analog zur Verantwortungsfrage müsse auch beim Thema Finanzierung einzelfallabhängig entschieden werden. „Das kann man nicht über einen Leisten spannen. In einem Fall wird es der Investor sein, im anderen der Staat als öffentliche Institution oder eine Gemeinde“, sagt Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. Bei der Finanzierung gebe es ebenso wie bei den Formaten keine allgemeingültigen Regeln. S.257 Sein Parteikollege Sören Bartol empfiehlt: „Die Planungsträger sollten die Kosten als einen Teil der Planungskosten tragen, so wie dies bereits heute zum Beispiel bei Naturschutzausgleichsmaßnahmen der Fall ist.“ S.138 Für eine Lastenteilung plädiert auch 8 Partizipation – aber wie? 93 Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig: „Da muss man BurdenSharing machen. Die Projektentwickler und auch die Öffentlichkeit müssen dafür entsprechende Ressourcen zur Verfügung stellen.“ Partizipationspolitikerin Gisela Erler formuliert ihre Erwartungen wie folgt: „Vorhabenträger sollten, genauso wie sie für den Naturschutz aufkommen, auch ein Budget für Bürgerbeteiligung einplanen und die Kosten dafür entsprechend tragen.“ S.161 Zeitgewinn und Planungssicherheit Bei der Frage, welche Auswirkungen Bürgerbeteiligung auf die zeitliche Dimension von Genehmigungsverfahren hat, sieht eine deutliche Mehrheit der Fachleute keine Gefahr der Verzögerung für Großprojekte. Ganz im Gegenteil sind die meisten Experten der Auffassung, dass Dialog- und Beteiligungsmaßnahmen unter dem Strich die Verfahren sogar beschleunigen – und damit auch Planungssicherheit für die Vorhabenträger schaffen. Zu den wenigen Experten, die sich bei diesem Fragenkomplex eher skeptisch zeigen, gehören Justus Haucap und Michael Vassiliadis. „Je mehr Leute man beteiligt, desto häufiger muss man prinzipiell damit rechnen, dass auch mehr Leute etwas sagen. Mit Stuttgart 21 haben wir das Paradebeispiel erlebt, wie es nicht laufen sollte“, erklärt der Spitzenvertreter der Monopolkommission S.183, während der Gewerkschaftsvorsitzende zu bedenken gibt: „Mit solchen Verfahren verbindet sich die Hoffnung, dass weniger Einspruchsverfahren stattfinden. Allerdings bin ich da skeptisch, denn das ist ja ein ideales Bild, das davon ausgeht, dass diejenigen, die hinterher prozessieren, dieselben sind, die vorher mit diskutiert haben.“ S.263 Auch Matthias Heck befürchtet, dass die ohnehin schon langen Planungsprozesse sich durch Bürgerbeteiligung noch einmal verlängern könnten S.187. Regine Günther räumt ein, dass „zur Wahrheit aber auch gehört, dass eine umfassende Beteiligung der Betroffenen ein Spagat ist. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto länger könnte ein Verfahren dauern.“ S.178 f. Volksentscheide: Pro und Contra „Natürlich kosten Dialogprozesse viel Zeit. Aber dieser Zeitaufwand lohnt sich“, ist Joachim Herrmann überzeugt. Ein möglichst breiter Konsens sei nicht nur unter demokratischen Gesichtspunkten erstrebenswert, sondern könne unter dem Strich sogar einen Effizienzgewinn in der Verfahrensdauer bedeuten. „Wenn man ein Projekt ohne Beteiligung durchboxt, ist das Risiko von Demonstrationen oder Klagewellen und damit von Verzögerungen erheblich größer“, so seine Rechnung. S. 190 Dem schließt sich Rainer Baake an. In den meisten Fällen würde Bürgerbeteiligung kürzere Verfahren bedeuten, „denn wenn ein Vorhaben durch alle Verwaltungsgerichtsinstanzen gehen muss, dauert das in der Regel viel länger als die Zeit, die man am Anfang für einen Vorklärungsprozess investieren muss“. S. 127 Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages hält die Befürchtung, dass Prozesse sich automatisch verlangsamen, wenn Bürger beteiligt werden, ebenfalls für unbegründet. „Zwar kommt dadurch ein zusätzlicher Zeitfaktor ins Spiel, dem man Rechnung tragen muss. Wenn man alle Reserven nutzt, wird man aber am Ende einen Zeitgewinn verbuchen können.“ S. 203 Kann mehr unmittelbare Demokratie ein Weg der effizienten Auseinandersetzung über Großprojekte sein? Unter den Experten sind direktdemokratische Verfahren wie Volksabstimmungen umstritten. Wenige von ihnen befürworten derartige Instrumente ausdrücklich. Zu ihnen gehört Justus Haucap, der von sich sagt: „Ich bin ein Freund von Bürgerbeteiligung und von plebiszitären Elementen“, und mit Blick auf das Schweizer Modell der Direktdemokratie konstatiert: „Der gesamte vorherige Kommunikationsprozess läuft ganz anders ab, weil auch jeder Politiker weiß, dass am Schluss das Volk abstimmt.“ Hans-Werner Fittkau, der für ein konstruktives Nebeneinander von direktdemokratischen und informellen Beteiligungsmöglichkeiten plädiert, betont die „ungeheuerliche Legitimität“ von Volksabstimmungen, wie man sie bei Stuttgart 21 praktiziert habe. Derartigen Protesten sei durch die Abstimmung die moralische Legitimität entzogen worden, glaubt der Journalist. „Nein, Bürgerbeteiligung verzögert Planungsverfahren nicht, weil es einfach zusammengehört“, glaubt auch Hans-Werner Fittkau. Der stellvertretende PHOENIX-Redaktionsleiter führt als Musterbeispiel den Bau der AllianzArena in München an, wo zwischen Ausschreibung und Realisierung nur eine ganz kurze Spanne gelegen und frühzeitig ein intensiver Bürgerdialog stattgefunden habe. „Im Endeffekt ist es für Unternehmen besser, die Schwierigkeiten am Anfang statt am Ende des Prozesses zu kennen. Das schafft für Unternehmer mehr Rechtssicherheit. Wenn ich Bedenken im Vorfeld klären kann und Menschen mitnehme, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es nachher Klagen gibt, sehr viel geringer“, resümiert Oliver Krischer für eine Reihe von Fachleuten. S. 214 Zwar meint auch Olaf Scholz, dass eine Mitwirkung des Souveräns die Akzeptanz eines Projektes verbessern kann. „Volksentscheide und Bürgerentscheide erhöhen ohne Zweifel die Legitimation dessen, was am Ende eines Entscheidungsprozesses herauskommt.“ Dennoch rückt Hamburgs Erster Bürgermeister zurecht: „Ein Allheilmittel in Sachen Akzeptanz sind Bürger- und Volksentscheide nicht.“ Kompliziert werde es immer dann, wenn die zur Diskussion stehenden Themen sehr kleinteilig und die Bürger nur unter unverhältnismäßig großem Aufwand in die Lage versetzt werden könnten, zwischen Für und Wider abzuwägen. Problematisch sei zudem eine zu geringe Beteiligung der Bürger an entsprechenden Verfahren, weil so die Legitimation für einen Entscheid fehle, so der Politiker. S.256 94 ANALYSE 8 Partizipation – aber wie? 95 Direktabstimmungen als Ultima Ratio Volksabstimmungen und Bürgerbegehren zählen nach der Teilnahme an Wahlen zu den von den Deutschen bevorzugten Formen politischer Beteiligung, 78 Prozent der Bürger haben schon einmal an entsprechenden Abstimmungen teilgenommen beziehungsweise geben an, dass eine derartige Teilnahme für sie infrage käme (vgl. Abb. 8.3). Ähnlich zurückhaltend äußert sich eine Reihe anderer Fachleute. „Volksentscheide haben ihren Reiz, aber auch ihre Tücken“, sagt etwa Michael Bauchmüller. Kirchenvertreter Eberhard Pausch schränkt ebenfalls ein: „Die direkte Demokratie macht die Demokratie sicherlich bunter und gibt den Bürgern auch eine gewisse Kontrollfunktion in die Hand. Sie birgt aber auch Risiken“, erklärt der Theologe und erinnert an die Entscheidung der Schweizer zum MinarettVerbot. „Sinnvoller sind aus meiner Sicht Bürgerbefragungen, die keinen absolut zwingenden Charakter haben, aber als Impulse für politische Entscheidungen respektiert werden müssen.“ S. 238 Michael Fuchs hält Volksabstimmungen auf kommunaler Ebene für sinnvoll, „aber wir sind eine parlamentarische Demokratie und wenn wir so weit gehen, dass wir über jedes Großprojekt oder jede politische Maßnahme das Volk abstimmen lassen, tut das dem Land nicht gut“. S. 169 Auch Manfred Güllner lehnt in den meisten Fällen Volksentscheide ab, weil direktdemokratische Elemente zum Teil zu verzerrten Einsichten führten; der forsa-Chef spricht sich stattdessen für eine stärkere kommunale Marktforschung zu umstrittenen Vorhaben aus. S.175 Experten wie Dieter Rucht und Gisela Erler halten Volksabstimmungen ebenfalls nicht für das Mittel der Wahl, sondern lediglich für die Ultima Ratio. „Es ist nicht unser Ziel, alles in die direkte Demokratie zu verschieben“, meint die baden-württembergische Staatsrätin. „Aber was in den normalen Verfahren nicht zu klären ist, sollte dann in einem Volks- oder Bürgerentscheid geklärt werden können.“ S. 162 Für den Sozialwissenschaftler Rucht sind direkte Abstimmungen generell nur „ein außergewöhnliches Mittel für schwer lösbare Konf likte“. Schon gar nicht sollten sie am Anfang eines Projektes durchgeführt werden, „weil zu diesem Zeitpunkt die Implikation von einzelnen Entscheidungen noch gar nicht klar ist“. Im Gegensatz zu Roger de Weck, der genau dieses Procedere empfiehlt S. 152, ist Rucht überzeugt: „Ich bin nicht für eine Hauruck-Lösung in dem Sinne, dass die Leute ganz am Anfang abstimmen sollen, um dann das Projekt rigoros durchzuziehen oder eben fallen zu lassen.“ S. 247 Königsweg gibt es nicht Wie mehrere seiner Expertenkollegen glaubt auch der Joachim Herrmann, dass es das ultimative Modell für Bürgerbeteiligung nicht gibt. In welcher Form Bürger in die Planung von Großprojekten einbezogen werden sollten, hänge vom jeweiligen Vorhaben ab. „Es gibt viele Projekte, wie zum Beispiel den Bau einer neuen Stadthalle, bei denen es sinnvoll ist, wenn die Bürger vor Ort grundsätzlich darüber entscheiden können, ob das Projekt überhaupt gewollt ist.“ Es gebe „aber auch Projekte, bei denen es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie“ gehe, hält der Unionspolitiker fest, etwa wenn große Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen bereits vom Bundestag beschlossen seien. S.190 19 Sollte künftig über Großprojekte wie Stuttgart 21 per Volksabstimmung entschieden werden? Für Joachim Herrmann ist nicht zuletzt wichtig, dass man in der Diskussion um direktdemokratische Verfahren die Spielregeln des Rechtsstaats deutlich macht. „Plebiszite heißen eben nicht Willkür von Mehrheitsentscheidungen, sondern Plebiszite haben sich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu halten.“ So könnten Bürgerentscheide sich zum Beispiel nicht über den gesetzlichen Rechtsanspruch eines privaten Investors hinwegsetzen, wenn dieser alle Voraussetzungen für die Genehmigung eines Projektes erfülle. S.191 Die Bürger indes halten viel davon, über Großprojekte mitzuentscheiden. Laut einer Umfrage sprechen sich 71 Prozent der Befragten dafür aus, künftig über derartige Vorhaben per Volksabstimmung zu entscheiden (vgl. Abb. 8.2). 96 ANALYSE JA 71% NEIN 25 % Weiß nicht/keine Angabe: 3 % — Abb. 8.2 Quelle: Focus/TNS Emnid, 2010 Dass es keine Patentlösungen gebe, betonen auch andere Fachleute. „Man sollte nicht nach der optimalen Methode suchen, denn die Anwendung der Methode hängt von den jeweiligen Anforderungen in den einzelnen Projektphasen ab. Die Anforderungen sind ganz unterschiedlich, je nachdem, was die Zielsetzung ist“, glaubt Helmut Klages. S.202 „Mitten in der Innenstadt von Stuttgart ist die Situation völlig anders als bei einem Windrad in der Eifel“, stimmt Johannes F. Lambertz zu. Es könne daher „keine One-size-fits-all-Lösung“ in Sachen Bürgerbeteiligung geben. „Die Projekte sind unterschiedlich, deswegen müssen auch die Instrumente unterschiedlich sein“, so der RWE-Manager. S.219 Nach den Erfahrungen von Olaf Scholz hat sich ebenfalls herausgestellt, „dass es keine ultimative Lösung gibt. Mal hat sich das eine, mal das andere Verfahren als hilfreich erwiesen. Die Suche nach einem Patentrezept in Sachen Beteiligung sollte man daher aufgeben und stattdessen immer für neue Konzepte offen sein“, fordert der Hamburger Regierungschef. S.257 Auch Gerd Landsberg sieht „keinen Königsweg. Die Art und Form der Bürgerbeteiligung ist jeweils kontext- und projektabhängig.“ In einem Fall könnten offene Kommunikationsformen wie das Internet sinnvoll sein, in einem anderen Fall konkrete Erörterungsverfahren, so der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. S.221 Die Fülle der Optionen verdeutlicht auch eine Umfrage, laut der die Bürger sich von Volksentscheiden über die Teilnahme an Bürgerforen bis zu Abstimmungen im Internet zahlreiche Möglichkeiten der politischen Beteiligung vorstellen könnten (vgl. Abb. 8.3.). 20 Welche Formen von politischer Beteiligung praktizieren Sie/kämen für Sie infrage und welche kommen nicht infrage? Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich infrage Kommt für mich nicht infrage 94 % Teilnahme an Wahlen 5% 78 % Volksentscheide, Bürgerbegehren 68 % 21% 29% Abstimmungen über Infrastrukturprojekte 47% 53% Teilnahme an einer Demonstration 39 % 60% Teilnahme an einem Bürgerforum, einer Zukunftswerkstatt 34 % 65% Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative 30% 69% Mitgliedschaft in einer Partei — Abb. 8.3 Quelle: TNS Emnid, 2011 Best Practice Netzausbau Aus Sicht der mit dem Netzausbau befassten Fachleute können die aktuell praktizierten Beteiligungsverfahren zur Trassenplanung durchaus als mögli8 Partizipation – aber wie? 97 che Vorbilder für vergleichbare Projekte dienen. Positiv fällt das erste Zwischenfazit des Präsidenten der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, aus: „So viel Bürgerbeteiligung hat es noch nie bei einem Infrastrukturprojekt gegeben. Vom ersten Tag an bestanden Transparenz und Bürgerbeteiligung, sowohl in der Diskussion über die Energieszenarien der Zukunft als auch über den Netzentwicklungsplan der Netzbetreiber.“ Homann hebt insbesondere die frühzeitigen Stakeholder-Dialoge und Methodenkonferenzen hervor, durch die „der Prozess ‚geerdet‘“ wurden und „Akzeptanzbarrieren vermieden“ werden konnten. „Das könnte vorbildlich auch für andere Verfahren und Großprojekte sein“, meint der Behördenchef. S.195 Konsultative Verfahren, wie sie bei der Netzausbauplanung eingesetzt werden, sollten bei jedem Infrastruktur- oder Großprojekt zur Anwendung kommen, empfiehlt auch Hans-Jürgen Brick. „Die Bürgerbeteiligung ist ein elementarer Bestandteil des Konsultationsverfahrens und hat bereits jetzt positive Wirkung gezeigt. Das soll auch in Zukunft so bleiben“, fordert das Mitglied der Geschäftsführung von Amprion. S. 150 nen. Der Mehrwert einer konsequenten Bürgereinbindung, die idealerweise nicht erst mit einem Volksentscheid, sondern bereits weit davor beginnen sollte, scheint auf der Hand zu liegen: Offensichtlich profitieren Vorhabenträger bei der Verwirklichung von Großprojekten im Endeffekt durch einen Zeitgewinn und mehr Planungssicherheit. Sollte Bürgerbeteiligung folglich gesetzlich verankert werden? Ist es sinnvoll, bestimmte Instrumente der Partizipation zur Pflicht zu machen, um im gesellschaftlichen Dialog den Weg für große Vorhaben zu ebnen, wie sie unter anderem im Zusammenhang mit der Energiewende anstehen? Diesen Fragen geht im Anschluss das vorletzte Kapitel der Studie nach. Christoph Bals sieht in den Konsultationsverfahren einen verbesserten Rechtsrahmen, der mehr Transparenz bringt. „Das sollte analog auch für andere Großprojekte gelten“, findet ebenfalls der Geschäftsführer von Germanwatch. Gleichwohl sieht Bals in Sachen Transparenz noch Optimierungsbedarf. Wichtig sei, insbesondere bei zentralen Argumenten zu erklären, warum sie nicht aufgegriffen wurden. „Für die Akzeptanzbildung ist das wichtig, sonst kommen dieselben Argumente beim nächsten Termin wieder auf den Tisch“, so der NGOVertreter. S. 134 Bürgerbeteiligung zur Norm machen? Unter dem Strich lässt sich zusammenfassen: Die Verfahren zur Bürgerbeteiligung, wie sie bislang im deutschen Verwaltungsrecht festgeschrieben sind, bestehen offenbar den Praxistest nicht und sollten daher dringend überarbeitet werden. Dass diesen Reformbedarf auch die Politik erkannt hat, zeigt unter anderem das „Handbuch für gute Bürgerbeteiligung bei der Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor“, das vor wenigen Monaten auf Initiative von Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer als Entwurfsfassung vorgelegt wurde und nach einer Phase der Online-Bürgerkonsultation im Herbst 2012 in endgültiger Version erscheinen soll (BMVBS 2012). Die Partizipationsmöglichkeiten müssen aber nicht nur vereinfacht und „alltagstauglicher“ werden, sondern auch sehr viel stärker als bislang durch die Projektverantwortlichen kommunikativ flankiert und transparent gemacht werden. Nur durch eine frühzeitige Einbindung der betroffenen Bürger und einen tatsächlich ergebnisoffenen Dialog werden Beteiligungsanstrengungen aus Sicht der Experten ihren Nutzen in Planungsprozessen entfalten kön98 ANALYSE 8 Partizipation – aber wie? 99 zelnen Ebenen“, fordert der stellvertretende Redaktionsleiter des Nachrichtensenders PHOENIX. S.167 Eine Meinung darüber, welche zusätzlichen Instrumente in Deutschland verankert werden sollten, will der Schweizer Roger de Weck sich nicht anmaßen. Der Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft ist sich aber sicher, „dass sich Verfassungen oder Grundgesetze entwickeln müssen“. 9 Die juristische Perspektive: Braucht Bürgerbeteiligung neue Rechtsgrundlagen? Partizipationsmaßnahmen können nach allgemeinem Dafürhalten bestehende Konflikte im Vorweg entschärfen und im besten Fall sogar zu einer Akzeptanzsteigerung und damit Beschleunigung von Genehmigungsverfahren beitragen. Bürgerbeteiligung scheint also ein zentraler Erfolgsparameter bei der Durchsetzung von Groß- und Infrastrukturprojekten zu sein. Doch bedeutet diese Erkenntnis im Umkehrschluss, dass entsprechende Beteiligungsprozesse gesetzlich verankert und Vorhabenträger zur Bürgerbeteiligung verpflichtet werden müssen? Diesem Gedankenspiel stimmt nur eine Minderheit der Experten zu. Sören Bartol spricht sich zwar nicht für detaillierte Gesetzesvorschriften, aber doch für die Definition von gewissen prozessualen Normen der Bürgerbeteiligung aus. Man brauche keine Instrumente im Sinne einer Mediation oder einer Planungszelle. „Das wäre eine völlige Überregulierung und würde den sehr unterschiedlichen Situationen vor Ort nicht gerecht“, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete. „Wir brauchen aber eine gesetzlich verpf lichtende Regelung formaler Standards: Wann muss ich beteiligen, wen muss ich beteiligen, was muss ich offenlegen und wie muss ich meine Entscheidung am Ende begründen? In welcher Form die Vorgaben umgesetzt werden, können Behörden wie auch Betreiber sehr gut selbst entscheiden“, zeigt sich der Politiker überzeugt. S. 137 Diese Auffassung teilt auch Hans-Werner Fittkau. „Man braucht natürlich klare Definitionen für die ein- 100 ANALYSE AUF EINEN BLICK Eigenverantwortung statt Überregulierung: Bürgerbeteiligung sollte weniger de jure, sondern vielmehr vom Vorhabenträger aus eigener Motivation heraus betrieben werden Mehr Spielraum: Freie Hand bei den Instrumenten erlaubt eine flexible und der jeweiligen Situation angepasste Gestaltung von Bürgerbeteiligung Planungsrecht verbessern: Eine frühe Einbindung der Öffentlichkeit sollte Eingang finden in das bestehende Planverfahren Die Gesellschaft erfahre einen solchen Schub, dass sich auch die Institutionen eines Landes erneuern sollten, glaubt der Medienmanager. „Die neuen Artikulationsmöglichkeiten müssen früher oder später in neue Instrumente oder sogar in neue Institutionen münden, die den Bürgern eine stärkere Mitsprache eröffnen“, ist sich de Weck sicher. S.154 f. Uneingeschränkt befürwortet wird die Verrechtlichung von Bürgerbeteiligung durch Gisela Erler und Helmut Klages, „denn wir haben in Deutschland eine rechtsstaatlich geprägte Kultur. Verbindlichkeit ist unter solchen Voraussetzungen nur auf dieser Grundlage der rechtlich gesicherten Zuverlässigkeit herzustellen“, meint der emeritierte Sozialwissenschaftler. Er bemängelt, dass es Planern und Betreibern derzeit freigestellt sei, Bürgerbeteiligung durchzuführen oder nicht. Klages verlangt stattdessen „eine absolute Verlässlichkeit“, die nicht von Zufallsentscheidungen oder von Opportunitätsüberlegungen abhängen dürfe. S.203 Auch die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung Gisela Erler fordert verbindliche Bürgerbeteiligung, wie dies auch im „Leitfaden zur Bürgerbeteiligung für Bürger, Politik und Verwaltung“ (2012) in Baden-Württemberg festgelegt wird. „Der Kern des Leitfadens ist, dass die Verwaltung Bürgerbeteiligung verbindlich durchführen muss. Dabei ist man in der Wahl der Methoden frei, solange man alle Akteure in angemessener Weise einbezieht“, so die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen. S.161 9 Die juristische Perspektive 101 Freiwilliger statt verordneter Dialog Mehrere andere Fachleute sehen gerade in der Freiwilligkeit das entscheidende Moment. „Dialog muss freiwillig sein, er kann nicht verordnet werden“, meint etwa Johannes F. Lambertz. Kluge Unternehmen würden derartige Formate durchführen, aber die Entscheidung darüber könne immer nur beim Planungsträger selbst liegen, so die Sicht des Vorstandsvorsitzenden der RWE Power AG. S. 219 Auch Oliver Krischer, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, hält von „Zwangsmechanismen“ im Vorfeld eines Planungsverfahrens nichts. „Wir neigen in Deutschland dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Solche Verfahren sollten im allgemeinen Rahmen und nicht mit 27 Unterparagraphen geregelt werden. Wir können Kriterien definieren und Verfahren entwickeln, die einen empfehlenden Charakter haben, so dass sich Unternehmen oder öffentliche Planer daran orientieren können“, lautet sein Ratschlag. S. 214 Beteiligungsformate nicht kodifizieren gar nicht in der Lage. Rechtsstaatlich ist am Ende immer nur das Ergebnis des Gerichts“, hält der Vorstandsvorsitzende von Bilfinger SE und studierte Jurist fest. S. 204 Status quo beibehalten In den Augen des Kommunikationstheoretikers Frank Brettschneider spricht schon allein die bestehende Vielfalt der Beteiligungsformate gegen ein Reglement durch den Gesetzgeber. „Es gibt einen großen Instrumentenkasten, welche Beteiligungsform in welchem Kontext sinnvoll ist. Geht es um das Entwickeln von Ideen, dann ist eine Planungszelle ein gutes Format. Geht es um Feedback von betroffenen Bürgern zu den Vorhabenträgern, dann ist eine Umfrage vielleicht geeignet oder ein großes Plenum. Geht es um das Austragen und Entscheiden von Konf likten, dann sind eine Mediation oder ein runder Tisch gute Formate“, beschreibt Brettschneider die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten. „Je nachdem, womit man es zu tun hat – Information, Kreativität oder Konflikte –, wird man zu unterschiedlichen Instrumenten greifen. Das sollte man nicht alles rechtlich festschreiben“, findet der Wissenschaftler. 21 Ziele Beispielhafte Formate Ideen sammeln, Kommunikation und Energie bündeln Moderationsmethode, Open Space Visionen entwickeln, Zukunft gestalten Zukunftskonferenz, Zukunftswerkstatt, Appreciative Inquiry, Szenariotechnik Konflikte bearbeiten, Standpunkte integrieren Mediation, runder Tisch, Diskurs, Walt-Disney-Methode, Konsensuskonferenz Meinungen einholen, Bürger aktivieren Aktivierende Befragung, Arbeitsbuchmethode, Bürgerpanel, Community-Organizing Planungsprozesse initiieren und gestaltend begleiten Planungszelle, Bürgerforen, Kompetenzwerkstatt, GemeinsinnWerkstatt Insbesondere mit Blick auf Konsensverfahren wie Mediationen oder runde Tische stimmt Ulrich von Alemann dieser Auffassung zu. „Es sollte kein rechtlich verbindliches Verfahren sein, das gleichberechtigt neben den Verwaltungsverfahren oder politischen Entscheidungsverfahren steht. Würde man die Mediation rechtlich verbindlich machen, würde dies die Mediation unterlaufen. Dann wäre der Charme der Freiwilligkeit beeinträchtigt“, ist der Parteien- und Demokratieforscher überzeugt. S. 266 Mediationsprozesse oder runde Tische müsse man nicht gesetzlich vorschreiben, findet auch Christoph Bals. Stattdessen könne man möglicherweise Kriterien dafür entwickeln, wann solche Formate eingefordert werden können, „zum Beispiel, wenn eine bestimmte Anzahl von Gebietskörperschaften einer Region dies fordert“. S.134 f. Eine Verrechtlichung der Mediation hält ebenso Rainer Baake, Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, für unklug. S.126 f. Gleichwohl machen sowohl er als auch der Wissenschaftler Ulrich von Alemann unter Verweis auf das Beispiel Frankfurter Flughafen deutlich, dass die Unverbindlichkeit von Mediationsverfahren eine Problematik birgt. „Schwierig ist, wenn wie in Frankfurt ein Mediationsergebnis erreicht wurde, das anschließend von Politik und Betreibern wieder über den Haufen geworfen wird. Da fühlt sich die Bevölkerung verschaukelt“, so der Politologe von Alemann. S. 266 Hildegard Müller will aus ähnlichen Gründen nicht am Status quo rütteln. — „ManXXsollte die Wege der Partizipation nicht en détail durchstrukturieren, weil Abb. Bürgerbeteiligung auch von Informalität und Spontaneität lebt“, begründet die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ihren Standpunkt. Sinnvoller als eine gesetzliche Regelung findet die Verbandsvertreterin ein „vernünftiges, begleitendes Projektmanagement für die Kommunikationsarbeit“. S.230 f. Dem widerspricht Helmut Klages: „Man darf Bürgerbeteiligung nicht romantisch verstehen. Es ist ein Fehler zu sagen, dass Bürgerbeteiligung etwas Spontanes sein muss, das man nicht organisieren darf.“ S.202 Roland Koch schließlich findet, Mediation solle man nicht kodifizieren – „sondern sie schlichtweg betreiben“. Eine Normierung habe auch deshalb keinen Sinn, weil die Mediation rechtsstaatliche Prozesse nicht ersetzt, „dazu ist sie Aber auch Michael Vassiliadis stimmt zu, dass Beteiligung nicht verrechtlicht werden sollte. „Ich halte nichts von einer Verpf lichtung. Es liegt im Grunde im Interesse des Antragstellers, aber auch in seiner Verantwortung, 102 ANALYSE 9 Die juristische Perspektive 103 Kommunikation herzustellen oder nicht herzustellen“, meint der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE. S. 263 Auch der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Michael Bauchmüller ist „kein Anhänger einer allumfassenden gesetzlichen Vorschrift für solche Prozesse“. Was der Gesetzgeber in der Tat besser regeln müsse, sei eine frühzeitige und umfassende Information der Bürger über die Planung und über die Möglichkeiten der Beteiligung. „Es ist problematisch, wenn die Gruppe der beteiligten Bürger und die Gruppe der betroffenen Bürger weit auseinanderfallen, weil zwischen Planung und Vollzug 20 Jahre vergehen. Dieses Problem ist in der jetzigen Rechtslage groß und da liegt natürlich ein Dilemma“, stellt der Journalist fest. Eigeninteresse des Investors Mehrere Experten sehen die Notwendigkeit von Gesetzesvorschriften auch deshalb nicht, weil es ihrer Auffassung nach im Eigeninteresse der Vorhabenträger liegt, in einem umfassenden Maße Bürgerbeteiligung zu praktizieren. „Es liegt im Interesse der Investoren, auch ohne gesetzliche Pf licht eine gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, weil ansonsten wirtschaftliche Risiken entstehen“, glaubt Matthias Heck. Der Senior Manager der australischen Investmentbank Macquarie lehnt es daher ab, bestimmte Instrumente vorzuschreiben. S. 186 Darin stimmt er mit Patrick Döring überein. „Zu sagen, ab einer Investitionssumme X muss man dieses und jenes tun, ist nicht sinnvoll“, sagt der Generalsekretär der FDP. „Wir müssen keine neuen Wachstums- und Investitionsbremsen erfinden und Bürgerbeteiligung vorschreiben. Ich bin sicher, dass jeder private Investor dies ab einer gewissen Größenordnung von selbst machen wird.“ S. 159 Sein Politikerkollege Matthias Machnig hofft ebenfalls auf die Einsicht der Projektinitiatoren. Dem thüringischen Wirtschaftsminister „wäre es am allerliebsten, wenn das in die Unternehmenskultur einf ließen und ein Mentalitätswandel im Unternehmen stattfinden würde“. Es gehe auf Unternehmensseite um die Einsicht, dass ein Preis für bestimmte Projekte eben eine frühzeitige Akzeptanz sei, die vor Ort geschaffen werden müsse, so der Sozialdemokrat. Erheblicher Nachbesserungsbedarf Debattiert wird derzeit in Deutschland über den Gesetzentwurf der Bundesregierung für eine „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“. Das Gesetz, das nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens voraussichtlich im Herbst 2012 in Kraft treten soll, sieht vor, dass die zuständige Behörde auf den Investor hinsichtlich einer frühen Einbeziehung der Bürger einwirken soll. Sehen die 104 ANALYSE Experten darin einen sinnvollen Schritt? Die Mehrheit der Befragten bewertet das Papier zwar nicht als großen Wurf, sieht aber zumindest in der Tendenz richtige Ansätze. „Das vom Innenminister verkündete Ziel ist schon ein Schritt in die richtige Richtung“, meint zum Beispiel Oliver Krischer. „Aber leider enthält der Gesetzentwurf kaum etwas, was tatsächlich mehr und neue Formen von Bürgerbeteiligung bringt. Zum Teil ist es sogar ein Rückschritt“, bemängelt der Grünen-Politiker. „Wenn die Bundesregierung es in der Sache ernst meint, wird sie noch ganz erheblich nacharbeiten müssen.“ Nachbesserungsbedarf sieht auch Helmut Klages. Für den Verfechter verbindlicher Beteiligungsverfahren ist auch beim Gesetzentwurf zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung die Freiwilligkeit das Problem. „Das ist einer der großen Kritikpunkte, denn das Innenministerium fordert da zwar mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, aber eben nur freiwillig.“ S.203 Die nicht verpflichtende Soll-Klausel bemängelt ebenso Gisela Erler. „Deshalb schreien auch die Verfahrensträger und die Wirtschaft nicht auf “, vermutet die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung. „Unsere Forderung an die Bundesregierung ist, dass Bürgerbeteiligung als freies Extraverfahren vor dem Planfeststellungsverfahren stattfinden muss und von den Vorhabenträgern in adäquater Weise finanziert werden muss.“ S.161 f. Zweifel an der Effizienz Volker Kefer äußert sich aus anderen Gründen skeptisch zum bestehenden Gesetzentwurf. „Das ist ein schwieriges Thema, weil es nicht immer gelingt, Bürgerbeteiligung so zu orchestrieren, dass sie sich am Ende auch als effizient erweist. Also mal angenommen, man diskutiert ein Projekt in der Öffentlichkeit, aber die Diskussion stößt auf kein Interesse. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Entscheidungen getroffen sind, gibt es plötzlich eine große Aufmerksamkeit. Hat man dann etwas falsch gemacht? Oder haben sich die Randbedingungen geändert? Lässt man dann sämtliche Randbedingungen zu, um die Diskussion noch mal aufzuwickeln? Man müsste da ganz klar festlegen, welche Randbedingungen gelten, ansonsten haben wir keine Rechtssicherheit mehr. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller, wenn man den Gesamtprozess besser fasst und beschreibt und die Verfahren insgesamt strafft“, so die kritische Einschätzung des Bahn-Managers. S.199 Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider kommentiert den Gesetzentwurf wie folgt: „Ein Problem der bestehenden Bürgerbeteiligung ist ja gerade die Verrechtlichung. Das ersetzt man nicht dadurch, dass man eine vorgezogene Bürgerbeteiligung ebenfalls verrechtlicht.“ Ulrich von Alemann schließlich stellt zum Thema fest: „Das kann vielleicht ein wenig Wirkung haben. Wichtiger als Soll-Vorschriften durch den Gesetzgeber ist der Wille, ein solches Großprojekt möglichst gemeinsam durchzu9 Die juristische Perspektive 105 führen.“ Dazu bedürfe es eines „Vertrauensklimas anstelle einer feindlichen Atmosphäre“, wendet sich der Wissenschaftler gegen entsprechende Gesetzesvorschläge. Politiker: Reformbedarf beim Planungsrecht Nach Meinung fast aller Politiker sind es nicht die Beteiligungsvorschriften, sondern vielmehr die Planungsverfahren, bei denen Reformbedarf besteht. Durch eine verbesserte Genehmigungspraxis könnten Konflikte zum Teil vermieden und Bürger besser in die Projektplanung eingebunden werden, so die Auffassung der Experten. „Ich werbe dafür, dass wir unser Planfeststellungsrecht verändern“, sagt Patrick Döring. Er schildert als Negativbeispiel einen Fall, wo die Behörden für den Bau eines Kohlekraftwerks einen weiteren Planfeststellungsbeschluss forderten, obwohl sich auf dem Gelände zuvor bereits eine kerntechnische Anlage befunden hatte. Solche zweifachen Planungsverfahren „und übrigens auch eine Menge Standortdiskussionen“ könne man sich ersparen, ist der FDP-Politiker überzeugt. Ebenso wenig brauche man ein erneutes Raumordnungsverfahren, wenn zum Beispiel neben zwei vorhandenen Gleisen ein drittes Gleis gelegt werden soll. „Der Raum wird nicht neu geordnet“, so Dörings Auffassung. „Wo es abgearbeitet ist, braucht es keine Doppelprüfung“, pflichtet Sören Bartol bei. „Wenn man in dem ersten Verfahren wie einem Raumordnungsverfahren überprüft, welche Trasse die umweltfreundlichste ist, dann muss man im Planfeststellungsverfahren nicht noch einmal eine Umweltverträglichkeitsprüfung mit genau denselben Schritten machen“, kritisiert der SPD-Abgeordnete die derzeitige Praxis. Auch Oliver Krischer glaubt, dass man bei den Planungsverfahren zu Gunsten eines intensiveren Bürgerdialogs noch eine Menge entschlacken kann: „Für die Diskussion über ein Projekt, seine Notwendigkeit und die Ausgestaltung müssen wir uns mehr Zeit nehmen. Im Gegenzug kann man dann im Planverfahren das ein oder andere vielleicht verkürzen“, so die Rechnung des Grünen-Politikers. S. 214 Unionspolitiker Joachim Herrmann möchte das Planfeststellungsrecht vereinheitlichen. „Die Verfahren sind zwar alle ähnlich, aber gerade in Detailvorschriften ist das eine nach dem Eisenbahnrecht, das andere nach dem Fernstraßenrecht und das dritte wieder nach einem ganz anderen Recht geregelt. Die verschiedenen Detailvorschriften erschweren natürlich auch die Verständlichkeit der Verfahren für die Bürger“, bemängelt der bayerische Innenminister. „Von daher ist eine Angleichung sehr sinnvoll.“ S. 189 Wie seine Politikerkollegen ermuntert auch SPD-Bürgermeister Olaf Scholz dazu, bestehende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen: „Es empfiehlt sich, immer wieder neu über Optionen im Rahmen unseres deutschen Verfas106 ANALYSE sungs- und Verwaltungsgefüges nachzudenken.“ Für ihn ist dabei insbesondere die Frage von Interesse, ob ein Planungsverfahren auch die Möglichkeit eines Vergleichs eröffnen könne, der dann allerdings für alle Beteiligten bindend sei. Scholz verweist in diesem Zusammenhang auf die USA, wo die in einem Mediationsverfahren getroffenen Entscheidungen anders als in Deutschland rechtsverbindlich seien. „Unser deutsches Verfahrensrecht dagegen erlaubt es, dass auch nach einem solchen ,Vergleich‘ jeder noch seine Interessen individuell durchsetzen kann“, beschreibt der Jurist die derzeitige Gesetzgebung. S.258 Das derzeitige Planungsrecht wird auch von Verwaltungsjuristen durchaus kritisch betrachtet. „Das Vorhaben ist bei Einleitung des Planfeststellungsverfahrens durch den Antrag bereits so weit konkretisiert, dass es kaum noch Spielraum für Alternativen gibt“, bemängeln etwa Bernhard Stüer und Dirk Buchsteiner in einem Fachaufsatz. Nicht selten würden im Erörterungstermin hochkomplexe Detailfragen behandelt, die für die allgemeine Zuhörerschaft kaum nachvollziehbar seien. „Auch diese Komplexität und Formalisierung des Verfahrens kann in der Öffentlichkeit zu Verdruss führen“, schreiben die Rechtswissenschaftler. Stüer und Buchsteiner diskutieren in ihrem Beitrag konkrete Verbesserungsmöglichkeiten des Planungsrechts. Anknüpfend an entsprechende Erfahrungen in der Bauleitplanung, schlagen die Autoren für das Planungsverfahren eine vorgezogene Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Insbesondere bei bedeutsamen und politisch umstrittenen Vorhaben könnten bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten durch eine frühzeitige öffentliche Unterrichtung erweitert werden. Als Formate für eine solche Vorerörterung unter Einbeziehung von Behörden und Öffentlichkeit empfehlen die Juristen Informationsveranstaltungen oder runde Tische (Stüer/Buchsteiner 2011: 2, 8). Keine Überregulierung Bilanziert man die Ausführungen der Experten, ergibt sich ein relativ klares Bild: Während über eine Reform des derzeitigen Planungsrechts durchaus nachgedacht werden sollte, scheint eine gesetzliche Verankerung von Bürgerbeteiligung in Deutschland nur für wenige Experten eine Option zu sein. Nach der Mehrheitsmeinung stünde offenbar ein allzu enges rechtliches Korsett dem formulierten Anspruch an eine Partizipation im Weg, die auf den freiwilligen Dialog und die Eigenverantwortung der Projektträger sowie flexible, der jeweiligen Situation angepasste Formate setzt. Wer ein Großvorhaben plant, wird heute schon aus Eigeninteresse das Gespräch mit den betroffenen Bürgern suchen und muss dazu nicht per Gesetz verpflichtet werden, so die mehrheitliche Einschätzung. Gewisse formale Standards könnten allerdings helfen, Beteiligungsprozesse zu vereinheitlichen und für die Allgemeinheit transparenter zu machen. Welche realistischen Erwartungen kann man demnach an Bürgerbeteiligung stellen? Sind entsprechende Maßnahmen der Königsweg zur Durch9 Die juristische Perspektive 107 setzung von künftigen Groß- und Infrastrukturprojekten? Oder nur ein Erfolgsfaktor unter vielen? Das folgende Studienkapitel fasst zum Abschluss die Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung aus Expertensicht zusammen. 10 Wunsch und Wirklichkeit: Bürgerbeteiligung ist ein dauerhafter Lernprozess Die Erwartungen an Bürgerbeteiligung sind hoch. Die frühzeitige und gezielte Einbindung der Menschen in die Vorhabenplanung soll auf möglichst breiter Basis Akzeptanz schaffen, Prozesse idealerweise beschleunigen und bestehende Konflikte befrieden. Doch wie realistisch ist diese Vorstellung? Können Beteiligungsverfahren tatsächlich all das leisten? Eine Reihe von Experten hebt hervor, dass Bürgerbeteiligung allein noch kein Garant dafür ist, dass ein Projekt ohne Widerstände der Bevölkerung akzeptiert wird. „Man wird niemals alle Gegner von der Notwendigkeit des Projekts überzeugen können“, stellt Gisela Erler fest. Das gelte insbesondere dann, wenn es „einen Fundamentaldissens gibt, ob man das Projekt überhaupt braucht“, so die Einschätzung der baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. S.160 Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, hält je nach Projekt und Kontext den Einsatz verschiedener Beteiligungsformen für durchaus empfehlenswert, relativiert allerdings: „Es muss aber klar sein, dass man nie alle Wünsche befriedigen kann.“ S.222 Stephan Kohler rückt die Wirkmöglichkeiten von Bürgerbeteiligung ebenfalls zurecht: „Der Anspruch, mit Beteiligungsverfahren 100 Prozent der Bevölkerung hinter sich zu bekommen, ist falsch. Und wir sollten nicht so tun, als ob wir jeglichen Protest verhindern könnten. Das werden wir nicht hinbekommen, weil die Interessen zu unterschiedlich sind“, warnt der Vorsitzende der Geschäfts- 108 ANALYSE 10 Wunsch und Wirklichkeit 109 führung der Deutschen Energie-Agentur (dena) vor überzogenen Erwartungen an das Thema Bürgerbeteiligung. Mit Blick auf die Energiewende, die Einfluss auf die Landschaft und das Lebensumfeld der Menschen haben werde, urteilt Kohler: „Das kann man nicht schönreden.“ S.211 Auch Rainer Baake rät Vorhabenträgern zu einer nüchternen Sicht auf die Dinge. Wer ein Diskrepanz: Die hohen Erwartungen der Gesellschaft an Bürgerbeteiligung werden heute in der Praxis noch nicht immer eingelöst Beteiligung will gelernt sein: Deutschland ist gerade erst auf dem Weg, sich eine Dialog- und Partizipationskultur anzueignen AUF EINEN BLICK Realismus: Bürgerteilhabe kann Akzeptanz fördern – wird aber niemals alle Betroffenen für ein Großprojekt einnehmen können Weiterer Diskussionsbedarf: Die Frage, wie repräsentativ Beteiligungsverfahren tatsächlich sein können und wo Partizipation möglicherweise an ihre Grenzen stößt, bleibt vorerst offen Großprojekt plane und in das Wohnumfeld der Menschen und in die Umwelt eingreife, müsse sich kritischen Fragen stellen. „Am Ende eines Beteiligungsprozesses kann herauskommen, dass nicht alle Bürger überzeugt sind“, konstatiert der Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende. S.126 Dem stimmt Regine Günther zu: „Bei allem Bemühen um einen Konsens: Es mag einen Punkt geben, an dem die Interessen nicht zusammenzubringen sind. Dann muss der Staat entscheiden.“ S. 178 Auch Jochen Homann folgert aus den bisherigen Erfahrungen in den Konsultationsverfahren zum Netzausbau, dass man „nicht jeden Einwand berücksichtigen“ könne, „weil es teilweise auch gegensätzliche Positionen gibt“. S. 195 Nach Meinung von Helmut Klages besteht die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung ins Uferlose geht. Es müsse daher ein Zeitrahmen fixiert werden. „Bei Überschreitung dieses Zeitrahmens muss überlegt werden, ob man durch eine Umorganisation eingreift oder den Prozess vielleicht sogar abbricht“, empfiehlt der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften. S. 202 gestalten müssen. Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf Vorhaben würden sich über den meist sehr langen Zeitverlauf eines Projektes häufig verändern, meint etwa Eberhard Pausch. „Deshalb muss man kontinuierlich mit den Menschen im Gespräch bleiben“, benennt der Oberkirchenrat die Aufgabe, vor der alle Planungsverantwortlichen stünden. S.238 „Gerade wenn man an größere und längerfristige Projekte denkt, geht es ja nicht nur um Augenblicksentscheidungen, sondern um Prozesse, die unter Umständen über Jahre laufen“, ergänzt Helmut Klages. Daher gebe es auch immer wieder neue Entscheidungen, durch die die Planung umgestoßen, geändert oder neu formuliert werden müsse. „Es reicht also nicht, die Bürger nur einmal zu beteiligen, selbst wenn diese Beteiligung ganz intensiv war“, befindet der Verwaltungswissenschaftler. S.201 f. Klages sieht zudem die Methodik der Bürgerbeteiligung noch nicht ausgereift. „Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass sich immer dieselben Bürger beteiligen, insofern gibt es keine gesicherte Beteiligungskontinuität, was ja in vielen Diskussionen unterstellt wird. Es muss aber trotzdem sichergestellt werden, dass Ergebnisse einer Phase in die nächste Phase übernommen werden und dass man nicht immer wieder von neuem anfängt. Dieses Organisationsproblem der Bürgerbeteiligung muss – und kann – durch methodische Ansätze gelöst werden.“ S.202 Mit Blick auf die Erfahrungen bei den Konsultationen zum Netzausbau reflektiert Christoph Bals: „Die Behörden und auch die Übertragungsnetzbetreiber müssen kompetent in Bezug auf geeignete Methoden der Bürgerbeteiligung sein. Wir sehen mit Freude, dass die Netzbetreiber sich fortbilden und entwickeln. Wir sehen aber auch den weiteren Entwicklungsbedarf, übrigens auch auf unserer Seite.“ Justus Haucap wiederum empfindet eine Diskrepanz zwischen Nutzen und Kosten von Bürgerbeteiligung. Das Problem bestehe darin, dass die Betroffenheit lokal vor Ort entstehe, während der Nutzen möglicherweise globaler Natur sei. Insofern, so die Überlegung des Vorsitzenden der Monopolkommission, sollten Entscheidungen nicht nur vor Ort getroffen werden, da man so Gefahr laufe, den Nutzen im Vergleich zu den Kosten zu gering zu bewerten. „Das ist vielleicht das ökonomische Problem, dass der Nutzen auf einer zentraleren Ebene entsteht und die Kosten auf einer dezentraleren Ebene anfallen“, fasst der Wettbewerbsexperte zusammen. Methodik noch unausgereift Wie repräsentativ ist Bürgerbeteiligung? Manche Fachleute sehen eine besondere Herausforderung darin, dass Vorhabenträger Bürgerbeteiligung als kontinuierlichen Prozess begreifen und Noch längst nicht ausdiskutiert scheint zudem die Frage, inwieweit Bürgerbeteiligung repräsentativ sein kann. Deutlich wurde die Problematik 110 ANALYSE 10 Wunsch und Wirklichkeit 111 unter anderem im Vorfeld des Bürgerentscheids zum Ausbau des Münchner Flughafens. Dort waren Anfang Juni 2012 die Bewohner der Landeshauptstadt, nicht aber die Bewohner der eigentlich betroffenen Gemeinden in den Landkreisen Erding und Freising zur Abstimmung aufgerufen. Zwar votierten die Münchner letztlich gegen die dritte Startbahn und damit wohl im Interesse der Airport-Anlieger. Im Vorfeld allerdings hatte es berechtigte Diskussionen über die Frage gegeben, wie legitim ein Entscheid sein kann, an dem die tatsächlich Betroffenen aus formalen Gründen nicht mitwirken dürfen. Die Experten sind, was die Fragestellung der Repräsentativität betrifft, unterschiedlicher Meinung. Manfred Güllner gibt zu bedenken: „Die Mitmachpolitik darf nicht dazu führen, dass man nur Partikularinteressen Chancen gibt. Das wäre absolut fatal.“ Der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa ist überzeugt, „dass vordergründig ‚bürgerfreundliche‘ Partizipationsangebote nicht zu mehr, sondern zu immer geringerer Beteiligung führen. Zudem sprechen sie primär das ‚grüne‘ Bildungsbürgertum an und führen dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung, die nicht über die erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit bürokratischen Ritualen verfügen, in immer stärkerem Maße von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlen“, beschreibt Güllner einen aus seiner Sicht problematischen Verzerrungseffekt. S. 174 Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz sieht in mangelnder Beteiligung ein latentes Problem. In seinen Augen lohnt es sich daher, „darüber nachzudenken, wie sichergestellt werden kann, dass Bürgerentscheide und Volksentscheide immer ausreichend legitimiert sind“. Eine solche Legitimation kann seiner Auffassung nach nur darin bestehen, „dass die aufgerufene Bevölkerung einer Gemeinde, eines Stadtteils, eines Landes oder der Bundesrepublik Deutschland genau weiß, worum es geht“. Die Themen solcher Verfahren müssten hinreichend öffentlich diskutiert werden, verlangt der Politiker. „Und nicht zuletzt müssen sich genügend Bürgerinnen und Bürger an der Entscheidung beteiligen.“ S.256 f. Dem hält Ulrich von Alemann entgegen: „In der Demokratie entscheidet nicht immer die ganze Bevölkerung. Wir wollen Beteiligung, auch Wahlbeteiligung, nicht erzwingen. Wir können Demokratie auch nicht einfach nur als Mehrheitsherrschaft definieren. Wir haben eine ganze Menge von Elementen, die der Mehrheitsherrschaft völlig entzogen sind, wie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, ist – wie es Aristoteles ausdrücken würde – eine gemischte Verfassung. Die Aktivbürgerschaft ist immer eine Minderheit. Wenn ein informelles Beteiligungsformat, wie ein Mediationsverfahren, relativ offen und transparent durchgeführt wird, es nicht von vornherein bestimmte Gruppen ausschließt und die betroffene Bevölkerung in einem vernünftigen Rahmen einbezogen wird, dann sehe ich aus demokratietheoretischer Sicht keine großen Probleme.“ S.266 112 ANALYSE Auf gutem Weg Proteste gegen 3. Startbahn in München Während eine Reihe von Fachleuten auf die noch ungeklärten Fragen der Bürgerbeteiligung fokussiert, sehen einige andere Experten das Thema bereits auf gutem Weg in Deutschland. „Im Grunde kriegen wir eine gelungene Bürgerbeteiligung gar nicht mit. In diesem Land wird ja permanent gebaut, wurden permanent Bürger befragt und häufig eben auch reibungslos“, stellt Michael Bauchmüller klar. „Nur da, wo es eben Widerstand, Mahnwachen, Feuer und die Leserbriefe gibt, da wird es publik.“ Daher entstehe zuweilen die Wahrnehmung, dass hierzulande überhaupt nicht mehr gebaut werden könne, weil überall sofort die Bürger auf den Barrikaden seien, beklagt der Journalist und widerspricht nachdrücklich diesem Eindruck: „So ist es einfach nicht.“ Diese Sicht teilt Joachim Herrmann: „In der Praxis sieht man, dass Bürgerentscheide keineswegs pauschal zur Verhinderung von Projekten führen, denn in der Gesamtsumme gibt es etwa genauso viele Bürgerentscheide, die sich am Schluss mehrheitlich für ein Projekt ausgesprochen haben, wie Bürgerentscheide, die sich gegen ein Projekt ausgesprochen haben.“ Das weit verbreitete Bild einer „Dagegen-Republik“ stimme daher nicht, vielmehr gebe es eine Vielzahl von Beispielen, bei denen sich eine demokratische Mehrheit von Bürgern für ein Projekt ausgesprochen habe, so der bayerische Innenminister. S.191 Den Mehrwert von Bürgerbeteiligung als Fortentwicklung der Demokratie hebt auch Gerd Landsberg explizit hervor. „Die repräsentative Demokratie hat sich auf der Grundlage des Grundgesetzes in über 60 Jahren bewährt. Danach werden die gewählten Vertreter, also auch die kommunalen Ratsmitglieder, von den Bürgern zu Planungsentscheidungen legitimiert. Die repräsentative Demokratie lebt aber von dem Wissen und den Ideen ihrer Bürgerinnen und Bürger“, betont der Spitzenvertreter der Kommunen. „Die Einbringung dieses Fundus bedeutet gerade für die Städte und Gemeinden bei der Planung von Projekten einen unschätzbaren Mehrwert. Dieses Potenzial zu aktivieren und vor Ort zu nutzen ist daher eine dauerhafte Aufgabe insbesondere der Städte und Gemeinden.“ S.220 Neue Kultur aneignen Oliver Krischer glaubt, dass die Deutschen sich die dafür notwendige Diskurskultur erst noch aneignen müssen. „Diese Debatte ist sicherlich nicht einfach, weil es auch eine in Deutschland wenig praktizierte Kultur ist. Wir sind da alle immer sehr preußisch: Bei uns kommt eine Behörde, legt einen Plan auf den Tisch und das ist dann der Kampfpunkt. Es fehlt der Prozess, dass wir über die Ausgestaltung des Projektes im Grundsätzlichen sprechen“, meint der Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen. S.214 Es bleibt festzuhalten: Deutschland setzt große Hoffnungen in die Bürgerbeteiligung, sollte sich dabei aber nach Einschätzung vieler Experten einen 10 Wunsch und Wirklichkeit 113 realistischen Blick für das Machbare bewahren. Politik, Unternehmen und Bürger werden erst noch Erfahrungen sammeln und sich in der Praxis der Partizipation üben müssen, ehe die Gesellschaft in vollem Umfang davon profitieren kann. Offenbar ist Bürgerbeteiligung kein Allheilmittel, mit dem sich alle Probleme und Konflikte auf einen Schlag lösen lassen, sondern vielmehr ein fortdauernder und wahrscheinlich auch mühsamer Lernprozess, der allen Beteiligten ein hohes Maß an Konsensbereitschaft, aber auch Engagement und eine neue Dialogkultur abverlangt. Oder, um es mit Sören Bartol auszudrücken: „Wir müssen lernen, dass Beteiligung keine Werbestrategie ist.“ S. 138 Großprojekte in Deutschland Offshore-Windpark Global Tech I Kiel Megabrücke Fehmarnbelt Rostock Küstenautobahn A 20 Elbvertiefung Hamburg Kohlekraftwerk Moorburg JadeWeserPort Tiefwasserhafen – Wilhelmshaven Bremen Atommüllendlager Gorleben Stadtautobahn A 100 Berlin Hannover Flughafen Berlin-Brandenburg Kohlekraftwerk Datteln CO-Pipeline der Bayer AG Krefeld-Uerdingen - Dormagen Dortmund 1 3 City-Tunnel Düsseldorf Köln 2 Leipzig Dresden Erfurt U-Bahn-Bau Waldschlösschenbrücke ICE-Bahntrasse Erfurt - Nürnberg Frankfurt Hochmoselbrücke Ürzig - Rachting Flughafenerweiterung 4 Nürnberg Saarbrücken Karlsruhe Rheintalbahn Karlsruhe - Basel Großprojekte (eine Auswahl) 1 2 3 4 114 ANALYSE Stromtrassen Emden - Osterath - Philippsburg Wehrendorf - Urberach Wilster - Goldhöfe Lauchstädt - Meitingen ICE-Bahntrasse Stuttgart - Ulm Freiburg Katzenbergtunnel Lörrach Stuttgart Stuttgart 21 München Flughafenerweiterung Dritte Startbahn 10 Wunsch und Wirklichkeit 115 Einsichten, Ansichten, Aussichten ... Peter Altmaier Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, MdB _ 120 Dr. Roger de Weck Generaldirektor, Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) _ 152 Rainer Baake Direktor, Agora Energiewende, Smart Energy for Europe Platform GmbH _ 124 Patrick Döring Stellv. Fraktionsvorsitzender, Generalsekretär, FDP-Bundestagsfraktion, MdB _ 156 Dr. Günther Bachmann Generalsekretär, Rat für Nachhaltige Entwicklung _ 128 Gisela Erler Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg _ 160 Christoph Bals Politischer Geschäftsführer, Germanwatch e.V. _ 132 Sören Bartol Sprecher der Arbeitsgruppe Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, SPD-Bundestagsfraktion, MdB _ 136 Michael Bauchmüller Korrespondent Parlament + Wirtschaft, Süddeutsche Zeitung _ 140 Prof. Dr. Frank Brettschneider Lehrstuhlinhaber Kommunikationswissenschaften, Universität Hohenheim _ 144 Dr. Hans-Jürgen Brick Mitglied der Geschäftsführung, Amprion GmbH _ 148 Hans-Werner Fittkau Redakteur, Chef vom Dienst, Reporter und Moderator, PHOENIX _ 164 Dr. Michael Fuchs Stellv. Fraktionsvorsitzender für Wirtschaft, Mittelstand, Tourismus und Petitionen, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, MdB _ 168 Prof. Manfred Güllner Geschäftsführer, forsa, Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH _ 172 Regine Günther Leiterin Klima- und Energiepolitik, WWF Deutschland _ 176 Prof. Dr. Justus Haucap Direktor, Duesseldorf Institute for Competition Economics (DICE) _ 180 Matthias Heck Senior Manager, Macquarie Capital Limited _ 184 Joachim Herrmann Innenminister des Freistaats Bayern, Bayerisches Staatsministerium des Innern, MdL _ 188 Jochen Homann Präsident, Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen _ 192 Dr. Volker Kefer Vorstand Technik, Systemverbund und Dienstleistungen; Vorstand Infrastruktur, Deutsche Bahn AG _ 196 Prof. Dr. Helmut Klages Em. Professor für empirische Sozialwissenschaften, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer _ 200 Roland Koch Vorstandsvorsitzender, Bilfinger SE _ 204 Oliver Krischer Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, MdB _ 212 Dr. Johannes Lambertz Vorstandsvorsitzender, RWE Power AG _ 216 Dr. Eberhard Pausch Oberkirchenrat, Evangelische Kirche in Deutschland _ 236 Dr. Philipp Rösler Bundesvorsitzender der FDP, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, MdB _ 240 Prof. Dr. Dieter Rucht Leiter Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Honorarprofessor am Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin _ 244 Dr. Gerd Landsberg Geschäftsführendes Präsidialmitglied, Deutscher Städte- und Gemeindebund _ 220 Matthias Machnig Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie in Thüringen _ 224 Elisabeth Schick Leiterin Unternehmenskommunikation/Governance, BASF SE _ 248 Hildegard Müller Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung, Bundesverband der Energieund Wasserwirtschaft e.V. _ 228 Dr. Rolf Martin Schmitz Stellv. Vorstandsvorsitzender, RWE AG _ 252 Andreas Nauen Vorstandsvorsitzender, REpower Systems SE _ 232 Olaf Scholz Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg _ 256 Michael Vassiliadis Vorsitzender, Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie _ 260 Prof. Dr. Ulrich von Alemann Em. Professor für Politikwissenschaften, Universität Düsseldorf _ 264 Stephan Kohler Vorstandsvorsitzender, Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena) _ 208 118 INTERVIEWS Einsichten, Ansichten, Aussichten ... 119 Peter Altmaier »Das Netz wird zur politischen Artikulationsplattform für Protest.« Bundesumweltminister Peter Altmaier über das nationale Gemeinschaftsprojekt Energiewende und neue Beteiligungsmöglichkeiten im Internet. Herr Bundesumweltminister, Sie haben die Energiewende als „bislang größte Herausforderung“ in Ihrem politischen Leben bezeichnet. Wo sehen Sie die Druckpunkte? Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung beträgt inzwischen 25 Prozent, sie sind somit aus den Kinderschuhen heraus. Sie müssen besser abgestimmt werden auf den Ausbau der Netze, auf den wir uns konzentrieren müssen. Wir müssen uns auch mehr um Speicher und um Lastmanagement kümmern. Zur Person Peter Altmaier ist seit Mai 2012 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Mit seinem Wechsel in die Bundesregierung legte er sein Amt als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion nieder, das er seit Oktober 2009 innehatte. Zuvor war Altmaier parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern. Vor seiner Wahl in den Deutschen Bundestag 1994 war der studierte Jurist Beamter der Europäischen Kommission. Wie lassen sich die Interessen der unterschiedlichen Akteure zusammenbringen? Wir brauchen einen nationalen Konsens, der uns zusammenführt. Darin müssen wir Ausbauziele und Ausbautempo klären, aber auch Netzausbau und -kosten. Strom darf weder jetzt noch künftig zum Luxusgut werden. Sie haben betont, dass Deutschland auch in Zukunft auf Strom aus Gas und Kohle nicht verzichten könne. Wie wollen Sie hierfür Akzeptanz schaffen? Die erneuerbaren Energien werden 120 INTERVIEWS noch viele Jahre auf konventionelle Unterstützung angewiesen sein. Sie sind keine Gegner, sondern ergänzen sich gegenseitig. Immer wieder gibt es in der Bevölkerung auch Widerstände gegen Projekte im Bereich der Erneuerbaren. Wie lassen sich solche Konflikte auflösen? Solche Entscheidungen können nicht im lokalen Kontext getroffen werden, wo sie wirksam werden, sondern müssen immer in den nationalen Kontext gestellt und von überregionalen Stellen beschlossen werden. Das ermöglicht eine Objektivierung der Debatte und erhöht die Chancen, dass lokale Widerstände relativiert werden. Deswegen wollen wir beim Um- und Ausbau der Stromnetze die Bundesnetzagentur stärker einbinden, weil wir uns davon eine Objektivierung der Abläufe versprechen. Haben Sie Verständnis dafür, dass die Bürger trotz legitimer Verfahren gegen Großprojekte demonstrieren? Das ist keine Frage des Verständnisses, sondern eine Frage der Beschreibung der Realität. Und die sieht so aus, dass Bürger, besonders wenn es sich um eine persönliche, unmittelbare Betroffenheit handelt, heute wesentlich leichter zu mobilisieren sind als in der Vergangenheit. Inwieweit parlamentarische Entscheidungen einen legitimierenden Charakter haben, hängt davon ab, unter welchen Voraussetzungen sie getroffen wurden, wie stark sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und ob es aus Sicht der Betroffenen eine Chance gibt, diese Entscheidungen zu revidieren. Daher muss man der Entscheidungsfindung eine stärkere Aufmerksamkeit widmen, denn ansonsten geht von diesem Prozess keine legitimierende Wirkung aus. Das bedeutet Planungsunsicherheit und Ungewissheit darüber, ob getroffene Entscheidungen auch umgesetzt werden können. War insbesondere die Intransparenz der Entscheidungen Grund für die Proteste gegen Stuttgart 21? Ja. Es gibt bei einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen den Eindruck, dass das politische System insgesamt zu undurchsichtig geworden ist. Für sie ist die Legitimation getroffener Entscheidungen generell fragwürdig und kann in Einzelfäl- len Protest und Widerstand hervorrufen. Das sieht man auch am Erfolg der Piratenpartei. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt allerdings, dass es möglich ist, solche Debatten zu beenden, wenn man eine Form der Entscheidung findet, die als unanfechtbar gilt. Das war letzten Endes der Volksentscheid. Nach meinem Eindruck hat aber bereits der Schlichterspruch von Heiner Geißler die Debatte wesentlich abgekühlt. Was konkret hat die Schlichtung bewirkt? Das entscheidende Verdienst von Heiner Geißler besteht darin, dass er für Transparenz gesorgt und den Eindruck vermittelt hat, dass die Schlichtung ergebnisoffen war. Beides zusammen hat dazu geführt, dass sich sowohl Befürworter als auch Gegner auf ein Verfahren einlassen mussten, dessen Ausgang sie nicht kannten. Das hat die legitimierende Wirkung des Schlichterspruches erheblich verstärkt. Hat die Schlichtung auch zum Ausgang des Volksentscheids beigetragen? Da waren drei Dinge maßgeblich: Erstens haben die Kritiker durch den Schlichterspruch in erheblichem Maße an Legitimation verloren. Zweitens hat durch die intensive argumentative Debatte der Bahn und der Landesregierung ein Nachdenkprozess eingesetzt, der zur Mobilisierung von Menschen ohne unmittelbare Betroffenheit geführt hat. Drittens hat der Umstand eine Rolle gespielt, dass in der Referendumskampagne die grün-rote Landesregierung selbst gespalten war. Dazu kommt, dass der Bezugsrahmen durch die Volksabstimmung vergrößert wurde. Je weiter man sich vom Kreis der unmittelbar Betroffenen entfernt, desto stärker finden andere Argumente Berücksichtigung. Das hat dann am Ende zum Votum für Stuttgart 21 geführt. Wie stehen Sie grundsätzlich zu Volksentscheiden? Das System der repräsentativen Demokratie hat sich seit 60 Jahren bewährt. Die Entscheidungen in diesem System sind der plebiszitären Demokratie weit überlegen. Allerdings können wir einen weitergehenden Ruf nach plebiszitärer Demokratie nur dann vermeiden, wenn wir es auf der Ebene davor, das heißt der Legitimation der VerPeter Altmaier 121 fahren, wie es Niklas Luhmann genannt hat, schaffen, Bürgerbeteiligung und Partizipation herzustellen, die dann auch legitimierend wirken. Wie sollte diese frühzeitige Beteiligung genau aussehen? Das Entscheidende ist, dass man vor dem formalen Verwaltungsverfahren die Möglichkeit der Information und Diskussion vorschaltet. Beteiligungsmöglichkeiten haben heute ja über das Netz ganz andere Perspektiven, durch die man viel mehr Menschen erreichen kann. Moment, in dem es erste Proteste gibt, ist es fast schon zu spät, da die Glaubwürdigkeit der eigenen Argumente dann eingeschränkt ist. Die Herausforderung ist, das Internet proaktiv zu nutzen, damit man eine rationale Debatte für die Zukunft sicherstellt. Sind die Projektgegner den Unternehmen in puncto Transparenz und Dialogbereitschaft voraus? NGOs haben einen Vorsprung, weil sie oft monothematisch strukturiert sind und sich mit einem ganz kon- »Natürlich hat die Politik eine Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen.« Sie haben ja angekündigt, auch als Bundesumweltminister intensiv zu twittern – sollte sich die Wirtschaft auch mehr auf Social Media einlassen? Ja, das ist ganz entscheidend. Die allerwenigsten Großunternehmen haben zum jetzigen Zeitpunkt eine klare Vorstellung, wie sie mit der exponentiellen Entwicklung des Netzes umgehen sollen. Das ist aber eine vitale Frage, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass über die Möglichkeiten des Netzes solche Großprojekte in Zukunft verhindert werden können. Das Netz wird zunehmend zu einer politischen Artikulationsplattform für Protest. Das kann man nur dann vernünftig balancieren, wenn man das Internet auch als Plattform für Information, Beteiligung und Diskussion nutzt, bevor der Protest entsteht. In dem 122 INTERVIEWS kreten Vorgang beschäftigen. Aber auch NGOs haben im Moment die Möglichkeiten des Internets noch nicht umfassend erkannt und nutzen sie noch nicht entsprechend. Das geschieht im Augenblick nur bei netzpolitisch relevanten Themen wie Netzsperren, ACTA, Vorratsdatenspeicherung und Leistungsschutzrechten. Deshalb ist die Frage noch nicht entschieden, ob das Netz zu einer Verstärkung der Position der NGOs und Bürgerinitiativen führt oder ob es einen Beitrag zu stärkerer Sachbezogenheit und Ausgewogenheit der Debatte zu leisten vermag. Das hängt auch davon ab, ob die Projektbetreiber rechtzeitig die positiven Potenziale des Netzes identifizieren und sich damit auseinandersetzen. Wenn man das nicht tut und das erste Großprojekt über das Netz verhindert worden ist, ist das Netz nicht mehr neutral, sondern festgelegt. Müssen Unternehmen also ihre gängigen Handlungsmuster über Bord werfen? Der Punkt ist, dass auch ein Unternehmen Interesse daran hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzusetzen. Im Hinblick auf die externe Kommunikation haben Unternehmen lange nur die Politik als Partner wahrgenommen. Das war so lange gerechtfertigt, wie man davon ausgehen konnte, dass politisch getroffene Entscheidungen auch umgesetzt werden. Aber in dem Augenblick, in dem sich mit den Grünen eine Partei dauerhaft etabliert hat, die sich einem solchen Konsens oft verweigert und dann ihrerseits den Transmissionsriemen der NGOs und der Gesellschaft nutzt, um Druck zu erzeugen, werden alle Akteure gezwungen, die breite Bevölkerung mit einzubeziehen. Ansonsten riskiert man, dass es für Projekte keine Akzeptanz gibt. Ist das alte Paradigma, dass die Wirtschaft investiert und die Politik die Rahmenbedingungen dafür schafft, noch gültig? Natürlich hat die Politik eine Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen. Aber wir haben heute ein politisches Mehrebenensystem, in dem die einzelnen Akteure zwar nicht verschwinden, aber in ihrem Einfluss relativiert werden. Keiner der Akteure kann den Prozess im Ganzen steuern und gestalten, sondern es bedarf eines Zusammenwirkens unterschiedlichster Akteure, wie der Medien, der Politik, NGOs und der Bürger, um Großprojekte zu realisieren. Das alles macht es natür- lich sehr viel komplexer. Aber es ist keine völlig neue Situation, denn mit diesem Phänomen haben wir es schon seit Anfang der achtziger Jahre zu tun. Kommt die Politik ihrer Aufgabe nach, Lasten zu verteilen? Die Politik hat einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren. Bis Mitte der siebziger Jahre bestand Politik im Wesentlichen in der Verteilung des Zuwachses. Es gab erhebliche Wachstumsraten mit beträchtlichen Wohlstandsgewinnen, die verteilt werden mussten. Man konnte entscheiden, ob man sie stärker in soziale Sicherheit, in Zukunftsprojekte, in Umweltschutz oder anderes investiert. Es gab dann eine Zeit von Mitte der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre, in der es nicht mehr um große Zuwächse ging, aber doch im Wesentlichen um den Erhalt des Status quo. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es die Situation, dass die Politik eigentlich überhaupt keine Zuwächse verteilt, sondern nur noch Lasten. Das ist für die Politik eine sehr ungewohnte Situation. Es hat aber in Deutschland besser funktioniert als in anderen EU-Ländern, weil es einen gewissen Verantwortungskodex der politischen Klasse gibt. Dieser hat verhindert, dass Fragen wie Sozial- und Strukturreformen rein populistisch ausgebeutet werden. Es gab zwar die PDS bzw. Linkspartei, aber im Wesentlichen war sich die politische Klasse in diesem Punkt einig. Das hat dazu geführt, dass wir in Deutschland mehr Reformen durchsetzen konnten als fast alle anderen europäischen Länder. Trotzdem ist die Fähigkeit der Politik, Lasten zu verteilen, begrenzt. Peter Altmaier 123 Rainer Baake »Die Bürger wollen mit ihren Argumenten gehört werden.« Rainer Baake über Bürgerbeteiligung, Zielkonflikte und Lösungen bei der Umsetzung der Energiewende. Welche Gründe stecken hinter den Protesten gegen Großprojekte? Zur Person Rainer Baake ist seit April 2012 Direktor der Stiftungsinitiative Agora Energiewende, die einen Dialog mit wichtigen energiepolitischen Akteuren über die praktische Umsetzung der Energiewende anstrebt. Davor war Baake sechs Jahre lang Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Vor dieser Tätigkeit war er Staatssekretär im Bundesumweltministerium, wo er den Atomausstieg von 2000 mit auf den Weg gebracht hat. 124 INTERVIEWS Diese Proteste sind meist getrieben von persönlicher Betroffenheit und von Zweifeln daran, dass wirklich das Gemeinwohl hinter der Planung steckt. Andere sorgen sich um das Weltklima. Das ist kein egoistischer Grund, sondern ein sehr altruistisches Motiv. In der Realität der Bürgerinitiativen vermischen sich die Motive. Wenn ich mir anschaue, wie nah manche Kraftwerke an Wohnbebauung errichtet worden sind, dann kann ich nachvollziehen, dass betroffene Menschen dagegen protestieren. Man muss kein Egoist sein, um sich gegen die „erdrückende Wirkung“ eines Kühlturms zu wehren. Denken Sie, dass der Verbraucher schizophren ist, weil er auf der einen Seite die Energiewende will, aber auf der anderen Seite gegen Windräder vor seiner Haustür demonstriert? Nein. Wenn das so wäre, dann hätte es die Erfolgsgeschichte bei den erneuerbaren Energien nicht gegeben. 20 Prozent Anteil erneuerbarer Energien an der Stromver- sorgung im Jahr 2011 – das hat doch vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten. Das schließt nicht aus, dass es hier und dort Proteste gibt, aber diese Proteste haben die Entwicklung nicht aufhalten können, ganz im Gegenteil: Die Bevölkerung will die erneuerbaren Energien. Wie kann man bestehende Proteste auflösen? Die Leute wollen eine plausible und nachprüfbare Begründung dafür haben, warum beispielsweise eine Stromtrasse erforderlich ist. Da kann man sich nicht hinter Geschäftsgeheimnissen verschanzen. Die zweite wichtige Voraussetzung ist, dass die Planer den Nachweis erbringen, dass sie sich ernsthaft bemühen, den Eingriff in das Wohnumfeld der Menschen und den Naturhaushalt so gering wie möglich zu halten. Wenn man diese beiden Voraussetzungen erfüllt, hat man aus meiner Sicht eine faire Chance, auch die Bevölkerung zu gewinnen. Nicht jeden Querulanten, da wird es einige geben, die auch dann noch dagegen sind und sagen, „not in my backyard“, aber das ist nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Wie steht es um den Netzausbau in Deutschland? Der Zusammenhang zwischen Energiewende und Netzausbau ist vielen Menschen lange Zeit nicht klar gewesen. Inzwischen haben auf der Bundesebene die meisten Parteien und Umweltverbände verstanden, dass das Netz zum Flaschenhals der Energiewende werden kann. Das sieht manchmal vor Ort oftmals leider noch anders aus. Wie können Konflikte gelöst werden? Wir sind da auf einem guten Weg. Die DUH hat vor einigen Jahren einen runden Tisch eingerichtet und zusammen unter anderem mit Netzbetreibern und Bürgerinitiativen nach Wegen für einen akzeptierten Ausbau gesucht. Der Gesetzgeber hat neue Regeln für ein transparentes Planungsverfahren aufgestellt. Am Anfang steht die Klärung der Frage, für welchen zukünftigen Kraftwerkspark das Netz gebaut werden soll. Dann folgen die Netzplanung und die Prüfung von Alternativen. Dann die Trassenplanung. Jeder Schritt mit Transparenz und Bürgerbeteiligung. Allerdings müssen die Netzbetreiber und Behörden diese neue Beteiligungskultur noch einüben und sinnvoll ausgestalten. Man muss aber deutlich und ehrlich sagen: Ohne Eingriffe wird es nicht gehen. Umso besser müssen diese begründet sein. Das europäische Naturschutzrecht schützt die sensiblen Naturräume recht effektiv. Aber dadurch rücken Trassen oft nahe an die Wohnbebauung heran. Dann gibt es aus meiner Sicht drei Alternativen, Akzeptanz herzustellen: Man nimmt längere Umwege in Kauf oder man verlegt die Kabel unter die Erde oder man baut eine Freileitung und zahlt den betroffenen Hauseigentümern eine Entschädigung. Minister und Abgeordnete, die die Regeln für den Leitungsausbau beschließen, sollten sich immer die Frage stellen, ob sie das, was sie ihren Mitbürgern zumuten, sich auch selbst zumuten würden. Wie kann man Konflikte zwischen Energiewende und Natur-/Tierschutz auflösen? Es gibt keine Form der Stromerzeugung, die ohne Eingriffe zu realisieren wäre, nirgendwo. Aber die Eingriffe haben bei den verschiedenen Technologien unterschiedliche Intensitäten. Es gibt bei der Energie- wende Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Naturschutz, und alle sind gut beraten, diese nicht zu ignorieren, sondern offensiv anzugehen. Was wir brauchen, sind vernünftige Lösungen. Nehmen wir beispielsweise die Offshore-Windparks. Deren Bau mit Rammtechnik kann für die Schweinswale zu einer ernsthaften Bedrohung werden. Aber mit Blasenschleiern lassen sich die Schallpegel massiv reduzieren. Das haben Tests gezeigt und deshalb muss ihr Einsatz zukünftig zur Pflicht werden. Vielleicht gibt es auch andere Lösungen. Vielleicht werden wir in Zukunft nicht mehr rammen, sondern bohren. Hier ist die WindOffshore-Industrie gefordert, aktiv nach Lösungen zu suchen. Wenn sie das nicht täte, würde sie sich selbst keinen Gefallen tun. Steigt die Akzeptanz, wenn die Bürger an den Projekten wirtschaftlich beteiligt sind? Ja, das ist ein Teil der Erfolgsgeschichte des Erneuerbare-EnergienGesetzes, weil Zigtausende Bürger selbst zu Energieproduzenten und damit zu Profiteuren der Energiewende geworden sind. Sie machen das aus umweltpolitischer ÜberzeuRainer Baake 125 gung – und auch, weil es eine gute Geldanlage ist. Das ist aus meiner Sicht einer der wesentlichen Gründe dafür, warum das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das im Jahr 2000 nur mit knapper Mehrheit und gegen die Stimmen der Opposition beschlossen wurde, inzwischen von allen Parteien im Bundestag gewollt ist. Wie viel Einfluss brauchen Bürger, um große Infrastrukturprojekte zu akzeptieren? Die Bürger wollen mit ihren Argumenten gehört werden und erwarten, dass mit diesen Argumenten vernünftig umgegangen wird. Der- mune entschieden werden. Da geht es zum Beispiel darum, Windenergieanlagen im Norden mit Verbrauchszentren im Süden zu verbinden. Von der erforderlichen Stromtrasse hat die auf halber Strecke dazwischenliegende betroffene Gemeinde zunächst unmittelbar überhaupt keinen Nutzen. In solchen Fällen kommt es vor allem darauf an, die Planung plausibel und nachprüfbar zu begründen, das legitime Interesse der Gesellschaft an einer umweltfreundlichen Stromversorgung darzustellen und die Sorgen und Einwände der Anwohner zu hören und ernst zu nehmen. »Die Bevölkerung will die erneuerbaren Energien.« jenige, der ein Großprojekt plant und in das Wohnumfeld und die Umwelt eingreift, muss transparent darlegen, warum diese Eingriffe erforderlich sind. Er muss sich den kritischen Fragen stellen. Am Ende eines solchen Beteiligungsprozesses kann herauskommen, dass nicht alle Bürger überzeugt sind. Aber wenn sie das Gefühl haben, dass Vorhabensträger und Genehmigungsbehörde ihre Argumente ernst genommen und sachgerecht abgewogen haben, dann gibt es eine gute Chance auf Akzeptanz. Sollte es bei allen Projekten im Bereich der Energiewende mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten geben? Es kommt auf die Projekte an. Ein nationaler Plan für Stromnetze kann nicht von den Bürgern in einer Kom126 INTERVIEWS Es gibt aber auch andere Bereiche auf der kommunalen Ebene, wo es in der Tat um aktive Gestaltung geht. Es gibt inzwischen viele Gemeinden, die sich selbst zum Ziel gesetzt haben, zu 100 Prozent ErneuerbareEnergie-Dörfer zu werden. Das sind Gestaltungsaufgaben, die auch direkt von den Bürgern angegangen werden und für die sie oftmals in den Gemeinden auch Mehrheiten gefunden haben. Reichen die bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten aus? Die bestehenden Möglichkeiten im Verwaltungsrecht reichen nicht aus; es muss dringend überarbeitet werden. Das fängt mit vermeintlichen Kleinigkeiten an. Um die Planungsunterlagen zu sichten, müssen sich zum Beispiel in vielen Genehmigungsverfahren Bürger heute immer noch freinehmen, weil die Pläne nur werktags zwischen 9 und 16 Uhr in der Gemeindeverwaltung ausliegen. In Zeiten des Internets ist das ein Unding. Planunterlagen müssen ins Netz gestellt werden. Von erheblicher Bedeutung ist, dass wir in Deutschland keinen Verfahrensschritt haben, bei dem die Notwendigkeit einer Planung öffentlich erörtert und tatsächlich ergebnisoffen geprüft wird. Aus meiner Sicht sollte am Anfang eine ergebnisoffene Debatte über das Ob und dann anschließend erst über das Wie geführt werden. Gegenwärtig legt eine Genehmigungsbehörde Pläne meist erst dann aus, wenn sie sich bereits eine Meinung gebildet hat und für sie der Bedarf grundsätzlich feststeht. Das schließt schon fast eine Ergebnisoffenheit der Prüfung im anschließenden Verfahren aus. Deshalb haben die Bürger auch häufig das Gefühl, dass ihre Einwände nur noch als lästig empfunden und pro forma abgearbeitet werden, um zu einer rechtssicheren Genehmigung zu kommen. Auf diese Art und Weise gewinnen wir keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Halten Sie Mediationen für sinnvoll? Ja, aber eine Mediation funktioniert nur in einem überschaubaren Kreis von Personen. Sonst können sie nicht mehr vernünftig diskutieren. Dieser Personenkreis ist logischerweise kleiner als die Zahl der Betroffenen, aber Betroffene kann man im formellen Zulassungsverfahren nicht ausschließen. Würde man versuchen, einen Mediationsprozess mit allen Betroffenen zu machen, müsste dieser scheitern. Ich halte daher nichts davon, die Mediation ins Verwaltungsverfahrensrecht aufzunehmen. Gleichwohl kann sie im Vorfeld eines Zulassungsverfahrens durch einen fairen Interessenausgleich zur Befriedung beitragen. Wichtig ist, dass sich am Ende eines Prozesses alle Parteien an das Ergebnis einer Mediation halten – nicht wie beim Frankfurter Flughafen, wo das Mediationsergebnis „Ausbau mit neuer Start- und Landebahn bei gleichzeitigem Nachtflugverbot“ von der Landesregierung anschließend gekippt wurde. Das ist ein abschreckendes Beispiel, weil die Bürger durch den Moderationsprozess davon abgehalten worden sind, Proteste zu organisieren. Sie haben sich eingelassen auf eine solche Moderation und sind hinterher an der Nase herumgeführt worden. Das ist das Schlimmste, was einer Moderation passieren kann, weil so Glaubwürdigkeit vernichtet wird. In der Schweiz entscheiden die Bürger grundsätzlich darüber, ob ein Projekt realisiert werden soll. Wäre das ein Modell für uns? Ja, das finde ich absolut richtig. Was halten Sie davon, Beteiligungsmodelle gesetzlich zu verankern? Viel, wenn der Gesetzgeber kluge Regelungen schafft. Eine Verrechtlichung der Mediation wäre unklug. Die Medien haben bei Stuttgart 21 im Wesentlichen über die Projektgegner und ihre Argumente berichtet. Gibt es Waffengleichheit zwischen Projektgegnern und Projektinitiatoren? Projektgegner sind häufig im Hinblick auf Kampagnenfähigkeit den Projektplanern überlegen. Aber die Kampagnenfähigkeit kommt oft erst zum Zuge, wenn es schon zu spät ist. Ein Vorschlag zur Herstellung von „Waffengleichheit“ lautet: Zwei Prozent der gesamten Projektmittel könnten Projektverantwortliche Projektgegnern zu Kommunikationszwecken, zur Erstellung von Gutachten oder für Dialogmaßnahmen zur Verfügung stellen. Was halten Sie von diesem Vorschlag? Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass wir in den Verfahren die finanzielle Voraussetzung dafür schaffen, dass Gegner ihre Sachargumente gutachterlich prüfen lassen können. Können die Projektinitiatoren in kommunikativer Hinsicht von NGOs lernen? Wenn die Unternehmen sich anschauen, wie die Umweltverbände agieren, welche Leute sie engagieren, welche Medien sie einsetzen, dann müssen sie anschließend selbst entscheiden, ob sie nicht in ihrer eigenen Kommunikationsstrategie noch etwas verbessern können. Wichtiger als die Auswahl der technischen Mittel ist aber, die Menschen so anzusprechen, dass man verstanden und vor allem als glaubwürdig wahrgenommen wird. Ein Gegenargument ist, dass Unternehmen durch mehr Mitsprachemöglichkeiten Planungssicherheit genommen wird. Teilen Sie diese Auffassung? Gesellschaft. Wenn einige mit Projekten, in die sie viel Zeit und Geld investiert haben, die Erfahrung des Scheiterns sammeln mussten, dann ist es doch vernünftig, sich beim nächsten Mal im Vorhinein zu fragen, was man besser machen kann, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Damit nimmt man im Zweifelsfall auch längere Verfahren in Kauf, oder? In den meisten Fällen kürzere, denn wenn ein Vorhaben durch alle Verwaltungsgerichtsinstanzen gehen muss, dauert das in der Regel viel länger als die Zeit, die man am Anfang für einen Vorklärungsprozess investieren muss. Verlieren Politik und Wirtschaft durch mehr Bürgerbeteiligung Handlungsspielraum? Nein. Bürgerbeteiligung kann dazu führen, dass Konflikte frühzeitig erkannt und vernünftige Lösungen gefunden werden. Anschließend können Planungen schneller realisiert werden. Ich teile die Auffassung nicht, dass Bürgerbeteiligung per se zu Blockaden und Verlangsamung führt. Bürgerbeteiligung ist ein gutes Instrument, Planungen akzeptabel zu machen und im Ergebnis auch zu beschleunigen, weil man sich nicht mehr vor Gericht wiedersieht, sondern die Konflikte im Vorfeld gelöst hat. Das ist letztlich eine Erweiterung des Handlungsspielraums der Politik und der Wirtschaft. Nein, weil Unternehmen ja etwas planen, um es zu realisieren. Mangelnde Akzeptanz hat Projekte oft scheitern lassen. Unternehmen agieren nicht in einem luftleeren Raum, sondern sie sind Teil der Rainer Baake 127 Dr. Günther Bachmann »Vertrauen entsteht durch die Kompetenz des Zuhörens.« Dr. Günther Bachmann über neue Wege der Bürgerbeteiligung und die Herausforderungen der Energiewende. Es gibt immer mehr Proteste gegen Großprojekte. Treibt nur die eigene Betroffenheit die Leute auf die Straße? Zur Person Der studierte Landschaftsplaner war ab 2001 Geschäftsführer und ist seit 2007 Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Von 1983 bis 2001 war er Mitarbeiter im Umweltbundesamt. Zudem ist er Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit des Netzes der europäischen Nachhaltigkeitsräte. Er hat in der Ethikkommission Sichere Energieversorgung (April, Mai 2011) mitgewirkt. 128 INTERVIEWS Eine grundsätzliche Verweigerungshaltung sehe ich in Deutschland relativ wenig. Sicherlich muss eine eigene Betroffenheit vorhanden sein, die gefühlt zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen führt. In der Regel kommen noch weitere Gründe hinzu, zum Beispiel, dass man mit der großen Linie unzufrieden ist. Aber man kann nicht allen Protestierenden eine komplexe Weltanschauung unterstellen. Oft entsteht Haltung auch aus einem Reflex. So wie es der Reflex in Stuttgart war zu sagen: „Das lassen wir jetzt einfach nicht durchgehen.“ Die Bevölkerung wehrt sich vor allem gegen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen und ist immens skeptisch gegenüber Politik und Wirtschaft. Woran liegt es? Ein Phänomen ist, dass die Politik nicht das richtige Framing für ihre Anliegen findet. Die Energiewende wird jetzt klein geklopft in einzelne Bausteine, denen aber der übergreifende Rahmen fehlt, der die Ener- giewende als das industrie- und gesellschaftspolitische Mega projekt Deutschlands darstellt. Die Bevölkerung muss ein Projekt als ein Gemeinschaftsprojekt erkennen können, das gemeinschaftlich bewältigt werden muss. Welchen Rahmen sehen Sie bei der Energiewende? Wenn man die „Green Economy“ in einen Rahmen stellt als die Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft und als Wachstumsversprechen mit der Orientierung auf Nachhaltigkeit, das Wirtschaft und Staat brauchen, dann erhielte die Energiewende eine ganz andere Lesart. Würde der Verbraucher dann auch eher Windräder und Stromleitungen vor der Haustür akzeptieren? Der Verbraucher akzeptiert auch Deiche an der norddeutschen Küste. Die sehen auch nicht schön aus, aber er weiß, dass er sie braucht. Und was unterscheidet einen Deich von einer Stromleitung? Die müssen keine Schönheitspreise gewinnen, sondern sie sind da, um Sicherheit zu bieten, und diese Sicherheit wird anerkannt. Die entscheidende Frage ist: Warum erkennt der Bürger den Deich an der Küste als notwendiges Übel an, aber nicht die Stromleitung? Warum ist es so? Möglicherweise, weil der eigene Bezug zu dieser Infrastrukturanlage nicht gegeben ist. Der fehlt, wenn wichtige Infrastrukturvorhaben, die eigentlich der Daseinsvorsorge dienen, privat organisiert werden. Kein Mensch kommt auf die Idee, den Deichbau zu privatisieren. Ich halte es für fatal, die Energieleitungen privatisiert zu haben. Wenn wir insgesamt über Nachhaltigkeit nachdenken, dann denken wir im Kern darüber nach, was das Gemeinwohlversprechen sein muss, und dieses Gemeinwohlversprechen kann ich weder einfach kaufen noch verkaufen. Ist das eines der Probleme, dass die Notwendigkeit der Energiewende für die Leute nicht sichtbar ist? Das ist so. Die Energiewende leidet bisher darunter, dass sie nicht hinreichend greifbar ist, außer bei den Preisen. Bei der Energiewende gibt es einen politischen Entschluss und für die Menschen geht alles irgendwie weiter wie bisher. Die Summe der Einzelmaßnahmen ergibt kein Ganzes. Der Politik fehlt eine gewisse initiatorische Kraft, um diese Weichenstellung zu verdeutlichen. Ich rede nicht über billiges Marketing. In einer hochkommunikativen Gesellschaft muss man auch kommunikative Zeichen setzen. Mit ein paar Rechtsverordnungen kann man keine Energiewende machen. Was können solche kommunikativen Zeichen sein? Das Parlament sollte sein Haushaltsrecht nutzen, um solche langfristigen Zukunftsentscheidungen einzuplanen. Die Ethikkommission hat einen Beauftragten vorgeschlagen, analog dem Wehrbeauftragten, der für die parlamentarische Begleitung der Energiewende steht. Das ist ein Vorschlag, sicher gibt es andere und womöglich instrumentell bessere. Aber dieser Vorschlag hat eine Botschaft, und auf die kommt es an. Mit einem „Mister Energiewende“ würde Sichtbarkeit geschaffen. Für solche Langfristplanungen müssen Sie personalisieren und eine Legitimationsstruktur schaffen. Das geht nicht auf dem Weg von pluralen Roadmaps und mit konkurrierenden Ministerien. Auf der unteren Ebene muss man für die Teilhabe der Bevölkerung sorgen. Deswegen wäre es gut, die Gewerbesteuer beim Leitungsbau entlang der Trasse zu entrichten. Also so etwas wie eine Konzessionsabgabe, die die Kommunen entschädigt? Im Kern ist das die Idee. Ich würde nur das Wort „entschädigen“ nicht benutzen, weil es impliziert, dass einer einen Schaden hat und dieser ausgeglichen werden muss. Das ist Quatsch. Man muss den wirtschaftlichen Nutzen kommunizieren. Welchen Beitrag muss die Wirtschaft zur Energiewende leisten? Der Begriff „nachhaltiges Wirtschaften“ oder „Green Economy“ muss mehr Bedeutung bekommen und viel stärker im Denken der Unternehmen verankert werden. Die deutsche Wirtschaft als Sustainability made in Germany sollte sich mal überlegen, wie sie in einer Gemeinschaftsaktion diese Sustainability made in Germany plausibel machen und damit auch vor die Leute treten kann. Für den Wandel zur „Green Economy“ braucht es mehr EngageDr. Günther Bachmann 129 ment der Wirtschaft. Was würden Sie sich wünschen? Es wäre sehr wünschenswert, wenn „die“ Wirtschaft respektive wichtige Unternehmen selbst eine Roadmap Energiewende mit den Zielen und quantifizierten Maßstäben sowie Kompensationen für „First Mover“ und energieintensive Anlagen entwickelten. Die deutsche Wirtschaft sollte keine Angst davor haben, etwa 30 Prozent CO² -Einsparung analog den EU-Entschlüssen zu fordern und sich das selbst auch auf die Fahne zu schreiben. Ich wünschte mir ein anderes Rollenverständnis. Würde sich die Wirtschaft mit einer solchen Selbstverpflichtung nicht selbst unter Druck setzten? Unter Druck gesetzt wird man nur, wenn man ein schlechtes Gewissen hat. Insofern würde ich das nicht so sehen. Die Energiewende ist ja nicht mal eben so eine Flitzidee. Bleiben wir in der Wirtschaft. Ist die Zukunft des Industriestandortes Deutschland die Gretchenfrage der Energiewende? Ich würde es andersherum ausdrücken: Wenn die Energiewende klappt, ist dies die Gretchenfrage für den Industriestandort. Der Industriestandort ist nicht die Konditionalisierung der Energiewende, sondern die Energiewende erfolgreich umzusetzen, ist die Erfolgschance für den Industriestandort. Wie wird sich der Industriestandort verändern? Er wird technisierter im HightechBereich und dezentralisierter, was die Netze, die Netzzugänge sowie Mess- und Regeltechniken angeht. 130 INTERVIEWS Diese Techniken werden einen viel größeren Umfang haben und noch wissensintensiver sein. Das betrifft sowohl die Techniken als auch ihre Steuerung. Am Ende entstehen mehr Arbeitsplätze. Aber vergessen wir nicht, dass der Industriestandort letztlich nicht aus Techniken und technischen Wunderwerken besteht, sondern aus Menschen, die arbeiten, leben und konsumieren. Und vor allem: die sich bilden und Wissen erwerben und dies auf vielfältige Weise weitergeben. Um deren Zukunftschancen geht es. Im Solarbereich sind viele Arbeitsplätze entstanden, die gerade wieder verschwinden. Droht uns Ähnliches bei anderen Techniken wie etwa den Windrädern? Diese Gefahr halte ich für gering. Bei den Solarpaneelen gibt es mittlerweile Massenware, das stimmt. Und Solarpaneele auf Dächer installieren kann auch jeder. Um unseren Vorsprung zu sichern, brauchen wir Innovationen in Technik, Verfahren und Anwendungsmustern. Wir müssen etwa in die innovativen, speziellen Anwendungen investieren und Fotovoltaik beispielsweise für die Hausfassade entwickeln. Dass wir quadratkilometerweise landwirtschaftliche Nutzflächen mit Solaranlagen zustellen, die noch dazu Massenware aus China sind, finde ich schlecht. Ohne Brückentechnologie werden wir die Wende nicht schaffen. Welche brauchen wir? Wir brauchen Gaskraftwerke als fossile Regelleistung, die die fluktuierenden Strommengen ausgleichen, solange wir keine Speicher haben. Der Bericht der Ethikkommission sagt, dass auch 10 Gigawatt Gas so eine Brücke sind, insofern sind auch solche Technologien wie Power to Gas Brücken. Man muss sehen, wie der Gasmarkt insgesamt funktioniert, und – sofern dies umweltverträglich machbar ist – auch an neue Methoden der unkonventionellen Gasförderung herangehen. Da scheint es ja Bewegung zu geben, wenn ich die laufenden Forschungsvorhaben richtig deute. Brauchen wir noch Kohlekraftwerke? Die im Bau befindlichen Kraftwerke sollen ans Netz gehen, auch das sagt die Ethikkommission und das ist sicher vernünftig. Kohlekraftwerke haben eine längere Lebensdauer und eine höhere CO ² -Intensität. Solange wir nicht CCS oder noch besser CCU – Carbon Capture and Use – hinbekommen, bleiben Kohlekraftwerke eine schwierige Klimahypothek. Schaffen wir aber eine solche CO² -Abspaltung und -Nutzung, werden vermutlich auch Kohlekraftwerke gebaut, ob in China, Deutschland oder in Polen. Energieeffizienz wird in der Debatte häufig vernachlässigt. Warum kümmert sich die Politik verhältnismäßig wenig um das Thema? Man kann Kraftwerke planen, bauen und einweihen – Energieeffizienz kann man nicht einweihen. Sie entzieht sich der unmittelbaren politischen Lebenslogik mit ihren vielen Akteuren und den kleinen Schritten. Dieses Format ist nicht politikgängig. Gleichwohl sehen wir am Beispiel von Siemens und anderen Firmen wie Bosch BSH, Vaillant oder Viessmann, dass man mit einem richtigen Rahmen auch eine solche vielschichtige, verbogene, kleinteilige Unternehmensstrategie erfolgreich umsetzen kann. Losgelöst von schönen Fototerminen könnte also mehr Aufklärung betrieben werden, wie es Experten fordern? Es kann gar nicht genug Aufklärung geben. Zudem sollte die Politik selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Der Bundestag könnte sich mal eine andere Flotte zulegen oder das Dienstwagenprivileg ändern. Da fehlen die kommunikativen Wegmarken, die dem Bürger zeigen, dass man es ernst meint. Ich bin für diese Überhöhung des Themas durch symbolhafte Politik, weil sie den eigentlichen Durchschlag bringen würde. Sollten wir Standards für Energieeffizienz gesetzlich festschreiben? Ich würde sie nicht als Grenzwerte oder Zahlenwerte vorschreiben. Aber ich würde im Sinne eines Benchmarkings für Industrieprozesse festlegen, dass es dort dynamische Grenzen gibt, wie beispielsweise für Wärmepumpen, im Übrigen für private wie öffentliche Einrichtungen. Die Debattenkultur zur Energiewende ist durch Schwarz-WeißMalerei gekennzeichnet. Wie kann man diese Schützengräben überwinden? Indem man den Graben verlässt. Einer muss damit anfangen. Die Methode der verstehenden Gegensätzlichkeit ist oft hilfreich. Sie verpflichtet die Schwarz-Weiß-Spieler dazu, die Positionen des jeweils anderen mit eigenen Worten so auszudrücken, dass die Gegenseite sich korrekt wiedergegeben sieht. In den Auseinandersetzungen, wo es nicht um Wahrheit geht, sondern um die klammheimliche Freude, den anderen aufs Glatteis zu führen, ist das eine zivilisatorische Maßnahme. Sicherlich kommen dann aber auch noch andere Mechanismen wie die öffentliche Transparenz, der Faktenund Methodencheck sowie ein fairer und vertrauenswürdiger Debattenleiter hinzu. Möglichkeiten, die führen aber erstens zu langen Planungsprozessen und zweitens erkennen die Menschen am Beginn eines Projekts die Bedeutung einer Beteiligung oftmals nicht. Genau zu dem Zeitpunkt hätten sie aber den meisten Einfluss und die Möglichkeiten nehmen ab, je mehr sie die Bedeutung erkennen. Diese zwei Achsen schneiden sich nicht sinnvoll. Wir brauchen schnel- »Die Energiewende ist ja nicht mal eben so eine Flitzidee.« Oft hat man den Eindruck, dass Projektgegner den Initiatoren überlegen sind, was die Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit betrifft. Täuscht der Eindruck? Ich teile diesen Eindruck nicht. Initiatoren haben viele Vorteile, Informationen und „Macht“ über das Wissen um Vorläufe und technische Details. Oftmals ist es aber so, dass die Lerneffekte bei Projektgegnern schneller sind. Das Lernen im gesellschaftlichen Sinne funktioniert nicht durch einfache Übereignung von Wissen, sondern durch Aneignung von Wissen. Wer dies schneller kann, ist immer im Vorteil. In den Startpositionen sehe ich keine großen Unterschiede, aber die Lernkurven verlaufen sehr unterschiedlich. Projektgegner wie NGOs bewegen sich einfach schneller. Experten fordern mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Schließen Sie sich dieser Forderung an? lere Verfahren und informelle Verfahren der Informationsvermittlung. Ein Beispiel dafür: In den Nachwendezeiten gab es in Berlin eine große Diskussion über die Gestaltung des Bezirks Mitte. Der damals zuständige Senator Hassemer hat dafür ein Stadtforum eingerichtet und in diesem Forum alle Leute reden lassen. Das Besondere war, dass er immer dabei war und diese Diskussion an sich herangelassen hat. Das Vertrauen entstand, weil er aktiv zugehört hat. Diese Form der Auseinandersetzung haben wir nicht. Wenn wir über Beteiligungsrechte reden, unterstellen wir eine Konfrontation, und die muss sich irgendwie Bahn brechen. Vertrauen entsteht durch die Kompetenz des Zuhörens und weniger durch die oft eher abstrakt bleibende „Transparenz“. Deswegen brauchen wir eine qualitative Veränderung von Beteiligungsprozessen. Es geht nicht um Quantitäten, es geht um die Qualität von Beteiligung. Quantitativ haben wir alle Dr. Günther Bachmann 131 Christoph Bals »Es ist auch unsere Aufgabe, Änderungen Legitimität zu verschaffen.« Christoph Bals über die Rolle von NGOs bei der Energiewende und ihr Verhältnis zu Unternehmen und Politik. Im Netzentwicklungsplan sind 3800 Kilometer neue Trassen vorgesehen. Sie bezweifeln, dass der Netzausbau in dieser Größenordnung notwendig ist, obwohl Sie an dem Plan mitgearbeitet haben. Warum die Zweifel? Wir haben den Plan lediglich kommentiert und nicht daran mitgearbeitet. Wir gehen davon aus, dass es einen erheblichen und dringlichen Netzausbaubedarf gibt. Zugleich sind wichtige Fragen für den Nachweis des genauen Bedarfs offengeblieben. Deshalb stellen wir sehr konkrete Nachfragen. Zur Person Was kritisieren Sie? Christoph Bals studierte Theologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er engagiert sich seit 1987 in der Klima-, Energie- und Entwicklungspolitik, war 1991 Mitbegründer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch und ist seit 2005 politischer Geschäftsführer der NGO. Seit Beginn der UN-Klimaverhandlungen 1995 hat Christoph Bals an allen Klimakonferenzen der Vertragsstaaten teilgenommen – zuletzt Ende 2011 in Durban. Einige Kritikpunkte der NGOs wurden nicht aufgegriffen wie die Energie-Effizienzziele der Bundesregierung, also die angekündigte Senkung des Stromverbrauchs zunächst um 10 Prozent bis 2020. Dieses Ziel wurde nicht in einem geänderten Szenario berücksichtigt, sondern nur in einer abweichenden Berechnung, der Sensitivitätsberechnung. Das heißt, dass die Anzahl der Kraftwerke und das Szenario zum Netzausbau nach wie vor gleich bleiben. Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der NGOs sind 132 INTERVIEWS fehlende Sensitivitätsberechnungen zu einer anderen regionalen Verteilung der erneuerbaren Energien, das heißt, weniger Offshore- und Onshore-Wind im Norden und ein stärkerer Ausbau der erneuerbaren Energien im Süden wurden im Szenario nicht berücksichtigt. Kritisch sehen wir auch, dass Alternativen wie der Ausbau von Speichern, Demand-Side-Management oder flexiblen Ergänzungskraftwerken, die den Netzausbaubedarf reduzieren könnten, nicht geprüft wurden. Es geht uns gar nicht darum, den Start des Ausbaus in irgendeiner Form zu behindern. Wir fordern aber eine Priorisierung des kurzfristig benötigten Netzausbaus. Beim Netzausbau werden die technischen Varianten kontrovers diskutiert: auf der einen Seite Freileitungen, auf der anderen Erdkabel. Bevorzugen Sie eine Variante? Das muss man differenzieren. Die Freileitungen sind wesentlich kostengünstiger, aber ästhetisch und teilweise für den Naturschutz ein Hemmnis. Andererseits bedeutet Erdverkabelung deutlich höhere Kosten, das Zweieinhalbfache bis Vier- zehnfache je nach Landschaft und Umgebung, wo sie umgesetzt wird. Erdverkabelung kann also die Akzeptanz von einer anderen Seite gefährden. Wenn Fehler auftreten, sind die Wartungszeiten deutlich länger. Manche Bürger unterschätzen auch den Eingriff in die Natur. Es geht um unterirdische Trassen von bis zu 21 Metern Breite. Das Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ kann nicht die Grundlage für eine gründliche ökologische Abwägung sein oder diese ersetzen. Die Abwägung mag dazu führen, dass man gerade in Siedlungsnähe im Regelfall auf Erdverkabelungen setzt. Wir dürfen aber auch die Vorteile von Freileitungen nicht vergessen, etwa beim Rückbau von Leitungen. Ein guter Teil der bestehenden Stromnetze wird in Zukunft nicht mehr gebraucht. Und der Rückbau von Freileitungen ist unkomplizierter und kostengünstiger als der von Erdkabeln. Soll heißen: dort, wo es sinnvoll ist. Und sinnvoll ist, wenn es mehr Akzeptanz schafft? Ich bezweifele, dass Erdkabel generell zu mehr Akzeptanz führen. Man muss im Einzelfall abwägen: ob ökologische oder andere wie gesund- heitliche Gründe dafür sprechen und was es für die Kostenseite bedeutet. Dort, wo Erdkabel kein erhebliches Plus bedeuten, aber das Mehrfache kosten, muss man den Sinn infrage stellen. Ich erwarte, dass es in den nächsten Jahren auch Proteste gegen Erdkabel geben wird, wenn die Bevölkerung sich bewusst ist, wie schwerwiegend die Eingriffe durch Erdkabel in den Naturschutz sind. Kritiker sehen den Standort Deutschland durch die Energiewende in Gefahr. Können Sie die Bedenken nachvollziehen? Nein, überhaupt nicht. Für die nicht energieintensiven Branchen ist es ohnehin nicht das große Thema. Und die energieintensiven Branchen haben so viele Ausnahmeregeln, dass sie die großen Profiteure der Energiewende sind. Die Strompreise sind ein Problem für die Einzelkunden, aber nicht für die Großabnehmer in den energieintensiven Branchen. Grund dafür ist, dass die Stromgroßhandelspreise an der Strombörse durch die erneuerbaren Energien stark sinken. An der EEGUmlage sind diese Branchen so gut wie nicht beteiligt. Die Akteure dieser Branchen überziehen mit ihrem Geschrei derart, dass ihnen das böse auf die Füße fallen kann. Wenn die Politik sieht, dass und wie sie an der Nase herumgeführt wurde, kann auch schnell Schluss sein mit manchen Ausnahmeregeln. Ist günstiger Strom Voraussetzung für den Industriestandort Deutschland, wie viele behaupten? Nein – jedenfalls nicht generell. Die industrielle Produktion kann auch bei hohen Strompreisen gut laufen, solange die Wettbewerber nicht begünstigt sind. Es geht hier nur um die energieintensiven Branchen und auch nur um die Unternehmen, die stark im internationalen Wettbewerb stehen wie die Aluminium-, Stahloder Chemiebranche. Eine Strategie, wie man damit umgeht, muss auf mehreren Schultern ruhen. Welche Schulter muss was tragen? Zum einen ist die Bundesregierung in der Pflicht, entsprechende Vereinbarungen mit den Hauptwettbewerbsländern – nicht nur in der EU – zu schließen, um gemeinsam beim Klimaschutz voranzukommen. Am besten wäre natürlich ein globales Vorangehen. Dies wird aber verChristoph Bals 133 mutlich nicht in der notwendigen Geschwindigkeit zu erreichen sein. Zum anderen gilt es, Transformationsoptionen für die energieintensiven Branchen hin zu weniger energieintensiven Grundstoffen zu ermöglichen und dafür einen Anreizrahmen zu setzen und Innovationsprogramme zu fördern. Hier spielt die Musik, wenn man sich als Industrieakteur für die Zukunft aufstellen will. Der Netzausbau insgesamt wird mehr als 20 Milliarden Euro kosten. Hat sich Deutschland mit der Energiewende wirtschaftlich zu viel aufgebürdet? Nein. Was wir im Moment brauchen, sind Investitionen und Investitionsanreize. Es gibt eine Menge an Kapital, das händeringend auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten ist. Für beteiligt. Wie beurteilen Sie nach den ersten Erfahrungen das Beteiligungsverfahren? Generell betrachten wir das neue Verfahren der Bürgerbeteiligung in der aktuellen Regelung als einen deutlichen Schritt nach vorn und als positiv. Es gibt mehr Transparenz, die in Zukunft noch verbessert werden soll. Bisher wurde die Bevölkerung erst einbezogen, wenn die Entscheidungen schon gefallen waren. Und die neuen technischen Möglichkeiten der Transparenz, wie das Internet, wurden kaum genutzt. Wir sehen aber noch Verbesserungspotenzial. Wo zum Beispiel? Die offiziellen Planungsverfahren sollten durch inoffizielle Verfahren der Bürgerbeteiligung ergänzt wer- »Ich erwarte, dass es in den nächsten Jahren auch Proteste gegen Erdkabel geben wird.« dieses Kapital müssen Möglichkeiten geschaffen werden, es in der Transformation des Energiesystems mit einzusetzen. Das ist im Moment eine der größten Herausforderungen und die Schlüsselaufgabe der Politik, dass sie diese beiden Enden zusammenführt: die riesigen Mengen suchenden Kapitals und die immensen notwendigen Investitionssummen. Das wird nicht ohne eine Rahmensetzung und auch Kofinanzierung durch den Staat möglich sein. Sie haben sich mit Stellungnahmen am Netzentwicklungsplan 134 INTERVIEWS den. Fokussierte informelle Treffen mit Akteuren der Zivilgesellschaft, die eine besonders wichtige Rolle spielen oder besonders kompetent sind, können sehr sinnvoll sein. Das ist auch die Erfahrung vieler Netzbetreiber. Auch in Schleswig-Holstein macht man damit gute Erfahrungen. Dort hat die Landesregierung die von einer Leitung betroffenen Kommunen bereits vor dem offiziellen Genehmigungsverfahren an dem Prozess beteiligt. Das trägt stark zur Akzeptanz mit bei, weil die Gründe für Entscheidungen diskutierbar und nachvollziehbar werden. Beim Netzentwicklungsplan haben sich rund 2000 Bürger geäußert. lst der Umgang mit Einwänden aus Ihrer Sicht hinreichend transparent? Ein klares Jein. Die Übertragungsnetzbetreiber haben ihren Entwurf für den Netzentwicklungsplan überarbeitet und sie haben ein Kapitel zu den eingegangenen Einwänden eingefügt und auch zu Beginn eines jeden Kapitels die wichtigsten Ergebnisse der Einwände aufgeführt. Das ist zu begrüßen. Für die Einzelnen ist aber nicht zwingend ersichtlich, ob und warum bestimmte Argumente aufgegriffen wurden. Das ist zum Teil der Menge der Eingaben geschuldet. Auf der anderen Seite wäre es bei zentralen Argumenten wichtig, das „Warum“ zu erklären. Für die Akzeptanzbildung ist das wichtig, sonst kommen dieselben Argumente beim nächsten Termin wieder auf den Tisch. Ein weiterer problematischer Punkt ist, dass die Eingaben der Bürger, so wie es methodisch angelegt war, eigentlich keinen Einfluss auf das Ergebnis selbst haben konnten, also auf den berechneten Netzausbaubedarf für 2022. Gibt es andere Formen der Bürgerbeteiligung, die Sie für sinnvoll erachten? Ja, es gibt andere Formen, die vor allem im Einzelfall sehr hilfreich als Ergänzung zu diesem offiziell-formalen Prozess sein können. Das sind etwa Mediationsprozesse oder runde Tische, die je nach Situation Optionen sind, mit denen ein Problem angemessen bearbeitet werden kann. Man könnte Kriterien dafür entwickeln, wann solche Formate eingefordert werden können, zum Beispiel, wenn eine bestimmte Anzahl von Gebietskörperschaften einer Region dies fordert. Damit muss man sie nicht für jeden Fall gesetzlich vorschreiben. Was ist bei der Organisation solcher Prozesse erfolgskritisch? Relevant ist, dass man die Prozesse so organisiert, dass die Menschen sich auch konstruktiv einbringen können. Wenn die Argumente tragen, müssen diese Argumente auch tatsächlich etwas verändern können. Die Menschen hinterfragen Projekte nicht als Freizeitvergnügen, sondern wollen Antworten auf befürchtete ökologische und soziale Konsequenzen. Das finde ich positiv und es ist eine Qualität unserer Gesellschaft. Dies darf und muss nicht zum Stillstand führen, sondern zu einer sinnvollen Prioritätensetzung. Einige sehen Deutschland als die „Dagegen-Republik“. Stimmt die Vermutung? Nein, das ist ein Begriff der Ewiggestrigen. Es ist interessant zu sehen, dass von denen, die jahrelang solche Begriffe vor sich hergetragen haben, jetzt plötzlich viele gegen die Energiewende und die neuen Technologien in der Energiewirtschaft sind. Technologien sind auch ein bedeutender Teil der Lösungen. Es geht nicht darum, gegen alles zu sein. Es geht darum, die Transformation der Gesellschaft gerade hin zu den Technologien, die eher Teil der Lösung und weniger Teil des Problems sind, massiv mit voranzutreiben. Das ist tatsächlich ein Punkt, wo viele Nichtregierungsorganisationen – auch wir als Germanwatch – durchaus immer wieder reflektieren müssen. Es ist als NGO nicht nur unsere Aufgabe zu protestieren, sondern auch notwendigen Änderungen Legitimität zu verschaffen. Nicht umsonst unterstützen und verteidigen wir den Netzausbau dort, wo er tatsächlich notwendig ist. der Perspektive des Klimaschutzes argumentieren, ist es wesentlich einfacher, abzuwägen und notwendige Maßnahmen zu unterstützen. Wie beurteilen Sie die Rolle von NGOs im Rahmen des Netzausbaus? Wenn eine NGO wie die Deutsche Umwelthilfe, Germanwatch oder der WWF den Bau einer bestimmten Trasse grundsätzlich öffentlich unterstützt, wird das durchaus die Stimmung in den Bürgerversammlungen beeinflussen. Wenn wir andersherum aufgrund von Studien zur Einschätzung kommen, dass dieser Netzausbau nicht notwendig ist, wird dies auch Einfluss auf die Art des Protestes und seine Heftigkeit haben. Das bedeutet nicht, dass wir den Prozess steuern und im Griff haben. Das gehört zu den Herausforderungen, die ich im Moment für NGOs sehe. Dass man eben nicht, wie das frühere Soziologen klassifiziert haben, NGOs als Protestorganisationen definiert, sondern als Gemeinwohl-Organisationen, die sich durch Protest und konstruktive Gestaltung von Veränderungen in einer doppelten Rolle einsetzen. Im Moment erleben wir im Rahmen der Energiewende, dass sich die Wirtschaft wie die NGOs neu sortieren. Werden die Chancen der Energiewende aktiv aufgegriffen oder die Besitzstände von gestern verteidigt? Aus den Umweltverbänden gibt es auch nicht nur Unterstützung. Warum? Das ist zum Teil der Struktur der jeweiligen Organisation geschuldet. Ich habe viel Respekt vor den Vogel- oder Naturschutzorganisationen, die hier zwei wichtige Schutzgüter abwägen müssen. Und wir drängen gemeinsam mit diesen Organisationen auf den Nachweis, dass diese Trassen tatsächlich notwendig sind. Ohne diesen Nachweis kann man von den Verantwortlichen in diesen Verbänden nicht erwarten, die eigene Basis im Diskurs zu überzeugen. Für andere NGOs wie Germanwatch, die aus Wie schätzen Sie den Einfluss von NGOs bei der Umsetzung der Energiewende ein? Die NGOs haben sich in den letzten Jahren stark professionalisiert. Ist mit der Professionalisierung auch die Deutungshoheit von NGOs gestiegen? Die NGOs leben oder haben gelebt von dem Zauber, der jeden Anfang begleitet. Wenn Sie eine NGO wie Greenpeace betrachten, existiert der romantische Schein der ersten zehn Jahre heute nicht mehr. An die Stelle der Romantik ist eine neue Ernsthaftigkeit getreten. NGOs sind heute als Gesprächspartner stärker akzeptiert und werden ernst genommen, weil die wissenschaftliche Untermauerung dessen, was sie sagen, wesentlich größer ist. Im Kontakt mit Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ist man auf Augenhöhe. Die Deutungshoheit hat nicht zwingend zugenommen, aber der Umgang miteinander hat sich verändert. Christoph Bals 135 Sören Bartol »Wer den Konsens ausprobiert, wird auch Konsens ernten.« Sören Bartol über frühzeitige Bürgerbeteiligung und die gefühlte Ohnmacht der Gegner. Warum richtet sich der Protest vor allen Dingen gegen große Infrastrukturprojekte? Es sind zwei Gründe: Der erste ist, dass die Auswirkungen auf die Lebensqualität größer sind als bei kleineren. Zweitens werden Infrastrukturprojekte von den Menschen als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen. Die meisten Infrastrukturprojekte sind zumindest in der Planung staatlich oder staatlich induziert. Deswegen fordern die Bürger ihr Recht auf Mitsprache ein. Hat Stuttgart 21 die Akzeptanz von Großprojekten verändert? Zur Person Sören Bartol ist seit 2002 für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages und seit Oktober 2011 Sprecher der Arbeitsgruppe Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in der SPD-Bundestagsfraktion. Zuvor war er als Mitarbeiter von Ernst-Ludwig Wagner im Hessischen Landtag tätig. Er gilt als Fachmann für Infrastrukturfragen und leitet in der SPD-Bundestagsfraktion das Projekt „Infrastrukturkonsens“. 136 INTERVIEWS Nein, es gab immer Großprojekte, die heftig umstritten waren. Bei der Startbahn West gab es sogar Tote, das haben wir teilweise vergessen. Die Akzeptanz ist über die Jahre weder besser noch weniger geworden, sondern es kommt auf die jeweilige Betroffenheit und das Protestpotenzial an, das geweckt werden kann. Warum hat Stuttgart 21 bundesweit für so viel Aufsehen gesorgt? Stuttgart 21 war ein Symbol dafür, dass Menschen sich nicht angemessen mitgenommen fühlten. Parteiübergreifend ist es für die Bürger heute selbstverständlich, dass sie bei öffentlichen Projekten mitwirken. Insofern hatte die Zustimmung zu den Protesten nur in geringem Maße mit dem Projekt selbst zu tun. Bundesweit ging es eher um die Frage: „Wie werden Bürger beteiligt?“ Es ging um die Frage der Demokratie. Was sind heute die ausschlaggebenden Gründe für Proteste gegen Großprojekte? Es sind im klassischen Sinne keine ideologischen Motive mehr. Für die meisten Leute sind Proteste einfach ihr Bürgerrecht. Eine Allensbach-Studie hat ergeben, dass die Menschen sehr viel Verständnis dafür mitbringen, dass Betroffene protestieren. Das Verständnis für Proteste geht heute in der Gesellschaft weit über die eigene Betroffenheit hinaus. Bei der Energiewende nutzen die Bürger ebenfalls ihre Rechte und protestieren gegen Windräder und Stromleitungen vor der Haustür, obwohl sie grundsätzlich die Energiewende unterstützen. Wie ist der Widerspruch zu erklären? Es ist ganz natürlich, dass jeder Mensch nicht nur ein einziges Interesse verfolgt, sondern oft sehr unter- schiedliche Interessen, die zueinander in Widerspruch treten können. Interessenkonflikte gibt es also nicht nur in Gesellschaften, sondern auch im Innern eines jeden Menschen. Das ist immer ein Gemisch von Motiven, die teilweise eigennützig sind, teilweise gemeinwohlorientiert. Nehmen Sie die Gegner neuer Stromleitungen. Sie argumentieren zumeist, dass diese Leitungen wirtschaftlich nicht sinnvoll sind und die Energiewende nicht befördern. Diese Meinung mag man teilen oder auch nicht. Aber es zeigt, dass diejenigen, die für ein Projekt sind, nicht automatisch das Gemeinwohl im Blick haben und diejenigen, die dagegen sind, nur ihre eigenen Interessen vertreten. Gemeinwohlorientierung und Eigeninteresse vermischen sich meist, das ist bei Befürwortern wie Gegnern so. Und das ist auch ganz legitim. Wie lassen sich solche Widersprüche auflösen? Entscheidend ist die sehr frühe Beteiligung – bevor endgültige Lösungen auf dem Tisch liegen und wenn Alternativen noch möglich sind, also wenn etwa die Trassenführung für eine Stromleitung noch veränderbar ist. In dieser Phase lassen sich viele Konflikte zwar vielleicht nicht auflösen, aber zumindest abmildern. Am Ende können solche Projekte sogar schneller durchkommen. Sind auch finanzielle Ausgleichsmaßnahmen eine Möglichkeit? Wenn es zur Entwertung von Lebensqualität kommt, muss man sich fragen, wann ein finanzieller Ausgleich sinnvoll und auch notwendig ist. Die Frage ist auch, ob es nicht dem Projekt dient, wenn man zum Beispiel durch eine Entschädigung langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen vermeidet. In einem solchen Fall kann eine Entschädigung am Ende preiswerter sein als fünf Jahre Bauverzögerung. Ist der Wirtschaft bewusst, dass Bürgerbeteiligung auch helfen kann? In einigen großen Unternehmen und in den Verbänden ist das Bewusstsein für Bürgerbeteiligung bereits stark ausgeprägt. Die Wirtschaft ist viel weiter, als der öffentliche Eindruck manchmal suggeriert. Sollten wir trotzdem bestimmte Instrumente der Bürgerbeteiligung gesetzlich vorschreiben? Nicht Instrumente im Sinne einer Mediation oder einer Planungszelle. Das wäre eine völlige Überregulierung und würde den sehr unterschiedlichen Situationen vor Ort nicht gerecht. Wir brauchen aber eine gesetzlich verpflichtende Regelung formaler Standards: Wann muss ich beteiligen, wen muss ich beteiligen, was muss ich offenlegen und wie muss ich meine Entscheidung am Ende begründen? In welcher Form die Vorgaben umgesetzt werden, können Behörden wie auch Betreiber sehr gut selbst entscheiden. Der Vorschlag der Bundesregierung, dass die jeweiligen Behörden auf eine frühzeitige Beteiligung hinwirken sollen, reicht da nicht aus. Das ist zu unverbindlich. Frühzeitige Bürgerbeteiligung muss zur Pflicht werden. „Frühzeitig beteiligen“ sind zwei Wörter, die in der Diskussion immer wieder fallen. Wann sollten Bürger in Projekte einbezogen werden? Generell sollte Beteiligung einsetzen, sobald Planungen verhandelbar sind, also sobald sie so konkret sind, dass die Auswirkungen für die Betroffenen halbwegs absehbar sind. Sören Bartol 137 Echte Mitwirkungsmöglichkeiten sind eine andere Forderung, die immer wieder erhoben wird. Wie sollen diese konkret aussehen? Uns geht es darum, vor dem Planfeststellungsverfahren konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen. Wir fordern einen Beteiligungstermin, bei dem die Pläne erörtert werden, und gegebenenfalls weitere Termine, wenn Pläne geändert werden. Die Anhörung soll nicht nur den im rechtlichen Sinne Betroffenen offenstehen, sondern allen. Die Behörde muss nachher eine rechtsverbindliche Entscheidung treffen, aber sie soll Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die einzelnen Argumente abgewogen, berücksichtigt oder auch nicht berücksichtigt hat. Der Kernpunkt ist, dass Beteiligung vor dem eigentlichen Planfeststellungsverfahren stattfindet. Das heißt auch, dass man ein Stück weit Entscheidungen in die Hände der Bürger legt? Nicht im strikt rechtlichen Sinne. Die Entscheidungsinstanz muss am Ende die Behörde bleiben. Sonst haben wir keine Rechtssicherheit. Die Genehmigungsbehörde muss aber verpflichtet werden, sich ernsthaft mit Alternativen auseinanderzusetzen. Dazu gehört, dass etwa Gegengutachten eingeholt und Alternativen geprüft werden. Gilt das auch für private Investoren? Die gesetzlichen Regelungen können sich nur auf die staatlichen Verfahren beziehen. Wenn private Betreiber die Planungsträger sind, sind sie gut beraten, sich kommunikativ sehr früh zu engagieren. Der Staat kann nur regeln, wie das 138 INTERVIEWS Genehmigungsverfahren aussieht. Ob ein Kraftwerk notwendig ist und ob ein privater Betreiber sich zu seinem Bau entschließt, darüber entscheiden wirtschaftliche Faktoren. nen. Dann bleibt ihnen nur noch das Schimpfen. Viele Konflikte schaukeln sich durch die Ohnmacht oder gefühlte Ohnmacht der Gegner erst hoch. Wenn die Bevölkerung vor dem Planfeststellungsverfahren beteiligt werden soll – wer sollte für diese Beteiligungsverfahren verantwortlich sein? Müssen wir Bürgerbeteiligung erst noch lernen? Alle Beteiligten, die Behörden genauso wie private oder halbprivate Planungsträger, die sich schon aus Eigeninteresse beteiligen sollten. Aber die Frage, wer den Prozess vor Ort führt, muss auch vor Ort entschieden werden. Die Vorgaben richten sich erst mal an die Behörden; diese können aber mittelbar die Planungsträger in die Pflicht nehmen. Bürgerbeteiligung kostet Geld. Wer soll die Verfahren bezahlen? Die Planungsträger sollten die Kosten als einen Teil der Planung tragen, so wie dies bereits heute zum Beispiel bei Naturschutzausgleichsmaßnahmen der Fall ist. Das liegt auch im Eigeninteresse der Planungsträger, die auf Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen sind. In den meisten Diskussionen wird schwarz-weiß gemalt, auf der einen Seite die Guten, die NGOs, auf der anderen Seite die Bösen, die traditionelle Wirtschaft. Wie kann man die Diskussion versachlichen? Der wichtigste Punkt ist der Zeitpunkt der Beteiligung, weil der respektvolle Umgang ganz schnell vorbei ist, wenn ein Initiator mit einer endgültigen Lösung kommt, an der die Bürger nichts mehr ändern kön- Ja. Wir müssen lernen, dass Beteiligung keine Werbestrategie ist, bei der es lediglich darum geht, den Bürgern ein vorgefertigtes Projekt optimal zu „verkaufen“. Beteiligung heißt: „Ich will in einem sehr frühen Stadium mit allen Beteiligten eine Lösung finden, um das Ziel optimal zu realisieren.“ Das ist ein Prozess. Wo sehen Sie konkrete Defizite, an denen wir arbeiten müssen? Ein Defizit ist sicherlich die späte Kommunikation. Sowohl Behörden als auch manchem Betreiber fällt es nicht selten schwer, auf Augenhöhe mit den Bürgern in Kontakt zu treten. Stattdessen wird sehr stark von oben herab, formalistisch und nach Vorgaben kommuniziert. Das ist auch eine Frage der Kultur. Hinzu kommt, dass sich so manche Behörde schwertut, alle Informationen freizugeben. Das gilt noch mehr für Betreiber, die immer auch das Betriebsgeheimnis wahren müssen. Da haben es die NGOs leichter. Sie haben sich in den letzten Jahren auch stark professionalisiert. Haben NGOs damit auch Deutungshoheit gewonnen? Ja, natürlich. Sowohl die Medienkompetenz als auch die fachliche Kompetenz sind gestiegen. Die NGOs können sich auf ein ganzes Geflecht an haupt- und ehrenamtlichen Experten stützen, wie man bei Stuttgart 21 beobachten konnte. Für Betreiber und Behörden hat es den Vorteil, dass sie sich dieses Know-how zunutze machen können. Das ist nicht einfach ein GegenKnow-how, sondern das ist fachliches Know-how. Warum ist das Bild von NGOs so positiv und das von Unternehmen so negativ? NGOs werden mit Allgemeininteressen und Unternehmen mit Partialoder Eigeninteressen verbunden. Wir sind in Deutschland gewohnt, Allgemeininteressen für gut und Eigeninteressen als etwas anrüchig oder bedenklich einzuschätzen, obwohl unsere Wirtschaft davon lebt. Deswegen haben Unternehmen oder die Wirtschaft immer einen schweren Stand, sobald die Gegenseite Allgemeininteressen ins Feld führt. Welche Konsequenzen muss die Wirtschaft daraus ziehen? PR reicht nicht mehr aus. Die Unternehmen müssen weg von der PR und hin zu einer frühzeitigen und ergebnisoffenen Kommunikation. Das gehört heute eigentlich zum Standard. In dieser Hinsicht haben Unternehmen oftmals noch einen deutlichen Aufholbedarf gegenüber den Projektgegnern: Die nehmen Kommunikation viel ernster als viele Projektinitiatoren. Woran liegt es, wenn Projektinitiatoren der Kommunikation weniger Bedeutung beimessen? Viele Unternehmen sind erstens durch eine sehr technokratische Herangehensweise geprägt, und zweitens ist unser Rechtsverständnis im Vergleich zum angelsächsischen ein sehr formalistisch-stati- sches: Ich ziehe das Verfahren durch und verlasse mich darauf, dass der Staat mir in diesem Verfahren mein Recht verschafft. Sie erarbeiten gerade einen neuen gesellschaftlichen Konsens für eine moderne Infrastruktur mit Beteiligung der Bürger. Gibt es schon Ergebnisse? Das erste Ergebnis ist, dass es zu vielen Fragen einen breiten Konsens gibt. Wer den Konsens ausprobiert, wird auch Konsens ernten. Oft halten unsere eigene Angst und unsere eigenen Vorbehalte uns davon ab. Ein Plädoyer für mehr Mut zur Bürgerbeteiligung? Ja. Je früher man den Dialog sucht, desto stärker kann man Widerstände In der weiteren Konsequenz würde das heißen, dass Sie mehr Volksabstimmungen fordern? Die Bürger sollten die Möglichkeit bekommen, zu Grundsatzentscheidungen, die Gesetzescharakter haben und die ganze Bundesrepublik betreffen, einen Volksentscheid herbeizuführen. Ich denke etwa an die Frage, ob wir unsere Verkehrsplanung künftig mehr aufs Auto oder auf die Bahn ausrichten sollen. Man kann aber nicht über einzelne bundesweit bedeutsame Vorhaben vor Ort abstimmen. Das geht schon verfassungsrechtlich nicht. Es ist aber auch ein logischer Widerspruch in sich, über eine Stromleitung, die den halben Strombedarf Süddeutschlands sichern soll, in einem einzelnen Dorf abzustimmen. »Ein Defizit ist sicherlich die späte Kommunikation.« reduzieren; allein dadurch, dass man über Alternativen spricht, die vielleicht dann akzeptierter und am Ende sogar wirtschaftlicher sind. Politik und Wirtschaft gewinnen dadurch mehr Akzeptanz und auch mehr Handlungsspielraum: Ich kann mit den Bürgern Projekte umsetzen, die ohne ihre Beteiligung nicht mehr durchsetzbar wären. Wenn ich dagegen der Bevölkerung nicht mehr änderbare Planungen vorsetze, ist das wirtschaftliche Risiko extrem hoch, weil ich auf alles oder nichts spiele. Diese Nichtbeteiligung kann ein erheblicher Verzögerungsfaktor sein, weil das Verfahren im Zweifelsfall wieder neu aufgerollt werden muss. Gibt es auch Risiken durch mehr Bürgerbeteiligung? Wir sehen keine Risiken, wenn man Leitplanken zieht. Wenn es am Ende eine rechtsverbindliche Entscheidung gibt, wenn man Beschleunigungselemente einführt und festlegt, wann Verfahren beendet sein sollen, sehe ich keine Risiken, sondern vor allem Chancen. Sören Bartol 139 Michael Bauchmüller »Die eigene Betroffenheit macht selbst den lahmsten Bürger mobil.« Michael Bauchmüller über Bürgerproteste, die Folgen der Energiewende und die Bedeutung des Internets. Die Bevölkerung wehrt sich immer öfter gegen Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen gefällt und als alternativlos präsentiert werden. Warum? Da ist viel Psychologie dabei. Der Bürger des 21. Jahrhunderts ist selbstbewusst, er will seine Bürgerrechte wahrnehmen. Und er möchte zumindest gehört werden. Die Kombination aus Nicht-gehört-werden und alternativloser Entscheidung ist wie der Wespenstich für den Allergiker: eine tödliche Kombination. War das auch ein Lernprozess? Zur Person Michael Bauchmüller verfolgt für die Süddeutsche Zeitung die Umweltund Energiepolitik in Deutschland nicht erst seit den Ereignissen in Fukushima. Als aufmerksamer Beobachter und pointierter Kommentator gehört er zu den journalistischen Meinungsführern. Bauchmüller studierte Volkswirtschaftslehre in Köln und besuchte die Kölner Journalistenschule. 2003 wurde er mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. 140 INTERVIEWS Man darf nicht vergessen, dass Bürger letztendlich die deutsche Wiedervereinigung möglich gemacht haben. In Westdeutschland gab es schon lange eine Friedens-, eine Umweltbewegung. Dieses Begehren nach Mitsprache ist nicht aus dem Nichts heraus entstanden, sondern das ist nach der Vereinigung über die Jahre einfach immer stärker geworden. Manchmal hat man das Gefühl, dass der Bürger aber erst jetzt von der Politik wiederentdeckt wird. Da findet geradezu ein Überbietungswettbewerb statt, von den Piraten über die Grünen bis zur Union. Einer Studie zufolge glauben nur noch 20 Prozent der Deutschen, dass die Bundestagsabgeordneten ihre Interessen vertreten. Warum sind die Deutschen so skeptisch gegenüber der Politik? Das hat verschiedene Gründe. Zum einen verspricht der Wahlkreisabgeordnete in seinem Bürgerbüro mitunter mehr, als er am Ende halten kann oder die Politik schlussendlich einlöst. Die Erfahrung, dass am Ende alles anders kommt, kennen die meisten Bürger. Was kann der einzelne Abgeordnete schon ausrichten? Das Parlament gilt im Zweifel als die Instanz, die die Vorschläge der Regierung nur noch abzunicken hat. Häufig ist es ja auch so. Nicht viel besser ist das Bild von großen Unternehmen, die als gierig und sehr lobbyistisch wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite schaffen sie Arbeitsplätze und sind die beliebtesten Arbeitgeber bei jungen Leuten. Gibt es einen Grund für diesen Widerspruch? Unternehmen ist nicht gleich Unternehmen. Da muss man deutlich unterscheiden. Zu Unternehmen, die Konsumgüter herstellen, haben viele Menschen ein weit besseres Verhältnis als etwa zu Versorgern. Von den Diensten eines Stromkonzerns, der Bahn oder eines Telekommunikationsanbieters hängt der Einzelne ab. Solche Abhängigkeit macht skeptisch. Hinzu kommt in Deutschland ein ausgeprägtes Problem mit Obrigkeit, mit Machtkonzentration. Machtvolle Unternehmen in Deutschland werden nicht als Global Player gesehen, die dieses Land im Ausland vertreten, sondern als eine ungute Ballung von Macht und Einfluss. Im Energiebereich wird dieser Anti-Konzern-Mainstream teilweise in sich zusammenbrechen, weil die Unternehmen an Einfluss verlieren. Vielleicht ist das ihre Chance, sich wieder positiv zu vermarkten. Insbesondere bei Großprojekten wehren sich die Bürger immer öfter und protestieren. Was sind die Hauptgründe für diese Proteste? Die eigene Betroffenheit macht selbst den lahmsten Bürger mobil. Das haben wir zuletzt auch beim Berliner Großflughafen erlebt. Der Deutsche wohnt in einer ohnehin schon sehr zugebauten Umgebung und ist froh, wenn er überhaupt mal ein Fleckchen finden kann, wo er nicht auf eine Bundesstraße trifft oder von einem Flugzeug überflogen wird. Also verteidigt er das bisschen Ruhe, das er sich in seiner engsten Umgebung erobert hat, mit Händen und Füßen. Die Proteste gegen den Berliner Flughafen sorgen aber bundesweit nicht für Aufsehen, ganz anders als Stuttgart 21. Stuttgart 21 hatte Bilder. Berlin hat sie nicht. Ganz entscheidend für die bundesweite Furore waren die Bilder von dem Demonstranten mit dem blutigen Auge. Da haben auch viele außerhalb Stuttgarts gesagt: „Das geht zu weit!“, und sich mit dem Protest solidarisiert, unabhängig davon, ob sie das gut oder schlecht fanden. Nach der allgemeinen Berichterstattung hatte man das Gefühl, dass die Mehrheit den Bahnhof ablehnt. Hat Sie das Ergebnis überrascht? Es stimmt, in der Tendenz war die Berichterstattung schon sehr aufseiten der Proteste. Mich hat das Ergebnis nicht überrascht. Stuttgart 21 hat polarisiert und am Ende auch mobilisiert. Da sind dann auch die zur Volksabstimmung gegangen, die den Bahnhof zumindest nicht schlecht fanden. Nur hat man von denen vorher nicht so viel gehört. Über die Schlichtung wurde unglaublich viel berichtet. PHOENIX hatte bei der Übertragung die höchsten Einschaltquoten seit Jahren. Was glauben Sie, woran das lag? Da kommt der Wunsch nach Partizipation zum Ausdruck und vielleicht auch eine Portion Voyeurismus. Es kommt ja nicht oft vor, dass eine Auseinandersetzung so vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragen wird. War das einfach nur ein Medienspektakel? Es war kein Happening in dem Sinne, das man leicht konsumieren konnte. Das war ein Prozess, der öffentlich zur Schau getragen wurde. Diejenigen, die das verfolgt haben, wurden angenehm überrascht und erlebten, mit welcher Ernsthaftigkeit dort gerungen wurde. Das ist etwas, das man im politischen Prozess so normalerweise nicht vorfindet, und es wirft die Frage auf, ob der politische Alltag, wie wir ihn erleben, also das schnelle Austauschen von dramaMichael Bauchmüller 141 tisch zugespitzten Argumenten, nicht eher ermüdend ist. Eine inhaltlichere und vielleicht auch kompliziertere und komplexere Auseinandersetzung ist dem Wahlvolk offenbar durchaus zuzumuten. Wird die Rolle der neuen Medien bei demokratischer Teilhabe überschätzt? Faktisch besteht Bürgerbeteiligung immer darin, dass man Argumente austauscht. Argumente lassen sich »Der Bürger des 21.Jahrhunderts ist selbstbewusst.« Einer der Experten hat gesagt: „Zur Volksbildung können Medien immer noch mehr beitragen als zur Objektivierung.“ Teilen Sie diese Einschätzung? immer noch besser mündlich vortragen als per E-Mail. Zumal sich solche Verfahren am Ende leichter moderieren lassen. Objektivierung klingt mir zu sehr nach „reiner Lehre“. Es gibt aber bei diesen Konflikten keine einfachen Wahrheiten. Man kann manchen Medien sicher vorwerfen, dass sie nicht immer mit der nötigen Tiefe an Themen herangehen, sich oft eher zum Advokaten der scheinbar schwachen Bürger machen. Es ist aber nicht verwerflich, wenn sie einer Stimmung im Volk Stimme verleihen und diese Stimmung dann zur Mehrheitsmeinung wird. Warum nutzen die Unternehmen und die Politik im Vergleich zu Bürgerinitiativen Social Media so wenig? Die Mobilisierung der Massen findet immer mehr digital statt. Welchen Einfluss haben Social Media auf die Protestbereitschaft des Einzelnen? Der Einzelne bekommt eher Wind von Protesten. Social Media sind ganz klar das Mobilisierungsmedium geworden. Ich kann mir auch vorstellen, dass ihr Einfluss einen Gruppendruck entfaltet, sich an Protesten zu beteiligen. Social Media haben sicherlich eher eine katalytische Wirkung. 142 INTERVIEWS Social Media eignen sich sehr gut, um zu mobilisieren und kurze Thesen vorzutragen. Eine größere Debatte oder einen fundierten Dialog über Facebook und Co zu führen, ist aber schwierig. Ich halte das nicht für ausgeschlossen, aber es kann auch nach hinten losgehen, weil man auf eine Community trifft, die problemlos den Shitstorm lostreten kann. Da lässt sich auch nicht mehr viel moderieren. Was heißt das für Unternehmen? Welche Konsequenzen müssen sie daraus ziehen? Das Internet erleichtert in dieser Hinsicht nichts, sondern erschwert alles. Es ist leichter, Botschaften in die Welt zu blasen, aber als Rezipient ist man auch plötzlich von einer Unzahl von Botschaften umgeben, die sich möglicherweise auch noch widersprechen. Es braucht mehr denn je die Trichterfunktion des Journalis- ten, der die Botschaften sichtet, in einen Zusammenhang einordnet und am Ende bekömmlich aufbereitet. In diesen Kanal und Trichter müsste auch das Unternehmen einspeisen. Sie beobachten die Entwicklungen im Umwelt- und Energiebereich seit langer Zeit. Wie wird die Energiewende den Industriestandort Deutschland verändern? Sie rührt ihn ordentlich durch und zwingt die Wirtschaft zu Innovationen. Die deutsche Industrie war immer erfinderisch, auch im konventionellen Bereich. Rund um die Umwelttechnologie herum ist sie hochinnovativ und in vielen Bereichen Weltmarktführer. Da würde ich mir keine Sorgen machen. Die Energiewende setzt eher noch Innovationskräfte frei, als dass sie hemmt. Wenn sie funktioniert – und sie darf nicht scheitern –, dann ist sie ein wunderbares Anschauungsmodell für die Exportmärkte von morgen. Ist die Energiewende die Gretchenfrage für den deutschen Standort? Solche Gretchenfragen wurden schon allzu oft gestellt. Es gibt natürlich ein Problem mit Strompreisen für die stromintensive Industrie, aber im Gegenzug auch allerhand Erleichterungen. Am Ende wird das nicht den Ausschlag geben. Entscheidender werden die Strompreise für die sozial Schwachen sein. Die Energiewende werden wir kaum ohne eine Brückentechnologie schaffen. Wie schätzen Sie die Rolle und Akzeptanz von modernen Kohlkraftwerken ein? Bei den Bürgern, die sich damit auseinandersetzen, ist die Akzeptanz begrenzt. Der Zusammenhang zwischen Kohle und Klimaproblemen ist allgemein im Bewusstsein verankert. Das ist dem Einzelnen auch viel leichter zu erklären als etwa der Emissionsrechtehandel. Insofern hat die Kohle einen schlechten Stand. Die Kohle hatte die Perspektive CCS, die in diesem Land leider zerstört wurde. Da können wir übrigens auch trefflich darüber sinnieren, wie standhaft Politik und wie sehr sie auch in der Lage ist, etwas durchzufechten. Was würden Sie sich von der Politik wünschen? Dass sie, wenn sie eine solche Technologie anstrebt, dann auch dafür in die Bütt steigt. Sind der Bevölkerung die Herausforderungen und der Nutzen der Energiewende bewusst? Bei der Masse ist das schon angekommen. Die Aussicht, eine Energieversorgung aufzubauen, die keinerlei fossile Rohstoffe mehr braucht, ist grundsätzlich immer eine positiv konnotierte Idee. Als Argument allein wird das aber nicht verfangen. Man wird niemanden von einer Trasse überzeugen können, nur weil er die Energiewende toll findet und deswegen bitte auch in seinem Garten einen Strommast aufstellt. So funktioniert es nicht. Bei der Energiewende spielt der Bürger eine wichtige Rolle, gerade im Bereich Energieeffizienz. Wie kann der Einzelne motiviert werden, einen stärkeren Beitrag zur Energieeffizienz zu leisten? Es funktioniert nur, wenn sich das in relativ kurzer Zeit amortisiert. Amortisieren kann sich das bei der Glühbirne oder beim Kühlschrank, beim Gebäude wird es schon schwierig. Da, wo es sich kurzfristig nicht amortisiert, funktioniert es nur über steuerliche Zuschüsse oder zinsverbilligte Kredite. Da ist der Plan mit dem Steuerbonus schon ein guter. Wenn das alles nicht funktioniert und der Staat nichts geben will, läuft es am Ende nur mit Ordnungsrecht. Aber mit Ordnungsrecht Effizienz zu erzwingen, ist extrem schwierig, erst recht in einer Demokratie, die sich alle vier Jahre an der Wahlurne beweisen will. Motivation funktioniert über finanzielle Anreize. In einem Ihrer Kommentare haben Sie geschrieben: „Nur, wenn dies Geld kosten könnte, versagen alle Ambitionen.“ Wie viel ist der Bürger bereit zu zahlen? Der Satz bezog sich auf Regierungshandeln. Was die Bürger angeht, ist die Sache schwieriger. Es gibt den Bürger, der das per se gut findet, der vielleicht auch wohlsituiert ist und den fünf Euro mehr im Monat nicht jucken. Und es gibt natürlich den Bürger, der ohnehin knapsen muss. In den nächsten Jahren geht es entscheidend darum, dass die Kosten der Energiewende auch für den sozial Schwachen noch zu stemmen sind. Im Solarbereich haben wir Aufstieg und Niedergang erlebt. Wie viel Subventionen sind verträglich? Vergangenheit nicht geschehen. Was wir jetzt erleben, ist, dass uns der Erfolg dieser Förderung auf die Füße fällt. Insofern ist es schon richtig, dass man die Subventionen senkt, auf lange Sicht auch gegen null. Nur darf der Markt auf dem Weg dorthin nicht zusammenbrechen. Haben Sie eine Vorstellung, wie es gehen könnte? Indem man in verlässlichen, klar definierten Schritten kürzt. Jedes Unternehmen weiß, dass man in einem Umfeld ohne Planungssicherheit nicht investieren kann. Diese Planungssicherheit ist zuletzt zerstört worden. Da wird in Deutschland mitunter das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das haben wir übrigens schon einmal bei der Biodiesel-Förderung erlebt. Damals gab es ein Steuerfreiheitsversprechen auf Jahre hinaus, das aber schon 2006 über Bord geschmissen wurde. Ohne Verlass ist eine Energiewende nicht zu schaffen. Die Energiewende kostet Geld. Wer bezahlt am Ende? Wir alle. Übrigens ein sehr interessanter Sonderfall: Eine Generation nimmt hohe Einstiegskosten auf sich, damit nachfolgende Generationen günstiger leben können. Normalerweise läuft es genau umgekehrt. Und es kommt nicht oft vor, dass eine Gesellschaft die Chance hat, einen jahrzehntealten technologischen Pfad zu verlassen und einen neuen zu beschreiten. Wenn man eine Subvention einführt, muss man gleichzeitig darüber nachdenken, wann man sich von ihr verabschiedet. Das ist in der Michael Bauchmüller 143 Prof. Dr. Frank Brettschneider »Die Schlichtung ist eine schallende Ohrfeige für die Parlamente.« Prof. Dr. Frank Brettschneider über die Gründe der Bürger, gegen Großprojekte zu protestieren, und die Notwendigkeit einer frühzeitigen Diskussion über Vorund Nachteile von Projekten. Welche Gründe führen zu Protesten? Zur Person Seit 2006 ist Prof. Dr. Frank Brettschneider Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationstheorie der Universität Hohenheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Kommunikation bei Großprojekten, die Medienwirkungsforschung sowie die Wahl- und Einstellungsforschung. Im Kontext der Debatte um Stuttgart 21 veröffentlichte der in der baden-württembergischen Landeshauptstadt lebende Brettschneider zahlreiche Publikationen, wie unter anderem „Kommunikation und Meinungsbildung bei Großprojekten“. Zudem ist er Leiter der VDI-Expertengruppe „Kommunikation“ der VDI-Initiative „Gesellschaftliche Akzeptanz von Infrastrukturprojekten“. 144 INTERVIEWS Im Wesentlichen gibt es fünf große Gruppen von Protestgründen. An erster Stelle ist der sogenannte NIMBY-Effekt („not in my back-yard“) zu nennen, also dass man durch ein Projekt nicht in seinen Lebensumständen eingeschränkt werden möchte. Davon sind zweitens projekt- oder sachbezogene Gründe zu unterscheiden, wie eine Diskussion über Umweltfolgen, Kosten, Risiken oder den Nutzen eines Projekts. Diese sachbezogenen Gründe spielen bei den Anwohnern erst an zweiter Stelle eine Rolle, sind dafür aber in der allgemeinen öffentlichen Diskussion wichtiger als der NIMBYEffekt. Die dritte Gruppe sind allgemeinere Gründe, wie der Vertrauensverlust gegenüber Politik und Vorhabenträgern, Ideologie und die politische Instrumentalisierung des Projekts im Hinblick auf Wahlen. Die ideologischen Gründe spielen für die breite Öffentlichkeit kaum eine Rolle, für Aktivisten, die den Protest organisieren, aber mitunter schon. Viertens kritisieren viele Bürger die Kommunikation zwischen Vorhabenträgern und Teilen der Bürgerschaft bei solchen Projekten. Der fünfte Grund sind verborgene Gründe, die nicht so leicht zu erkennen sind. Das sind die Motive, die den eigentlichen Antrieb von Menschen darstellen zu protestieren, ohne dass ihnen das selbst immer bewusst ist. Je nachdem, ob man es mit organisierten Umweltschützern, politischen Parteien, direkten Anwohnern oder der allgemeinen Öffentlichkeit zu tun hat, sind diese Gründe ganz unterschiedlich gewichtet. Hat sich an der Protestkultur in Deutschland etwas geändert? Proteste hat es zwar immer schon gegeben, neu ist aber die Kombination all dieser fünf Faktoren in einem großen Konglomerat. Die Friedensbewegung oder auch die Anti-AKWBewegung sind teilweise ideologisch getrieben gewesen. Das haben wir heute auch noch, aber es mischen sich noch ganz viele andere Gründe dazu. Das macht es so brisant, weil dadurch die Basis für den Protest nicht mehr so homogen ist wie in den Achtzigerjahren. Verändert hat sich natürlich auch die massenmediale Aufmerksamkeit für das Thema. Wodurch ist das lokale Thema Stuttgart 21 eines von nationaler Aufmerksamkeit geworden? Ein Grund sind die starken Bilder, wie den Bagger beim Nordflügel und weinende ältere Frauen, die davorstanden. Dann die Prominenz, die unter anderem Walter Sittler produziert hat, der als einer der öffentlichen Köpfe der Bewegung gegen Stuttgart 21 aufgetreten ist. So etwas findet natürlich sofort Eingang in die Talkshows und am nächsten Tag berichten auch die Printtitel darüber. Die Massenmedien spielen da als ein sich selbst verstärkendes System eine Rolle. Zudem waren die allgemeine Stimmung vor dem Hintergrund der Finanzkrise und die Perspektive der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg Aspekte, die Stuttgart 21 auch überregional interessant gemacht haben. Schlussendlich hat die Kanzlerin im Bundestag das als ein Thema von nationaler Bedeutung definiert und dann sogar formuliert, dass die Landtagswahl auch als eine Volksabstimmung über die Zukunft von Infrastrukturprojekten in Baden-Württemberg zu sehen sei. Ist der Eindruck richtig, dass sich Proteste vor allem gegen Infrastrukturprojekte richten, aber nicht zum Beispiel gegen den Bau einer Autofabrik um die Ecke? Es gibt auch gegen andere Projekte auf lokaler Ebene Proteste, wie zum Beispiel gegen den Bau eines Outlet-Shoppingcenters auf der grünen Wiese, aber in erster Linie wird in der Tat gegen große Infrastrukturprojekte protestiert. Das liegt daran, dass der Nutzen bei solchen Projekten schwerer erkennbar ist als bei der Autofabrik um die Ecke. Da arbeiten vielleicht Leute, die man aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld kennt, das ist greifbarer. Die größeren Infrastrukturprojekte sind abstrakter und komplexer – in finanzieller, technischer und sozialer Hinsicht. Diese Komplexität löst eher eine Ablehnung aus als das, was man im kleineren, unmittelbaren Umfeld vielleicht noch überschauen kann. Haben wirtschaftliche Nutzenargumente nicht mehr den Stellenwert wie vor 20 Jahren? Ja, das ist eindeutig so. Wirtschaftliche Nutzenargumente wie Arbeitsplätze, Steuereinnahmen oder Aufschwung für die Region werden zwar immer sehr positiv gesehen, aber als selbstverständlich betrach- tet. Deswegen fließt das nicht so stark in die Gesamtbewertung eines Projekts ein wie die wahrgenommenen Risiken. Und deswegen ist es auch für Politiker schwer, mit wirtschaftlichen Vorteilen zu argumentieren und diese in den Mittelpunkt zu stellen. Daran hat auch die Medienberichterstattung ihren Anteil. Untersuchungen zeigen, dass in der Berichterstattung die Probleme über den Lauf der Jahre mit zunehmender Häufigkeit thematisiert wurden, während die Problemlösung gleichbleibend oder seltener thematisiert wird. Damit entsteht der Eindruck, als hätte die Gesellschaft immer größere Schwierigkeiten, die sie lösen muss. Wird über Umweltbelastungen so häufig berichtet, weil NGOs sehr häufig in den Medien zu Wort kommen? Ja. Journalisten reagieren auf NGOs in der Regel positiver als auf Wirtschaftsunternehmen. Untersuchungen haben gezeigt, dass das, was die Wirtschaft sagt, erst mal mit einem Zweifel versehen wird. Was NGOs wie der BUND, Robin Wood oder Greenpeace sagen, genießt zunächst einen Vertrauensbonus und wird Prof. Dr. Frank Brettschneider 145 wesentlich unkritischer gesehen. Das hat mit der höheren Glaubwürdigkeit sowie der Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit von NGOs zu tun. Große NGOs sind inzwischen richtig ausgefuchste Kampagnenmaschinen, die genau wissen, was sie machen müssen, um Berichterstattung zu generieren. Bei Stuttgart 21 gab es durch die organisierten Gegner, unter anderem die sogenannten Parkschützer, regelrechte Schulungen, wie man sich zu verhalten hat, wenn man sich an einen Baum kettet und ein Kamerateam kommt. Die Mobilisierung ist also wesentlich professioneller und wird durch Social Networks im Web 2.0 natürlich auch erheblich beschleunigt. Apropos Schnelligkeit: Sind Projektgegner den Initiatoren vielfach voraus, was die Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit betrifft? Ja, denn allein vom Tempo her können Verwaltungen und Unternehmen nicht mithalten. Projektinitiatoren können nicht einfach spontan etwas ins Netz stellen, denn ihre Aussagen müssen immer hieb- und stichfest sein und im Zweifelsfall sogar vor Gericht standhalten können. Insofern ist in dieser Hinsicht keine Waffengleichheit gegeben. Aber natürlich haben die Projektinitiatoren in anderer Hinsicht auch Vorteile, wie wesentlich größere finanzielle Ressourcen. Bei den Gegnern sind die Geschwindigkeit und Mobilisierungsfähigkeit über soziale Netzwerke und das per se höhere Vertrauen große Vorteile. Spielt das Internet eine immer größere Rolle für die Mobilisierung von Anhängern? 146 INTERVIEWS Ja, denn es ist durch die sozialen Netzwerke sehr viel einfacher geworden, solche Protestaktionen professionell durchzuhalten. Das hat man bei Stuttgart 21 durch Beobachtung der Facebook-Gruppen sowie der „Parkschützerseite“ sehr deutlich feststellen können. In einer Gruppe, die über die sozialen Netzwerke nicht mehr hierarchisch organisiert ist, gibt es eine Selbstorganisation durch die technische Vermittlung und eine sehr schnelle Verständigung zu organisatorischen und inhaltlichen Fragen. Welche Rolle spielt die Sprache? Die Expertensprache muss sich ändern, die ist bislang nicht bürgertauglich. Bei der Schlichtung von Stuttgart 21 haben Bauingenieure immer von Überwerfungsbauwerken gesprochen. Als Heiner Geißler nachgefragt hat, was das denn sei, war das Ergebnis: so eine Art Brücke. Warum kann man das dann nicht einfach Brücke nennen? Hat bei der Volksabstimmung die schweigende Mehrheit gesiegt? Ja, das ist ziemlich offenkundig. Diese schweigende Mehrheit gab es schon zu Beginn des Protests, als man nur Buttons, Handtaschen und Schals gegen Stuttgart 21 gesehen hat. Das hat das öffentliche Erscheinungsbild sehr geprägt. Erst als eine Gruppe „Bürger für Stuttgart 21“ auch durch den Schlossgarten gejoggt ist und sich regelmäßig donnerstags zu erkennen gegeben hat, wurde die Redebereitschaft der Projektbefürworter größer. Es war sehr wichtig, dass im Stadtbild sichtbar geworden ist, dass es auch Befürworter gibt. Denn damit ist die Angst gesunken, als Stuttgart-21-Befürworter schief angeguckt oder isoliert zu werden. Was kann man tun, um der schweigenden Mehrheit mehr Stimme zu geben? Man sollte ihr zeigen, dass sie nicht so klein ist, wie sie zu sein glaubt. Wer muss mit Blick auf die Energiewende Leadership übernehmen? Das ist eine klassische Führungsaufgabe für die Politik. Führung – im Sinne von Erklären – wird zu selten ausgeübt, und das ist auch ein Grund, warum das Vertrauen in die Politik so gering ist. Zu dieser Führungsaufgabe gehört auch zu sagen, welche Position man hat und welche unangenehmen Nebeneffekte diese mit sich bringt. Die Politik müsste viel öfter wieder aufs Neue begründen, warum sie sich für dieses oder jenes entschieden hat. Mancher Bürger tritt ja auf der einen Seite für die Energiewende ein, auf der anderen Seite protestiert er aber gegen das Windrad hinter seinem Garten. Kann man diesen Widerspruch auflösen? Nicht bei den Menschen, die direkt selbst betroffen sind. Mal ganz ehrlich: Wenn eine Stromüberlandleitung direkt über mein Haus führen würde, fände ich das auch nicht toll. Das sollte man auch nicht abtun und als rein egoistisch darstellen. Was funktionieren kann, ist, deutlich zu machen, dass die Stromüberlandleitung nicht wegen des Profitinteresses eines Unternehmens, sondern aus Gemeinwohlgründen notwendig ist. Kann die Energiewende ein Gemeinwohlthema sein? Ja, das könnte es tatsächlich sein, denn die Energiewende tangiert viele Bereiche der Gesellschaft, ist generationenübergreifend relevant und stößt auf eine breite Akzeptanz, so wie Willy Brandts Ausspruch „mehr Demokratie wagen“ in den Siebzigerjahren. Das gemeinsame Ziel muss allerdings noch deutlicher konkretisiert werden, daran mangelt es noch. Reichen die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht aus? Nein, die reichen nicht aus, denn sie kommen zu einem viel zu späten Zeitpunkt, nämlich dann, wenn es nicht mehr um Alternativen geht. Die bestehenden Verfahren sind nicht dazu geeignet, eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen zu ermöglichen, sondern sie sind dafür da, Rechtssicherheit herzustellen. Das ist eine ganz andere Funktion, die absolut notwendig ist. Diese ersetzt aber nicht eine zusätzliche Bürgerbeteiligung, die früher stattfinden sollte. Dabei geht es nicht um direkte Demokratie, sondern um Anhörungen und um Dialogverfahren. Beides sollte man informell machen und nicht gesetzlich vorschreiben. Denn letztendlich liegt es ja im eigenen Interesse von Unternehmen, eine frühzeitige Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, da das Projekt ansonsten am Ende wahrscheinlich teurer wird oder ganz scheitert. Trägt Bürgerbeteiligung auch ein Stück weit zu der von Ihnen beschriebenen „Legitimation durch Kommunikation“ bei? Genau, denn schon allein die Ankündigung, ein solches Format durchführen zu wollen, ist ja ein Signal. Dass die Legitimation durch juristische Verfahren für eine öffentliche Akzeptanz nicht ausreicht, hat man ja bei Stuttgart 21 gesehen. Denn darauf, dass man mit der Art der Entscheidungsfindung in den Parlamenten unzufrieden ist. Im Umkehrschluss heißt das, wäre die Entscheidungsfindung dort anders, wäre wahrscheinlich der Ruf nach Volksentscheiden gar nicht so laut. »Große NGOs sind inzwischen richtig ausgefuchste Kampagnenmaschinen.« trotz der juristischen und parlamentarischen Verfahren war das Projekt aus Sicht eines nicht kleinen Teils der Gesellschaft nicht ausreichend legitim. Deswegen muss man sich Gedanken machen, woran das liegt und wie man es ändern kann. Die Antwort wäre, die „Legitimation durch Verfahren“ durch eine informelle Legitimation auf Basis von Kommunikation zu ergänzen. Sind Volksabstimmungen ein gutes Mittel, um solche Konflikte zu lösen? Bürgerentscheide können auf der kommunalen Ebene sinnvoll sein, wenn Projekte nur von kommunaler Bedeutung sind. Bei regionalen und überregionalen Entscheidungen sind Verfahren der direkten Demokratie nicht immer geeignet. Aus Gründen der Befriedung des Konfliktes war die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 das richtige Mittel. Aber an sich sollte es darum gehen, wie man in Zukunft eine Entscheidung treffen kann, bevor es zu solchen Eskalationen kommt. Das Rufen nach Volksabstimmungen ist meiner Meinung nach ein Reflex Wie müsste man die Entscheidungsfindung in den Parlamenten verändern? In Parlamenten sollte das stattfinden, was bei der Schlichtung stattgefunden hat: ein öffentlich geführter Diskurs über Vor- und Nachteile eines Projektes. Deswegen ist die Schlichtung eigentlich eine schallende Ohrfeige für die Parlamente, denn die kontroversen Diskussionen, die dort stattgefunden haben, hätten eigentlich in den Parlamenten stattfinden müssen. Das haben sie aber nur zum Teil, weil man bei einer Verteilung von 90 zu zehn Prozent im Parlament nicht lange über ein Projekt diskutieren muss, denn die Mehrheiten sind ja klar. Was man bräuchte, sind sehr viel lebendigere Parlamentsdebatten mit viel grundsätzlicheren Diskussionen. Prof. Dr. Frank Brettschneider 147 Dr. Hans-Jürgen Brick »Aufklärung ist ein Erfolgskriterium für Akzeptanz.« Dr. Hans-Jürgen Brick über den Fortschritt des Netzausbaus sowie eine verständliche und zielgruppengerechte Kommunikation. Zur Person Der promovierte Jurist ist seit September 2009 Mitglied der Geschäftsführung der Amprion GmbH in Dortmund. Davor war er Teil der Geschäftsführung der RWE Transportnetz Strom GmbH. Bereits seit 1992 ist Hans-Jürgen Brick in unterschiedlichen Positionen für die RWE AG tätig, unter anderem als Leiter des Bereichs Finanzen, Rechnungswesen und Steuern der RWE Plus AG. 148 INTERVIEWS Eine aktuelle Umfrage zeigt: Die Zustimmung zur Energiewende ist weiterhin groß, doch die Bevölkerung lehnt den Netzausbau mehrheitlich ab – wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Auf den ersten Blick meist nicht. Wenn man allerdings das Thema in Gesprächen vertieft, entwickeln die meisten Gesprächspartner ein Bewusstsein dafür. Die Energiewende ist ein abstraktes Thema, das für die meisten Menschen positiv besetzt ist. Beim Netzausbau hingegen denken viele Menschen ganz konkret an die Leitung, die in ihrer Nähe gebaut wird. Und da schwindet die Zustimmung dann dramatisch. Denken Sie, dass es in der Bevölkerung die Bereitschaft gibt, „Opfer“ zugunsten der Allgemeinheit zu bringen? Also das NIMBY-Prinzip: Energiewende ja, aber das Windrad vor der Tür nein. Und das Erdkabel bitte auf dem Acker des Bauern nebenan. Lassen sich solche Konflikte auflösen? Vollständig kann man diese Konflikte meist nicht lösen. Denn schließlich muss unsere Leitung leztendlich irgendwo liegen. Und damit gibt es immer direkt Betroffene, deren Wünsche wir nicht alle erfüllen können. Ist der Bevölkerung der Konnex zwischen Energiewende und notwendigen Infrastrukturmaßnahmen bewusst? Eher weniger. Müssten die Netzbetreiber in ihrer Kommunikationsarbeit vielleicht noch mehr informieren und aufklären? Information und Aufklärung ist ein zentrales Erfolgskriterium für die Schaffung von Akzeptanz beim Netzausbau. Amprion praktiziert das seit Jahren und ist erfolgreich. Man muss offen, transparent, verbindlich und dialogorientiert sein und Bereitschaft zu Veränderungen mitbringen. Bürgerinitiativen fordern im Kontext des Netzausbaus, in sensiblen Gebieten Erdkabel zu verlegen. Was halten Sie von dieser Forderung? Derzeit gibt es nur für vier Pilotprojekte einen rechtlichen Rahmen für Verkabelungen im Übertragungsnetz. Die Möglichkeit, nach Abschluss der Pilotphase in Zukunft vielleicht auch darüber hinausgehend zu verkabeln, kann einen Beitrag zu mehr Akzeptanz von Leitungsbau bedeuten. Mit Erdkabeln steigen auch die Kosten, was aus Sicht eines Netzbetreibers nachteilig ist. Was ist das höhere Gut – breite Akzeptanz in der Bevölkerung oder möglichst niedrige Kosten? Anders gefragt: Rechtfertigt hohe Akzeptanz auch höhere Kosten? Steigende Kosten sind weniger ein Problem für den Netzbetreiber als für den Stromkunden, der schließlich die Kosten der Netze über den Strompreis trägt. Und hier gibt es Akzeptanzschwellen, ab denen Preissteigerungen von der breiten Masse nicht mehr ohne Widerspruch hingenommen werden. Deshalb muss in Zukunft bei weiteren Verkabelungen immer ganz genau die Sinnhaftigkeit eines jeden Projekts diskutiert werden. Amprion plant die Leitung „Ultranet“, die auf Hochspannungs- Gleichstrom-Übertragung beruht, vom Niederrhein nach Baden-Württemberg. Wie schätzen Sie das Potenzial solcher technischer Neuerungen ein? Das Potenzial der HGÜ-Technik ist groß und sie wird in Deutschland in hohem Maße zum Einsatz kommen, das sieht man auch am aktuellen Netzentwicklungsplan. Der Vorteil ist, dass Strom fast verlustfrei über sehr lange Strecken transportiert werden kann. Der Haken sind höhere Kosten? Eine HGÜ-Leitung ist teurer als eine klassische Wechselstromleitung, ist aber gerade unter dem Aspekt des sicheren Netzbetriebs in Zukunft eine wichtige Option. Geld ist immer wieder ein großes Thema. Reden wir bei einem Projekt wie der Energiewende zu viel über Geld und zu wenig über den Nutzen? Nein, die Kostendiskussion ist hochnotwendig bei den Summen, die wir für die nächsten 15 bis 20 Jahre ausgeben. Allein die EEG-Umlage hat inzwischen eine Größenordnung erreicht, über die man immer wieder reden muss. Der Netzausbau insgesamt wird voraussichtlich mehr als 20 Milliarden Euro kosten. Hat sich Deutschland mit der Energiewende wirtschaftlich zu viel aufgebürdet – oder sehen Sie die Energiewende als Chance für neue Innovationen und Investitionen? Die Energiewende ist sicher eine Chance für neue Innovationen und Investitionen wie die HGÜ-Technik. Bei den Kosten muss man sich die Relationen klarmachen. Der im Netzentwicklungsplan beschriebene Netzausbau kostet pro Jahr etwa zwei Milliarden Euro, für die EEG-Umlage wird fast das Zehnfache ausgegeben. Bei den Offshore-Anschlüssen wird gerade die Haftung vom Anbieter auf den Kunden verschoben. Das ist eine Wertentscheidung der Politik. Aber Fakt ist, dass die Haftungsrisiken bei den OffshoreAnschlüssen von Investoren so hoch eingeschätzt werden, dass niemand investiert. Da geht es um einen Selbstbehalt von 100 Millionen Euro pro Anschluss. Welches Unternehmen kann mal eben auf die Schnelle eine solche Summe verkraften? InsoDr. Hans-Jürgen Brick 149 fern braucht es eine andere Form der Finanzierung. Letztendlich ist die Energiewende ein nationales Projekt, ein Projekt von ganz Deutschland, und deswegen muss es auch ganz Deutschland tragen. Bleiben wir beim Geld: Im Rahmen des Netzausbaus sind Entschädigungszahlungen vorgesehen. Sorgt das für Akzeptanz? Selbstverständlich werden Grundstückseigentümer, deren Eigentum durch unsere Leitungen belastet wird, von uns entsprechend entschädigt. Das ist gute Praxis. Allerdings dürfen Entschädigungssummen in beliebiger Höhe nicht zu extrem steigenden Strompreisen führen. Denn Akzeptanz kann man nicht kaufen. gegeben. Wie ist Ihre erste Einschätzung? Vom Kraftwerk bis zur Umgehungsstraße? Das Image der Energieversorger war 2003/2004 denkbar schlecht, man wurde nur noch im Zusammenhang mit Preiserhöhungen gesehen. Und das wirkte auch auf die Netzgesellschaften, die Bestandteil der integrierten Energieversorgungsunternehmen waren. Das ist heute anders. Heute baut nicht E.ON oder RWE die Leitung, sondern Amprion. Das hat grundsätzlich auch zu einer Entemotionalisierung beigetragen. Ja klar, aber auch da werden Sie nicht alle Gegner mitnehmen. Möglicherweise treffen Sie sich vor dem Kadi, der dann entscheiden muss. An einem Punkt muss irgendwann auch mal die Messe gelesen sein. Wenn die Entscheidung vorliegt, erwarten Momentan diskutiert Amprion an einem runden Tisch mit Bürgern in Halle. Wie ist Ihre Erfahrung mit solchen Formaten? Sind sie Erfolg versprechend oder verzögern sie die Prozesse? Die Bürgerbeteiligung ist ein elementarer Bestandteil des Konsultationsverfahrens und hat bereits jetzt positive Wirkung gezeigt. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Konsultative Verfahren sollten bei jedem Infrastruktur- oder Großprojekt angewendet werden. »Richtig eingesetzt, können runde Tische erfolgreich sein.« Finanzielle Beteiligung von Bürgern in Form von Bürgersolaranlagen und Beteiligungen an Windparks sind Vorschläge für mehr Akzeptanz. Können Sie sich solche Modelle auch im Rahmen des Netzausbaus vorstellen? Ja, solche Modelle kann man diskutieren. Aber auch hier gilt: Akzeptanz kann man nicht kaufen und deshalb werden auch diese Modelle bei den direkt vom Leitungsbau betroffenen Bürgern nicht zu mehr Akzeptanz führen. Das ist dieses NIMBYPrinzip: Je näher an der Leitung, desto kritischer werden die Leute. Beim Netzentwicklungsplan hat es umfassende Bürgerbeteiligung in Konsultationsverfahren 150 INTERVIEWS wir von allen, dass sie die Beschlüsse akzeptieren und entsprechend konsequent handeln. Das gilt gerade auch für die Politik und die lokalen Abgeordneten. Sie sprachen gerade von der positiven Wirkung. Woran machen Sie diese fest? Wir sehen es in unseren StakeholderVeranstaltungen. Im Vergleich zu früher werden die Argumente dort sehr sachlich und auf Augenhöhe ausgetauscht. Die Diskussionen verlaufen eben nicht mehr hochemotional wie Anfang des Jahrtausends. Woran die Energieversorger damals durch hohe Preissteigerungen nicht ganz unschuldig waren. Runde Tische sind ein Mittel des Dialogs vor Ort. Allerdings muss man ihre Sinnhaftigkeit jeweils von Fall zu Fall klären. Richtig eingesetzt, können runde Tische erfolgreich sein. Was heißt richtig eingesetzt? Ich muss mein Gegenüber gut kennen und den richtigen Kommunikationsweg wählen. Ein runder Tisch eignet sich bei wenigen, gut informierten und aktiven Gesprächspartnern. Wenn die Kritiker eine größere und inhomogene Gruppe sind, kann ein Infomarkt sinnvoll sein, weil man viele erreichen und viel flexibler eine große Themenpalette abdecken kann. Netzbetreibern wird oft vorgeworfen, dass sie Alternativen nicht offen genug abwägen und einseitig für Lösungen plädieren, ohne die Einwände der Bürger ernst zu nehmen. Ein berechtigter Vorwurf? Wir machen unsere Planungen transparent offen und diskutieren sie mit den Betroffenen. Wie groß sind die Spielräume, Planungen tatsächlich zu verändern? Das kann man nicht pauschal sagen. Es gibt Projekte, da wird die Planung überhaupt nicht verändert. Bei der dena-Leitungsstrecke, bei der wir das erste Erdkabel verlegen, haben wir dagegen mehrfach umgeplant. Das ist ein Projekt, das seit fünf bis sechs Jahren in der Planung ist. Wir sind gestartet mit einer Freileitung. Dann wurden wir per Gesetz verpflichtet, Erdkabel zu verlegen, und kurz darauf wurde die Strecke zur Pilotstrecke erklärt. Letztendlich sind wir zurück auf Los gegangen. Und wenn die Behörde dann nochmal neue Richtlinien mit Abstandsregelungen und Ähnlichem vorlegt, müssen wir das Kabel eventuell noch mal woanders bauen. Wie ergebnisoffen kann Bürgerbeteiligung aus Ihrer Sicht sein? Bürgerbeteiligung kann immer nur innerhalb der Leitplanken stattfinden, die zum Beispiel durch Gesetze oder Gegebenheiten vor Ort (Naturschutz) gesetzt sind. Aufgrund der Rahmenbedingungen gibt es oft nur eine einzige mögliche Trasse, zumal wenn man dort schon eine Stromleitung stehen hat. Man muss aber zumindest die geprüften Alternativen diskutieren. Wenn ich eine Trasse baue und weiß, dass von fünf Möglichkeiten vier nicht umsetzbar sind, und deswegen immer nur von der einen Trasse spreche, ist das nicht zielführend. Nach Ihrer Erfahrung: Wie hat sich die Akzeptanz von Stromnetzen entwickelt? Ist die Realisierung heute leichter oder schwerer als vor einigen Jahrzehnten? Die Realisierung von neuen Stromnetzen ist heute wesentlich schwerer und aufwendiger als vor einigen Jahrzehnten. Die gesamte Projektkommunikation hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das extrem fordernd und aufwendig ist. Die NGOs spielen beim Netzausbau eine wichtige Rolle. Wie beurteilen Sie das Verhalten von NGOs und Umweltverbänden in diesem Rahmen? NGOs und Umweltverbände befinden sich in einer Zwickmühle, da der von ihnen begrüßte Umbau der Energieerzeugung hin zu erneuerbaren Energien ohne Netzausbau nicht zu haben ist. Das führt, ganz allgemein gesagt zu einer positiveren Haltung dieser Akteure zum Netzausbau. Führt die Haltung auch zu einer besseren Zusammenarbeit als früher? Ja, weil die ideologischen Grabenkämpfe nicht mehr stattfinden. Diese ideologisch hoch aufgeladenen Auseinandersetzungen zwischen Konzernen und Umweltgruppen gibt es nicht mehr, weil es die Energieversorger in ihrer alten integrierten Struktur nicht mehr gibt. Das Feindbild existiert nicht mehr. Wir als Netzbetreiber gehören nicht mehr zu den „bösen Monopolkonzernen“. Inzwischen fahren auch Castoren durch Deutschland, ohne dass man davon etwas hört. Die NGOs haben gerade beim Thema Netz teilweise ein sehr hohes Know-how aufgebaut. Wenn man sich die Stellungnahmen der NGOs zum Netzentwicklungsplan anguckt, sind das von profunder Fachkenntnis getragene Dokumente. Wie hoch schätzen Sie den Einfluss von NGOs bei der Umsetzung von Großprojekten ein? Das hängt jeweils vom Großprojekt ab. Bei Leitungsbauprojekten ist ihr Einfluss nicht allzu groß, da sämtliche Umweltaspekte im Rahmen des Genehmigungsverfahrens betrachtet werden. Bei anderen Großprojekten haben sie sicher erheblich mehr Einfluss. Ein Großprojekt ist Stuttgart 21. In diesem Kontext entstand der Begriff „Wutbürger“, der stur und egoistisch seine eigenen Interessen verfolgt. Gibt es die „Wutbürger“ auch im Rahmen des Netzausbaus? Wir haben es bislang bei unseren Leitungsbauprojekten nicht mit Wutbürgern zu tun, sondern mit Betroffenen, die ihre Interessen zu Recht artikulieren. Die NGOs haben ihre Arbeit in den letzten Jahren stark professionalisiert. Steigt damit auch die Deutungshoheit von NGOs? Dr. Hans-Jürgen Brick 151 Dr. Roger de Weck »Von der Informations- zur Interaktionsgesellschaft.« Dr. Roger de Weck über die Bedeutung des Internets, Vor- und Nachteile der direkten Demokratie und die schweizerische Sicht auf Proteste in Deutschland. Aus Ihrer Sicht als Schweizer: Welches Modell wird den Bedürfnissen der Menschen eher gerecht – die direkte Demokratie oder die repräsentative Demokratie? Zur Person Der studierte Volkswirt ist seit Januar 2011 Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Zuvor war er unter anderem Chefredakteur des Tages-Anzeigers in Zürich und der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg. 2001–2010 war er freier Publizist. In seinen Kolumnen beschäftigte er sich unter anderem mit der Rolle der Medien im direktdemokratischen System der Schweiz und im repräsentativen System der Bundesrepublik Deutschland. 152 INTERVIEWS Da hat jedes Land seine Tradition. Die Vorstellung, das schweizerische Modell ließe sich eins zu eins auf andere Länder übertragen, ist illusorisch und ahistorisch – abgesehen davon, dass die direkte Demokratie in der Schweiz große Stärken, aber derzeit auch Schwächen aufweist. Wenn Bürger jedoch regelmäßig zu Sachfragen konsultiert werden, hat das einen pädagogischen Effekt. Ein Teil der Bevölkerung erwirbt dank der ständigen Auseinandersetzung mit Sachfragen eine besonders hohe demokratische Kompetenz. Müssen die Deutschen direkte Demokratie erst lernen? Das muss jeder, auch in der Schweiz, denn direkte Demokratie ist ein Prozess. Ist eine Generation nach der anderen mit direkter Demokratie aufgewachsen, verhält sich das Volk anders, als wenn direktdemokratische Elemente soeben eingeführt worden sind. Direkte Demokratie hat einen unaufhörlichen Lerneffekt, die Qualität der Entscheidungen hängt bei jeder Volksabstimmung von der Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung unter den Bürgerinnen und Bürgern ab. Es gibt Phasen, in denen auf höherem Niveau debattiert wird, und andere, in denen das Niveau fällt. Kompromiss und Konkordanz sind Pfeiler der Schweizer Demokratie. Ist das Thema Akzeptanz kulturell bedingt? Deutschland und die Schweiz sind beide außerordentlich konkordanzund kompromissorientiert, jedoch auf höchst unterschiedliche Weise. In Deutschland markiert jeder zu Beginn sehr stark seine Position. These, Antithese, Synthese: Am Schluss kommt es oft zum Kompromiss. In der Schweiz wird ganz am Anfang ein Kompromiss postuliert, dann zieht jeder an dem Kompromiss-Flickenteppich in seine Richtung, bis er manchmal reißt. Das ist zwar die umgekehrte Vorgehensweise, aber im Ergebnis sind beide Länder kompromissbereit. Und das gilt letztlich für alle erfolgreichen Länder: Gute Politik besteht aus Kompromissen und nicht aus unerbittlicher Auseinandersetzung, bei der man vier Jahre in die eine Rich- tung politisiert und die nächsten vier Jahre in die Gegenrichtung. Solche Fähigkeit zum Kompromiss ist eine der Stärken der Bundesrepublik. Denken Sie, dass es in Deutschland eine große Skepsis gegenüber bestimmten Technologien gibt? Das entspricht dem gängigen Vorurteil auf deutschen Chefetagen, hat aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Wäre die deutsche Grundkultur technologiefeindlich, hätte die deutsche Wirtschafts- und Erfolgsgeschichte niemals ihren Lauf genommen. Es gibt berechtigte Kritik gegenüber bestimmten Aspekten einiger Großtechnologien, aber ich sehe die Deutschen in keiner Weise als einen Menschenschlag, der in dieser Hinsicht völlig anders geprägt wäre als andere. Angst ist kein deutsches Monopol. In Deutschland wurde das Thema Kernenergie sehr emotional erörtert. Wie wird das Thema in der Schweiz diskutiert? Die Debatte über die Kern- oder Atomenergie – jeder mag sie benennen, wie er will – wird auch in der Schweiz seit Jahrzehnten geführt. Die Eidgenossenschaft ist ein kleines, dicht besiedeltes Land. Käme es zu einem GAU, würde unsere Heimat weitgehend unbewohnbar. Dass hier eine besondere Sensibilität gegenüber der Kernenergie besteht, verwundert nicht. Aber irgendwo zwischen Pragmatismus und Risikobereitschaft hat man eine Zeit lang damit gelebt, wiewohl mit starker Opposition. Fukushima hat nun auf ein paar Jahre hinaus die Stimmung umgekehrt. Aber je nach Entwicklung der Technologien, der Energiebedürfnisse und unserer Energieverträge mit der EU kann sich vieles in die eine oder die andere Richtung entwickeln. Ich würde das nicht als eine definitive Wende interpretieren. Die Diskussion wird hierzulande genauso geführt wie in Deutschland, und zwar von beiden Seiten: teils rational, teils emotional. Obwohl es eine sehr große Unterstützung für die Energiewende gibt, wehren sich die Menschen teilweise gegen notwendige Infrastrukturvorhaben. Was steckt hinter dieser widersprüchlichen Haltung? Das ist das ewige Dilemma zwischen langfristigen und kurzfristigen Inter- essen. Kurzfristig möchte man diese oder jene Einbuße an Lebensqualität abwenden, langfristig bräuchte man beispielsweise eine sichere Energieversorgung. In dieser Inkohärenz lebt aber nicht nur die breite Bevölkerung. Gerade die Elite bzw. das Establishment in Deutschland haben diesen Widerspruch vorgelebt: In weiten Teilen der Finanzwirtschaft überwiegen bis heute kurzfristige gegenüber langfristigen Überlegungen, obwohl die Krise jeden vernünftigen Menschen eines Besseren belehrt hat. Ist das also ein grundsätzliches Problem? Wenn die größte deutsche private Bank 25 Prozent Rendite auf das Eigenkapital erzielen wollte, war das nicht gerade ein Vorbild für Nachhaltigkeit. So ist ein Großteil der Bürger im Irrglauben bestärkt worden, ein Unternehmen könne innerhalb eines Jahres seine Substanz um ein Viertel vermehren. Führung bedeutet zunächst einmal, Vorbild zu sein. Und in dem Maße wie die Wirtschaftswelt und die Politik wirklich langfristig denken, in dem Maße dürfen sie das von den Bürgerinnen und Bürgern einfordern. Dr. Roger de Weck 153 Wie schätzen Sie den Einfluss der Medien auf die Protestkultur ein? Die Schweiz ist ja geradezu ein Labor für die Wirkung der Medien, denn das Volk stimmt rund vier Mal im Jahr über mehrere Vorlagen ab. Doch die Korrelation zwischen der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Meinung, wie sie sich an der Urne ausdrückt, ist klein. Das Volk lässt sich von Medien wenig beeinflussen. arabischen Raum hat es ja schon begonnen, auch bei uns stehen Um wälzungen bevor. Man kann nicht sagen, dass das Internet alleinige Ursache der Veränderungen ist, aber es stellt einen wesentlichen Faktor dar. Das Internet bietet die Möglichkeit, eine viel breitere Debatte anzustoßen, über zahllose soziale Foren zu mobilisieren und Botschaften an den herkömmlichen Medien vorbeizutransportieren. Der »Vielleicht gibt es dank der NGOs nun einen Deutungshoheits-Pluralismus.« Werden die Medien ihrer Verantwortung heute noch gerecht? Man muss hier differenzieren. Man kann nicht vom „Mediensystem“ als Ganzes sprechen. Es gibt herkömmliche Medien, die trotz wirtschaftlicher Krise eine intellektuelle Blüte erleben, während sich ein Teil des Mediensystems der versuchten Volksverdummung schuldig macht. Die Ausdifferenzierung ist noch größer als früher. Was spielt das Internet für eine Rolle? Qualität und Quantität der Debatte haben sich seit dem Emporschnellen des Internets verändert. Wir erleben eine Zäsur, die so tief ist wie damals die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg: Im Jahr 1450 begann die Informationsgesellschaft. Heute sind wir dank des Internets in einer Interaktionsgesellschaft. Das wird gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen, im 154 INTERVIEWS Stammtisch findet heute öffentlich statt und nicht länger in der Kneipe. Weckt das Internet Protestbereitschaft? Nein, aber es ermöglicht die Teilnahme an Protesten, die vielen Menschen zuvor verwehrt war, weil sie über die herkömmlichen Medien kaum informiert worden waren. Gleichgesinnte zu finden, ist durch das Internet einfacher geworden. Denken Sie, dass NGOs in den letzten Jahren an Deutungshoheit gewonnen haben? Jedenfalls haben die Widersacher der NGOs nicht mehr die fast alleinige Deutungshoheit. Vielleicht gibt es dank der NGOs nun einen Deutungshoheits-Pluralismus. Was heißt das für Wirtschaft und Politik? Dass sie überzeugen müssen. In der heutigen Interaktionsgesellschaft ist die Kraft der Argumente zum Glück etwas stärker geworden gegenüber der Kraft der Interessen. Also muss man argumentieren, argumentieren und argumentieren. Haben die Unternehmen bisher ihre Argumente nicht deutlich genug gemacht? Viele in der Wirtschaft nehmen die Haltung ein: Wir haben die Argumente, die anderen haben die Emotionen, wir sind ernst zu nehmen, die anderen sind unseriös, wir denken langfristig, die anderen sind keine Realisten. Genau diese Haltung weckt bei Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden, und dann nehmen sie die Wirtschaft und ihre Argumente auch nicht ernst. Viele Public-Relations-Strategien greifen zu kurz, sie bleiben auf der Ebene manipulativer PR. Vielmehr muss der Wille zu einer wirklich ernsthaften Debatte zum Ausdruck kommen, will man etwas bewirken. Denken Sie, dass es heute schon genügend Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht in Deutschland gibt? Ich maße mir als Schweizer keine Meinung an, welche Instrumente in Deutschland zusätzlich nötig wären. Hingegen bin ich mir sicher, dass sich Verfassungen oder Grundgesetze entwickeln müssen. Die Gesellschaft erfährt einen solchen Schub, dass sich auch die Institutionen eines Landes erneuern sollten. Bürger können sich viel stärker äußern als früher, was der politische Prozess aber nicht abbildet. Daher erstaunt es mich in keiner Weise, dass die Spannungen wachsen. Die neuen Artikulationsmöglichkeiten müssen früher oder später in neue Instrumente oder sogar in neue Institutionen münden, die den Bürgern eine stärkere Mitsprache eröffnen. Sind Elemente direkter Demokratie das Erfolgsrezept für Akzeptanz? Ein allgemeingültiges Erfolgsrezept gibt es nicht, aber Direktdemokratie birgt Chancen. Es gibt Großprojekte, die viel Akzeptanz finden wie zum Beispiel der milliardenteure Gotthardtunnel, der dazu dient, den Verkehr weg von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafür ist die Akzeptanz enorm, obwohl auch die Kosten enorm sind. Wie wird die Bevölkerung in der Schweiz bei Großprojekten mit eingebunden? Bei Projekten einer gewissen Größenund Kostenordnung, wie dem Gotthardtunnel oder in einer Gemeinde dem Bau eines Schulhauses, wird die Bevölkerung immer befragt. Das Volk beschließt ja auch die Steuererhöhungen. Aber das geht nur, wenn die Bürger über Jahrzehnte gelernt haben, dass sie ohne Steuererhöhung das neue Schulhaus nicht haben werden. Hier zeigt sich ein langwieriger Lernprozess, der dazu beiträgt, dass der Teil der Bevölkerung, der sich politisch engagiert und mit den Dossiers auseinandersetzt, besser entscheidet. Es kommt vielleicht weniger auf das direktdemokratische System als vielmehr auf den Lerneffekt dank direktdemokratischer Praxis an. Abgesehen von der direkten Demokratie gibt es das Verfahren der sogenannten Vernehmlassung. Bevor ein Gesetz ins Parlament kommt, wird der Entwurf veröffentlicht. Alle Interessierten können sich dazu äußern und kritische Aspekte hervorheben oder Vorschläge machen, sodass der Entwurf unter Umständen bereits angepasst wird, bevor er ins Parlament kommt. Der parlamentarische Ablauf wird nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Das Parlament kann in besserer Kenntnis der Stimmungslage in der Bevölkerung über Gesetze debattieren. Es bleibt auch mehr Zeit für eine breit abgestützte Meinungsbildung. Das Damoklesschwert der oft möglichen Lancierung eines Referendums gegen die Gesetzesvorlage verleiht dem Vernehmlassungsprozess Gewicht. So stärkt die direkte Demokratie andere Formen der Bürgerbeteiligung. Was schafft mehr Akzeptanz: gesetzlich vorgeschriebene direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen oder informelle Beteiligungsmöglichkeiten wie runde Tische oder Mediationen? Es ist die Stärke Deutschlands, dass es in einigen Bundesländern direktdemokratische Elemente und überall informelle Beteiligungsmöglichkeiten vorsieht. Die direktdemokratischen Ansätze werden in den kommenden zwei, drei Jahrzehnten gewiss stärker. Denken Sie, dass Politik und Wirtschaft durch mehr Bürgerbeteiligung Handlungsspielraum verlieren? Politik und Wirtschaft verlieren kurzfristig Handlungsspielraum und gewinnen langfristig sehr viel mehr Handlungsspielraum. Es ist wie immer ein Trade-off zwischen langer und kurzer Frist. Etwas länger überzeugen, aber dann durchziehen können ist das bessere Prinzip als Stuttgart 21, wo man wenig überzeugt hat und jetzt schwerlich etwas durchziehen kann. Von Ihnen stammt der Satz: „Die CEOs der Schweiz AG leiden an unserer Demokratie und ihrer Langsamkeit.“ Heißt das übersetzt: lieber etwas weniger Demokratie, dafür mehr Handlungsspielraum? Das Leiden an der Langsamkeit in einer sich beschleunigenden Wirtschaftswelt ist nachvollziehbar, aber die Länder, die sich Zeit nehmen für eine fundierte Meinungsbildung, fahren meist besser als die Länder wie Frankreich oder Berlusconi-Italien, in denen man autoritär etwas entscheidet; in der Wirklichkeit hat sich dort herzlich wenig verändert. „Verkürzung von Genehmigungsverfahren“ und „Ermöglichung von mehr Bürgerbeteiligung“: Stehen diese beiden Ziele im Widerspruch zueinander? Oder lassen sie sich miteinander verbinden? Bürgerbeteiligung lässt sich gewiss nicht auf Genehmigungsverfahren verkürzen. Eine Volksabstimmung, bevor ein Projekt lanciert wird, verkürzt danach sämtliche Genehmigungsverfahren. Sollten die Bürger Ihrer Meinung nach grundsätzlich über ein Projekt abstimmen dürfen, bevor es in die konkrete Planung geht? Es liegt für mich auf der Hand, dass ein vom Volk legitimiertes Projekt sich wahrscheinlich besser verwirklichen lässt. Dr. Roger de Weck 155 Patrick Döring »Die verschlossenen Türen haben wir seltener, als man denkt.« Patrick Döring über Bürgerbeteiligung, die Bereitschaft zu Veränderungen und das Bild der Wirtschaft. Die Bevölkerung empfindet politische und wirtschaftliche Entscheidungen oft als alternativlos, weil sie hinter verschlossenen Türen gefällt werden. Teilen Sie das Empfinden? Die verschlossenen Türen haben wir sehr viel seltener, als die Bürger denken. Demokratische Entscheidungen werden in Deutschland hinreichend transparent dargestellt. Was aber viele Bürger falsch einschätzen, ist der Grad der Komplexität von politischen Entscheidungen heutzutage. Es gibt nicht immer den Moment, in dem eine Entscheidung fällt, sondern das ist ein längerer Prozess. Und die Aufmerksamkeit nimmt ab, je länger ein Prozess dauert. Zur Person Patrick Döring ist studierter Ökonom und gehört seit 2005 dem Deutschen Bundestag an, wo er sich insbesondere in Verbindung mit Themen aus den Bereichen Verkehr, Bauen und Wohnen profilierte. Seit 2011 ist er Generalsekretär der Bundes-FDP und ihr Bundesschatzmeister. Zuvor war er als Kommunalpolitiker in Hannover tätig. 156 INTERVIEWS Ist die Komplexität der Grund dafür, dass die Leute gefühlt die verschlossenen Türen sehen? Davon bin ich inzwischen fest überzeugt. Das liegt zum Teil daran, dass wir auf der einen Seite medial gezwungen sind, komplexeste politische Sachverhalte in neunzig Sekunden in Mikrofone zu sagen. Da kann man nicht alles so komplex darstellen, wie es ist. Auf der anderen Seite verlieren diejenigen, die uns beobachten, immer dann die Lust, wenn es keinen zugespitzten Konflikt gibt. Ganz viele Entscheidungen sind aber eben kein zugespitzter Konflikt, sondern ein Prozess. Und dieser Prozess wird nicht mehr geschildert, weder von uns, die wir diese Prozesse gestalten, noch von denen, die sie beobachten. Wäre das originäre Aufgabe der Politik? Natürlich, wir müssen uns wieder angewöhnen, diesen Prozess zu schildern, und deutlich machen, dass Politik mehr ist als die Abstimmung über ein Gesetz im Parlament. Das Bild von großen Unternehmen in der Öffentlichkeit ist eher negativ. Woher kommt das? Das Wirtschaftsbild ist bei den meisten Menschen einfach paradox. Für Hochschulabsolventen sind die attraktivsten Arbeitgeber fast ausschließlich die deutschen DAX- und Großunternehmen und gleichzeitig haben viele das Gefühl, dass diese großen Einheiten die Bürger an die Wand drücken. Man möchte gerne auf der einen Seite in der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit eines mitbestimmten Großkonzerns mit Betriebsrente und 14 Gehältern arbeiten, auf der anderen Seite soll aber alles irgendwie familiär und niedlich zugehen. Sind die Bürger ähnlich widersprüchlich bei der Energiewende? Ja. Aus meiner Sicht ist das absolut doppelgesichtig. Die Entscheidungsprozesse der Wirtschaft sind sehr viel weniger transparent als die der Politik, aber sie ähneln ihnen natürlich. Und weil das so ist, wird dann auch sehr schnell das Gefühl verbreitet, dass „die da oben“ etwas zu unseren Lasten auskungeln. In der Wahrnehmung wird nicht mehr zwischen den einzelnen Instanzen unterschieden. Gerade bei großen Infrastrukturvorhaben sind nicht mehr die ausführenden Fachbeamten die neutrale Instanz, wie es im Beamtenbild der deutschen Geschichte mal weitverbreitet war, sondern im Hintergrund schraubt immer irgendeine fremde Macht. Das ist das Bild, das sich verfestigt hat. Ich sage mal etwas spöttisch: Es gibt Millionen von Menschen, die glauben, dass früher Hartmut Mehdorn oder jetzt Rüdiger Grube in ihrem Büro sitzen und persönlich veranlassen, dass der ICE zu spät kommt. Hat das negative Bild von Unternehmen auch mit Machtverhältnissen zu tun? Mit Macht hat das wenig zu tun, weil die meisten Unternehmen keine konkrete Macht auf den einzelnen Menschen ausüben. Aber jeder weiß natürlich, dass Vorstände von großen Unternehmen zu den Entscheidern der Republik gehören und mehr entscheiden als nur die Frage, ob man das Produkt linksrum oder rechtsrum herstellt. Sie sind präsent in der Stadtgesellschaft, im sozialen Leben und bei gesellschaftlichen Ereignissen. Die Fünfzigerjahre prägten das Bild der verborgenen Vorstände, die kein Mensch kannte. Das gibt es heute nicht mehr. Heute gehört zur Jobbeschreibung auch dazu, „bella figura“ zu machen und auch manchmal die Bunte zu bedienen. Großinvestoren sorgen mit Projekten für Arbeitsplätze. Spielt das Arbeitsplatzargument noch eine Rolle? Das Argument zieht nicht mehr so, weil es uns besser geht als allen anderen europäischen Ländern. Wir haben hier einen Trend zur postmateriellen Sattheit. Dazu kommt, dass der demografische Wandel unsere Mentalität und auch die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft negativ beeinflusst. Die weitverbreitete Meinung ist, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Spielt heute noch eine Weltanschauung oder eine Ideologie eine Rolle? Im Bereich Forschung, bei Energieerzeugungsanlagen oder auch bei großen Industrieanlagen gibt es noch ideologisch motivierte Proteste. Der Hauptantrieb für Proteste mit breiter Beteiligung ist aber die persönliche Betroffenheit. Woran machen Sie das fest? In meinem Wahlkreis wollte die medizinische Hochschule von Hannover gemeinsam mit der Firma Boehringer das weltweit modernste Impfstoffforschungszentrum errichten. Irgendwann hat eine stark ideologische kleine Gruppe das Projekt sehr stark links konnotiert mit der Botschaft: „Keine tödlichen Schweineviren mitten in der Stadt und keine Tierversuche.“ Beides war grober Unfug, aber die bürgerliche Mitte hat es zu Protesten animiert. Eine entscheidende Rolle spielten Patrick Döring 157 die Sorgen um die eigene Gesundheit und der Wertverlust der eigenen Immobilie. Es war bemerkenswert, dass Bürger aus dem ganz klassischen bürgerlichen Lager mit den Bunthaarigen aus der ersten Reihe gemeinsam protestierten – ganz vorneweg im Übrigen ein ehemaliger Wirtschaftsverbandspräsident in Niedersachsen, dessen Privatimmobilie in der vermeintlichen Giftwolke lag. tum dabei. Manche kochen ihr ideologisch geprägtes Süppchen und fordern Kleinanlagen und Dezentralität. Jeder holt sich alles, was er braucht, von seiner Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Die meisten Menschen wohnen in Mietwohnungen, ohne eigene Dachfläche, auf der sie eine Fotovoltaikanlage errichten könnten. Das wird ausgeblendet und ist letztendlich eine sehr bequeme Haltung. Gibt es diese Widersprüchlichkeit auch im Hinblick auf die Energiewende? Wie kann der einzelne Bürger motiviert werden, einen stärkeren Beitrag zur Energiewende zu leisten? Das ist nicht mehr so. Der größte Teil der Bevölkerung ist bereit, für die Energiewende auch Einschränkungen in seinem unmittelbaren Lebensumfeld in Kauf zu nehmen, wenn nicht nur die eine Region oder ein Teil der Bevölkerung betroffen sind. Es darf nicht kumulativ werden. Wenn zur Windenergie noch Biogas und ein Zwischenlager hinzukommen, schwindet die Akzeptanz irgendwann. Natürlich ist es auch so, dass die meisten Menschen bei Entschädigungen das Beste rausholen wollen. Ist die Akzeptanz für Infrastrukturmaßnahmen der Energiewende größer als bei anderen Infrastrukturprojekten? Ja, weil es einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Natürlich gibt es gut organisierte, laute Minderheiten, die dagegen protestieren – das sind in der Regel die, die schon gegen die Kernenergie waren. Da ist der Widerspruch wieder. Wie lässt er sich auflösen? Nur durch politische Konfrontation. Da ist ganz viel Berufsprotestanten158 INTERVIEWS Das funktioniert von ganz allein. Da darf man auch nicht mit politischem Ordnungsrecht drohen. Wenn Investitionsbedarf entsteht, werden die meisten Menschen in ihrem Elektromarkt auf ordentliche Verbrauchswerte achten. In der Abwägung zwischen mehr Effizienz oder niedrigerem Preis werden sich manche Leute aber für den niedrigeren Preis entscheiden. Das liegt in der Natur der Sache. Und klar ist auch: Geräte, die noch funktionieren, werden nicht einfach weggeworfen, nur um das grüne Gewissen zu bedienen. Diese Mentalität wird man vielleicht auch in kleinen Betrieben antreffen. Effizienzgrade sind nicht immer ausschlaggebend. Schaffen wir die Energiewende ohne Subventionen, wie es sie ja schon in der Solarindustrie gegeben hat? Auf Dauer werden wir Strompreiskompensationen für weite Teile unserer Industrie und Wirtschaft als Beihilfe nicht stellen können. Wir haben interessante Modelle gesehen, die helfen, Stromsteuer zu spa- ren. Da ist die Kreativität von Unternehmen groß. anderer Stelle, nämlich bei der Datumsfrage, extrem konkret war. Es geht um bezahlbare Strompreise sowohl für die Unternehmen als auch für die Bürger. Wie kann eine Lösung aussehen? Sie fordern im Kontext von Versorgungssicherheit und Preisstabilität hochmoderne Kohlekraftwerke. Wie schätzen Sie die Akzeptanz von Kohlekraftwerken ein? Wir werden sicher irgendwann eine Debatte über die Höhe des steuerlichen Anteils im Energiekostenbereich bekommen, weil diese künstliche Verteuerung nie eine Lenkungswirkung hatte. Wir sind jetzt bald bei den berühmten fünf Mark Benzin und trotzdem fahren die Leute nicht weniger Auto. Nicht aus Liebe zum Auto, sondern weil der demografische Wandel und die Realität in der Wirtschaft dies erfordern. Gerade im Energie- und Mobilitätsbereich ist die Lenkungswirkung von Preisen relativ gering. Sie haben vor der Bundestagswahl gesagt, dass Sie unentschieden sind hinsichtlich des Ausstiegs aus der Atomkraft. Wie sehen Sie das heute? Es gibt einen großen gesellschaftlichen Konsens über den Ausstieg aus der Kernenergie, aber die tief greifenden Herausforderungen sind überhaupt nicht klar. Wir kommunizieren sie auch nicht als Herausforderungen. Stattdessen erwecken wir den Eindruck, dass wir das selbstverständlich lösen, weil die Menschen das von führungsstarker Politik erwarten. Wenn ich das in der Rückschau betrachte, war die Frage nach dem Ausstiegsdatum, 2022 oder 2024, von Anfang an falsch gestellt. Eigentlich hätte man die Frage nach dem Potenzial der anderen Erzeugungsformen beantworten müssen. Die Frage, was wir noch brauchen, ist sehr allgemein, während es an Wir brauchen Kohle- oder Gaskraftwerke für die nächsten 20 Jahre, wenn die Energiewende so schnell wie geplant funktionieren soll. Wenn es zu Verzögerungen käme, auch noch für länger. Das ist eine Investitionsfrage, weil die erwarteten Betriebszeiten für einen Investor nicht attraktiv sind. Einen breiten bürgerlichen Widerstand gegen effiziente Kohle- und Gaskraftwerke kann ich überhaupt nicht erkennen. Gibt es heute bereits genügend Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht? Die verwaltungsrechtlichen Möglichkeiten reichen aus, aber sie haben für viele eine abschreckende Wirkung. Bürger würden gerne vor dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren und nach der Planfeststellung Einfluss nehmen und Informationen sehen. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist für denjenigen interessant, der unmittelbar betroffen ist und seine Rechte durchsetzen will. Den werden wir übrigens auch nie mit Mediation davon abhalten. Da geht es um harte materielle Werte. Welche zusätzlichen Beteiligungsmöglichkeiten schlagen Sie vor? Mein Vorschlag ist, die Anhörung der Träger öffentlicher Belange schon im Raumordnungsverfahren für interessierte Bürger zu öffnen, völlig transparent zu machen und Informationen auch über eine Online-Plattform dar- zustellen. In dem Stadium werden erste Grobplanungen vorgestellt wie Linienführung und Alternativtrassen. Das könnte helfen, diesem Misstrauen, dass im Verborgenen geplant wird, entgegenzuwirken. Je eher man damit anfängt, desto eher wird auch die Planfeststellung der Trassen akzeptiert. Wann genau sollte die Information anfangen? Mit Beginn des Raumordnungsverfahrens, weil es schon in ein Verfahren eingebettet werden muss. Es kann keine Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden, nur weil jemand eine Idee hat. Welchen Beitrag müssen die Vorhabenträger leisten? Propaganda verbietet sich. Sie müssen offen erklären, warum sie dieses oder jenes machen. Dazu gehört auch, technische Zwänge zu erklären und zu begründen, warum diese oder jene Alternative nicht umsetzbar ist. Man sollte sich auseinandersetzen mit den von echten oder vermeintlichen Experten vorgetragenen Wie sollte das in Praxis aussehen? Ich würde nie fordern, dass Beteiligungsmöglichkeiten unmittelbar mit Verzicht auf den Rechtsweg verbunden sind. Ich würde auch grundsätzlich das Verbändeklagerecht nie infrage stellen. Aber es geht nicht mehr, dass der Zentralvorstand oder die Hauptgeschäftsführung vom WWF Deutschland klagen, wenn Investoren die konkreten Beschwerden aller Betroffenen berücksichtigt haben und niemand mehr vor Ort betroffen ist. In diesen Fällen sollte auch der Rechtsweg für einen Verband verschlossen bleiben. Sollten bestimmte Beteiligungsmöglichkeiten gesetzlich vorgeschrieben werden? Zu sagen, ab einer Investitionssumme X muss man dieses und jenes tun, ist nicht sinnvoll. Wir müssen keine neuen Wachstumsund Investitionsbremsen erfinden und Bürgerbeteiligung vorschreiben. Ich bin sicher, dass jeder private Investor dies ab einer gewissen Größenordnung von selbst berücksichtigen wird. »Wir brauchen Kohleoder Gaskraftwerke für die nächsten 20 Jahre.« Alternativmöglichkeiten und diese ernst nehmen, statt sie mit Halbsätzen vom Tisch zu fegen. Das ist sehr mühsam, kann aber am Ende schneller gehen, als wenn man 300 oder 400 Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss beim Verwaltungsgericht verhandelt. Ist das im Bewusstsein der Unternehmen schon angekommen? Ja. Sicher nicht bei jedem Mittelständler, aber bei denen, die größere Infrastrukturen bauen und betreiben, ist es angekommen. Da entsteht eine völlig neue Kultur des Dialogs und des Miteinanders. Patrick Döring 159 Gisela Erler »Es geht um die DNA.« Gisela Erler über neue Formen der Bürgerbeteiligung und die Notwendigkeit einer ergebnisoffenen Diskussion im Vorfeld von Großprojekten. Als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung kennen Sie viele Formate für eine Bürgerbeteiligung. Was für Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Zur Person Die Politikerin von Bündnis 90 / Die Grünen ist seit 2011 Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung der baden-württembergischen Landesregierung. In dieser deutschlandweit einzigartigen Funktion erprobt Gisela Erler neue Formen der Bürgerbeteiligung. Davor setzte sie sich als Gründerin des Dienstleistungsunternehmens „Familienservice“ für die Gleichstellung von Mann und Frau sowie für die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf ein. 160 INTERVIEWS Runde Tische, Mediationen oder Schlichtungen können dafür sorgen, dass Sachargumente auf den Tisch kommen und auch deutlich wird, dass es nicht nur Gegner und Befürworter von Projekten gibt, sondern auch viele Menschen, die damit ganz andere Interessen verbinden und interessante Ideen einbringen. Beim runden Tisch zum geplanten Pumpspeicherkraftwerk in Atdorf kam das Thema Tourismus in der Region als neuer Aspekt hinzu. Ein solcher Prozess dient also auch dazu, die Potenziale aufzuzeigen, die ein Projekt für eine Kommune oder eine Region bietet. Wo liegen die Grenzen solcher Formate? Man wird niemals alle Gegner von der Notwendigkeit des Projekts überzeugen können, insbesondere wenn es einen Fundamentaldissens gibt, ob man das Projekt überhaupt braucht. Aber solche Formate tragen oft dazu bei, dass das Gros der beteiligten Bürger das Projekt besser versteht. Sie gestalten ja im Moment mit der Deutschen Bahn den FilderDialog. Was ist dort konkret geplant? Beim Filder-Dialog machen wir ein Verfahren nach dem Modell der Großgruppenmoderation. Dabei werden sowohl Fachleute als auch zufällig ausgewählte Menschen mit einbezogen, die dann unterschiedliche Fragestellungen miteinander diskutieren und auch sehr viele neue Informationen gewinnen. Wie ergebnisoffen sind solche Verfahren? Ergebnisoffenheit muss es in dem Sinne geben, dass man idealerweise vor der Planung eines Projekts wirklich alle Alternativen und Einwände gewissenhaft prüft. Beim Filder-Dialog ist die Ergebnisoffenheit nur begegrenzt gegeben – es bestehen etliche Vorgaben, die nicht leicht zu ändern sind. Aber es gibt keine Denkverbote. Lässt sich die Wirtschaft aus Ihrer Sicht genügend auf neue Verfahren ein? Im Moment noch nicht so recht, aber da ist gerade einiges im Umbruch. Vorstände müssen sich einfach von dem Denken, dass ein angedachter Plan alternativlos sei, verabschieden. Dieses Denken ist in einem Land, das so dicht besiedelt ist und eine so gebildete Bevölkerung hat wie das unsrige, nicht mehr zeitgemäß. Die Wirtschaft muss sich auch von der Angst lösen, dass Bürgerbeteiligung Projekte endlos in die Länge ziehe und es dann am Ende immer noch keine Entscheidung gebe. Bei Bürgerbeteiligung geht es nicht darum, Projekte zu verzögern, sondern darum, wie man sie verbessern kann. Wer soll die Kosten für die Bürgerbeteiligung tragen? Vorhabenträger sollten, genau so, wie sie für den Naturschutz aufkommen, auch ein Budget für Bürgerbeteiligung einplanen und die Kosten dafür entsprechend tragen. Unternehmen müssen einen Prozess einkalkulieren, der vielleicht ein Vierteloder ein halbes Jahr dauert, in dem man die größten Hürden oder Vorschläge, wie man das Projekt verbessern kann, diskutiert. Sie entwickeln gerade den Leitfaden für Bürgerbeteiligung. Was sieht dieser vor? Der Kern des Leitfadens ist, dass die Verwaltung, in diesem Fall die Landesbehörden, Bürgerbeteiligung verbindlich durchführen muss. Dabei ist man in der Wahl der Methoden frei, solange man alle Akteure in angemessener Weise einbezieht. Die Planung im weiteren Raumordnungs- und in allen anderen Verfahren muss die im Rahmen der Bürgerbeteiligung eingebrachten Argumente dann als materiell wichtige Aussagen berücksichtigen. Darüber hinaus planen wir auch eine Verbesserung der bestehenden Erörterungstermine. Dabei geht es hauptsächlich darum, dass alle Unterlagen so aufbereitet werden, dass man sie gut nachvollziehen kann. Daher wollen wir auch Interpretationshilfen geben, sodass man nicht wie der Ochs vorm Berg steht. Zudem müssen alle Unterlagen sowohl online als auch offline zugänglich sein. Da kommt ja einiges auf die Verwaltung zu. Denken Sie, dass die Verwaltung bereit für Bürgerbeteiligung ist? Wir werden viele Fortbildungen für Beamte anbieten, bei denen das Demokratiebild diskutiert wird und mögliche Methoden für Bürgerbeteiligung vertieft werden. Natürlich muss nicht nur die Verwaltung dazulernen, daher sind wir auch im Gespräch mit Wirtschaftsverbänden und kommunalen Spitzenverbänden, sodass wir Teile dieser Fortbildungen zum Thema Bürgerbeteiligung zwischen allen Stufen der Verwaltung und der Wirtschaft synchronisieren. Das würde dann dazu führen, dass die unterschiedlichen Parteien besser verstehen, wie die andere Seite denkt. Es sind ja vor allem unterschiedliche Diskurse und Vokabularien, die eine offene Kommunikation oft verhindern. Was halten Sie vom Gesetzesentwurf zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung? Der Entwurf enthält eine KannKlausel, dass die jeweilige Behörde auf den Projektträger hinwirken soll, die Bürger früh zu beteiligen, was letztlich nicht verpflichtend ist. Deshalb schreien auch die Verfahrensträger und die Wirtschaft nicht auf. Unsere Forderung an die Bundesregierung ist, dass Bürgerbeteiligung als freies Extraverfahren vor dem Planfeststellungsverfahren stattfinden und von den Vorhabenträgern Gisela Erler 161 in adäquater Weise finanziert werden muss. Das bedeutet, dass auf jeden Fall die Gutachter der Gegenseite und ein Prozess inklusive Moderation finanziert werden müssen, damit die Projektgegner auf Augenhöhe mit den Vorhabenträgern reden können. Dann müsste Ihnen doch der Vorschlag, dass Projektträger Projektgegnern zwei Prozent der Projektmittel für Kommunikationsmaßnahmen oder die Erstellung von Gutachten zur Verfügung stellen, gut gefallen ... Das ist grundsätzlich eine gute Idee, obwohl zwei Prozent natürlich je nach Projektvolumen enorm viel Geld sein können. Man könnte das sicherlich degressiv machen. Neben ein Atomkraftwerk. Aber es ist sinnvoll, eine echte, materielle Kompensation anzubieten, nicht im Sinn von Bestechung, sondern im Sinn einer wertvollen Entschädigung für die Region oder die Kommune. Halten Sie direkte Volksabstimmungen im Kontext von Großprojekten für sinnvoll? Wir wollen Volks- und Bürgerentscheide erleichtern, sodass man durch diese im Extremfall auch bei Planungsthemen nachfassen kann. Es ist nicht unser Ziel, alles in die direkte Demokratie zu verschieben, insofern ist das kein Schweizer Modell. Aber was in den normalen Verfahren nicht zu klären ist, sollte dann in einem Volks- oder Bürgerentscheid geklärt werden können. »Die Demokratie wird sich vor allem durch die neuen Medien verändern.« der finanziellen Unterstützung der Gegner finde ich es auch wichtig, die von einem Projekt betroffene Region oder Kommune durch Kompensationsdeals zu entschädigen, beispielsweise durch neue Sportplätze, Arbeitsplätze für Jugendliche oder Trainingsprogramme. Man sollte sich nicht nur auf das jeweilige Projekt konzentrieren, sondern darüber nachdenken, wie man die Region insgesamt davon profitieren lassen kann. Auch das hat Grenzen, denn es gibt natürlich auch Dinge, die man dadurch nicht ausgleichen kann und mit denen Menschen nicht leben können, wie beispielsweise 162 INTERVIEWS Sehen Sie das Risiko, dass die parlamentarische Demokratie dann ein Stück weit ausgehöhlt wird? Nein, es ist auch nicht unser Ziel, die Parlamente zu schwächen. Ich denke aber, dass sich die Demokratie vor allem durch die neuen Medien sowieso verändern wird. In 100 Jahren haben die Parlamente bestimmt nicht mehr solche Sitzordnungen. Auch die Feminisierung wird erzwingen, dass andere Diskursformen entstehen. Kommen wir kurz zur Energiewende: Gerade im Hinblick auf Stromtrassen sind ja viele Konflikte mit Anwohnern möglich. Wie wollen Sie damit umgehen? Manche Trassen müssten einfach unter die Erde, das ist State of the Art in einem reichen Land. Wir bauen die teuersten Straßen und Häuser der Welt, daher müssen wir auch Lärmschutz, Strahlenschutz und so weit wie möglich auch optischen Schutz gewährleisten. Natürlich muss nicht jede Trasse unterirdisch geführt werden, aber wenn sie direkt an einem Wohngebiet vorbeiläuft, sollte sie unter die Erde gelegt werden. Selbstverständlich muss die optimale Streckenführung – angesichts unterschiedlicher Interessen – im Diskurs ermittelt werden. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Akzeptanz von Infrastrukturvorhaben im Bereich der erneuerbaren Energien? Auch wenn es bei der Windenergie immer noch eine große Debatte gibt, ist die Akzeptanz dafür dramatisch gestiegen. Das liegt auch daran, dass die Leute erkennen, dass sich damit sehr große finanzielle Anreize verbinden können. Rheinland-Pfalz zum Beispiel baut ja in einer enormen Schnelligkeit Windräder und hat dafür hohe Akzeptanz – das zeigt sich darin, dass sehr viele Rheinland-Pfälzer Papiere für Beteiligungen an den Windrädern bei den lokalen Banken zeichnen. Ist diese Form von finanzieller Beteiligung ein wesentlicher Treiber für mehr Akzeptanz? Die Ökonomie ist definitiv eine Triebkraft. Das muss man natürlich mit Natur- und Anwohnerschutz ausbalancieren. Im Moment gibt es ja die 700-Meter Distanz zum bewohn- ten Land, das könnte auch zu Konflikten führen. Dennoch wird es meiner Ansicht nach nur punktuelle Konflikte, aber keine Massenaufstände geben. Es wird in den Medien ja häufig über Proteste gegen Windräder berichtet. Ist das ein Zerrbild? Das entspricht nicht der Realität, sondern ist eine Projektion. Bei der Windenergie oder Biomasse gibt es einen Fachdiskurs über das Wo und Wie, aber weniger eine Grundsatzdebatte wie bei der Kernenergie. Auch der politische Widerstand verschwindet langsam. Projekte im Bereich der Erneuerbaren sind nicht immer von Begeisterung begleitet, aber fast alle wissen um die Notwendigkeit und versuchen daher, das Beste daraus zu machen. Viele Menschen sind natürlich besorgt, dass ihre unmittelbare Umgebung durch Windräder negativ verändert wird. Aber der Widerstand dagegen ist kleinteilig, zerlegt sich und hat kein ideologisches Zentrum. Es ist nicht so, dass alle Konservativen dagegen wären und alle Grünen dafür – das sehen sie ja in den Dörfern, da gibt es Bevölkerungen, die für die Windenergie stimmen, und Gemeinderäte, die dagegen sind, und umgekehrt. Das liegt total quer, auch zu den Parteien. Es gibt Grüne und Konservative, die wollen etwas nicht, tragen es aber dann mit, weil sie wissen, dass wir die Energiewende brauchen. In diesem Kontext sagt der Ministerpräsident immer: „Das sind schöne Maschinen“, das ist ein wichtiger Punkt. Die Ästhetik ist natürlich auch geprägt von dem, was man inhaltlich möchte. Die Akzeptanz der Straßenneubauten in den Fünfzigerjahren war ja sehr hoch, weil das ein Zukunftsversprechen war. Gefährdet die Energiewende die Stromversorgung in Deutschland? Möglicherweise wird es angesichts des raschen Abschaltens der Atomkraftwerke partiell enge Situationen geben. Daher muss man die Energiewende sehr beschleunigen. Es gibt aber viele gute Ansätze, insbesondere auch mit dezentraler Energieversorgung. Wenn diese konsequent unterstützt werden, wird die Energiewende auch gelingen. Die verbleibenden Lücken kann man meiner Meinung nach schließen, und zwar auch ohne dauerhaften Stromimport. Rheinland-Pfalz ist ja schon sehr weit mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, ganze Regionen gehen ja auf 100 Prozent Erneuerbare zu. Und auch im Fall von Baden-Württemberg mache ich mir langfristig da keine großen Sorgen, denn hier gibt es so viele Tüftler und Erfinder, die auch eigene Ideen ausprobieren und finanzieren. Darauf sind wir auch angewiesen, denn die Hälfte der Erneuerbaren wird ja von Privatleuten finanziert. Allerdings ist es sehr wichtig, dass der Netzausbau – auch als Optimierung bestehender Trassen – gut vorankommt. Gibt es auch Aspekte, die noch vernachlässigt werden? Man spricht viel zu wenig über Energiesparen. Wenn wir darüber reden, wird zu viel an Energiesanierung und nicht genug an das Regeln gedacht. Die Menschen müssen lernen, mit Energie hauszuhalten, oder gute interne Systemregler bekommen, um Temperaturen tiefer zu halten. Zum Energiesparen gehört auch, im Winter nicht in der Wohnung T-Shirt und Shorts zu tragen, das macht in Italien auch niemand. Ich plädiere nicht für ein radikales Spardiktat, das die Lebensqualität einschränkt, aber ein sorgsamer, achtsamer Umgang mit Energie ist schon sehr wichtig. Zum Abschluss: Was ist Ihre Bilanz aus Ihrer bisherigen Amtszeit als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung? Wir haben ein Versprechen gegeben und ein Jahr lang gebraucht, um zu verstehen, wie dieses Versprechen operativ umgesetzt werden kann. Wir wissen nun, wie das Thema Bürgerbeteiligung zum Beispiel im Planungsrecht und in den einzelnen Ressorts angegangen werden muss. Ich hoffe, dass wir das am Ende dieser Legislaturperiode so weit in der „DNA“ haben, dass es nicht mehr einfach verschwindet. Dafür brauchen wir den Leitfaden, Ausbildungsstrukturen, wie zum Beispiel die Führungsakademie der Beamten, und eine Vernetzung der Forschung im Land, um nachhaltige Veränderungen zu verankern. Das Thema Bürgerbeteiligung ist ja auch parteiübergreifend anschlussfähig, daher brauchen wir auch den Austausch mit anderen Bundesländern. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren sichtbare Ergebnisse bekommen, die auch auf hohe Akzeptanz stoßen werden. Und das unabhängig von der Frage, wer zukünftig gerade an der Regierung ist. Vielmehr ist es also eine Frage nach der „DNA“? Ja, die DNA. Es geht um die DNA. Gisela Erler 163 Hans-Werner Fittkau »Als es ernst wurde, fingen sie an zu schreien.« Hans-Werner Fittkau über den „Wutbürger“, die Proteste gegen Stuttgart 21 und die Zukunft von Bürgerbeteiligung. Zur Person Der studierte Medienpädagoge ist seit Februar 2010 stellvertretender Redaktionsleiter bei PHOENIX, wo er seit 1997 als Redakteur arbeitet. Zuvor war er unter anderem beim ZDF tätig. Hans-Werner Fittkau moderierte zahlreiche Sendungen zu den Themen Energie, Infrastrukturprojekte und Bürgerbeteiligung. Bekannt wurde Hans-Werner Fittkau auch als Moderator, der das gesamte Schlichtungsverfahren von Stuttgart 21 live und vor Ort für PHOENIX verfolgte. 164 INTERVIEWS Im Kontext von Stuttgart 21 entstand der Begriff Wutbürger. Gibt es diesen Typus tatsächlich oder ist er eine mediale Erscheinung? gen uns um das viele Geld und um unsere Stadt.“ Ein wenig mengte sich auch noch die schwäbische Art dazu. Den Phänotypus gibt es wirklich, wie er in Stuttgart aufgetreten ist. Der Typus ist 55 bis fast schon 70 Jahre alt. Es sind ganz hartnäckige, aufgeklärte, oft akademisch gebildete Leute, die auf eine wilde Art entschlossen, rechthaberisch und fast schon borniert sind. Die treten mit einer Vehemenz auf, die gar nicht dem Duktus des Demokraten entspricht, fast schon mit einer Form von Militanz. Nicht im Sinne von Gewalt, aber im Auftreten. Wir haben diese Erfahrungen gemacht, als wir zum Beispiel Interviews mit Befürwortern von Stuttgart 21 am Rande von Montagsdemos geführt haben. Solche Anfeindungen habe ich vorher noch nicht erlebt. Und dann habe ich mich intensiv gefragt: „Sind das individuell Betroffene, die den Baulärm und den Bauschutt ertragen müssen?“ Und das Interessante war: ganz oft Fehlanzeige. Nach dem Motto des sparsamen Schwaben: „Verplempert nicht unser Geld!“ Was war dann der Grund? Das speist sich aus dem „Die da oben“-Gefühl: „Die haben uns nicht richtig mit einbezogen und wir sor- Ja, aber auch dieses Beharrungsvermögen, das die Schwaben teilweise haben. In Stuttgart protestierte in großen Teilen dieser ganz hartnäckige Typus, der rechthaberisch selten andere Meinungen zuließ. Ich fand das ganz verblüffend und auch erschreckend. Spielten auch ideologische Gründe eine Rolle? Ja, das waren teilweise Leute aus der 68er-Bewegung, die heute in Rente sind. Das muss man sich im Zusammenspiel vorstellen: Die alten Hartnäckigen und die Jungen, die vielleicht aus Spaß an der Action mitgemacht haben. die Jugendlichen haben sich ganz schnell per Twitter mobilisiert und sind mit einer Vehemenz im Park aufgetreten, die dazu geführt hat, dass die Polizei verblüfft und nicht mehr handlungsfähig war. Sie hat dann so gehandelt, wie sie gehandelt hat, und die Wasserwerfer eingesetzt. Wie haben Sie die Proteste selbst empfunden? Hartnäckig bis über die Schmerzgrenze. Nachdem das Ergebnis der Schlichtung veröffentlicht wurde, wollten Protestler die Etage im Rathaus stürmen, wo das Ganze stattgefunden hatte. Nicht im Sinne von gewalttätig, aber schon entschlossen stürmen. Da gab es keinerlei Akzeptanz, auch nicht des Schlichterspruches. Warum hat Stuttgart 21 bundesweit für so viel Aufsehen gesorgt? Einerseits haben die Medien mit ihrer Berichterstattung dafür gesorgt; andererseits hat das Bündnis gegen Stuttgart 21 hartnäckig mobilisiert. Immer wieder montags haben sich die Massen auf der Straße getroffen. Die Zahl der Demonstranten sorgt dann auch für Aufmerksamkeit. Eigentlich erstaunlich, weil das Projekt seit 15 Jahren in der Planung und damit bekannt war. Obwohl es natürlich die ganzen Planfeststellungsverfahren mit Bürgerbeteiligung gegeben hat, hat keiner geglaubt, dass es umgesetzt würde – das ist ja das Spezifische daran. Es hieß immer wieder, dass die Finan- zierbarkeit geprüft werden müsse. Und dann standen die Bundes- und Landesmittel bereit. Als es ernst wurde, fingen sie an zu schreien. Hat sich an Stuttgart 21 einfach nur der lange gehegte Wunsch nach mehr Partizipation entladen? Ich denke, ja. Die Bürgerbeteiligungsfrage ist eine Frage, die historisch auf der Tagesordnung in Deutschland steht. Für viele Bürgerbeteiligungsformen ist dieses Land jetzt reif, Stuttgart 21 war da ein Kulminationspunkt. Damit ist natürlich ganz viel Mythos verbunden. PHOENIX hatte mit der LiveBerichterstattung die höchsten Quoten seit Jahren mit unglaublichen Marktanteilen. Woran liegt das? Da kamen unterschiedliche Faktoren zusammen. Das Phänomen Stuttgart 21 wollten erstens sicher viele Leute außerhalb von Baden-Württemberg auch sehen. Das Zweite ist, dass die NGOs, interessierte Bürger und die kritische Öffentlichkeit viel Kompetenz mit einbringen konnten. Das war faszinierend zu beobachten, wie dann die Manager oder Fachleute der Bahn sich auf Augenhöhe mit den Amateuren der anderen Seite, mit den kompetenten Bürgern, gemessen haben und wie die Bahnseite teilweise auch einräumen musste: „Interessante Frage, wissen wir auch nicht weiter, darüber haben wir uns gar keine Gedanken gemacht.“ Und drittens die Eisenbahn als Sujet, Faszination Eisenbahn. Jeder kann bei dem Thema mitreden, weil jeder die Wirklichkeit auf Bahnhöfen kennt und eine Meinung zum Bahnfahren hat. Und dann kommt eines natürlich noch hinzu: Geißler. Er war rotzfrech, geduldig, wo es sein musste, autoritär, witzig, unterhaltsam und hat über Stunden das Ganze ausgehalten. Er war der König des Verfahrens. Haben sich die Medien in der Berichterstattung zu Stuttgart 21 von der schreienden Mehrheit leiten oder gar blenden lassen? Ich würde sagen, ja. Das liegt daran, dass es einfach unglaublich viele Instrumente und Möglichkeiten der Agitation gegeben hat – Agitationsinstrumente bitte nicht historisch verstehen. Es gab etwa unglaubliche Mobilisierungseffekte über das Web 2.0. Die Instrumentarien wurden sehr modern und unglaublich effektiv eingesetzt, um a) auf der Hans-Werner Fittkau 165 Straße vor dem Bahnhof zu mobilisieren und b) die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ich fand das unheimlich. Worin haben Sie Ihre journalistische Aufgabe in Stuttgart gesehen? Einfach nur darin, die Geschehnisse abzubilden, oder auch darin, Leute zu befähigen, sich ein eigenes Urteil zu bilden? In Interviews und Analysen ging es darum, die richtigen Fragen zu stellen. Die Fragen, die man im klassischen Sinne als Anwalt der Öffentlichkeit stellt. Neutral, ausgewogen, möglichst fundiert. Und wehe, es blitzt eine Meinung durch, dann gibt es im Internet sofort einen Shitstorm. Sobald ich in der Moderation irgendetwas Tendenziöses angedeutet habe, gab es sofort Alarm. Im Internet? Ja, im Internet, weniger bei uns. Es gab Stuttgart-21-Wikis, Seiten, wo das alles verfolgt wurde. Die waren alle völlig emotionalisiert und haben dann auf jedes Augenbrauenheben, jedes Schulterzucken und jeden Satz, der irgendwie dazu geeignet war, tendenziös zu sein, hingewiesen. Es gibt sogar an Wikipedia angelehnt die gesamten Interviews, die wir gemacht haben, verschriftet. Ruhm und Ehre! Ja, das kann man so sehen. Auf der anderen Seite ist es natürlich medientheoretisch ein interessanter Prozess. In Blogs können Menschen von Beleidigungen bis Diffamierungen fast alles schreiben. Das ist eine Struktur von Medienöffentlichkeit unter Web-2.0-Bedingungen, die unglaublich viel Meinung machen kann. 166 INTERVIEWS Mit welcher Konsequenz? Das Netz nimmt Stellung. Das sind meistens nicht, vereinfacht ausgedrückt, bürgerliche Schichten. Die haben in der Regel gar keine Zeit dazu, sondern das sind Weltverbesserer und Rechthaber. Manchmal habe ich das Gefühl, es gab bei Stuttgart 21 ganze Bataillone von Wutbürgern, die dann zu Hause saßen und diese Art von Öffentlichkeit mit organisierten. Können die neuen Medien auch Menschen zum Protest motivieren, die sich nicht für ein Thema interessieren? Ja. Die Schwelle ist gesenkt. Es geht heute alles viel schneller und es ist einfacher, sich für Dinge zu interessieren und sich dann auch dafür oder dagegen zu engagieren. Früher hätte man ein Flugblatt in die Hand bekommen und man hätte zum Infostand gehen müssen. Heute geht man einfach ins Netz und schon weiß man, ob es eine Bürgerinitiative zu dem Thema gibt. NGOs nutzen Social Media deutlich mehr. Ist das ein Grund, warum sie bei Großprojekten oft die Deutungshoheit haben? Das ist eine interessante Frage. Wenn jetzt die andere Seite, der Böse, die sozialen Netzwerke ähnlich effektiv nutzen würde, würde das wahrscheinlich nur erst mal Misstrauen hervorrufen. Es würde nicht funktionieren, weil der Staat an sich der Böse ist. Der Unternehmer an sich ist der Böse, selbst wenn der über Facebook alle Register ziehen würde. Im Gegensatz dazu kommen die NGOs im Brustton der Überzeugung, des moralischen Impetus daher. Es hat eben diesen Touch von nicht profitorientiert und nicht auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet: Das ist der feine Unterschied. Das verzerrte Meinungsbild in Stuttgart ist auch der schweigenden Mehrheit geschuldet. Wie kann man eine stille Mehrheit motivieren, sich zu artikulieren? Das ist die Frage in Hinsicht auf Großprojekte. Wie kriegen Sie die Mehrheit oder die unterstellte Mehrheit dazu, dass sie sich äußert? Das Schweizer System geht da für mich in die richtige Richtung. Bevor ein Großprojekt geplant wird oder in die Bauphase geht, wird grundsätzlich darüber abgestimmt. Das führt zu erheblich mehr Akzeptanz. Sollten wir die Bürger auch über politisch strittige Fragen abstimmen lassen wie ein MinarettVerbot? Die Schweiz lässt dies zu. Ich habe mir die Frage gestellt, ob Gorleben zum Beispiel zur Abstimmung geeignet wäre. Könnte man den Bürgern überlassen, zu beurteilen, wie sicher der Salzstock ist? Und auf einer langen Zugfahrt zurück von Stuttgart bin ich zu dem Schluss gekommen: Ja, das ist richtig, weil der Bürger dann mit den gleichen Fragestellungen konfrontiert wird wie Politik und Energiewirtschaft. Du musst als Bürger eine Meinung dazu formulieren. Eine Meinung in dem Sinne, dass man sich die Notwendigkeit von Stromversorgung vergegenwärtigt. Die Bürger sind durchaus in der Lage, dazu eine Position zu erarbeiten. Das Wichtigste ist aber die Legitimierung durch die Abstimmung. Wenn es ein klares Votum gibt, erhöhen sich die Legitimität und die Durchsetzbarkeit enorm. Die Legitimierung durch die Volksabstimmung in Stuttgart war fantastisch. Brauchen wir auch gesetzlich vorgeschriebene Instrumente für Bürgerbeteiligung? Man braucht natürlich klare Definitionen für die einzelnen Ebenen. Warum hat jetzt über Stuttgart 21 nur die baden-württembergische Bevölkerung abgestimmt, mit welcher Legitimation? Schließlich steckt auch unser Steuergeld in dem Projekt. Die Bevölkerung wehrt sich heute gegen politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen gefällt und als alternativlos präsentiert werden. Warum? Das Bildungsniveau und auch das Anspruchsniveau sind bei vielen Bevölkerungsgruppen deutlich höher als früher. Die Kompetenzen und den Bildungsstand, um so nachzufragen, wie viele heute nachfragen, hatte früher nur ein kleiner Prozentsatz von Leuten. Den Zugang zu Informationen, die Möglichkeiten, zu protestieren und sich im Internet zu organisieren, haben heute dagegen viele. Sind die Leute durch das Internet wirklich informierter? Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich informierter sind als früher, aber sie sind eher in der Lage, Meinungen zu formulieren. Nach einer Umfrage glauben nur noch 20 Prozent der Deutschen, dass die Bundestagsabgeordneten wirklich auch ihre Interessen vertreten. Hängt diese Unzufriedenheit auch mit dem Bildungsniveau zusammen? Die Zahl finde ich erschreckend. Das hat für mich aber nichts mit Bildung zu tun, sondern mit allgemeiner Neidkultur, mit allgemei ner „Ich habe ein Recht auf alles Mögliche“-Kultur. Nein, weil die ganz konkreten und praktischen Folgen bisher nicht kommuniziert wurden. Hört sich an, als ob der Bürger die Welt aus einer rein egoistischen Perspektive betrachtet. Beide und viel ehrlicher. Wenn ich über die 20 Prozent nachdenke, die sie mir genannt haben, muss die Politik viel ehrlicher sein und die Energieversorgung muss transparenter agieren, wenn Projekte angegangen werden. Ja, und diese Entwicklung wird man auch nicht zurückdrehen können. Es gibt einen ganz klaren Trend zum Individualismus. Das sieht man einerseits an den öffentlichen Umgangsformen wie zum Beispiel der Gewalt unter Kindern. Andererseits gibt es ganz klar eine fortschreitende Auflösung von Lagern. Dieser Prozess der Atomisierung wird weitergehen. Wer müsste die Energiewende kommunizieren? Die Politik oder eher die Wirtschaft? Wann sollte diese Kommunikation und Transparenz beginnen? Das hängt von den Dimensionen der Projekte ab. Wenn einer eine Standard-Windkraftanlage irgendwo hin- »Die Wutwelle kommt sowieso, aber flacher.« Ist dieses Denken oder diese Haltung auch im Hinblick auf die Energiewende erkennbar? Sind die Leute nicht bereit, die Lasten zu tragen? Wenn eben möglich wollen die Leute die Lasten nicht tragen und nicht bezahlen. Insofern ist es sicherlich eine Form von Egoismus, die sich bei diesen Protestformen zeigt. Andererseits gibt es die Erfahrung, dass dort, wo vernünftig erklärt und vermittelt wird und Bürger rechtzeitig im Zuge eines Planungsprozesses informiert werden, die Einsicht dann doch überraschend groß ist. stellt, ist das etwas anderes, als wenn eine riesige Solaranlage in die Landschaft gebaut wird oder eine Starkstromtrasse durch das Erzgebirge geplant ist. In diesen Fällen würde ich immer sagen: so früh wie möglich. Die Wutwelle kommt sowieso, aber flacher. Stellt sich die Frage, ob den Leuten die Folgen der Energiewende ausreichend bewusst sind. Hans-Werner Fittkau 167 Dr. Michael Fuchs »NIMBY, NUMBY, NOMBY.« Dr. Michael Fuchs über Luxusprobleme und eine sinkende Gemeinwohlorientierung. Warum lehnen Teile der Bevölkerung viele Großprojekte oder bestimmte Technologien ab? Zur Person Der studierte Pharmazeut wurde 2002 in den Deutschen Bundestag gewählt und ist derzeit stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Wirtschaft, Mittelstand, Tourismus und Petitionen. Seit 2006 ist er Mitglied im Bundesvorstand der CDU. Zudem engagiert er sich seit den Achtzigerjahren in zahlreichen bedeutenden Wirtschaftsverbänden, unter anderem als Vorsitzender des Landesverbandes Groß- und Außenhandel Rheinland-Pfalz und als Ehrenvorsitzender des Bundesverbands des Deutschen Groß- und Außenhandels. Dr. Michael Fuchs gilt als Fachmann für Fragen der Energieversorgung und war einer der 40 Erstunterzeichner des „Energiepolitischen Appells“ von 2010. 168 INTERVIEWS Ursache ist ein Technikfeindlichkeitsproblem in Deutschland. Ein Grund dafür ist, dass wir eine Luxusgesellschaft geworden sind und alle meinen, alles müsste so bleiben, wie es ist. Weil wir so eine Luxusgesellschaft sind, haben wir auch diese Luxusprobleme und betrachten neue Technologien mittlerweile höchst skeptisch. Stuttgart 21 ist kein Einzelfall. Der Bau des Pumpspeicherwerks in Atdorf im Schwarzwald geht nur langsam voran, genauso wie der Ausbau der Autobahn A49 oder die Hochmosel-Überquerung in Rheinland-Pfalz. Ähnliche Widerstände drohen uns auch beim Bau der Hochspannungsübertragungsleitungen, die wir von Nord nach Süd bauen müssen. Da gilt das Motto: Nicht in meinem direkten Umfeld – was dahinten passiert, ist mir egal. Es gibt kein großes Infrastrukturprojekt mehr, das „smooth“ durchgeht. Es gibt sofort immer irgendwelche Wutbürger, die dagegen sind. Also sind die Proteste primär von einer eigenen Betroffenheit angetrieben? Ja, da spielen in hohem Maße Partikularinteressen eine Rolle. Es ist eine egoistischere Gesellschaft geworden. Die Leute sagen einfach: „Uns geht’s gut. Ach nee, das soll alles so bleiben, wie es ist.“ Die sehen den direkten Zusatznutzen nicht, den die Maßnahmen den Menschen persönlich bringen. Ein 78-jähriger Demonstrant in Stuttgart hat mir gegenüber seinen Protest mal damit begründet, dass er die nächsten zehn Jahre keinen Baulärm und keinen dauerhaften LkwVerkehr vor seiner Haustür haben will. Die Verbesserungen für die Allgemeinheit haben den überhaupt nicht interessiert. Da ging es nur um seine persönlichen Nachteile während der Bauphase. Die Verbesserung der Infrastruktur oder der Nutzen für die Umwelt ist einem Teil der Bevölkerung schlicht gleichgültig. Das ist dasselbe bei vielen anderen Protesten wie zum Beispiel bei der Gentechnologie oder jeder Technik, die mit Strom zusammenhängt, der Kernkraft angefangen über CCS bis zum Fracking. Wir sind eine Gesellschaft, die sehr saturiert ist, die im Prinzip wesentliche Probleme nicht hat, weil alle Probleme weitestgehend gelöst zu sein scheinen. Wurde in Baden-Württemberg deutlich genug gemacht, worum es bei Stuttgart 21 geht? Ja, ich denke schon. Das Projekt war immerhin viele Jahre lang in Planung. Das Thema wurde zigmal im Stadtrat von Stuttgart behandelt und alle Presseorgane haben darüber berichtet. Die Bevölkerung hätte eigentlich informiert sein müssen. Als die endgültige Baugenehmigung da war und die Bagger kamen, ging der ganze Krach los. Auch der Volksentscheid hat ja nicht dazu geführt, dass die Proteste und Demonstrationen aufhörten. Das ist keine ausgeprägte demokratische Einstellung. Wenn es eine mehrheitliche Entscheidung gibt, muss diese auch akzeptiert werden und dann muss Feierabend sein. Hat Sie das Ergebnis des Volksentscheids überrascht? Nein. Ich habe damit gerechnet. Seit Stuttgart 21 gibt es eine breite Diskussion über mehr Beteiligungsmöglichkeiten. Wie stehen Sie grundsätzlich zum Thema Bürgerbeteiligung? Prinzipiell finde ich Bürgerbeteiligung richtig, aber man muss auch eine Struktur finden, die Planungs- verfahren nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögert. Es muss einen Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung geben. Man muss irgendwann sagen, das machen wir jetzt so. Das ist Aufgabe und Verantwortung der Politik. Außerdem müssen wir die Frage beantworten, wie man Bürgerbeteiligung institutionalisiert. Wann fängt Bürgerbeteiligung an und wer wird beteiligt? Nur die direkt Betroffenen oder alle? Hinsichtlich solcher Fragen gibt es noch zu wenig Klarheit. Haben Sie eine Idee, wie das gehen kann? Beispielsweise durch eine frühere Öffentlichkeitsbeteiligung in Form von Bürgerforen oder kommunalen Zukunftskonferenzen, die das anschließende Planfeststellungsoder Genehmigungsverfahren bei Großvorhaben besser vorbereiten sollen. Dies könnte eine Möglichkeit sein, um Konflikte frühzeitig zu bereinigen oder gar zu vermeiden. Gibt es im bestehenden formalen Verwaltungsrecht genug Möglichkeiten für Bürgerbeteiligung? Natürlich gibt es die, wenn ich allein an die umfassenden prozes- sualen Möglichkeiten denke, die jeder hat. Vielleicht muss man das aber noch ein Stück transparenter machen. So soll künftig die öffentliche Bekanntmachung von Planunterlagen im Internet möglich sein. Denken Sie, dass Volksabstimmungen auch auf Bundesebene sinnvoll wären? Volksabstimmungen können auf kommunaler Ebene sinnvoll sein, aber wir sind eine parlamentarische Demokratie, und wenn wir so weit gehen, dass wir über jedes Großprojekt oder jede politische Maßnahme das Volk abstimmen lassen, tut das dem Land nicht gut. Bei Änderungen des Grundgesetzes kann man dagegen über Volksabstimmungen nachdenken. Die Schweiz hat die direkte Demokratie und fährt damit ganz gut, was die Akzeptanz von Projekten betrifft. Warum ist das kein Modell für Deutschland? Das Schweizer System finde ich gar nicht schlecht, weil die Bevölkerung eine Alternative hat. Wenn zum Beispiel in einem Kanton ein Schwimmbad gebaut werden soll, ist die Konsequenz, dass die Bürger dafür auch höhere Steuern zahlen müssen. Dr. Michael Fuchs 169 Jeder Einzelne kann dann selbst entscheiden, ob er das möchte oder nicht. Aber das sind Entscheidungen auf kommunaler Ebene. Die Kantone sind teilweise so groß wie 98 Metern riesig sind und an den Flügelenden sowie am Rotorkopf rote Lampen befestigt werden. Die Gegner stören sich an diesen roten Lampen, weil sie abends bis ins »Das Schweizer System finde ich gar nicht schlecht.« unsere Landkreise. In diesem Rahmen ist das machbar. In Deutschland ist das auf der Bundesebene nicht umsetzbar. Die Bürger scheinen oft zwiegespalten. Sie sind für den Personennahverkehr, aber gegen den Bahnhof, sie sind für erneuerbare Energien, aber gegen das Windrad. Wie erklären Sie sich die Widersprüche? Das ist das Problem, das ich immer als NIMBY, NUMBY, NOMBY bezeichne. Not in my backyard, not under my backyard and not over my backyard. Den Leuten ist es egal, wenn ein Projekt woanders realisiert werden soll, Hauptsache nicht vor der eigenen Haustür. Kennen Sie solche Widersprüche aus Ihrer politischen Arbeit? Ja. Bei uns in Koblenz soll zum Beispiel ein Windpark am Rand der Stadt gebaut werden. Da gibt es Grüne, die sich für Windenergie starkmachen und flammende Reden für Windparks halten. Jetzt organisieren sie den Protest und Demonstrationen gegen diesen Windpark am Stadtrand. Der Grund ist, dass diese Windräder mit einer Höhe von 170 INTERVIEWS Wohnzimmer blinken. Wir können darauf aber wegen des Luftverkehrs nicht verzichten. Wie kann man solche Widersprüche auflösen und wieder eine größere Gemeinwohlorientierung erreichen? Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Infrastrukturprojekten und deren Vorteile müssen meines Erachtens noch stärker herausgestellt werden. Nur so wird es uns gelingen, einen gesellschaftlichen Grundkonsens über die Notwendigkeit solcher Infrastrukturprojekte zu finden. Tut die Wirtschaft genug, um Konsequenzen, die aus der Energiewende resultieren, aufzuzeigen? Erklärt sie sich genug? Nein. Die Industrie hat sich bei der Energiewende bisher nicht klug verhalten. Das liegt unter anderem daran, dass sie widersprüchliche Interessen und keine einheitliche Position hat. Dabei spielen auch Partikularinteressen eine große Rolle. Der BDI muss seine gegensätzlichen Interessenlagen überwinden und zu einer gemeinsamen Linie finden. Solange er dies nicht schafft, darf sich die Industrie über den massiven Gegenwind nicht wundern. Meine Befürchtung ist, dass uns die Energiewende insgesamt auseinandertreibt. Ist der Industriestandort Deutschland durch die aktuellen Widerstände gegen Großprojekte in Gefahr? Ja, die Gefahr sehe ich. Deswegen werde ich nicht müde zu sagen, dass wir ein Industrieland sind und das auch bleiben müssen und dass wir dafür alles erdenklich Notwendige tun müssen. Das ist für mich von zentraler Bedeutung. Ich möchte keine englischen Verhältnisse haben, wo rund 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der City of London erzeugt werden. Das ist nicht gesund und die Engländer wären froh, wenn sie wieder annähernd solche industriellen Strukturen hätten, wie wir sie in Deutschland haben. Welche konkreten Erwartungen haben Sie als Politiker an die Wirtschaft? Die Wirtschaft muss sich erst mal selbst einig werden und eine eindeutige Haltung entwickeln. Die Wirtschaft kann auch nicht über zu hohe Energiepreise jaulen und gleichzeitig der Bevölkerung nicht erklären, warum niedrige Energiepreise für sie und für den Standort notwendig sind. Da besteht ein Informationsund Aufklärungsdefizit. Da passiert aufseiten der Industrie zu wenig. Dr. Michael Fuchs 171 Prof. Manfred Güllner »Die Mehrheit war voller Wut über die Wutbürger.« Prof. Manfred Güllner über das Missverständnis der Mitmachpolitik und die Chancen kommunaler Marktforschung. In der Debatte um Stuttgart 21 entstand der „Wutbürger“. Was halten Sie davon? Der Begriff vom „Wutbürger“ ist von Anfang an großer Unfug gewesen. Wir haben durch den Volksentscheid gesehen, dass es keine Mehrheit gegen, sondern eine Mehrheit für den neuen Bahnhof gibt. Dass man die Proteste zum Aufstand der „Wutbürger“ hochstilisiert hat, die in der ganzen Republik protestieren, hatte mit der Realität nichts zu tun. Die Mehrheit war vielmehr voller Wut über die „Wutbürger“ und hat sie durch das Votum abgestraft. Zur Person Prof. Manfred Güllner ist Geschäftsführer des 1984 von ihm gegründeten Meinungsforschungsinstituts forsa in Berlin. Zuvor war er Direktor des Statistischen Amts der Stadt Köln. forsa gilt als eines der führenden Markt- und Meinungsforschungsinstitute Deutschlands. Der Professor für Publizistik ist Autor der wöchentlichen Kolumne „Was bewegt Deutschland“ auf Cicero-Online. 172 INTERVIEWS Haben die Medien also Zerrbilder produziert? Ja, das war in Stuttgart so und dafür gibt es zahlreiche andere Beispiele. Es ist leider häufig so, dass die Medien über die Meinungen von Menschen falsch berichten. Oft werden beispielsweise Umfrageergebnisse vollkommen fehlinterpretiert oder aus dem Zusammenhang gerissen. Sehen Sie da eine besonders große Verantwortung der Leitmedien? Ich bin nicht sicher, welche Rolle die Leitmedien noch spielen. Sicherlich lesen die Journalisten der anderen Medien die großen überregionalen Tageszeitungen, was sich dann auch in der Berichterstattung der regionalen Medien niederschlägt. Die regionalen Medien spielen aber für die meisten Menschen eine größere Rolle als die überregionalen. Welche Rolle spielen die digitalen Medien? nem Balkon auf die Baustelle gucken möchte, oder wenn man in Berlin gegen den Flughafen protestiert, weil man sich gerade in Zehlendorf ein Haus gekauft hat und jetzt Flugzeuge übers Grundstück fliegen sollen. Aber es ist nicht die Wut der „Wutbürger“, die hier zum Vorschein kommt, sondern es sind Partikularinteressen. Durch das Internet sehe ich eine große Gefahr, dass Verzerrungen noch zusätzlich überzeichnet werden. Zum Beispiel sieht man bei Stuttgart 21 im Netz nur Gegner und denkt, die ganze Welt sei gegen das Projekt. Menschen, die sich in der wirklichen Welt nicht artikulieren, tun das auch nicht im Netz. Von daher birgt das Internet die Gefahr, dass bestimmte Meinungen einseitig dominieren und einen falschen Eindruck vom wahren Meinungsbild in der Gesellschaft vermitteln. Haben sich die Proteste in den letzten Jahren verändert? Wie erklären Sie sich die Proteste gegen Stuttgart 21 oder andere Infrastrukturvorhaben? Das hängt vom Thema ab. Die Energiefrage ist stark ideologisch überlagert. Die Einstellung zur Energie ist stark von der parteipolitischen Orientierung abhängig. Auch die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV waren ideologisch motiviert. Auslöser sind Partikularinteressen. Man kann auch nachvollziehen, dass man in Stuttgart protestiert, weil man nicht jahrelang von sei- Zunächst glaube ich nicht, dass es eine größere Intensität gibt. Die Bilder der Proteste vermitteln oft einen völlig falschen Eindruck. Häufig sind weniger Leute beteiligt, als die Bilder vermitteln. Was möglicherweise zugenommen hat, ist die Bereitschaft von Bürgern, die von Projekten betroffen sind, zu protestieren. Spielen ideologische Gründe auch eine Rolle? Machen sich Partikularinteressen in den lezten Jahren immer stärker bemerkbar? Ich glaube, da ist etwas dran. Das hat natürlich auch mit der grünen Bewegung zu tun. Denn die hat ja die Individualisierung der Gesellschaft und die Selbstverwirklichung gefordert. Öffentliche Tugenden wurden niedergemacht und haben mittlerweile auch an Wert verloren, das sieht man in vielen Studien. Das liegt auch daran, dass der Alltag brutaler geworden ist und die Leute gelernt haben, dass sie ihre Interessen maximal wahren müssen. Die Ellenbogengesellschaft ist sozusagen internalisiert worden. Haben daran auch Unternehmen einen Anteil? Ja, denn sie haben vor einigen Jahren verstärkt den Shareholder-Value zum Hauptprinzip erhoben und die soziale Verantwortung von sich geschoben. Wobei es da einen großen Unterschied in der Wahrnehmung von kleinen und großen Unternehmen gibt. Wir haben ein Beispiel aus der ersten Banken- und Finanzkrise: Die Sparkassen, die vorher als altbacken galten, haben in der Krise Vertrauen gewonnen. Die großen Banken dagegen sind inzwischen ganz unten in unserem Vertrauensranking. Sie konstatieren über die Jahre einen Vertrauensverlust im Hinblick auf Wirtschaft und Politik. Wem vertrauen die Menschen heute? Das Amt des Bundespräsidenten genießt – trotz aller Turbulenzen um die letzten Amtsinhaber – unter den politischen Institutionen immer noch das größte Vertrauen. Dann kommen die Sicherheitsorgane – Polizei, Gerichte, Bundeswehr –, die Mediziner, die Wissenschaft sowie Stadt- und Gemeindeverwaltungen. Obwohl die Menschen auf lokaler Ebene vergleichsweise weniger oft wählen gehen, ist dort das Vertrauen in die Politik noch am höchsten. Sehr wenig Vertrauen hat man zu politischen Parteien, danach kommen Manager von Großunternehmen und Werbeagenturen. NGOs, insbesondere im Umweltbereich, sind hoch angesehen, genauso wie alles andere, was mit Ökologie zu tun hat. Es gibt einen Vorschlag, dass Projektbetreiber zwei Prozent der Projektmittel NGOs und BürgerProf. Manfred Güllner 173 initiativen für die Erstellung von Gutachten oder für Dialogmaßnahmen zur Verfügung stellen, um Waffengleichheit herzustellen. Was halten Sie davon? Das halte ich für absurd. NGOs und Bürgerinitiativen haben oft schon eine Resonanz, die gar nicht ihrer wirklichen Verankerung bei den Bürgern entspricht. Deshalb sollten Projektinitiatoren prüfen, wer sich überhaupt artikuliert. Denn das ist eventuell nur eine ganz kleine Minderheit, deren Vorschläge aber überproportional berücksichtigt werden. Dasselbe Problem besteht übrigens auch schon im normalen Planungsverfahren. Und dann wundert man sich vonseiten der Politik, wenn die Mehrheit am Schluss mit dem Projekt nicht einverstanden ist. Die wenigen, die sich beteiligen, sind oft selbst ernannte Advokaten, die die Entwicklung in eine bestimmte Richtung beeinflussen. Bevor ich denen mehr Geld und Einflussmöglichkeiten gebe, sollte man erst mal untersuchen, was die Mehrheit der Menschen eigentlich denkt. Sollte man die Bevölkerung stärker über repräsentative Verfahren einbeziehen? Ja, man sollte sich anschauen, was die Mehrheit wirklich denkt. Denn nur wenige nutzen die Möglichkeit, bei Anhörungen im Planfeststellungsverfahren mitzusprechen. Wenn man die Meinung dieser Minderheiten in Entscheidungen einfließen lässt, muss man die Meinung der restlichen Bevölkerung ebenso berücksichtigen. Sollte man deren Einstellung in einer frühen Phase des Projekts 174 INTERVIEWS ermitteln und das mit zum Gegenstand der Entscheidung machen? Ja. Das heißt natürlich nicht, dass die Mehrheitsmeinung eins zu eins umzusetzen ist. Aber ebenso darf die Meinung der Minoritäten nicht unbesehen übernommen werden. Wenn man Letzteres macht, dann entsteht ein zunehmendes Vertrauensvakuum. Meinen Sie das mit „Missverständnis der Mitmachpolitik“, das Sie vielfach beschreiben? Die Mitmachpolitik darf nicht dazu führen, dass man nur Partikularinteressen Chancen gibt. Das wäre absolut fatal. Man sieht, dass vordergründig „bürgerfreundliche“ Partizipationsangebote nicht zu mehr, sondern zu immer geringerer Beteiligung führen. Zudem sprechen sie primär das „grüne“ Bildungsbürgertum an und führen dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung, die nicht über die erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit bürokratischen Ritualen verfügen, in immer stärkerem Maße von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen fühlen. Die Politik ruft nach mehr Beteiligung – delegiert sie damit Verantwortung an den Souverän zurück? Ja, aber der Souverän schaut dabei fassungslos zu. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der es bestimmte fachkundige Professionen gibt. Dazu gehören auch die Politiker, weil die politischen Entscheidungen kompliziert sind und sich meistens nicht mit Ja oder Nein beantworten lassen. Wenn die Politik nicht mehr weiterweiß und Entscheidungen an das Volk zurückde- legiert, wendet sich ein Teil der Bevölkerung von der Politik ab. Den meisten Bürgern reicht es, alle vier oder fünf Jahre ihr Urteil über die Arbeit der Politik abzugeben. Zwischen den Wahlen soll die Politik ordentlich arbeiten. Daher sollte man nicht noch mehr unausgereifte Angebote zur Schein-Partizipation machen, sondern wieder zu einer Politik zurückkehren, die die Interessen aller Schichten der Bevölkerung beachtet. Also führen auch mehr Volksentscheide nicht zu mehr Akzeptanz? Volksentscheide halte ich in den meisten Fällen nicht für sinnvoll. Das Absurdeste, was ich in diesem Zusammenhang erlebt habe, war die Abstimmung über den Godorfer Hafen im Jahr 2011 in Köln. Kaum jemand in Köln weiß, wo Godorf eigentlich liegt, nämlich ganz im Süden, mit einem kleinen Hafen. Die Tanker, die die Chemieindustrie beliefern, warten auf dem Rhein und stellen damit ein Gefährdungspotenzial dar. Dieses Thema wird schon seit Jahren diskutiert. CDU und SPD sind deshalb dafür, dass der Hafen ausgebaut wird, damit die Schiffe nicht auf dem Rhein liegen, sondern den Hafen nutzen können. Die Grünen sind dagegen. Anstatt dass CDU und SPD im Rat, wo sie eine Mehrheit hatten, die Entscheidung für den Ausbau des Hafens trafen, haben sie eine Volksabstimmung beschlossen. Das Quorum lag mit 15 Prozent ohnehin schon sehr niedrig, doch nur 14,8 Prozent haben abgestimmt. Und das kostete eine Million Euro. Nun muss es die Politik doch selbst entscheiden und hat eine Million Euro zum Fenster rausgeschmissen. Das kann das Ergebnis sein, wenn man mehr direkte Beteiligung fordert. Es wäre besser gewesen, mithilfe einer Umfrage zu ermitteln, wer eigentlich in Köln weiß, wo Godorf liegt und dass es da einen Hafen gibt. Das Ergebnis wäre gewesen, dass über 90 Prozent weder das eine noch das andere wissen. Und wenn die Leute davon nichts wissen, kann man sie auch nicht darüber abstimmen lassen. Aber als Geschäftsführer des forsa-Instituts reden Sie ja natürlich auch pro domo? Ich habe kommunale Marktforschung schon lange vor meiner Zeit bei forsa empfohlen. Im Übrigen wurde schon im Skeffington Report Ende der Sechzigerjahre in Großbritannien empfohlen, kommunale Marktforschung einzusetzen, da man bei direktdemokratischen Elementen zu verzerrten Einsichten kommt. Und was erwarten Sie von der Wirtschaft? Unternehmen, insbesondere im Energiebereich, müssen versuchen, wieder Vertrauen zurückzugewinnen, das einmal vorhanden war. Hierfür ist es auch sinnvoll, den lokalen Bezug wieder stärker in den Vordergrund zu ist das Bild der Industrie positiver geworden. Die Akzeptanz der Industrie scheint wieder etwas größer zu werden, als sie es in den letzten Jahren war. Dazu hat wohl auch die Banken- und Finanzkrise beigetragen, sodass sich die Menschen wieder nach etwas Handfesterem und »Durch das Internet sehe ich eine große Gefahr, dass Verzerrungen noch zusätzlich überzeichnet werden.« stellen. Wenn das Vertrauen in ein Unternehmen wächst, wächst auch das Vertrauen in die Projekte, die das Unternehmen angeht. Was erwarten Sie von der Politik? Welche Bedeutung hat die heimische traditionelle Industrie in der heutigen Zeit? Die Politik muss schauen, was die Leute wirklich wollen. Wenn beispielsweise nur eine Minderheit gegen ein Projekt ist, wie einen Bahnhof oder einen Flughafen, und die Mehrheit dafür ist, kann die Politik ganz anders argumentieren und handeln. Im Fall von Stuttgart 21 haben die Medien den Eindruck erweckt, dass die Mehrheit gegen den Umbau des Bahnhofs sei. Wenn damals klarer gewesen wäre, dass die Mehrheit eigentlich dafür ist, hätte man anders über das Projekt diskutieren können. Umgekehrt ist es natürlich auch so, dass, wenn 60 oder 70 Prozent gegen ein Projekt sind, man dann darüber noch einmal grundsätzlich nachdenken sollte. Die Industrie wurde lange Zeit diskreditiert. Wenn auch in der Politik vermittelt wird, dass man die Industrie nicht mehr braucht, muss man sich nicht wundern, wenn die Menschen diese negative Einstellung übernehmen. Aber hier gibt es Anzeichen für eine Renaissance der Industrie. In Untersuchungen haben wir gesehen, dass zum Beispiel das Ruhrgebiet wieder im positiven Sinne als Industriestandort wahrgenommen wird. „Kohle“ ist immer noch das überlagernde Bild, aber es ist deutlich schwächer geworden. 2008 haben noch 52 Prozent „Kohle“ spontan mit dem Ruhrgebiet assoziiert. Jetzt sind es 19 Prozent weniger geworden, und dafür Ehrlicherem sehnen. Aber wie gesagt, wenn jeder darüber redet, dass wir uns in eine Dienstleistungsgesellschaft verwandeln müssen und Industrie etwas Schlechtes ist, dann bleibt eine negative Haltung zur Industrie nicht aus. Prof. Manfred Güllner 175 Regine Günther »Ich sehe nicht, dass der Industriestandort Deutschland gefährdet ist.« Regine Günther über die Energiewende, die Rolle der Wirtschaft und das Bild der Unternehmen. Zur Person Die studierte Politikwissenschaftlerin leitet seit September 1999 den Fachbereich Klima- und Energiepolitik des WWF. Zuvor war sie unter anderem Geschäftsführerin bei den Kritischen Bayer-Aktionären, Projektleiterin bei der Berliner Energieagentur und Consultant bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Frau Günther hält einen Umstieg auf 100 Prozent Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien in Deutschland bis zum Jahr 2050 für möglich. 176 INTERVIEWS Die Wirtschaft befürchtet, dass der Industriestandort Deutschland durch die Energiewende gefährdet ist. Ist das nur Schwarzmalerei? pensiert worden. Es wurden Ausnahmetatbestände mit Vorteilen in Milliardenhöhe geschaffen. Die Energiewende ist eine große Innovationschance für die Wirtschaft. Ich sehe nicht, dass der Industriestandort Deutschland dadurch gefährdet ist. Die Industrie wird in weiten Teilen von zusätzlichen Zahlungen befreit: beim ErneuerbarenEnergien-Gesetz, bei der Stromsteuer und auch den Netznutzungsentgelten. Im Rahmen des Emissionshandels erhält die Industrie die Zertifikate fast ausschließlich kostenlos zugeteilt. Der WWF konnte sogar nachweisen, dass der Emissionshandel auch der Industrie Zusatzgewinne in dreistelliger Millionenhöhe beschert hat. Es darf nicht vergessen werden, dass durch den enormen Ausbau der erneuerbaren Energien der Großhandelspreis um 20 Prozent gesunken ist. Ein weiterer Vorteil für den Industriestandort Deutschland. Experten gehen davon aus, dass die Strompreise steigen werden. Zuletzt hat sich die dena so geäußert. Die Industrie argumentiert mit dem internationalen Wettbewerb. Durch die Energiewende entstünden ihr Nachteile. Das kann ich nicht erkennen. Die potenziellen Nachteile sind kom- Die Strompreise wären auch ohne Energiewende gestiegen. Die Zeit der billigen, abgeschriebenen Kraftwerke, die noch in Monopolzeiten errichtet wurden, ist vorbei. Jetzt muss so oder so investiert werden. Sowohl die Kosten für den Bau konventioneller Kraftwerke als auch die Preise für konventionelle Brennstoffe wie Öl, Kohle und Gas sind seit 2005 eklatant gestiegen. Ein Kostentreiber. Ganz abgesehen von der Klimaproblematik stellt sich die Frage, ob wir weiter auf Brennstoffe mit hoher Preisvolatilität setzen möchten. Damit wären wir festgelegt, jährlich Milliarden Euro ins Ausland zu transferieren. Die Alternative ist, die erneuerbaren Energien schnell auszubauen und so rund ein Prozent unseres BIP, das jetzt für Brennstoffe ins Ausland fließt, im Inland zu investieren. Wir müssen jetzt entscheiden, ob wir unsere ökonomische Verletzbarkeit gegenüber instabilen Regionen in der Welt vermindern. Der Anteil der Erneuerbaren am Strompreis beträgt augenblicklich nur 14 Prozent. Die Höhe der zukünftigen Energiepreise hängt aber entscheidend von der Ausgestaltung des neuen Marktdesigns ab. Wenn die Energiewende nicht so schnell umsetzbar ist wie geplant, brauchen wir eine Brückentechnologie. Sind Kohlekraftwerke ein gangbarer Weg? Die bestehenden Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen, werden für die Versorgungssicherheit noch eine ganze Zeit benötigt. „Brückentechnologie“, verstanden als neu zu bauende Kraftwerke, können aber nur neue Gaskraftwerke und keine neuen Kohlekraftwerke sein. Neue Kohlekraftwerke haben eine Laufzeit von rund 50 Jahren. Wenn wir unsere Klimaziele einhalten wollen, müssen alle Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen, spätestens 2050 abgeschaltet werden. Um „Stranded Investments“ zu verhindern, muss gerade bei langlebigen Kapitalstöcken sehr genau überlegt werden, in welche Technologie wir investieren. Energieszenarien zeigen sehr deutlich, dass wir nicht auf neue Kohlekraftwerke angewiesen sind, um Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten. Gaskraftwerke sind eine sehr gute Alternative. Experten kritisieren das Fehlen von Strukturen, mit denen die Energiewende erfolgreich gemeistert werden kann, und fordern ein Energieministerium. Sie auch? Ich bin keine Anhängerin eines Energieministeriums. Energie ist ein hochpolitisches Feld mit Gegensätzen, die im Moment hauptsächlich zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium ausgetragen werden. Aber auch das Verkehrs- und Bauministerium spielt für die Energiewende eine entscheidende Rolle. Sollen all diese Kompetenzen zusammengefasst werden? Mit einem Energieministerium ändern sich nicht die zentralen politischen Streitfelder, sondern sie werden statt auf Ministerebene auf Referatsleiterebene ausgetragen. Ich halte dies nicht für sinnvoll, sondern bin fest davon überzeugt, dass wir eine strukturierte Koordination brauchen. Die fehlt bisher in der Tat. Die Idee des Nationalen Forums Energiewende finde ich sehr charmant. Eine Organisation, die alle wichtigen Player ins Boot holt, die die zentralen Fragen bearbeitet und gemeinsam Lösungen erarbeitet mit dem Willen zur Veränderung. Warum ist das Bild der Wirtschaft in der Öffentlichkeit so negativ, das der NGOs so positiv? Ich glaube nicht, dass das Ansehen der Wirtschaft insgesamt schlecht ist. Im Gegenteil. Die Menschen wissen, dass eine funktionierende Wirtschaft das Rückgrat unseres Wohlstandes ist. Das Ansehen der Handwerksbetriebe ist in Umfragen sehr hoch. Ein Problem haben in der Tat in der Energiewirtschaft die vier großen Energieversorger. Um die politischen Entscheidungsträger im Herbst 2010 öffentlich in Richtung Laufzeitverlängerung unter Druck zu setzen, wurden von den vier Energieversorgern in vielen deutschen Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen geschaltet. Die Menschen haben das als unverhohlenen Druck und als Unverfrorenheit wahrgenommen. Die Bevölkerung hat genau realisiert, dass bei der damaligen – und heute revidierten – Entscheidung für die Laufzeitverlängerung den vier großen Energieversorgern Milliarden Euro Regine Günther 177 Zusatzgewinne bewilligt wurden – auf Kosten der Bürger, der Sicherheit, des gesellschaftlichen Friedens und zulasten von vielen mittelständischen Unternehmen. Wenn Unternehmen so agieren und in Kauf nehmen, dass sie die Gesellschaft vollkommen gegen sich aufbringen, damit sie einen höheren Gewinn machen, dann ist das miserable Image der zu zahlende Preis. Eine breite Mehrheit der Bevölkerung hält die Energiewende für richtig. Trotzdem wehrt man sich gegen Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite. Die Einschätzung, dass die Menschen per se keine neuen Stromleitungen oder Windräder akzeptieren, halte ich für nicht belastbar. In allen Umfragen sehen wir, dass der eingeschlagene Weg für richtig gehalten wird. Wir haben die energiewend sogenannten „Bürgerdialog“, der von Ministerin Schavan initiiert wurde. Keiner der daran Beteiligten äußerte sich per se gegen notwendige Infrastrukturmaßnahmen. Wie kann man Konflikte bei der Trassenfindung oder dem Aufstellen von Windrädern auflösen? Es hat sich gezeigt, dass eine Beteiligung im vorrechtlichen Raum eine sehr gute Möglichkeit ist, Menschen frühzeitig mitzunehmen. Davon wird noch viel zu selten Gebrauch gemacht. Wir brauchen Transparenz, Beteiligung und gegebenenfalls auch monetäre Kompensationen, wenn es notwendig ist. Die Anliegen der Betroffenen müssen so weit wie möglich Eingang in den Entscheidungsprozess finden. Es muss in einem sehr gut strukturierten Verfahren deutlich gemacht werden, dass die Eingriffe für den »Die Idee des Nationalen Forums Energiewende finde ich sehr charmant.« begonnen und den Anteil der Erneuerbaren Energien von vier Prozent im Jahr 2000 auf 20 Prozent gesteigert. Wenn die Verbraucher das nicht gewollt hätten, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Bei den kommenden Schritten geht es nun um die stärkere Einbindung und Beteiligung der Betroffenen und um die Entwicklung von Konzepten, die von der Gesellschaft akzeptiert werden. Hier müssen die Menschen viel offensiver mitgenommen werden. Ich war stark involviert bei dem 178 INTERVIEWS Erfolg der Energiewende notwendig sind und mögliche Alternativen und Anpassungsmaßnahmen berücksichtigt wurden. Am Ende wird es ein rechtsstaatliches Verfahren mit allen Konsequenzen sein. men ein Investitionshindernis ist und diese dann lieber im Ausland investieren? würden. Hier wäre geregelt, wie solche Verfahren gestaltet werden und welche Regeln gelten sollen. In solch einem Rahmen müsste man sich darauf verständigen, dass beispielsweise persönliche Diffamierungen ausgeschlossen bleiben, alle Informationen offengelegt werden und beide Seiten ihre Wünsche adressieren können. Respektvoller Umgang miteinander ist die Grundvoraussetzung für jede Kommunikation unter Menschen. Das erwarte ich von beiden Seiten. Ich sehe zu einer umfassenden Beteiligung keine Alternative. Unternehmen, die keine rechtsstaatlichen Prozesse möchten, müssen sich dann in der Tat einen anderen Standort für ihre Investition suchen. Doch auch in anderen Ländern möchten Menschen ihre Zukunft und ihre Region mitgestalten und akzeptieren nicht passiv alle Anordnungen aus der Verwaltung und der Regierung. Und da sehen Sie einiges im Argen? Es ist also kein rein deutsches Phänomen? Ich sehe hier Verbesserungsbedarf. Mediationsverfahren können helfen, die Kommunikation zu optimieren. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass es nicht nur um Kommunikation geht, sondern auch um unterschiedliche Interessenlagen. In den Verfahren müssen sie sehr klar benannt werden. Bei allem Bemühen um einen Konsens: Es mag einen Punkt geben, an dem die Interessen nicht zusammenzubringen sind. Dann muss der Staat entscheiden. Natürlich nicht. Die Menschen wollen auch in anderen Regionen der Welt beteiligt werden. Wenn die Industrie mit Abwanderung droht, dann scheint dies oft nur ein Drohszenario zu sein. Die Möglichkeiten für viele Industrien, Märkte mit ähnlich gut ausgebauter Infrastruktur, gut ausgebildeten Arbeitskräften und sozialem Frieden zu finden, sind doch überschaubar. ThyssenKrupp durfte gerade Erfahrungen in Brasilien sammeln, wie teuer Investitionen in sogenannten Billigregionen sind. Viele Industrien müssen nah an den Absatzmärkten produzieren, andere haben so überdimensionierte Vergünstigungen in Deutschland erhalten, dass es keinen Grund gäbe, eine Standortverlagerung auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen. Nur eine sehr kleine Gruppe von Industriezweigen ist wirklich durch außereuropäische Konkurrenz bedroht. In jedem Fall gilt: Man muss sich immer mit den lokalen Gegebenheiten auseinandersetzen. Und in Deutschland gehört zu den lokalen Gegebenheiten, dass die Bürger bei entscheidenden Eingriffen in ihre Region mitreden möchten. Sehen Sie denn auch Risiken durch Bürgerbeteiligung? Wer kann in diesen Prozessen vermitteln oder wen sehen Sie in der Verantwortung, diese Beteiligungsprozesse maßgeblich zu steuern? Im besten Fall führt Bürgerbeteiligung zu einer Beschleunigung der Prozesse, da viele Gerichtswege nicht beschritten werden und langwierige Verfahren verkürzt werden können. Zur Wahrheit gehört aber, dass eine umfassende Beteiligung der Betroffenen ein Spagat ist. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto länger könnte ein Verfahren dauern. Es wäre ein guter Schritt, wenn wir einen Code of Conduct einführen Können Sie sich vorstellen, dass Bürgerbeteiligung für Unterneh- Die Proteste von Bürgern gegen Großprojekte haben zugenommen. Was sind die Gründe, die eigene Betroffenheit und die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität? Die Aussage teile ich in dieser Absolutheit nicht. Es gab auch schon in der Vergangenheit Widerstand im großen Maßstab. Denken Sie an Wyhl, Brokdorf, die Startbahn West in Frankfurt oder Gorleben. Hier waren die berechtigte Befürchtung einer Verschlechterung der Lebensqualität und die Angst um die eigene Gesundheit im Falle eines Strahlungsunfalles die ausschlaggebenden Gründe. Jetzt ist die Ausgangslage verändert. Die meisten Menschen unterstützen die Zielrichtung der Energiepolitik. Wurden die Proteste früher nur weniger wahrgenommen als heute? Sie wurden sogar sehr stark wahrgenommen. Deshalb steigen wir aus der Atomenergie aus. Fukushima war der konkrete Anlass, aber nicht der Grund. Wir sind ausgestiegen, weil die Bevölkerung seit Mitte der Siebzigerjahre gegen Atomkraft demonstriert hat. Wir haben den Ausstieg intellektuell vorbereitet. Und wir sind natürlich ausgestiegen, weil wir in den letzten zehn Jahren erlebt haben, dass wir funktionierende Alternativen wie Windenergie haben, die nicht Nischenprodukte bleiben müssen. Stuttgart 21, wo es um den Umbau eines Bahnhofs geht, würde ich als Sonderfall sehen. und Wirtschaft deutlich zurückhaltender. Woran liegt das? Die These ist reine Spekulation. Unternehmen kaufen sich gerne mal eine Seite in den großen etablierten Zeitungen. Vor wichtigen Entscheidungen räumen Meinungsführermedien auch Platz für ein Interview mit dem CEO ein. Insofern fühlen sich Unternehmen in traditionellen Medien sehr gut aufgehoben. NGOs haben solche Möglichkeiten nicht in dieser Regelmäßigkeit. Social Media sind da kostengünstiger und erreichen viele Menschen, setzen aber ein gewisses Maß an Schnelligkeit voraus. Dies fehlt gerade großen Unternehmen sehr häufig. Plakativ gesprochen: Bis in einem Unternehmen ein Foliensatz abgestimmt ist, können Wochen vergehen. Twittern muss man aber in Minuten. Insofern sind Social Media die FAZ der „kleinen Leute“. NGOs haben sich in den letzten Jahren sehr professionalisiert. Glauben Sie, dass damit ihre Deutungshoheit gestiegen ist? Nicht nur NGOs, alle haben sich professionalisiert. Der Unterschied ist, dass NGOs stark komplementär zueinander arbeiten. Die einen sind eher eine Art Thinktank wie wir. Andere sind kampagnenorientierter und wieder andere sind sehr stark im Feld aktiv und in den Regionen verankert. Das Zusammenwirken macht die Schlagkraft aus. NGOs spielen dabei eine große Rolle. Sie organisieren sich stark über das Internet. Da sind Politik Regine Günther 179 Prof. Dr. Justus Haucap »Die Wirtschaft ist dafür da, Geld zu verdienen.« Prof. Dr. Justus Haucap über die Energiewende, ihre Konsequenzen für die Wirtschaft und die Rolle von Unternehmen dabei. Große Unternehmen werden in Teilen der Öffentlichkeit als gierig und lobbyistisch gesehen. Woran liegt das? Zur Person Prof. Dr. Justus Haucap ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Gründungsdirektor des Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE). Als Mitglied der Monopolkommission (Vorsitzender von Juli 2008 bis Juli 2012) setzt er sich vehement für mehr Wettbewerb in Deutschland und Europa ein. Er gehört zu den profiliertesten Wettbewerbsökonomen und ist gefragter Experte, wenn es um Regulierung geht, insbesondere von netzbasierten Technologien. Im Rahmen seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem auch mit sogenannten NIMBY-Gütern. 180 INTERVIEWS Große Unternehmen oder Verbände haben faktisch großen Einfluss auf die Politik. Aus der ökonomischen Theorie ist lange bekannt, dass viele kleine, versprengte Einzelinteressen schwierig und gebündelte Interessen einfach zu organisieren sind. Das sehen wir auch in der Realität. Verbraucherinteressen sind häufig schwer zu organisieren und haben deswegen nicht die entscheidende Durchschlagskraft. Mit der Folge, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, den Großen werde geholfen und die Kleinen lasse man über die Klinge springen? Ja, das stört auch das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Die Beispiele Opel oder Schlecker zeigen es auch in gewisser Weise. Die meisten Menschen in Deutschland arbeiten bei kleinen oder mittelständischen Unternehmen und sehen, dass ihnen keiner in besonderer Weise hilft, wenn es ihrem Betrieb schlecht geht. Sie müssen dann zum Arbeitsamt gehen. Die Gesellschaft ist kritischer geworden und wehrt sich gegen politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen gefällt werden. Was ist der Grund? Das betrifft nicht nur große Infrastrukturprojekte der Energiewirtschaft, sondern auch Projekte in anderen Bereichen, zum Beispiel die Rettungsschirme für Banken und ganze Länder. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich die Bürger sind, die kritischer geworden sind, oder ob es nicht das politische Management ist, das sich verändert hat und die Interessen der Bürger weniger ernst nimmt. Mir scheint, dass der politische Prozess heute weniger transparent geworden ist. Da alle Parteien in der Öffentlichkeit angeben, mehr oder minder dieselben Dinge zu wollen, weiß niemand mehr, was sie wirklich wollen. Und es werden zunehmend Entscheidungen an runden Tischen hinter verschlossenen Türen getroffen, öffentliche Diskurse inhaltlicher Natur sind eher selten. Der Erfolg der Piraten gibt der These ja auch recht, dass die Bürger über mangelnde Transparenz frustriert sind. Experten sagen, dass vor allem die eigene Betroffenheit und die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität die Bevölkerung zu Protesten antreiben. In der Regel protestieren Bürger gegen große Infrastrukturprojekte und nicht gegen den Bau einer Automobilfabrik. Woran liegt das? Im Großen und Ganzen ist das nicht mein Eindruck. Die verschiedenen Proteste scheinen mir nicht nur mit der persönlichen Betroffenheit zu tun zu haben, das wäre eine zu simple Erklärung. Es gibt auch eine Frustration über wenig transparente Entscheidungsprozesse. Ganz sicher war ein Teil der Demonstranten in Stuttgart auch in persönlicher Weise besonders betroffen, weil sie möglicherweise in der Nachbarschaft wohnen und den Baustellenlärm nicht ertragen wollten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sich für die Mehrheit der Leute ihre Motivation so reduziert erklären lässt. Das hat damit zu tun, dass manche Leute starke negative Effekte erwarten. Es gibt in der Ökonomie und der politischen Wissenschaft die sogenannten NIMBY-Güter: Der Verbraucher möchte auch gerne Flughäfen in Deutschland haben, aber nicht in seiner Nachbarschaft, also „not in my backyard“. Das ist ein typisches NIMBY-Phänomen. Spielen heute ideologische Gründe noch eine Rolle? Ja, sicher. Es wäre zu vereinfacht zu sagen, dass es den Leuten nur um ihr persönliches Immobilienvermögen gehe, so einfach ist es sicher nicht. Wertvorstellungen und Gesellschaftliches sind noch immer wichtig. Wie lösen wir das auf? Es gibt im Netzausbaubeschleunigungsgesetz gewisse Kompensationslösungen. Wer den Netzausbau als negative Konsequenz der Energiewende trägt, erhält eine Kompensation dafür, dass er dies auch für die Allgemeinheit tut. Und es gibt sicherlich Kommunikationsbedarf. Wenn man die Bürger an dem Verfahren völlig unbeteiligt lässt, ist das ein Problem. Man darf sich zudem auch nicht hinstellen und behaupten, dass jede einzelne Leitung und jede einzelne Trassenführung an jedem einzelnen Ort alternativlos sei. Das ist nicht glaubwürdig. An ein paar Stellen wird es Alternativen geben. Von daher muss man von beiden Seiten auch eine gewisse Ehrlichkeit erwarten. Führen Kompensationszahlungen zu mehr Akzeptanz? Die helfen sicherlich im Hinblick auf mehr Akzeptanz. Das wird dann nicht auch noch den Letzten überzeugen, aber es hilft zumindest. Gelder an direkt betroffene Anwohner helfen sicherlich noch mehr als pauschale Zahlungen an Kommunen, aber wo ziehen wir da die Grenze? Bei einer Leitung, die genau über meinem Haus verläuft? Oder bei einer die in 20 oder in 100 Metern Entfernung am Haus vorbei läuft? Und: Es besteht die Gefahr, dass sich jeder plötzlich auf die Hinterbeine stellt, um Kompensationszahlungen zu erhalten, auch wenn er eigentlich keine Probleme mit dem Leitungsbau hat. Die Energiewende kostet Geld. Welchen Preis zahlt die Industrie? Prinzipiell zahlt immer der Verbraucher, nur auf verschiedenen Wegen: Direkt mittels der Stromrechnung oder über den Umweg der höheren Produktpreise. Im schlimmsten Fall zahlen zudem die betroffenen ArbeitProf. Dr. Justus Haucap 181 nehmer mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, wenn ein Standort unattraktiv wird und die Unternehmen abwandern. man auch andere Fördermaßnahmen einsetzten. Wir sind an der Stelle, wo das Kind auch einmal allein zur Schule gehen muss. Wie stark gefährdet die Energiewende den Industriestandort Deutschland? Kann Deutschland auch von der Energiewende in volkswirtschaftlicher Hinsicht profitieren? Deutschland ist ein Land, das einen sehr starken industriellen Kern hat, der auch Motor unseres Wohlstandes ist. Energiepreise sind ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Wenn die Energie zu teuer wird, wird das für einige Unternehmen ein großes Problem. Wenn Zementwerke abwandern, ist das noch zu verkraften, aber wenn die chemische Industrie abwandert, wird es heikel. Selbst wenn die Industrie nicht abwandert, bleibt das Problem, dass woanders andere Unternehmen konkurrenzfähiger sind, und dann schrumpfen unsere Betriebe von allein. Wie hoch die konkrete Gefahr für welche Anzahl von Betrieben und Arbeitsplätzen ist, kann man nur schwer beziffern, denn das hängt natürlich auch von der Ausgestaltung der Energiewende ab. Wenn man diese so teuer wie möglich macht, dann ist die Gefahr sehr groß. Ich bin skeptisch, ob das ein Wachstumstreiber wird, wie es manche Experten erwarten. Viele deutsche Solarfirmen sind ganz oder fast pleite. Rückblickend war das nicht die Zukunft in Deutschland. Man könnte jetzt schlauer werden und daraus lernen. Das sehe ich aber noch nicht. Momentan wird mit sehr viel Dirigismus versucht, alles zu regeln, zum Teil mit Regelungen, die sich in ihren Zielen oder Effekten widersprechen. Die ganzen Einzelmaßnahmen werden überhaupt nicht konsistent zusammengeführt. Stichwort Erneuerbare-EnergienGesetz. Wenn wir versuchen, die teuerste aller Energieformen hier in Deutschland mit aller Gewalt durchzusetzen, wird es sehr teuer. Für viel Geld ist wenig erkauft worden. Darüber kann man meinetwegen noch geteilter Meinung sein. Die Kernfrage ist aber: Wie soll es weitergehen in der Zukunft? Die Industrie ist jetzt über 15 Jahre alt und muss nicht mehr so behütet aufwachsen, als steckte sie noch in den Kinderschuhen. Da muss 182 INTERVIEWS Deutschland steigt schnell aus der Atomenergie aus. Brauchen wir eine Brückentechnologie? Wir brauchen entweder eine Brückentechnologie oder wir importieren eben Strom. Auch wenn wir in den ersten drei Monaten dieses Jahres wenig Strom importiert haben, wird sich das über das gesamte Jahr vermutlich kaum vermeiden lassen. Dann wäre es eine Alternative, bestimmte Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. Wenn das partout nicht gewünscht ist, müssen wir eben immer wieder einmal Strom importieren. Das wäre aber auch nicht tragisch aus meiner Sicht. Was wäre Ihnen denn lieber? Eine Brückentechnologie oder Stromimporte? Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich die Frage überhaupt schon gestellt hat, wie man mit Atomstrom in Zukunft umgehen will. Den wird man an der Grenze nicht aufhalten können. Ich bin ein Freund des Zusammenwachsens des Binnenmarktes. Wir sollten den Aufbau beschleunigt vorantreiben, und wenn andere Staaten mit Atomenergie leben können, werden wir es ihnen kaum verbieten können. Die Alternative sind neue Kraftwerke in Deutschland. Warum sollten die Energieversorger neue Kraftwerke bauen, wenn sie sie in absehbarer Zeit abschalten müssen? Die Märkte in Europa wachsen zusammen, und in diesem Zusammenhang stellt sich in der Tat die Frage nach der Attraktivität von Kraftwerksbauten in Deutschland, insbesondere wenn französische Anbieter demnächst problemlos Strom in den deutschen Markt exportieren können. Dann wäre es auch vernünftig, hier kein neues Kraftwerk zu bauen. Investitionen sind aus volkswirtschaftlicher Sicht erst einmal Kosten. Und man will nicht unbedingt möglichst viele Kosten produzieren. In diesem Sinne sind Investitionen noch immer gut, denn wenn eine Investition später nicht benötigt wird, dann war es eine Fehlinvestition. Sie werben konsequent für Wettbewerb und Wachstum. Nicht allen ist klar, warum Wachstum und Wettbewerb gut sind. Wer müsste die Zusammenhänge besser erklären? Die Wirtschaft ist dazu da, Produkte zu produzieren und Geld zu verdienen, und nicht, den Leuten die Welt zu erklären. Das ist in Teilen eine Bringschuld der akademi- schen Ökonomen. Ansonsten muss vor allem die Politik mehr leisten. Was erwarten Sie von der Politik? Sie sollte den Leuten erklären, welche positiven Wirkungen Wettbewerb hat und dass Wettbewerb auch ein Ermächtigungsinstrument für den Einzelnen ist, weil er besser behandelt wird, wenn er die Wahl hat, als wenn er von einem einzigen Unternehmen abhängig ist. Das Wort „werben“ steckt im Wort „Wettbewerb“ drin. Was mangelnder Wettbewerb bedeutet, weiß jeder noch von früher bei der Post. Da konnte man sich sicher sein, dass um fünf vor sechs die Tür zugemacht wird, damit bloß keiner mehr reinkommt. Haben wir ein verqueres oder sogar falsches Bild von Wettbewerb? Häufig wird ein Bild erzeugt, demzufolge Wettbewerb nichts anderes sei als Lohndumping, Kinderarbeit und die Ausbeutung von SchleckerFrauen. Dass Wettbewerb aber etwas sehr Soziales hat, auch für Arbeitnehmer, weil sie nämlich prinzipiell auch den Arbeitgeber wechseln können, wird vergessen. Wettbewerb diszipliniert die Unternehmen und hievt die Arbeitnehmer und Kunden in viel stärkere Positionen. Wenn ich auf Gedeih und Verderb nur auf einen Anbieter angewiesen bin, wird der sehr viel weniger freundlich mit mir umgehen, sei es als Kunde oder als Arbeitnehmer. Grundsätzlich sind sich alle einig, dass wir eine bessere Bürgerbeteiligung brauchen. Brauchen wir auch mehr Beteiligungsmöglichkeiten? Im Verwaltungsrecht gibt es schon heute gute Mitspracherechte. Was fehlt, ist eher die Kommunikation über die Mitspracherechte. Der breite Teil der Bevölkerung merkt viel zu spät, dass etwas passiert. Die Politik weist nicht deutlich genug darauf hin, weil man das auch gar nicht gilt in Deutschland in allen Rechtsgebieten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der muss natürlich auch bei solchen Planungsverfahren gewahrt bleiben. Es kann nicht jeder Einwand mit dem gleichen Gewicht bemessen werden, das muss verhältnismäßig sein. »Es darf keine Alibi-Veranstaltung sein.« möchte. Da können plebiszitäre Elemente sinnvoll wirken. Wenn am Ende eines Prozesses noch eine Abstimmung kommt, würde man vermutlich die Bürger viel früher und deutlicher auf ihre Mitspracherechte hinweisen und nicht versuchen, das möglichst in irgendeinem Amtsblatt zu verstecken. Das ist eher eine Frage der Kommunikation als der faktischen Rechte. Müssen wir die Bürger auch früher einbeziehen? Man kann nicht sofort losrennen, wenn man eine Idee hat. Das Projekt muss schon einen gewissen Reifegrad erreicht haben. Ein Einbeziehen in dem Sinne, dass man mehr aufklärt und tatsächlich auch offensiv kommuniziert, wäre aber sinnvoll. In der Diskussion fordern viele, dass die Beteiligungsverfahren ergebnisoffen geführt werden. Was halten Sie davon? Im Prinzip ist das richtig, dem kann man kaum widersprechen. Es darf keine Alibi-Veranstaltung sein. Es wäre absurd, wenn ich einen wichtigen Einwand nicht anhöre, weil das Ergebnis schon feststeht. Dennoch Welche Konsequenzen hat das für Unternehmen? Es ist natürlich auch deren Verantwortung, sich vorher schon in die Köpfe der potenziellen Betroffenen hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, ob es möglicherweise wichtige Gründe geben kann, die gegen die Realisierung eines Projektes sprechen. Es besteht auch Einigkeit, dass die Planungsverfahren kürzer sein sollen. Lassen sich kürzere Planungsverfahren und mehr Bürgerbeteiligung miteinander verbinden? Prinzipiell widerspricht es sich erst mal. Genau darin wird die Kunst bestehen, beides miteinander zu verbinden. Im Idealfall spart man später viel Zeit, wenn man in einem früheren Stadium Bedenken ausräumen kann. Tendenziell ist natürlich klar: Je mehr Leute man beteiligt, desto häufiger muss man prinzipiell damit rechnen, dass auch mehr Leute etwas sagen. Mit Stuttgart 21 haben wir das Paradebeispiel erlebt, wie es nicht laufen sollte. Prof. Dr. Justus Haucap 183 Matthias Heck »In Deutschland wird zu viel gemeckert.« Matthias Heck über den Blick des Kapitalmarktes auf die Akzeptanzdebatte und die Herausforderungen für den Standort Deutschland. Entscheidet sich die Zukunft des Industriestandorts Deutschland an der Energiewende? Ja, vor allem in Hinsicht auf die Energiepreise. Wir sehen das momentan sehr stark in anderen ebenfalls industrialisierten Ländern, in denen die Energiepreise deutlich niedriger sind. Das ist ein Problem, das sich die Politik ernsthaft anschauen muss. Mit Feinadjustierungen ist es nicht getan. Man muss grundsätzlich dafür sorgen, dass die deutsche Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Was bedeutet die Energiewende aus volkswirtschaftlicher Sicht? Zur Person Matthias Heck ist seit 2010 Senior Manager bei der australischen Investmentbank Macquarie. Zuvor war er Senior Analyst bei Banco Santander und Vice President bei Sal. Oppenheim. Der Finanzanalyst ist Experte für die Energiewirtschaft und verfolgt den Sektor seit über 12 Jahren. Er bewertet unter anderem die Auswirkungen sich verändernder politischer Rahmenbedingungen auf die Unternehmen. 184 INTERVIEWS Die Energiewende bedeutet ein erhebliches Risiko für den Industriestandort Deutschland und kann zu einer beschleunigten Deindustrialisierung führen. Die Politik muss darüber nachdenken, ob es ein schlüssiges Konzept gibt. Meines Erachtens ist das nicht so. Eine Energiewende in Deutschland ist völlig sinnlos, wenn wir in Deutschland Arbeitsplätze verlieren und die Beschäftigten in andere Länder abwandern, in denen geringere Umweltstandards gelten. Per saldo könnte die Umwelt im globalen Kontext stärker belastet werden. Das ist das Hauptrisiko. Für einen Politiker, der in einer Legislaturperiode denkt, ist das kein so drängendes Problem wie für einen Kraftwerksinvestor, der eine Anlage mit vierzig Jahren Laufzeit plant. Grundsätzlich wird in Deutschland zu viel gemeckert und zu wenig darüber gesprochen, wie sich alles in Zukunft weiterentwickeln kann und welche Perspektiven der Standort hat. Hat die Politik in diesem Sinne zu wenig Verständnis für die Wirtschaft? Führt die „German Angst“ zu einer sinkenden Akzeptanz von Großprojekten? Das ist meines Erachtens so. Die Politik muss einen vernünftigen Plan mit realistischen Annahmen entwickeln und daraus Handlungen ableiten, die ein abgestimmtes Konzept darstellen. Dabei muss auch sichergestellt werden, dass bestimmte Industrien, die man in Deutschland halten möchte, auch in Deutschland bleiben werden. Dazu zählt auch die energieintensive Industrie. Das ist wahrscheinlich richtig. Ich weiß nicht, ob es wirklich die Angst an sich ist. Ein wesentlicher Punkt ist die Unwissenheit der Bevölkerung, verbunden mit Misstrauen. Nehmen Sie mal die aktuellen Kohlekraftwerksprojekte: Ein Großteil dieser Projekte sind Ersatzinvestitionen. Damit werden Altanlagen abgeschafft und per saldo wird CO ² eingespart. Diese Argumente werden nach meiner Wahrnehmung in der Bevölkerung nicht richtig aufgenommen. Macht die Wirtschaft die Voraussetzungen für den Industriestandort ausreichend deutlich? Würden wir volkswirtschaftlich besser dastehen, wenn wir offener und mutiger wären? Die Bedürfnisse werden sicherlich von der Energiewirtschaft und den Verbänden ausreichend artikuliert. Was mir in der ganzen Diskussion immer zu kurz kommt, ist die Frage nach den Chancen, die wir haben. Es ist eine Hauptaufgabe der Investoren von Großprojekten, dies aktiver zu kommunizieren. Der Bau eines Kraftwerks führt natürlich zu einem erheblichen Beschäftigungseffekt. Nach dem Bau ist das aber nicht mehr unbedingt der Fall, vor allem wenn es sich um Ersatzinvestitionen handelt, nach deren Fertigstellung alte Blöcke abgeschaltet werden. Letzten Endes führen die großen Projekte, zumindest in der Energiewirtschaft, zu einer Rationalisierung. Tun sie es bisher nicht ausreichend? Warum richtet sich der Protest vor allem gegen Infrastrukturvor- Was erwarten Sie von der Politik? Historisch betrachtet: ein klares Nein. In der Vergangenheit ging es in erster Linie um die Genehmigung. Es ging darum, eine Unterschrift unter einen Antrag für Großprojekte zu bekommen. Man hat in vielen Fällen den Fehler gemacht, dass man die Bevölkerung nicht stark genug ins Boot geholt hat. Man hat die Bevölkerung nicht als Stakeholder betrachtet, sondern war letzten Endes auf eine wirtschaftliche Kalkulation fokussiert. So wird es in Zukunft aber nicht mehr laufen. Großinvestoren sorgen direkt und indirekt für Arbeitsplätze. Spielt das in der öffentlichen Diskussion noch eine Rolle? haben und weniger gegen andere große Investitionen wie zum Beispiel den Bau einer neuen Automobilfabrik? Das hat eine Reihe von Gründen. Es spielen sicherlich auch Umweltbelastungen und Risiken für die Bevölkerung eine Rolle. Das ist ein Unterschied zu Automobilfabriken. Ich bin kein Ingenieur, aber die Umweltbelastung durch eine Autofabrik ist offensichtlich eine ganz andere als die durch Kohlekraftwerke. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass die Produkte einer Autofabrik besser greifbar sind als die der Energieversorger. Haben sich vielleicht auch die Prioritäten verschoben, dass die Bevölkerung Umwelt- und Klimaschutz heute als wichtiger bewertet als Wirtschaftswachstum? Das ist durchaus denkbar. Seit der Atomenergiepolitik Mitte der Siebzigerjahre ist das Umweltbewusstsein auf jeden Fall gestiegen. In Standort- und Energiedebatten wird gerne schwarz-weiß gemalt: auf der einen Seite die Guten wie NGOs und Naturschützer, auf der anderen Seite die Matthias Heck 185 Bösen wie die „traditionelle“ Energiewirtschaft. Warum ist das Bild von NGOs positiv, das der Unternehmen negativ? Das ist im Wesentlichen eine Vertrauenssache. Eine NGO gilt grundsätzlich als vertrauenswürdig, weil sie in der Wahrnehmung der Menschen kein kommerzielles Interesse verfolgt. Das ist ein großer Unterschied zur Energiewirtschaft. Es ist in der Kommunikation keine leichte Aufgabe, den Stakeholdern inklusive der Bevölkerung zu vermitteln, dass man sich in einer Win-win-Situation befindet, wie es beispielsweise der Fall ist, wenn man ein altes, wenig effizientes Kraftwerk durch ein neues Möglichkeiten haben wir genug. Ich bin kein Freud von zusätzlicher Regulierung oder von Vorschriften. Die Investoren selbst müssen höchstes Interesse daran haben, von sich aus mehr Bürgerbeteiligung anzubieten. Da liegt der Ball vor allem bei den Unternehmen. Man muss die Bevölkerung früher und proaktiver einbeziehen, und zwar dann, wenn man einen Bauantrag stellt. Man kann die Bevölkerung sicherlich nicht gleich bei der ersten Idee beteiligen. Ein Projekt muss schon hinreichend konkret sein. Es macht aber keinen Sinn, die Bevölkerung erst dann ins Boot zu holen, wenn man eine finale Investitionsentscheidung trifft. »Man muss die Bevölkerung früher und proaktiver einbeziehen.« Kraftwerk ersetzt, damit Arbeitsplätze schafft, die Umwelt schont und am Ende des Tages daran Geld verdienen will. Das ist eine schwierige Kommunikation. NGOs haben es da wesentlich einfacher. Spätestens seit Stuttgart 21 fordern alle Seiten mehr Bürgerbeteiligung. Sollen bestimmte Instrumente gesetzlich vorgeschrieben werden? Nein. Es liegt im Interesse der Investoren, auch ohne gesetzliche Pflicht eine gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, weil ansonsten wirtschaftliche Risiken entstehen. Brauchen wir mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung? 186 INTERVIEWS Sollte die Bevölkerung nur grundsätzlich über ein Projekt entscheiden oder auch bei der konkreten Ausgestaltung einbezogen werden? Da sollte man ganz unvoreingenommen herangehen. In einem verstärkten Bürgerdialog können sich durchaus interessante Ideen entwickeln. Man kann sicherlich Projekte auch modifizieren, wenn es wirtschaftlich Sinn macht und dadurch die Akzeptanz steigt. Sie sehen die Unternehmen in der Pflicht – hat sich diese Denkweise schon in den Unternehmen durch gesetzt? Ich denke schon, dass das zunehmend ins Bewusstsein kommt. Aber das ist ein dynamischer Prozess – vor zwei, drei Jahren hat man das sicherlich noch anders eingeschätzt. Jahrzehntelang galt – vor allem in Kreisen der Wirtschaft – das Paradigma: „Wir sorgen für die Investitionen, die Politik muss dafür die Rahmenbedingungen schaffen.“ Wird dieser Anspruch durch die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung durchkreuzt? Das ist eine Grauzone, weil das Thema Bürgerbeteiligung ja die Rahmenbedingungen verändert, wenn das Ganze in Gesetze gegossen wird. Ich sehe Bürgerbeteiligung mittlerweile als Bestandteil der wirtschaftlichen Kalkulation von Unternehmen. Es kostet Unternehmen Geld, wenn Projekte verzögert, Bauzeiten verlängert und Projekte am Ende des Tages nicht durchgesetzt werden können. Ich glaube nicht, dass sich an dieser grundsätzlichen Aufgabenteilung etwas ändert. Verlieren Politik und Wirtschaft durch mehr Bürgerbeteiligung Handlungsspielraum? Politik und Wirtschaft gewinnen durch Bürgerbeteiligung auf jeden Fall an Akzeptanz. Das ist auch eine Einstellungsfrage. Man darf sich bei der Realisierung von Großprojekten nicht an Dingen aufreiben, die man ohnehin nicht ändern kann. Es müsste heute eigentlich jedem klar sein, dass man die Bevölkerung mit ins Boot holen muss. Wer das nicht verstanden hat und sich an dieser Frage schon aufreibt, der wird keinen Erfolg haben. Man muss das positiv sehen. Es ist auch eine Chance damit verbun- den: Man hat nachhaltig geringere Widerstände, die auch noch auftreten können, wenn ein Projekt schon im Betrieb ist. Wir sehen das am Flughafen Frankfurt. Seit die neue Landebahn in Betrieb genommen worden ist, haben sich noch einmal neue Bürgerinitiativen dagegen formiert. Im Kommunalwahlkampf forderten einige Kandidaten, dass die neue Landebahn sogar wieder stillgelegt wird. Eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung muss man als Chance der langfristigen Risikominimierung sehen. Widersprechen sich eine Verkürzung von Genehmigungsverfahren und mehr Bürgerbeteiligung? Es muss zumindest keine Verzögerung geben, wenn man Genehmigungsverfahren und die Bürgerbeteiligung parallel laufen lässt. Ob man das Ganze insgesamt beschleunigen kann, das ist jenseits meiner Einschätzungskraft. Es ist sicherlich wünschenswert, aber es wäre schon viel gewonnen, wenn man durch eine erhöhte Bürgerbeteiligung keine Verlängerung der Verfahren hätte. Wie wird sich mehr Bürgerbeteiligung auf die Unternehmen auswirken? Honorieren Kapitalmärkte eine offenere und transparentere Kommunikation mit der Bevölkerung bei geplanten Großprojekten? Das Problem in Deutschland ist, dass die Planungsprozesse grundsätzlich zu lang sind. Es ist sicherlich ein Risiko, dass sie sich durch Bürgerbeteiligung noch mal weiter verlängern. Die Herausforderung für die Unternehmen liegt darin, eine verstärkte Bürgerbeteiligung parallel zu einem Genehmigungsverfahren laufen zu lassen, damit es nicht zu einer zusätzlichen Verzögerung im Gesamtprozess kommt. Das wird keine große Rolle spielen, weil an den Kapitalmärkten in erster Linie die Anlagen bewertet werden, die im Betrieb befindlich sind. Bei neuen Kraftwerksprojekten zum Beispiel geht es oftmals um Investitionen, die jenseits des Horizonts des Kapitalmarktes Ergebnisse und Werte generieren. Von daher wird das Thema Akzeptanz für Großprojekte den Kapitalmarkt nur am Rande interessieren. Wird sich das auf Investitionsentscheidungen auswirken? Steigt die Akzeptanz, je stärker Bürger von Projekten wirtschaftlich profitieren? Dazu habe ich keine eindeutige Meinung. Es ist sicherlich eine berechtigte Frage, weil der ganze Prozess komplizierter wird. Auf der anderen Seite muss man bei solchen Projekten ja auch immer längerfristig denken. Ich glaube, dass Akzeptanzprobleme bei Großprojekten durchaus auch in anderen Ländern auftreten können. Auch wenn die heute noch nicht so da sind. Das wird langfristig kein rein deutsches Phänomen bleiben. hohe Akzeptanz für Atomkraftwerke. Diese wird durch niedrige, staatlich regulierte Strompreise erkauft. Arbeitsplätze und Aufträge für Firmen in der Region sind das eine, die finanzielle Beteiligung ist das andere. Sind etwa Bürgersolaranlagen und Bürgerwindparks ein erfolgreiches Modell? In der Bevölkerung besteht eine relativ große Bereitschaft, in solche Anlagen zu investieren und dafür auch Mittel bereitzustellen. Die Antwort auf die Frage, ob es gesamtwirtschaftlich die sinnvollste Variante ist, würde ich davon abhängig machen, inwieweit eine bundesweite Steuerung stattfindet. Beim Beispiel Solarenergie gab es letztes Jahr einen Zubau von 7,5 Gigawatt, was ja fast dem Volumen der abgeschalteten Kernkraftwerke entspricht. Das ist sicherlich eine Geschwindigkeit, die auch zu Problemen führen kann. Projekte lassen sich auf diesem Wege wahrscheinlich finanzieren, aber es ist sicherlich nicht sinnvoll, das Ganze unkoordiniert „auswuchern“ zu lassen. Ja, das ist so. Das sieht man beispielsweise in Deutschland an den Standorten der alten Atomkraftwerke. Vor Ort ist die Akzeptanz schon relativ groß, weil viele Leute im Kraftwerk arbeiten und direkt oder indirekt davon profitieren. Es geht auch darum, über Steuereinnahmen einen Vorteil für die Bevölkerung herzustellen. Wenn wir über die deutschen Grenzen hinausblicken, sehen wir in Frankreich eine recht Matthias Heck 187 Joachim Herrmann »Plebiszite bedeuten eben nicht Willkür.« Joachim Herrmann über die falsche Scheu vor der direkten Demokratie sowie erfolgreiche Beispiele für Bürgerbeteiligung. Ist die eigene Betroffenheit der ausschlaggebende Grund für Proteste gegen Großprojekte? Zur Person Joachim Herrmann ist seit 2007 Bayerischer Staatsminister des Innern. Als Abgeordneter der CSU ist er seit 1994 Mitglied des Bayerischen Landtags. Als Staatssekretär im Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit gehörte er von Oktober 1998 bis September 1999 erstmals der Bayerischen Staatsregierung an und fungierte dann von 2003 bis Oktober 2007 als Vorsitzender der CSU-Fraktion im Landtag. 188 INTERVIEWS In der Regel ist die eigene Betroffenheit ein wesentliches Kriterium. Bei bestimmten Themen spielen aber auch grundsätzliche Haltungen eine Rolle. Wenn es beispielsweise um Straßenprojekte geht, gibt es sicherlich einen Teil von Kritikern, die insgesamt dem motorisierten Individualverkehr eher kritisch gegenüberstehen. Der Mehrzahl wird es in der Regel aber immer um die ganz persönliche Betroffenheit im Hinblick auf den Lärmpegel, die Veränderung des Landschaftsbildes oder die Wertminderung von Immobilien gehen. Ist das nicht egoistisch? Ja, aber man sollte das nicht verallgemeinern. Es gibt überall Leute, die Belastungen, beispielsweise durch Windräder, akzeptieren, genauso wie es Leute gibt, die vielleicht grundsätzlich für Windräder sind, aber diese nicht vor der eigenen Haustür haben wollen. Apropos Energiewende: Ist der Bevölkerung bewusst, was die Energiewende bedeutet? Vielen Bürgern sind manche Konsequenzen noch nicht restlos bewusst. Dazu gehören der Umbau der Netzstrukturen mit Überlandleitungen oder die Notwendigkeit, Reservekapazitäten zu schaffen. In Deutschland verlässt man sich darauf, dass Strom fließt und dass alles einfach funktioniert. Wir haben hier seit Jahrzehnten viel weniger Stromausfälle als in anderen Teilen der Welt und das ist für die Bürger nahezu selbstverständlich. Woran liegt dieses wenig ausgeprägte Bewusstsein? Ein großes Problem ist, dass die physikalischen Realitäten nicht bekannt sind. Bei der Diskussion um die Energiewende werden immer nur die Stromerzeugungsanlagen gesehen. Über andere Aspekte, zum Beispiel die Frage, wie das Netz funktioniert, wie es gesteuert wird und wie kompliziert der Mechanismus ist, dass bei Strom mehr als bei jeder anderen Energieform ständig Angebot und Nachfrage in der Balance gehalten werden müssen, hat man vielleicht theoretisch etwas irgendwann in der neunten Klasse im Physikunterricht gelernt, aber richtig präsent ist das bei vielen Menschen nicht. Denken Sie, dass die Energiewende den Wirtschaftsstandort Deutschland verändern wird? In absehbarer Zeit führt die Energiewende sicherlich zu einer zusätzlichen Verteuerung der Stromversorgung. Energieeinsparungsmaßnahmen wirken sich ja überwiegend im Bereich fossiler Energieträger aus, aber der Strombedarf wird dadurch nicht weniger werden. Auch wenn man in einzelnen Bereichen weniger Strom braucht, gibt es immer andere Bereiche, in denen man wieder mehr Strom benötigt. Deswegen wird das insgesamt eine Verteuerung nach sich ziehen. Ist der Industriestandort in Gefahr? Wenn sich der Strom verteuert, spielt das im innereuropäischen Wettbewerb eine gewisse Rolle, zumal sich die Beteiligung eines Großteils des übrigen Europas an der Energiewende ja bislang in Grenzen hält. Sie haben gesagt, dass die Energiewende zu langsam vorangeht. Was fordern Sie konkret? Wir brauchen auf jeden Fall weitere Reservekapazitäten. Momentan sind wir sehr stark auf den europäischen Verbund angewiesen, was grundsätzlich in Ordnung ist, dennoch müssen wir aufpassen, dass die Versorgung insgesamt nicht labiler wird. Daher brauchen wir weitere Investitionen. Im Moment scheitert die Realisierung von Investitionen, beispielsweise im Bereich von Gaskraftwerken, nicht an der Akzeptanz von Großprojekten, sondern daran, dass sich kein Investor findet, weil die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen offensichtlich nicht gegeben sind. Sie haben das Thema Akzeptanz gerade angesprochen. In diesem Kontext sprechen Sie vom „Aktivbürger“. Was unterscheidet ihn vom viel beschworenen „Wutbürger“? Der „Wutbürger“ ist ja ein Negativbegriff, der falsche Schlussfolgerungen impliziert. Denn bürgerliches Engagement ist nicht negativ, sondern in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren absolut wünschenswert. Deswegen brauchen wir „Aktivbürger“, die sich konstruktiv in die Gesellschaft einbringen und dabei nicht nur ihre Wut äußern, sondern aktiv nach Lösungen suchen. Damit sich die Bürger in Zukunft auch mehr an Planungsprozessen von Großprojekten beteiligen, müssen wir Verfahren entwickeln, in die sich die Bürger in möglichst großer Zahl aktiv einbringen können. Was sollte sich konkret ändern, damit mehr Bürgerbeteiligung möglich wird? Im Moment wird in Berlin daran gearbeitet, die Planfeststellungsverfahren zu vereinheitlichen. Die Verfahren sind zwar alle ähnlich, aber gerade in Detailvorschriften ist das eine nach dem Eisenbahnrecht, das andere nach dem Fernstraßenrecht und das dritte wieder nach einem ganz anderen Recht geregelt. Die verschiedenen Detailvorschriften erschweren auch die Verständlichkeit der Verfahren für die Bürger. Von daher ist eine Angleichung sehr sinnvoll. Bei Projekten, die die öffentliche Hand selbst baut, muss sie besonders vorbildlich hinsichtlich der Bürgerbeteiligung agieren. Zumal es bei Bauvorhaben der öffentlichen Hand neben der Frage der Betroffenheit durch das Projekt auch immer noch gleichzeitig um die Verwendung von Steuergeldern geht. Damit ist bei einem Projekt, das die öffentliche Hand realisiert, Joachim Herrmann 189 ohnehin eine gewisse Betroffenheit aller Bürger gegeben. Das ist der wesentliche Unterschied zu einer privaten Investition, bei der es „nur“ um persönliche Betroffenheit geht, aber eben nicht um den Einsatz von Steuergeldern. Wir sollten aber gewisse Mindeststandards auch bei privaten Investitionen fixieren. Tun Unternehmen in diesem Bereich noch zu wenig? Sehr viele Investoren werben auch heute schon für Akzeptanz und versuchen bei Aspekten, bei denen es noch hakt, entsprechend nachzubessern. Heute ist auch die frühzeitige Offenlegung von Plänen schon sehr verbreiteter Usus. Es gibt aber auch Investoren, die in diesem Punkt noch erheblichen Nachholbedarf haben. Ich bin mir aber sicher, dass die Mehrzahl der Unternehmen langfristig einsehen wird, dass es sinnvoll ist, aktiv den Dialog zu suchen, und zwar schon aus Eigeninteresse. Es ist wesentlich Erfolg versprechender, wenn Unternehmen selbst auf die Bürger zugehen, anstatt das der Genehmigungsbehörde oder der Kommune vor Ort zu überlassen. Denn es ist viel glaubwürdiger, wenn der Investor selbst auf die Bühne tritt und den Kontakt zu betroffenen Bürgern oder der Gemeinde sucht, als wenn er das anderen überlässt. In welcher Form sollten Bürger bei Großprojekten einbezogen werden? Das ist je nach Projekt sehr unterschiedlich. Wir haben in Bayern eine sehr starke Tradition von Volksentscheiden auf Landesebene und von Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene. Es gibt viele Projekte, wie zum Beispiel den Bau einer neuen 190 INTERVIEWS Stadthalle, bei denen es sinnvoll ist, wenn die Bürger vor Ort grundsätzlich darüber entscheiden können, ob das Projekt überhaupt gewollt ist. In solchen Fällen sollten die Bürger in einer ganz frühen Phase eingebunden werden, noch bevor man in einem zweiten Schritt über den richtigen Standort, das architektonische Konzept oder Ähnliches diskutiert. Bei der Frage des Wie sollten die Bürger dann ebenso eingebunden werden. Je transparenter man das gestaltet und je offener man die Bürger einbezieht, desto größer ist dann anschließend die Akzeptanz. Es gibt aber auch Projekte, bei denen es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie geht, wie beispielsweise beim Ausbau der A 3 zwischen Würzburg und Nürnberg. Denn das Projekt ist vom Bundestag beschlossen worden, daher ist am Ob nicht mehr zu rütteln. Vor allem kann man es nicht von der Zustimmung einzelner Gemeinden abhängig machen. Wie kann man die Bürger beim Wie einbeziehen? Die Stadt Würzburg ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Beim sechsspurigen Ausbau der A3 wurde in Würzburg eine Lenkungsgruppe aus Vertretern des bayerischen Innenministeriums, des Bundesverkehrsministeriums und der Stadt Würzburg eingerichtet. Die Bürger wurden im Rahmen des Lenkungsverfahrens bei der Trassenfindung über das Internet, Informationsrunden im Stadtrat und Bürgerversammlungen vor Ort eingebunden. Das hat für sehr große Akzeptanz gesorgt, und zwar interessanterweise nicht nur bei den Menschen, die aktiv an Veranstaltungen teilgenommen haben, sondern auch bei denjenigen, die nicht mitgemacht haben. Allein das Angebot hatte schon eine gewisse Wirkung und hat Ressentiments abgebaut. Im Ergebnis hat die Lenkungsgruppe einen einvernehmlichen Empfehlungsbeschluss verabschiedet, der einstimmig im Stadtrat angenommen wurde. Das ist ein beachtliches Ergebnis, wenn man die Vielzahl von unterschiedlichen Meinungen auch in solchen kommunalen Gremien sieht. Hat dieser Prozess die Umsetzung des Projekts verzögert? Natürlich kosten Dialogprozesse viel Zeit. Aber dieser Zeitaufwand lohnt sich. Wenn man einen möglichst breiten Konsens erzielt, ist das nicht nur aus demokratischen Gesichtspunkten erstrebenswert, sondern es kann unter dem Strich sogar einen Effizienzgewinn in Hinblick auf die Verfahrensdauer bedeuten. Wenn man ein Projekt ohne Beteiligung auf der grünen Wiese durchboxt, ist das Risiko von Demonstrationen oder Klagewellen und damit von Verzögerungen erheblich größer. In Bayern gibt es im Vergleich zu anderen Bundesländern eine sehr aktive direkte Demokratie. Wie kommt das? Wir haben in Bayern in der Tat die mit Abstand größte Praxis von Volksentscheiden auf Landesebene, obwohl diese auch in den Verfassungen der anderen Länder vorgesehen sind. Es gibt Länder, in denen es noch nie einen Volksentscheid gegeben hat, obwohl dieser auch in der Verfassung steht. Woran das liegt, weiß ich auch nicht. Viele fürchten eine Blockade von Großprojekten durch Bürgerent- scheide. Können Sie diese Bedenken nachvollziehen? Am Anfang gab es auch in meiner Partei Bedenken, insbesondere im Bezug auf die Einführung der kommunalen Bürgerentscheide im Jahr 1995. In der Praxis sieht man aber, dass Bürgerentscheide keineswegs pauschal zur Verhinderung von Projekten führen, denn in der Gesamtsumme gibt es etwa genauso viele Bürgerentscheide, die sich am Schluss mehrheitlich für ein Projekt ausgesprochen haben, wie solche, die gegen ein Projekt votiert haben. Das weitverbreitete Bild der „Dagegen-Republik“ stimmt also nicht, denn es gibt eine Vielzahl von Beispielen, bei denen sich eine demokratische Mehrheit von Bürgern für ein Projekt ausgesprochen hat. Was spricht für Bürgerentscheide? Meiner Erfahrung nach ist die Akzeptanz nach einem Bürgerentscheid größer, als wenn „nur“ Mandatsträger etwas beschließen. Natürlich gibt es auch negative Ausnahmen, wie den Fall des Lindauer Bahnhofs, über den es in kurzer Zeit zwei gegensätzliche Bürgerentscheide gegeben hat. Dort hat nach einem halben Jahr die Mehrheit des Volkes das Gegenteil von dem beschlossen, was die Bürger ein halbes Jahr zuvor bestimmt hatten. Aber das ist der absolute Ausnahmefall. Ansonsten zeigt die Erfahrung, dass die Bürger Entscheidungen akzeptieren, und zwar unabhängig davon, wie knapp die Mehrheit war, wenn etwas in einem Bürgerentscheid entschieden worden ist. Neben der Akzeptanz für ein konkretes Projekt ist direkte Demokratie auch insgesamt für die Entwicklung der Demokratie unseres Landes in den nächsten Jahren wich- tig, auch vor dem Hintergrund der modernen Informationstechniken. Schwächen wir damit die repräsentative Demokratie? Wir sollten uns von dieser sehr theoretischen Diskussion über das konstruierte Gegeneinander von repräsentativer und direkter Demokratie lösen. Parlamentarier, Staatsrechtler und Politologen stellen das oft als unvereinbare Gegensätze dar und prognostizieren die „Aushöhlung“ der repräsentativen Demokratie, wenn mehr unmittel- die öffentliche Hand. Wenn ein Investor ein Grundstück erworben oder sich mit dem Grundstückseigentümer geeinigt hat, auf diesem Grundstück ein Projekt zu realisieren, kann er dieses nicht so einfach um zwei Kilometer verschieben, wenn sich jemand negativ betroffen fühlt. Ein privater Investor trifft die Entscheidungen über das Wo und Wie allein, und das muss natürlich grundsätzlich auch möglich sein. Unsere Gesetze sind schließlich so formuliert, dass ein Investor, wenn er alle Voraussetzungen »Das weitverbreitete Bild der ›Dagegen-Republik‹ stimmt nicht.« bare Plebiszite ermöglicht werden. Ich halte das für falsch. Abgesehen davon entsprechen Plebiszite dem Grundgedanken der Demokratie. Das bedeutet nicht, dass wir wieder zur attischen Demokratie zurückkehren sollten, schon allein deswegen nicht, weil die repräsentative Demokratie ja akzeptiert ist und die meisten Bürger nicht jede Woche zum Bürgerentscheid gerufen werden wollen. Aber es gibt eben ab und zu bestimmte Themen, bei denen Bürger selbst entscheiden wollen. Und dann sollte dies auch möglich sein. erfüllt, einen Rechtsanspruch auf die Genehmigung hat. Darüber kann sich auch ein Bürgerentscheid nicht hinwegsetzen. Es ist wichtig, dass man diese Spielregeln des Rechtsstaats deutlich macht. Plebiszite bedeuten eben nicht Willkür von Mehrheitsentscheidungen, sondern Plebiszite haben sich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung zu halten. Wie weit kann die direkte Demokratie bei privaten Investitionen gehen? Private Investoren haben im Hinblick auf die Grundstücksverfügbarkeit natürlich weniger Spielraum als Joachim Herrmann 191 Jochen Homann »So viel Bürgerbeteiligung hat es noch nie gegeben.« Jochen Homann über neue Wege der Bürgerbeteiligung beim Netzausbau und die Sprache der Behörden. Die Zustimmung der Bevölkerung zur Energiewende ist groß, aber die Umsetzung stößt auf Widerstand. Ist das ein Widerspruch? Solange Projekte abstrakt sind, haben Bürger meist wenige Einwände. Das ändert sich, sobald es konkret wird. Das sieht man auch beim Netzausbau, denn in der ersten Runde der Konsultation über die Übertragungsnetze sind nur rund 2000 Bürgereingaben eingegangen, was, weniger war, als viele erwartet hatten. Das liegt daran, dass die Projekte noch nicht konkret genug sind und vor allem der genaue Verlauf der Leitungen noch nicht feststeht. Sobald es um konkrete Leitungsverläufe geht, wird die Beteiligung sicherlich stark zunehmen. Zur Person Jochen Homann ist seit März 2012 Präsident der Bundesnetzagentur. Der Diplom-Volkswirt war zuvor lange Jahre in verschiedenen Funktionen im Bundeskanzleramt und im Bundeswirtschaftsministerium tätig, unter anderem als Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik sowie anschließend für vier Jahre als beamteter Staatssekretär. 192 INTERVIEWS Bürgerinitiativen fordern, in sensiblen Gebieten Erdkabel zu verlegen. Sind Erdkabel ein Mittel für mehr Akzeptanz? Erdkabel sollten dann genutzt werden, wenn es aus umweltspezifischer und wirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist. Unterirdische Leitungen sind teurer als Freileitungen und technisch noch nicht völlig ausgereift. Allerdings muss man neben den reinen Investitionskosten auch die „Akzeptanz-Kosten“ betrachten, die schon bei kleinsten Verzögerungen beim Netzausbau entstehen. Wenn man alle Kosten addiert, kommt man gelegentlich zu anderen Ergebnissen – im Einzelfall kann also auch ein Erdkabel die wirtschaftlichere Alternative sein. Rechtfertigt schnellere Akzeptanz auch höhere Kosten? Höhere Kosten sind sicherlich nicht bei jeder Trasse gerechtfertigt, aber im Einzelfall schon. Die Südwestkuppelleitung beispielsweise muss bis 2015 fertig gestellt werden – dann geht das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld vom Netz. In diesem Fall kann man sich keine Verzögerungen leisten, sondern es ist ein ganz besonders hohes Tempo gefragt – und Tempo kostet gelegentlich auch Geld. Insbesondere Landwirte fühlen sich durch den Netzausbau benachteiligt und fordern höhere Entschädigungen. Ist das gerechtfertigt? Natürlich müssen Grundbesitzer entschädigt werden – allerdings häufig nicht in dem Umfang, wie sie es gerne hätten. Einige haben die Vor- stellung, dass sie jährlich eine Rendite ähnlich wie die Netzbetreiber erhalten. Das halte ich für unangemessen, insbesondere weil es im Vergleich zu anderen Entschädigungen nicht gerechtfertigt wäre. Möglich wäre aus meiner Sicht eine Revisionsklausel, sodass man nach einigen Jahren überprüft, ob es Nachbesserungsbedarf gibt. Abgesehen von Entschädigungen – denken Sie, dass finanzielle Beteiligungen an Projekten sinnvoll sind? Ich bin dafür, dass Bürger nicht nur mit Belastungen durch den Netzausbau konfrontiert werden, sondern auch die Chance bekommen, an den Erträgen teilzuhaben. Dazu gibt es verschiedene Wege und erste Modelle. Es gibt zum Beispiel Fonds, die sich an Übertragungsnetzen beteiligen. Das ist ein gutes Modell, zum einen, weil es sicherlich die Akzeptanz steigern kann, und zum anderen weil man für den Netzausbau viel Kapital braucht. Neben Widerständen gegen konkrete Stromleitungen gibt es auch Zweifel an den Dimensionen des Netzausbaus. Dem Entwurf des Netzentwicklungsplans liegt eine im Detail ausgearbeitete Vorstellung darüber zugrunde, wie der Strombedarf und der Strommix des Jahres 2022 aussehen sollen. Diese Grundvorstellung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde unter anderem mit Umweltverbänden und den Bundesländern erarbeitet. Deswegen wundere ich mich über derlei Kritikpunkte, insbesondere wenn sie von denjenigen stammen, die bei der Ausarbeitung des Szenariorahmens mitgewirkt und dem Ergebnis zugestimmt haben und jetzt plötzlich diese Grundlage wieder infrage stellen. Es ist aber wichtig zu wissen, dass sich dieser Beteiligungsprozess jährlich wiederholt und Anpassungen möglich sind. Ganz allgemein gefragt: Wie geht es aus Ihrer Sicht mit dem Netzausbau voran? Bei den laufenden Projekten, die schon vor der Energiewende beschlossen wurden, kommen wir leider nur relativ langsam voran. Ein Grund ist sicherlich, dass die Planungs- und Genehmigungsverfahren auf Länderebene liegen und oft verschiedene Behörden aus mehreren Ländern beteiligt sind. Das könnte beim Netzausbau zu Problemen führen, denn wir brauchen Leitungen von Nord nach Süd, die bis zu fünf Bundesländer durchqueren. Man muss den Ländern gar nichts Böses unterstellen, um zu erwarten, dass es bei der Abstimmung zwischen fünf Bundesländern zu Koordinierungsproblemen und Zeitverzögerungen kommt. Die Frage steht noch im Raum, ob es gelingt, die Länder davon zu überzeugen, die Zuständigkeit für diese Projekte an den Bund abzugeben. Wir plädieren dafür, dass diese Projekte auf Bundesebene geplant werden. Wie verhalten sich NGOs im Rahmen des Netzausbaus? Die NGOs haben – jedenfalls auf Verbandsebene – verstanden, dass die Integration der erneuerbaren Energien und damit die Energiewende nicht ohne neue Netze geht. Das bedeutet aber nicht, dass die Gruppen vor Ort die konkreten Projekte auch unterstützen. Dieses Phänomen gibt es bei den NGOs genauso wie bei Parteien, denn wenn ein Parteivorstand den Netzausbau unterstützt, heißt das noch lange nicht, dass der parteigleiche Jochen Homann 193 Bürgermeister vor Ort der gleichen Meinung ist. Haben NGOs heute eine größere Schlagkraft? NGOs haben deutlich mehr finanzielle Unterstützung als früher, das sieht man unter anderem an den zahlreichen Gutachten, die im Auftrag von NGOs erstellt werden. Zum anderen vermutet man bei NGOs, dass sie etwas Gutes tun. Damit haben sie automatisch eine bessere Position als die Industrie, der nur egoistische Motive unterstellt werden. Meine persönliche Erfahrung ist, dass es bei den NGOs viele sehr sachkundige Experten gibt und dass sich das Gesprächsklima sehr positiv entwickelt hat. Spielt Ideologie in der Diskussion mit NGOs noch eine Rolle? Als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium habe ich immer den Kontakt zu den Umweltorganisationen gesucht, um ihre Argumente kennenzulernen. Bei einem meiner ersten Besuche wurde ich noch als Vertreter des „stromindustriellen Komplexes“ angekündigt. Das war in meinen Augen Ideologie. Das hat sich aber inzwischen verändert – heute zeigen alle Seiten viel mehr Gesprächsbereitschaft. Welcher Punkt kommt bei der Diskussion der Energiewende zu kurz? Man sollte die Energiewende als Ganzes im Auge behalten, statt immer nur einzelne Bausteine zu diskutieren, wie das EEG oder den Netzausbau. Dazu gehört, dass man vollständige Informationen vermittelt – und zwar ehrlich. Bei konträren Auffassungen muss man offen 194 INTERVIEWS sagen, was technisch machbar ist und was es kostet. Das gehört zum fairen Umgang miteinander. Welche Rolle werden konventionelle Energien in Zukunft spielen? Bis zum Jahr 2050 benötigen wir neben den erneuerbaren auch die konventionellen Energieträger, um die Schwankungen von Wind und Sonne ausgleichen zu können. Deswegen muss die Strategie sein, dass man für eine bestimmte Zeit noch Gas und Kohle als Back-upKapazitäten vorhält, bis die Speichertechnologie ausgereift ist. An dieser Stelle können wir uns auch keine Experimente erlauben, das wäre mit Blick auf die Versorgungssicherheit zu riskant. Ist es ein Teil der Wunschvorstellung bei der Energiewende, dass man die konventionellen Energieträger abschaltet und sofort „die neue, heile Welt“ hat? Teilweise gibt es diese Illusion. Bei der Mehrheit der Verantwortlichen in den verschiedenen Gruppierungen gibt es aber ein großes Problembewusstsein. Das sieht man auch an den zahlreichen und intensiven Diskussionen über Kapazitätsmechanismen. Sie befürworten Vergünstigungen für die energieintensive Industrie – viele empfinden sie als einseitige Privilegierung der Wirtschaft. Was halten Sie von diesem Argument? Es ist gefährlich, aus der Energiewende eine Verteilungsdiskussion zu machen. Es gibt eine große Einigkeit darüber, dass die energieintensiven Branchen – soweit sie im internationalen Wettbewerb stehen – entlastet werden müssen. Die Politik kann sich nicht jedes einzelne Unternehmen anschauen und im Einzelfall entscheiden. Deswegen pauschaliert man und legt Grenzwerte fest – zur Freude des einen, zum Leid des anderen. Man muss in Kauf nehmen, dass einige dies als ungerecht empfinden. Die Alternative wäre ein bürokratischer Moloch. Ist die Energiewende auch eine Chance, eine internationale Vorreiterrolle einzunehmen? Ja, die Energiewende kann auch ein Stück weit Blaupause sein. Ausländische Investoren erkundigen sich bei mir nach der Energiewende. Sie sagen: „Lass die Deutschen mal machen und wenn es klappt, ist es auch für uns interessant.“ Über eine internationale Vorbildrolle hinaus, kann die Energiewende aber auch eine Versöhnungsformel für die Gesellschaft finden, sofern sie nicht zerredet wird und nicht in Verteilungsdiskussionen ausartet. Es ist ja kein Zufall, dass die Energiewende eine so breite Zustimmung erfährt – denn eine große Mehrheit befürwortet ja, dass man aus einer Risikotechnologie aus und in eine Technologie einsteigt, die uns auch ein Stück weit unabhängiger von Dritten macht. Abgesehen von der Energiewende – hat die Akzeptanz für Großprojekte insgesamt nachgelassen? Ich denke nicht, dass die Akzeptanz insgesamt nachgelassen hat – dennoch ist die Realisierung von Großprojekten an vielen Stellen schwieriger geworden. Das ist eine Entwicklung, die auch von den Medien gefördert wurde. Verzögert Bürgerbeteiligung die Verfahren? sein, sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Kommen wir zur Bürgerbeteiligung: Wie schätzen Sie die Verfahren ein, die beim Netzausbau angewendet werden? Nein, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt stattfindet, führt sie schlimmstenfalls nicht zum Schaden, aber bestenfalls zu einer Beschleunigung der Verfahren. Oft scheitert Bürgerbeteiligung an schlechter Kommunikation und unverständlichen Unterlagen. Wir stecken noch mitten im Prozess. Aber eines steht sicherlich jetzt schon fest: So viel Bürgerbeteiligung hat es noch nie bei einem Infrastrukturprojekt gegeben. Vom ersten Tag an bestanden Transparenz und Möglichkeiten für eine Bürgerbeteiligung, in der Diskussion, sowohl über die Energieszenarien der Zukunft als auch über den Netzentwicklungsplan der Netzbetreiber. Gibt es schon erste Erfolge? Es zahlt sich jetzt schon aus, dass wir frühzeitig den Dialog mit Stakeholdern gesucht haben. Wir haben sehr früh Methodenkonferenzen durchgeführt, bei denen auch verschiedenste technische Aspekte wie Erdkabel oder GleichstromÜbertragung diskutiert wurden. Damit wurden „geerdet“ und wurden Akzeptanzbarrieren für den Prozess vermieden. Das könnte vorbildlich auch für andere Verfahren und Großprojekte sein. Zu welchem Zeitpunkt sollte Bürgerbeteiligung erfolgen? Wenn ein Vorstandsvorsitzender eines Energieerzeugers nachts von einem neuen Kraftwerk träumt, dann ist das sicherlich noch nicht der richtige Zeitpunkt. Aber im Ernst: Das Projekt darf nur so weit fortgeschritten sein, dass offene Fragen und Themen noch angesprochen werden können und nicht jedes Detail bereits in Stein gemeißelt ist. Wie schätzen Sie die Möglichkeiten von Online-Beteiligung? Die erste Runde der Konsultationen beim Netzentwicklungsplan hat ja im Wesentlichen online stattgefunden. Das ist heute auch notwendig. Online-Beteiligung allein ist allerdings nicht ausreichend, weil man dadurch viele Menschen nicht erreicht. Deswegen haben wir jetzt auch eine Telefon-Hotline geschaltet und führen in der nächsten Runde in sechs verschiedenen Städten Veranstaltungen durch. Die Beteiligung vor Ort ist vor allem wichtig, um die Menschen in der Fläche zu erreichen. Wo ist die Grenze von Bürgerbeteiligung? Wir können in den Konsultationsverfahren nicht jeden Einwand berücksichtigen, weil es teilweise auch gegensätzliche Positionen gibt. Unser Ehrgeiz ist es, dass jeder Bürger Informationen darüber erhält, warum bestimmte Dinge gemacht und andere Dinge nicht gemacht werden. Transparenz heißt zuvorderst, dass alle vorliegenden Informationen umfassend dem Bürger zur Verfügung gestellt werden. Dafür haben wir eine eigene Website eingerichtet, auf der alles abgerufen werden kann. Das sind Hunderte von Seiten und es ist auch mühsam, alles zu sichten oder zu lesen. Das ist die andere Seite von Bürgerbeteiligung: Man muss bereit Das Basta-Argument erstickt alles. Was wollen Sie einem Ingenieur antworten, der schlicht sagt: „Das geht technisch aber nicht.“? Deshalb lassen wir unsere Veranstaltungen auch durch externe Moderatoren leiten. Sie sorgen dafür, dass die Bürger wirklich zu Wort kommen und nicht durch Fachwissen abgebügelt werden. Ist es denn mit der Einbindung von Externen getan? Nein. Wir legen grundsätzlich Wert darauf, dass alle Informationen und Argumente verständlich und nachvollziehbar aufgearbeitet werden. Wir müssen diese komplizierten Zusammenhänge, die nur wenige Menschen wirklich bis ins letzte Detail verstehen, in eine bürgernahe Sprache übersetzen. Das ist eine große und ungewohnte Aufgabe für eine Behörde. Brauchen Behörden dazu auch neue Qualifikationen? Ja. Ich brauche kommunikative Leute, die die Sprache der Menschen sprechen, die Argumente aufnehmen, damit umgehen können und nicht mit einem Obrigkeitston auftreten. Der Umgang miteinander ist ganz wichtig, sonst können wir das Ganze vergessen und am Ende heißt es dann wieder: „Typisch Behörde.“ Jochen Homann 195 Dr. Volker Kefer »Wir müssen Argumentationsketten deutlich machen.« Dr. Volker Kefer über Lehren aus Stuttgart 21 und die Voraussetzungen erfolgreicher und zielgruppengerechter Kommunikation. Hat Stuttgart 21 den Blick auf die Auseinandersetzung um Großprojekte verändert? Stuttgart hat gezeigt, dass sich auch dann Bürgerprotest regen kann, nachdem alle vorgeschriebenen Verfahren durchlaufen worden sind. Auch ein vorliegender Planfeststellungsbescheid war keine Gewähr dafür, dass es keinen Protest mehr gab. Warum haben die Proteste gegen Stuttgart 21 so eine Dimension angenommen? Zur Person Dr. Volker Kefer ist seit September 2009 Vorstand Technik, Systemverbund und Dienstleistungen der Deutschen Bahn AG und der DB Mobility Logistics AG sowie seit März 2010 Vorstand Infrastruktur bei der Deutschen Bahn AG. Der studierte Ingenieur ist nach mehrjähriger Tätigkeit im Siemens-Konzern seit 2006 bei der Deutschen Bahn tätig und war bis September 2009 Vorstandsvorsitzender der DB Netz AG. Im Jahr 2010 vertrat er die Deutsche Bahn AG bei der Schlichtung zu Stuttgart 21. 196 INTERVIEWS Da gab es eine Überlagerung von vielen Einflussfaktoren. Es gab im Vorfeld der Landtagswahl eine parteipolitische Interessenlage, die mit Sicherheit ausgestrahlt hat. Auch der Unwille in der Bevölkerung bezüglich der Vorgehensweisen bei diesem Projekt hat eine Rolle gespielt. Der Hintergrund der Protestbewegung ist also wahrscheinlich sehr breit gelagert. Fakt ist, dass es in Stuttgart möglich war, eine solche Protestbewegung zu initiieren. Daran sollte man sich auch bei zukünftigen Projekten orientieren, denn was in Stuttgart möglich ist, kann auch bei anderen Projekten passieren. Im Rheintal zum Beispiel haben sich zahlreiche Anwohner in Bürgerinitiativen organisiert, um mit Vehemenz für ihre Interessen zu streiten. Hat Stuttgart 21 also auf andere Infrastrukturprojekte abgefärbt? Im Rheintal gibt es die Proteste schon deutlich länger, aber natürlich haben die Menschen dort die Geschehnisse in Stuttgart beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen. Die sozialen Netzwerke wirken dabei wie ein Katalysator. Sie haben an der Schlichtung zu Stuttgart 21 teilgenommen. Was sind Ihre Schlüsselerkenntnisse? Bis zur Schlichtung waren die Diskussionen eher schlaglichtartig. Eine Behauptung reihte sich an die andere. Während der Schlichtung hatten wird die Gelegenheit, die einzelnen Themen im Detail auszudiskutieren. Dieses Ausdiskutieren zeigt dann, bis wohin Argumente reichen und ab wann man in eine Kontroverse gerät. Die SchlaglichtStatements, die man vorher in der Öffentlichkeit gefunden hat, haben bei der Schlichtung nicht mehr ausgereicht, sondern man musste Diskussionen im Detail führen und die gesamten Argumentationsketten bringen. Dadurch konnten die Zuschauer beurteilen, wie tragfähig die jeweiligen Positionen sind. Ein weiterer großer Vorteil der Schlichtung zu Stuttgart 21 war, dass Befürworter sowie Gegner, und zwar jeder Couleur, am gleichen Tisch saßen. Da kommen wirklich alle erdenklichen Aspekte zusammen und natürlich muss man sich mit allen auseinandersetzen. Übertragen auf die Energiewende: Müssen schwierige Themen immer in einen größeren Kontext gestellt werden? Richtig, denn wenn sich Leute eine Meinung bilden sollen, dann müssen sie das möglichst in Kenntnis aller Umstände tun. Bezogen auf die Energiewende heißt das: Die Bevölkerung muss begreifen, wofür die Energiewende gut ist, wie sie durchgeführt werden soll und welche Folgen sie hat. Welche Rolle spielen dabei die einzelnen Akteure? Wir haben in solchen Diskussionen, egal ob bei Stuttgart 21 oder bei der Energiewende, immer ähnliche Beteiligte, nicht in persona, aber in der Institution. Diese Beteiligten haben jeweils ihre wohlverstandenen eigenen Interessen. Dabei setzt die Politik zum Teil andere Prioritäten als die Industrie, die Umweltverbände wiederum andere als die Wirtschaft. Und alle sollten auch möglichst ihre Interessen vertreten, denn dafür wurden sie gewählt, bestimmt oder eingestellt. Wovon ich nichts halte, ist, wenn die Industrie die Rolle der Politik und umgekehrt die Politik die Rolle der Industrie zu übernehmen versucht. Jeder sollte seine Rolle kennen und wahrnehmen. Die Politik ist im großen Rahmen für die gesellschaftliche Meinungsbildung, die Ausbildung der politischen Kultur und für die Parteien zuständig. Die Umweltverbände kämpfen für die Interessen ihrer Klientel und versuchen, im Vorfeld in ihrem Sinne Einfluss auf die politischen Entscheider zu nehmen. Die endgültige Entscheidung über die Energiewende hat die Politik getroffen. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, warum. Aufgabe der Industrie ist es, aufzuzeigen, was technisch möglich ist und welche Kosten mit der Umsetzung verbunden sind. Es gibt einen Vorschlag, dass Projektbetreiber zwei Prozent der Projektmittel NGOs und Bürgerinitiativen für die Erstellung von Gutachten oder für Kommunikationsmaßnahmen zur Verfügung stellen, um Waffengleichheit herzustellen. Was halten Sie davon? Solche Fragen muss die Politik entscheiden. Sie hat ja auch ein Interesse daran, Diskussionen möglichst ausgewogen stattfinden zu lassen. Wie viel Geld das erfordert, muss man individuell entscheiden, denn das hängt ein Stück weit von der Komplexität des Themas ab. Bezahlen wird das am Ende immer die Allgemeinheit. Ein Stück mehr an Demokratie kann also durchaus auch seinen Preis haben. Im Verhältnis zu den Kosten insbesondere von großen Infrastrukturprojekten liegt dieser Preis aber eher im Promille-Bereich. Sind die Projektgegner im Hinblick auf Kommunikation und Kampagnenfähigkeit den Vorhabenträgern teilweise voraus? Sie sind mit sehr viel Enthusiasmus und Leidenschaft dabei und häufig erstaunlich gut informiert. Ein intensiver Austausch verlangt jedoch nach inhaltlichem Tiefgang in der Argumentation. Die Kampagnen von NGOs oder Bürgerinitiativen führen Dr. Volker Kefer 197 aber oft weg von einer sachlichen Auseinandersetzung. Daher würde ich mir wünschen, dass Inhalte und Sachargumente noch mehr in den Vordergrund treten. Wie sollte man die Diskussion mit Projektgegnern in Zukunft führen? Meine Empfehlung wäre, eine offene Diskussion in der Meinungsbildungsphase zuzulassen, diese möglichst zu einem breiten Konsens zu führen, bevor endgültige Entscheidungen getroffen sind. Das bedeutet auch, Verhandlungsmasse zu haben, und diese Verhandlungsmasse heißt insbesondere Geld. Es funktioniert nicht, auf der einen Seite mit einem gedeckelten Budget anzutreten und ich, was erreiche ich damit, was kostet das Ganze?“, und den gesamten Zusammenhang darstellen. Wie haben Sie die Rolle der Medien bei Stuttgart 21 empfunden? Bei Stuttgart 21 war die Live-Berichterstattung sehr effizient, weil man so einen sehr großen Zuschauer- oder Zuhörerkreis erreicht hat. Positiv überrascht war ich von der überwiegend ausgewogenen Berichterstattung. Mal mit einer Verstärkung des einen Argumentes, mal mit einer des anderen, aber immer erfreulich sachlich. Die Medien haben damit einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Schlichtung geleistet. Die Herausforderung bei direkter Übertragung »Legal war bei Stuttgart 21 alles.« auf der anderen Seite zu signalisieren, man sei offen für jede Idee. Das heißt übrigens auch, dass neben Geld auch die Bereitschaft auf allen Seiten bestehen muss, das Ganze möglichst kostengünstig zu realisieren. Wir erleben beides. Wir erleben die einen, die unendlich viel fordern, aber nicht bezahlen wollen und auch nicht akzeptieren, dass es etwas kostet, oder im Zweifelsfall immer einen anderen suchen, der bezahlen soll. Und wir erleben die anderen, die sagen, es gibt hier ein gedeckeltes Budget und damit keinerlei Möglichkeiten, irgendetwas zu verändern. Beide Positionen sind Extrempositionen, die am Ende nicht funktionieren können. Man muss im öffentlichen Diskurs immer auch fragen: „Was will 198 INTERVIEWS ist natürlich die Kommunikationsfähigkeit derer, die über das Für und Wider diskutieren. Was haben Sie in der Kommunikation bei Stuttgart 21 gelernt? Ingenieure tendieren ja dazu, sich sehr fachlich auszudrücken. Wenn sie unter Gleichen sind, ist das kein Problem, da versteht man sich schon irgendwie. Aber als Ingenieur etwas so zu erklären, dass es die Öffentlichkeit einigermaßen nachvollziehen und verstehen kann, ist bislang nicht die große Kunst meiner Zunft. Darauf hat Heiner Geißler ja immer wieder hingewiesen und uns ermahnt, verständlich zu kommunizieren, was in der Folge durchaus zu Veränderungen in der Argumentation und auch in der Aufbereitung der Unterlagen geführt hat. Wir haben uns dabei immer wieder die Frage gestellt, ob etwas verständlich dargestellt ist. Wenn man also eine Diskussion im Fernsehen überträgt, muss man Argumentationslinien, technische Informationen und alles, was dazugehört, so aufbereiten, dass es die Öffentlichkeit versteht. Noch mal zum Thema Bürgerbeteiligung: Sie gestalten ja im Moment mit der Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in BadenWürttemberg, Gisela Erler, den Filder-Dialog. Ist das ein konkretes Learning aus Stuttgart 21? Ja, ganz eindeutig. Beim Filder-Dialog soll in einem Zeitraum von vier Wochen eine freie, offene und ehrliche Diskussion über sämtliche Themen geführt werden, einschließlich der Kosten. Das ist auch ein wichtiger Aspekt, denn man kann natürlich nichts versprechen, was das Budget nicht hergibt. Die Ergebnisse aus der Diskussion sind nicht rechtlich bindend, aber werden von uns zusammengeführt, bewertet und gewichtet. Der Zeitplan ist sehr eng, und wir müssen bald eine Entscheidung treffen, wie es dort weitergehen soll. Ad infinitum kann der Dialog also nicht gehen, und er kann auch nicht beliebig sein. Das ist aber ein sinnvolles zusätzliches Gesprächsangebot. Geht der Gesetzesentwurf der Bundesregierung für die „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“, der vorsieht, dass die zuständige Behörde auf den Investor hinwirken soll, eine frühe Bürgerbeteiligung durchzuführen, in eine gute Richtung? Das ist ein schwieriges Thema, weil es nicht immer gelingt, Bürgerbeteiligung so zu orchestrieren, dass sie sich am Ende auch als effizient erweist. Also mal angenommen, man diskutiert ein Projekt in der Öffentlichkeit, aber die Diskussion stößt auf kein Interesse. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Entscheidungen getroffen sind, gibt es plötzlich große Aufmerksamkeit. Hat man dann etwas falsch gemacht? Oder haben sich die Randbedingungen geändert? Berücksichtigt man dann sämtliche Randbedingungen, um die Diskussion noch mal aufzuwickeln? Man müsste da ganz klar festlegen, welche Randbedingungen gelten, ansonsten haben wir keine Rechtssicherheit mehr. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller, wenn man den Gesamtprozess besser fasst und beschreibt und die Verfahren insgesamt strafft. Wie sollte man die Verfahren bei der Realisierung von Großprojekten ändern? Aus heutiger Sicht würde ich erstens versuchen, die Vorlaufzeiten zu verkürzen. Es gibt Vorplanungszeiten von zehn bis 15 Jahren und das ist einfach zu lang. Darüber besteht auch sehr große Einigkeit. Der zweite Aspekt ist, dass die Finanzierung der Projekte von Beginn an gesichert sein muss. Wenn jemand ein Planfeststellungsverfahren initiiert, muss vorher dafür gesorgt werden, dass das Projekt im Anschluss an die Planfeststellung auch finanziert ist und zeitnah mit der Projektrealisation begonnen werden kann. Abgesehen davon, dass dies aus Gründen der Wirtschaftlichkeit – wir reden hier fast ausschließlich von Steuergeldern – sinnvoll ist, wird auf diese Weise auch ein Strömungsabriss in der öffentlichen Vermittlung der Baumaßnahme vermieden. Braucht es neben der Legitimation des Verfahrens auch eine Legitimation der Kommunikation? Licht gesorgt. Ist das also ein probates Instrument? Volksentscheide sind aus meiner Sicht nicht die beste Lösung, weil über die parlamentarische Diskussion Kompromisse viel besser möglich sind. Bei einem Volksentscheid »Bei einem Volksentscheid fällt am Schluss immer eine binäre Entscheidung mit Ja oder Nein.« Das ist eine schwierige Diskussion, bei der man auch unterscheiden sollte, ob man über Legalität oder über Legitimität spricht. Legal war bei Stuttgart 21 alles. Dass es auch legitim war, wurde von den Projektgegnern in Abrede gestellt. Wenn es in einer Gesellschaft ein Auseinanderdriften zwischen Legalität und Legitimität gibt, führt das über kurz oder lang zum Bankrott des Staatswesens, denn das könnte bedeuten, dass legale Entscheidungen ausgehebelt werden, weil sie als nicht legitim empfunden werden, und illegale Entscheidungen über das Argument der Legitimität erlaubt werden könnten. Das kann sich keine Gesellschaft leisten. Die einzige Chance ist, dafür Sorge zu tragen, dass Legalität und empfundene Legitimität wieder zusammenkommen. Sonst gerät man in eine Diskrepanz, die auf Dauer nicht durchzustehen ist. fällt am Schluss immer eine binäre Entscheidung mit Ja oder Nein. Das ist keine Kompromiss-, sondern eine polarisierende Lösung mit einem Gewinner und einem Verlierer. Eine parlamentarische Entscheidung vermeidet dies und erhöht die öffentliche Akzeptanz für das jeweilige Großprojekt. Und zum Abschluss: Bei Stuttgart 21 hat ja schlussendlich der Volksentscheid für grünes Dr. Volker Kefer 199 Prof. Dr. Helmut Klages »Bürgerbeteiligung ist nichts Romantisches.« Prof. Dr. Helmut Klages über Verbesserungsmöglichkeiten in der Verwaltung und das Missverständnis von NIMBY. Warum ist die Skepsis gegenüber der Politik heute so groß? Zur Person Prof. Dr. Helmut Klages ist emeritierter Professor für empirische Sozialwissenschaften an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Vor seiner Berufung 1975 hatte er seit 1964 den Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Universität in Berlin inne. Klages gilt als Experte für Prozessoptimierung in der Verwaltung, gesellschaftlichen Wandel und Bürgerbeteiligung. 200 INTERVIEWS Das liegt daran, dass es innerhalb von Politik und Bürgerschaft zwei gegenläufige Prozesse gibt, deren Harmonisierung bisher noch nicht gelungen ist. Auf der einen Seite ist das politische System aufgrund seiner Eigenkomplexität nach außen hin geschlossen, weil die Politik mit sich selbst genug beschäftigt ist. Zudem empfinden Politiker die Öffnung nach außen als zusätzliche Belastung, zumal sie andere Verhaltensweisen und Sprachgewohnheiten mit sich bringt. Dagegen wehrt sich die Bevölkerung. Das hat ebenso einen Hintergrund, denn innerhalb der Bevölkerung gab es in den letzten Jahrzehnten einen Wertewandel, der mit einem höheren Bildungsniveau, rationaleren Orientierungen im Berufsleben sowie einer ansteigenden Informationsdichte durch Massenmedien Hand in Hand geht. Das bringt auch mit sich, dass es ein höheres Beteiligungsbedürfnis innerhalb der Bevölkerung gibt. Auf der einen Seite ist also eine für sich betrachtet plausible Tendenz des politischen Systems zur internen Organisation seiner Prozesse und auf der anderen Seite ein stark zunehmendes Beteiligungsbedürfnis der Bevölkerung vorhanden. Hat der Wertewandel auch zu einem zunehmenden Egoismus geführt? Die Menschen sind heute nicht egoistischer oder weniger bereit als früher, Lasten für das Allgemeinwohl zu tragen. Es gibt nur eine größere Sensibilität für Verletzungen von Interessenlagen sowie ein aktiveres und selbstbewussteres Selbstverständnis gegenüber der Politik. Es herrscht nicht mehr die Untertanenmentalität von früher, sondern eine viel rationalere und selbstbewusstere Grundeinstellung innerhalb der Bevölkerung. Damit verbunden ist eine kritischere Grundhaltung gegenüber Hierarchien. Das ist übrigens nicht nur in Deutschland der Fall, sondern international zu beobachten. In Verbindung mit dem bestehenden Misstrauen gibt es eine starke Neigung, Entscheidungen zu hinterfragen, insbesondere wenn sie einen selbst betreffen. Aber es gibt keine Belege dafür, dass es eine generelle Abwehrhaltung gegenüber dem Gemeininteresse gibt. Die empirischen Fakten belegen viel mehr das genaue Gegenteil des von den Eliten verbreiteten Bildes der „Ego-Gesellschaft“. Natürlich sind die Menschen kritischer geworden, und das bringt eben mit sich, dass man sie aktiv beteiligen muss. Bezogen auf die aktuellen Proteste gegen Großprojekte: Stimmt also das Bild der sturen und egoistischen Demonstranten nicht? Nein. Man geht allzu häufig von übermäßig pessimistischen Vorstellungen hinsichtlich der Mentalität der Bürger aus. Es wird ja viel über das „Not in my backyard“-Problem geredet, dass Bürger auf der abstrakten Ebene zwar ganz gerne Ja sagen, aber sich sofort auf die Hinterbeine stellen, wenn es um die eigenen Interessen geht. Dieses Bild ist wahnsinnig übervereinfachend und deckt sich nicht mit den empirischen Fakten. Es gibt gerade wieder eine interessante Studie, wonach es zwar tatsächlich eine gewisse Zunahme von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden gibt, aber gleichzeitig sind die Planungen von Projekten dadurch nicht ernsthaft beeinträchtigt worden, sondern im Wesentlichen im vorgesehenen Maße vorangeschritten. Wenn man also von der Zahl der Zulassungen ausgeht, gab es keine ernsthaften Behinderungen. Man wird mit dem Einsatz geeigneter Verfahren und frühzeitiger, ergebnisoffener Beteiligung im Wesentlichen sehr positive Erfahrungen machen und feststellen, dass diese Anti-Haltung als vorherrschende Einstellung der Bevölkerung überhaupt nicht existiert. Apropos Beteiligung: Sie haben das Speyerer Bürgerpanel entwickelt. Wie sind Ihre Erfahrungen damit? Das Bürgerpanel ist ein Befragungsverfahren, das in Großbritannien unter der Bezeichnung „Citizen’s Panel“ entwickelt worden ist. Die Grundidee ist, eine repräsentative Auswahl von Bürgern regelmäßig zu Themen zu befragen, die in den Entscheidungsprozessen der Kommune von aktueller Bedeutung sind. Insofern führt dieses Verfahren wesentlich über das hinaus, was bei uns in vielen Kommunen als Bürgerbefragung aktuell praktiziert wird. Es füllt eine bisherige Leerstelle im „Instrumentenkoffer“ der Bürgerbeteiligung aus. Was waren die Folgen dieser Befragungen? Wir haben festgestellt, dass der oft befürchtete Fatigue-Effekt, also der Ermüdungseffekt, nicht eingetreten ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass diese Beteiligung sehr niederschwellig ist und nur eine halbe bis eine Stunde der Zeit der Bürger in Anspruch nimmt. Wir haben sogar eine tendenziell zunehmende Bereitschaft festgestellt, sich zu beteiligen. Das haben Nachfragen unter den Teilnehmern ebenfalls bestätigt. Demnach waren bis zu 70 Prozent der Befragten bereit oder interessiert, an weiteren Befragungen oder auch Beteiligungsaktivitäten teilzunehmen, und das, obwohl die Bürger bei der Umfrage aus der Befragungsanonymität, die ja normalerweise garantiert ist, heraustreten und einen Antwortbogen mit einer Bereitschaftserklärung und der Angabe des Namens sowie der Adresse zurückschicken mussten. Müssen Bürger im gesamten Prozess beteiligt werden? Ja, jedenfalls an wesentlichen Entscheidungspunkten. Gerade wenn man an größere und längerfristige Projekte denkt, geht es ja nicht nur Prof. Dr. Helmut Klages 201 um Augenblickentscheidungen, sondern um Prozesse, die unter Umständen über Jahre laufen. Daher gibt es auch immer wieder neue Entscheidungen, durch die die Planung umgestoßen, geändert oder neu formuliert wird. Bei Stuttgart 21 hatten wir ja den exemplarischen Fall, dass am Beginn der Planungen vor zig nen unterstellt wird. Es muss aber trotzdem sichergestellt werden, dass Ergebnisse einer Phase in die nächste Phase übernommen werden und dass man nicht immer wieder von Neuem anfängt. Dieses Organisationsproblem der Bürgerbeteiligung muss – und kann – jedoch durch methodische Ansätze gelöst »Es reicht nicht, die Bürger nur einmal zu beteiligen.« Jahren eine Bürgerumfrage oder irgendeine größere Veranstaltung gemacht worden war, an die sich kein Mensch mehr erinnern konnte oder wollte. Es reicht also nicht, die Bürger nur einmal zu beteiligen, selbst wenn diese Beteiligung ganz intensiv war. Häufig ist es ja auch so, dass es im Rahmen eines Projekts einen Workshop oder Ähnliches gibt, bei dem die Bürger ihre Interessen einbringen können, und dass es dann von den Projektinitiatoren heißt, dass die Ideen der Bürger „berücksichtigt“ würden – nur wie und in welcher Form ist unklar, und das führt natürlich zu Ressentiments. Wie kann man das vermeiden? Das ist in der Tat ein heikler Punkt, der auch in der Methodik der Bürgerbeteiligung bisher noch kaum erörtert worden ist. Es gibt ein Schnittstellenproblem, das es zu lösen gilt. Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass sich immer dieselben Bürger beteiligen, insofern gibt es keine gesicherte Beteiligungskontinuität, was ja in vielen Diskussio202 INTERVIEWS werden. Es gibt schon seit vielen Jahren fundierte Ansätze zur Projektorganisation, und in diesem Rahmen sind – völlig unabhängig vom Thema Bürgerbeteiligung – bereits Methoden entwickelt worden, die sicherstellen, dass beispielsweise Beratungsergebnisse aus einer Gruppe in eine andere überführt werden. Was ist für Sie das beste Beteiligungsmodell? Man sollte nicht nach der optimalen Methode suchen, denn die Anwendung der Methode hängt von den jeweiligen Anforderungen in den einzelnen Projektphasen ab. Die Anforderungen sind ganz unterschiedlich, je nachdem, was die Zielsetzung ist. Inwieweit können solche Beteiligungsprozesse tatsächlich ergebnisoffen sein? Sie können in dem Sinne ergebnisoffen sein, als den Bürgern reale Beteiligungschancen beziehungsweise reale Chancen des Gehörtwerdens und der Mitwirkung gegeben wer- den. Bürgerbeteiligung impliziert keinesfalls zwingend eine reguläre Mit- oder Exklusiventscheidung der Bürger, wie das beim Bürgerentscheid vorgesehen ist. Das Letztentscheidungsrecht sollte vielmehr bei den in der Verfassung vorgesehenen Instanzen bleiben. Diese Annahme ist auch Grundlage unserer Leitlinien in Heidelberg. Sie stimmt offenbar auch mit den Erwartungen der Bürger überein. Die Mehrheit der Bürger erwartet nicht, die Entscheidungsaufgabe der Politik übernehmen zu müssen, denn die Bürger akzeptieren ganz überwiegend politische Führung und die Grundinstitutionen der parlamentarischen Demokratie. Kann Bürgerbeteiligung auch ins Uferlose gehen? Ja, diese Gefahr besteht. Infolgedessen haben wir auch in unsere Leitlinien die Bestimmung aufgenommen, dass ein Zeitrahmen fixiert wird. Bei Überschreitung dieses Zeitrahmens muss überlegt werden, ob man durch eine Umorganisation eingreift oder den Prozess vielleicht sogar abbricht. Man darf Bürgerbeteiligung nicht romantisch verstehen. Es ist ein Fehler zu sagen, dass Bürgerbeteiligung etwas Spontanes sein muss, das man nicht organisieren darf. Wann sollten Bürger bei großen Projekten beteiligt werden? Nach den Heidelberger Leitlinien soll die Information der Bevölkerung spätestens drei Monate vor der Ersterörterung in einem kommunalen Gremium erfolgen. Und zwar überall. Es ist sehr wichtig, dass diese Information umfassend erfolgt. Das spielt für die Kommunen natürlich eine große Rolle, wo es eine Vielzahl von Projekten gibt. Die Information soll in der Regel bei allen Projekten erfolgen, bei denen ein Interesse der Bürger an den Projekten angenommen werden kann. Muss Bürgerbeteiligung gesetzlich verankert werden? Ja, denn wir haben in Deutschland eine rechtsstaatlich geprägte Kultur. Verbindlichkeit ist unter solchen Voraussetzungen nur auf der Grundlage der rechtlich gesicherten Zuverlässigkeit herzustellen. Momentan spielt bei Großvorhaben die sogenannte Fakultativitätsfrage eine große Rolle. Bisher ist es den jeweiligen Planern und Betreibern freigestellt, Bürgerbeteiligung durchzuführen oder nicht. Es muss demgegenüber eine absolute Verlässlichkeit sichergestellt werden, das darf nicht von Zufallsentscheidungen oder von Opportunitätsüberlegungen abhängen. Das ist ja auch einer der großen Kritikpunkte am Gesetzesentwurf im Hinblick auf die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung, denn das Innenministerium fordert da zwar mehr Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, aber eben nur freiwillig. Was ist der Nutzen von Bürgerbeteiligung für Politik und Verwaltung? Die Politik gewinnt durch vernünftig umgesetzte Bürgerbeteiligung Legitimität. Bürgerbeteiligung kann zudem dazu führen, Misstrauen zu reduzieren und neues Vertrauen aufzubauen. Wenn Bürgerbeteiligung richtig umgesetzt wird, stärkt sie die Kommunikation zwischen den politischen Eliten und den Bürgern, die zurzeit aus unterschiedlichen Gründen völlig unterentwickelt ist. Daher versöhnt sie auch Bürger, die sich nicht in das System integriert und einer gewissen Fremdbestimmung ausgesetzt fühlen, auch weil ihnen viele politische Entscheidungen unverständlich sind. Bürgerbeteiligung muss den Dialog zwischen den politischen Eliten und den Bürgern auslösen, den die parlamentarische Demokratie ja theoretisch beinhaltet, der aber praktisch kaum stattfindet. Die Verwaltung gewinnt Planungssicherheit, denn Bürgerbeteiligung erbringt ja eine Information über die Bedürfnis- und Stimmungslage innerhalb der Bevölkerung und eröffnet von daher auch Möglichkeiten eines gezielten Dialogs mit der Bevölkerung. Das schließt auch das Plausibilisieren von Planungen ein, das bisher praktisch kaum genutzt wurde – die Unverständlichkeit von Planungsvorhaben ist ja wirklich überwältigend! des Process Owner entwickelt, der als Prozessverantwortlicher eingesetzt wird, um die Prozesse zu optimieren sowie Liegezeiten und unproduktive Wartezeiten zu verringern. Durch rein verwaltungsinterne Optimierungsmaßnahmen, bei denen die Bürger überhaupt noch nicht im Spiel waren, konnte der Zeitbedarf von Genehmigungsverfahren im Einzelfall auf zehn Prozent des vorhergehenden Zeitaufwands reduziert werden. Droht die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung die Prozesse verzögert? Als Verwaltungswissenschaftler kann ich Ihnen sagen, dass die Befürchtung falsch ist, dass sich Prozesse automatisch verlangsamen, wenn Bürger beteiligt werden. Durch Nutzung der Optimierungsreserven verwaltungsinterner Art kann noch sehr viel passieren. Auch »Die Verwaltung gewinnt Planungssicherheit.« Wie kann man die Prozesse in der Verwaltung vereinfachen? Ich war einer der Initiatoren des Speyerer Qualitätswettbewerbs, der sich seit 1992 mit der Modernisierung der Verwaltung beschäftigt hat. Da gab es bei der Frage der Prozessorganisation und Prozessoptimierung die Beobachtung, dass es durch mangelnde Koordination innerhalb der oft sehr komplexen Organisationen, die sich mit solchen Verfahren beschäftigen, ungeheure interne Verlustzeiten gibt. Unter anderem wurde zur Beseitigung dieses Übelstands die Figur die Prozesse, die sich mit der Bürgerbeteiligung verbinden, können durch rationale Planung optimiert werden. Es gehört einfach dazu, dass man am Anfang einer Prozessplanung auch die Bürgerbeteiligung als Planungselement einbezieht. Zwar kommt dadurch ein zusätzlicher Zeitfaktor ins Spiel, dem man Rechnung tragen muss. Wenn man alle Reserven nutzt, wird man aber am Ende unterm Strich einen Zeitgewinn verbuchen können. Prof. Dr. Helmut Klages 203 Roland Koch »Politik muss Lasten verteilen.« Roland Koch über Akzeptanzstrategien bei Konfliktprojekten und eine neue Lastenverteilung in unserer Gesellschaft. Das Mediationsverfahren im Zusammenhang mit dem Bau der neuen Startbahn des Frankfurter Flughafens haben Sie einmal als „eine der wichtigsten politischen Entscheidungen“ Ihres Lebens bezeichnet … Zur Person Roland Koch war zwölf Jahre lang Landesvorsitzender der hessischen CDU und von 1999 bis 2010 Ministerpräsident von Hessen. Während dieser Zeit initiierte er ein Mediationsverfahren zum umstrittenen Ausbau des Frankfurter Rhein-MainFlughafens, das als wegweisend gilt. Seit 2011 ist der Volljurist Vorstandsvorsitzender von Bilfinger SE, einem international führenden Engineering- und Dienstleistungskonzern mit Sitz in Mannheim. 204 INTERVIEWS Richtig. Überhaupt verstehe ich Bürgerbeteiligung in allererster Linie als eine politische Herausforderung – und weniger als eine juristische, zumal sie nicht immer institutionell fassbar ist. Ich bin überzeugt, dass es die Aufgabe von Politikern ist, bei konfliktären Projekten den jeweils geeigneten Weg zu finden. Und dieser Weg ist in heutigen Zeiten möglicherweise das, was vielerorts bereits unter dem Stichwort Mediation geschieht. Wobei man die Mediation nicht kodifizieren, sondern sie schlichtweg betreiben sollte. Eine Normierung hat auch deshalb keinen Sinn, weil die Mediation rechtsstaatliche Prozesse nicht ersetzt, dazu ist sie gar nicht in der Lage. Rechtsstaatlich ist am Ende immer nur das Ergebnis des Gerichts. Was kann eine Mediation leisten? Eine Mediation sorgt für Transparenz der unterschiedlichen Interessen, macht Auseinandersetzungen sichtbar und setzt auf diese Weise Meinungsbildungsprozesse und im besten Fall Solidarität in Gang. Je mehr sich die Politik auf solche Prozesse einlässt, umso weniger Raum gibt es letztlich für eine Empörung, die häufig aus der Nichtbeteiligung herrührt und schlimmstenfalls bis zu Gewalt führen kann. Denn dadurch entkräftet man ein wichtiges Argument der radikalen Gegner – nämlich das, nicht gefragt worden zu sein. Gleichzeitig solidarisiert man durch Mediation und gesellschaftliche Mitnahme jene Mehrheit der Bürger, die diese Radikalität ablehnt. Sie wollen damit sagen, Mediation baut auch der schweigenden Mehrheit der Bevölkerung eine Brücke? Zumindest profitiert sie von einem solchen Engagement, weil sie sich durch die Mediation transparenter ein Urteil bilden kann. Mediation ist aber auch Impuls für die sprechende Mehrheit. Denn die ist gezwungen, sich zu entscheiden: Will ich weiterhin zu den obstruktiven Nein-Sagern gehören? Oder doch zu jenem Teil der Bevölkerung, der Überzeugungen aus- tauscht und Fakten zur Kenntnis nimmt? Die Engagierten lassen sich ja in unserer Gesellschaft zu einem überwiegenden Teil auf den Diskurs ein. Und damit auch auf das Risiko, dass sie nicht ganz so überzeugt von ihrer eigenen Position aus dem Prozess herausgehen, wie sie anfangs hineingekommen sind. Soll heißen, Transparenz und Dialog sind der Königsweg – weil sie den Weg zu Kompromissen ebnen? Lassen Sie mich auch das am Beispiel Frankfurter Flughafen illustrieren: Nach einer jahrzehntelangen Diskussion über die Veröffentlichung von Lärmwerten können Sie heute als Bürger im Internet die aktuellen Lärmspuren quasi in Echtzeit nachverfolgen. Ich bin nicht sicher, ob überhaupt viele Menschen dieses Angebot nutzen. Aber ich weiß auch: Würde man diese Möglichkeit den Anwohnern nicht zur Verfügung stellen, würde das zu Misstrauen und einer massiven Aggression führen. Allein die Tatsache, dass ein solches Tool existiert und man es theoretisch in Anspruch nehmen kann, führt zu einer gewissen Befriedung der Diskussion. Also lieber zu viel als zu wenig kommunizieren? Ja. Denn das Verschweigen eines Vorfalls wiegt in unserer Gesellschaft immer schwerer als das Eingestehen desselben. Das mag in der Konsequenz dazu führen, dass zum Beispiel ein Kernkraftwerk möglicherweise 200 Ereignisse im Jahr vermeldet, von denen kein einziges wirklich sicherheitsrelevant war. Und trotzdem ist ein solches Vorgehen ratsam. Weil es für die Menschen offensichtlich einfacher ist, mit 200 kommunizierten Ereignissen umzugehen als mit dem leisesten Verdacht, man könnte ihnen etwas verschwiegen haben. Das ist eine Erkenntnis, die im Übrigen auch in das Verfahren um den Frankfurter Flughafen eingeflossen ist. So haben wir damals zu jedem einzelnen Argument, das vorgebracht wurde, den jeweils besten Wissenschaftler um seine Einschätzung gebeten. Zusätzlich haben wir ein weiteres Gutachten zur Qualitätssicherung in Auftrag gegeben. Wobei man das Ganze ausdrücklich weniger durch die formaljuristische Brille, sondern vielmehr durch die gesellschaftspolitische betrachten sollte. Eine Sichtweise, die Sie auch den Industrieunternehmen ins Pflichtenheft schreiben? Absolut. Jeder Unternehmer, der Consumer Products auf den Markt bringen will, muss sich zunächst ganz genau damit beschäftigen, wie die Stimmung der Menschen ist. Zeitpunkt, Farbe, Form und Preis – all das muss stimmen für den Verkaufserfolg. Ähnlich sollte auch der Industrieverantwortliche, der eine neue Anlage bauen möchte, an die Sache herangehen. Allerdings scheint eine solche Sichtweise noch nicht bei allen Entscheidern in der Wirtschaft angekommen zu sein. Woran hapert es? Ökonomische Tätigkeiten finden immer in einem sozialen Umfeld statt. Dieser Tatsache wird in den Entscheidungswelten mancher Unternehmer noch nicht genügend Platz eingeräumt. Der Unternehmer muss akzeptieren lernen, dass er in geeigneter Weise mit den Menschen wird umgehen müssen, für die sein Projekt eine Belastung darstellt. Und er muss eine klare Vorstellung davon haben, wie er sich mit dieser Bevölkerungsgruppe auseinandersetzen will – und zwar jenseits desRoland Koch 205 sen, was im Gesetz steht. Bürger informiert zu halten, um ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass sie nicht ausgeschlossen werden aus der Gestaltung ihrer Umwelt, mag aufwendig sein, ist aber extrem wichtig. Sicherlich, man kann den Aspekt der gesellschaftlichen Akzeptanz ignorieren und auf Rechts- und Gesetzesansprüche verweisen. Das mag in manchen Fällen auch ausreichen – ist aber der deutlich steinigere Weg. Im Übrigen erleben wir auch im eigenen Unternehmen, dass heute zu jeder Ausschreibung eine Öffentlichkeitsbeteiligung gehört. Insofern muss man die Frage, was aus Akzeptanzgründen möglicherweise „on top“ notwendig ist, ohnehin in die Kalkulation mit einbeziehen. Und wenn sich das Ganze unter dem Strich nicht rechnet? Dann sollte man das offen kommunizieren. Das wird in Deutschland zwar noch selten gemacht, aber es ist meiner Auffassung nach völlig legitim zu sagen: „Das Projekt kriege ich nur unter diesen, aber nicht unter jenen Konditionen bewerkstelligt. Ich erfülle alle gesetzlichen Standards, aber zu mehr bin ich wirtschaftlich einfach nicht in der Lage. Deshalb lasst uns rasch miteinander klären, ob das für alle Beteiligten ein Weg sein kann – oder eben nicht. Dann wähle ich halt einen anderen Standort für mein Vorhaben.“ Gehört zu dieser Diskussion auch eine Debatte um die Lastenverteilung in unserer Gesellschaft? Auf jeden Fall. Denn viele Menschen empfinden es heute offensichtlich nicht mehr als angemessen, zum Wohle der Allgemeinheit bestimmte 206 INTERVIEWS Lasten auf sich nehmen zu müssen. Es mangelt in unserer Gesellschaft an der Einsicht, dass Gemeinwohl auch die Hinnahme bestimmter Einschränkungen bedeutet. Zum Beispiel wird schon das Aufstellen eines Glascontainers in einer Gemeinde von den Anwohnern als potenzielle Ruhestörung und damit als Belastung wahrgenommen, die man nicht bereit ist hinzunehmen. Wenn es um den unmittelbaren Lebensraum geht, reagiert selbst der ansonsten durchaus gemeinwohlorientierte Bürger heute außerordentlich allergisch. Welche Rolle hat die Politik in dieser Gemengelage? In einer Demokratie wird Regierungspolitik immer auch darin bestehen, Lasten zu verteilen – und zu erklären, warum diese Lasten notwendig sind. Die Regierung ist naturgemäß eher der GemeinwohlAnwalt als die Opposition. Dieses Spannungsfeld wird es, in den unterschiedlichsten Schattierungen, zwischen Regierung und Opposition immer geben. Das ist auch richtig so, denn ansonsten würde das Gemeinwohl ja zur reinen Ideologie geraten. Gleichwohl macht das die Diskussion der Frage, was unter Gemeinwohl eigentlich zu verstehen ist, nicht einfacher, sondern im Gegenteil schwieriger und komplexer. Mit Blick auf die Energiewende: Wird hinreichend deutlich, dass auch hier der Einzelne Lasten zu übernehmen hat? Und wessen Aufgabe wäre es, das den Bürgern zu erklären? Das ist die originäre Aufgabe der Regierung. Sie hat es allerdings versäumt, den Bürgern in der unmittel- baren Reaktion auf Fukushima zu erklären, dass der Ausstieg aus der Kernenergie auch seinen Preis hat. Und sie unterschlägt bis heute, dass die Energiewende zu nennenswerten Kostensteigerungen und teilweise auch zu bislang nicht gekannten Abhängigkeiten von Energielieferungen aus dem Ausland führen wird. Das ist ein Fehler und ärgerlich, weil die Menschen damals unter dem unmittelbaren Eindruck von Fukushima bereit gewesen wären, diese Lasten zu akzeptieren. Diese Mehrbelastungen zu offenbaren, ist für sich gesehen auch nicht problematisch. Im Gegenteil: Macht man sie transparent, kann eine Gesellschaft sich damit auseinandersetzen und entscheiden. Und ich bin überzeugt, dass Politik auch in der Lage ist, so einen Prozess zu managen. Welche Aufgabe kommt den Unternehmen in Sachen Energiewende zu? Erste Pflicht der Unternehmen bleibt es, unter den vom Staat vorgegebenen Rahmenbedingungen Kapital rational einzusetzen und Erträge zu optimieren. Daneben gehört es aber auch zu ihren Aufgaben, eine hohe Transparenz in Hinblick auf ihr Tun und die entsprechenden Umfeldbedingungen herzustellen. Und zwar gar nicht so sehr in einem technischen Sinne, wie das bei der Kernkraft noch der Fall war. Vielmehr muss die Wirtschaft den Menschen die Folgen erklären, die politische Vorgaben haben. Stellt sie diese Transparenz bezüglich ihres Vorgehens und der Gründe dafür nicht her, gerät sie in eine Frontstellung, in der dann letztlich die Politik gezwungen ist, gegen die Wirtschaft – insbeson- dere die Energiewirtschaft – Stellung zu beziehen. Die Wirtschaft begibt sich dann in die Gefahr großer demokratischer Spannungen, weil die Energiepreise auch in Zukunft eine hohe Relevanz haben werden. Stichwort Energiepreise: Gibt es in diesem Land einen Konsens über unsere Rolle als Industriestandort? In Deutschland gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein sehr beachtliches Selbstbewusstsein, was den Industriestandort angeht. Industrie wird in Deutschland nicht prinzipiell als etwas Schlechtes wahrgenommen. Trotzdem fällt es offensichtlich schwer, diese abstrakte Erkenntnis und die Erfordernisse einer künftigen Energiepolitik im Bewusstsein der Menschen übereinanderzubringen. Dabei ist das für mich gerade ein ganz problematischer Aspekt in der Diskussion um die Energiewende – dass nämlich die Frage einer preisgünstigen Energieversorgung unweigerlich immer auch eine Frage der Qualität unseres Industriestandortes ist. Wenn ich Energie nicht mehr preisgünstig zur Verfügung stellen kann, dann sind davon auch „saubere“ Industrien betroffen. So machen sich wahrscheinlich die wenigsten Menschen bewusst, dass zum Beispiel die großen Rechenzentren, die ich zum Bewegen der Cloud betreiben will, auch jede Menge Energie benötigen. Wobei es bei der Energie- und Standortfrage in Deutschland sicherlich nicht nur um Rechenzentren geht – sondern vor allem auch um die Schwerindustrie… In der Tat wäre es eine Verzerrung, nur auf vermeintlich positiv angese- hene Industriezweige wie die Informationstechnologie und so schicke, „cleane“ Themen wie die Cloud zu verweisen. In diesem Fall ist der bequemste Weg nicht der beste – wir müssen in der Diskussion um den Umbau unserer Energiewirtschaft tatsächlich auch über andere Dinge sprechen, auf die Deutschland angewiesen ist. Etwa über die Aluminiumhütten, die man heute in einem ganz neuen Kontext betrachten muss. Das Aluminium der Wenn wir eine Energiepolitik betreiben, die diese Aspekte ausblendet, kann es sein, dass diese Wertschöpfungen alle abwandern. Apropos Ausland: Bilfinger ist global tätig. Erleben Sie Widerstände gegen Großprojekte auch in anderen Ländern? Die Protestkultur ist in Deutschland sicherlich anders entwickelt. Aber zu glauben, dass persönlich betroffene Menschen in anderen Teilen der »Ökonomische Tätigkeiten finden immer in einem sozialen Umfeld statt.« Zukunft ist sehr viel umweltfreundlicher, sehr viel leichter, und durch seinen Einsatz werden wir Milliarden Tonnen von Öl einsparen. Und am Ende wird es genau deshalb einen harten globalen Wettbewerb darum geben, wer an der Herstellung und Nutzung dieses Aluminiums verdient. Ein anderes Beispiel sind Carbonfasern, das ist möglicherweise der Werkstoff der Zukunft. Zwar sind wir mit SGL Carbon in diesem Bereich weltweit führend, aber dieses Unternehmen wird zu den Bedingungen, die hierzulande herrschen, am Standort Deutschland keine Produktion einrichten. Die Herstellung der Carbonfasern findet stattdessen heute irgendwo zwischen Amerika, Kanada und Japan statt, weil all diese Länder Energieverbrauch mit all seinen Konsequenzen in einer anderen Weise hinnehmen, als wir das in Deutschland tun. Was diese Beispiele deutlich machen sollen: Welt vergleichbare Projekte einfach hinnehmen, wäre eine Verklärung der Lage. Gerade in aufstrebenden Ländern wie etwa Indien werden ähnliche Umweltdebatten geführt, insbesondere an den Standorten mit Chemie- und anderen Industrien. Und in den USA hat man kürzlich erst die Genehmigung für den Bau neuer Kernkraftwerke erteilt – nach 20 Jahren. Es gibt also keinen Grund zu glauben, der Rest der Welt tue sich leichter mit diesen Themen. Roland Koch 207 Stephan Kohler »Energieeffizienz ist nicht sexy und macht Arbeit.« Stephan Kohler über Energieeffizienz, ihre Bedeutung für die Energiewende und die Rolle der Wirtschaft. Wie ausschlaggebend ist die eigene Betroffenheit für Proteste gegen große Infrastrukturprojekte? Zur Person Seit 2006 gibt Stephan Kohler als Vorsitzender der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur GmbH (dena) Gehör und Stimme. Vor seiner Tätigkeit bei der dena war Stephan Kohler unter anderem Vorstandsmitglied des Öko-Instituts Freiburg und Geschäftsführer der Niedersächsischen Energieagentur. Der Energieexperte hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Szenarien der Energiewende publiziert. Er ist Autor der Bücher „Die Energiewende ist möglich“ und „Sonnenenergie-Wirtschaft“ sowie Mitherausgeber des Buches „Neue Wege zum Klimaschutz“. 208 INTERVIEWS Bei 80 Prozent ist die unmittelbare Betroffenheit in ihrem Umfeld entscheidend. Die Leute wollen ihre direkte Umwelt schützen und erkennen übergeordnete Notwendigkeiten nicht an. Infrastrukturprojekte werden von der Bevölkerung oft als nicht notwendig angesehen. Wenn wir aber Projekte wie den Netzausbau oder Großkraftwerke nicht akzeptieren, dann wird der Industriestandort Deutschland Schaden nehmen und wir werden die Energiewende nicht schaffen. In zehn bis zwanzig Jahren haben wir dann wirklich schlechtere Lebensstandards. Das ist manchmal die Haltung: Wir wollen die Energiewende, aber keine Windräder und Strommasten in Sichtweite. Gibt es eine Erklärung dafür? Das liegt unter anderem an dem Bild, das der Öffentlichkeit vorgegaukelt und von Wissenschaftlern zudem unterstützt wird: Wir machen die Energiewende und keiner merkt es. Wir machen die Energiewende, aber es geht weiter so wie bisher und jeder wird praktisch zu seinem eigenen Energieversorger. Wir rüsten Häuser energetisch um, stellen noch ein Elektroauto in die Garage und können uns praktisch autark mit Strom und Energie versorgen. Und das unangenehme Pumpspeicherkraftwerk verlagern wir ins Ausland. Das ist das falsche Bild, das auch von Fachleuten gezeichnet wird, aber auch von Öffentlichkeit und Politik gerne gehört wird. Da wird dann nicht mehr faktenbasiert argumentiert, sondern auch ideologisch. Daraus könnte man schließen, dass der Bevölkerung die Herausforderungen und Folgen der Energiewende noch nicht wirklich bewusst sind. Es heißt immer: „Wir machen die Energiewende.“ Was fehlt, ist eine klare Definition der Verantwortlichkeiten. Die Energiewende beginnt mit der massiven Reduktion unseres Energieverbrauchs – bis 2020 minus 20 Prozent. Diese Energieeffizienz erreichen wir nur, wenn 80 Millionen Menschen sich energieeffizient verhalten. Es gibt Lippenbekenntnisse und ein paar Programme; die werden nicht ausreichen. Energieeffizienz ist aber eine Voraussetzung für den Erfolg der Energiewende. Bisher konzentriert sich alles darauf, Kernkraftwerke abzuschalten und regenerative Energien zuzubauen. Warum wird das Thema Energieeffizienz so stiefmütterlich behandelt? Energieeffizienz ist kein sexy Thema. Und es macht Arbeit. Wenn ich eine Fotovoltaikanlage auf mein Dach baue, dann lasse ich mir ein Angebot schicken, der Handwerker installiert die Anlage, und ich habe damit praktisch nichts zu tun. Eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach ist etwas Tolles und hat den Nimbus von Hightech. Wenn ich aber mein Haus energetisch sanieren will, dann muss ich mich damit beschäftigen, wie ich das Gesamtsystem optimiere. Das ist für Hausbesitzer oftmals ein sehr komplexes Vorhaben, weil sie mindestens sieben Handwerker koordinieren müssen. Das sind alles Dinge, die aufwendig sind und die die Leute nicht gerne machen. Kann man den einzelnen Bürger motivieren, mehr zu tun? Unsere Botschaft ist: „Energieeffizienz ist Wertsteigerung und Werter- haltung.“ Das ist gerade bei Immobilien, die als Altersversorgung gekauft werden, ein wichtiger Punkt, bei dem wir auch Gehör finden. Ein Gebäude stellt natürlich ein Vermögen dar, je nach Standort mehr oder weniger. Wenn Sie das Haus nicht energetisch sanieren, dann verliert es an Wert. Wir argumentieren fast nie über CO² Einsparung, weil das die Besitzer in ihrer konkreten Investitionssituation erst mal nicht interessiert. Wie könnte die Politik mehr unterstützen? Wir schlagen kein Energieministerium vor, weil die Themen, die mit der Energiewende verbunden sind, zu vielschichtig sind – von der Landwirtschaft über Finanzthemen bis hin zum Netzausbau kann man nicht alles in einem Ministerium vereinen. Wir schlagen ein Ministerium vor, das federführend die Energiewende koordiniert und sie wirklich als Projekt versteht, bei dem alle Beteiligten in die Pflicht genommen werden, bei dem man eine Roadmap erstellt und bestimmte Meilensteine in einer konkreten Planung für die nächsten Jahre definiert, die durch regelmäßiges Monitoring überprüft werden. Kann und muss die Wirtschaft einen Beitrag leisten? Ja, natürlich. Der Staat baut keine Gaskraftwerke. Es sind Unternehmen, die Gaskraftwerke bauen, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wir brauchen vor allen Dingen auch Energieeffizienzmärkte, in denen die Wirtschaft ihren Kunden Angebote zum Thema Energieeffizienz macht. Die Marktinstrumente für Energieeffizienz sind noch unterentwickelt. Derzeit liegt die jährliche energetische Gebäudesanierungsrate bei 0,9 Prozent. Um die Energiewendeziele zu erreichen, brauchen wir 2,5 Prozent. Warum ist die Quote so niedrig und welchen Beitrag kann die Wirtschaft für mehr Energieeffizienz leisten? Der primäre Grund ist fehlende Markttransparenz. Viele Hausbesitzer wissen überhaupt nicht, in welchem energietechnischen Zustand ihr Gebäude ist und welche Maßnahmen zu mehr Energieeffizienz führen. Ein gutes Instrument ist deshalb der bedarfsorientierte Gebäudeenergieausweis, der den Zustand des Gebäudes ausweist und eine Maßnahmenliste umfasst. Unternehmen Stephan Kohler 209 könnten den Kunden einen Gebäudeenergieausweis anbieten mit einem Plan für die Sanierungen der nächsten Jahre. Ich frage mich, warum es dafür bisher keine Komplettangebote gibt. Einer muss die Federführung übernehmen und die Arbeit aller beteiligten Handwerker koordinieren, für sie notwendigen Voraussetzungen ausreichend? Nein, sie ist nicht deutlich genug und nicht einheitlich genug. Ich sage den Wirtschaftsleuten immer: Wenn ihr euch nicht selbst zu Wort meldet und selbst eure Rolle im Rahmen der Energiewende definiert, »Energieeffizienz ist aber eine Voraussetzung für den Erfolg der Energiewende.« sodass der Hausbesitzer einen festen Ansprechpartner hat. Solche Marktentwicklungsinstrumente müssen wir noch viel mehr entwickeln. Das sollten aber dann die Unternehmen anbieten? Ja, natürlich. Das ist Aufgabe der Unternehmen. Manche versuchen es schon. Nur muss man es auch konsequent umsetzen und Zuständigkeitsbereiche abgeben, sodass Energieeffizienz zu einem Geschäftsmodell werden kann. Als Energieversorger würde ich mir Produkte für Privathaushalte ausdenken, insbesondere für Besitzer größerer Häuser und mittelständische Betriebe. Ich würde meinen Kunden heute kein Gutscheinheft geben, mit dem sie ins Theater gehen können, sondern Gutscheine für Effizienzprodukte, die kundenspezifisch zugeschnitten sind. Da hapert es heute noch. Unternehmen und Wirtschaftsverbände beschweren sich immer wieder, dass die Politik die falschen Rahmenbedingungen setze. Artikuliert die Wirtschaft die 210 INTERVIEWS dann regelt das die Politik und beschließt immer mehr detaillierte Vorschriften. Und dann sprechen sie auch oft nicht mit einer Stimme. Wir als dena haben das unter anderem erlebt, als wir uns kritisch zum Ausbau der Fotovoltaik geäußert haben. Daraufhin hörten wir aus ein und demselben Unternehmen zwei konträre Meinungen. Deshalb die klare Forderung: Die Wirtschaft muss eine Art Roadmap erstellen, wie sie die Energiewende in ihrem Verantwortungsbereich umsetzen will. Die Wirtschaft sieht die Energiewende kritisch und warnt, dass diese den Industriestandort Deutschland gefährde. Sehen Sie das ähnlich? Bisher noch nicht, aber wir müssen aufpassen. Ich sage nicht, dass uns die Energiewende nicht gelingt. Der Punkt, an dem die Energiewende kippen kann, ist, wenn wir den sehr starken Zubau der regenerativen Energien nicht mit dem Ausbau der Netze und Speicher synchronisiert bekommen. Wenn wir nicht gleichzeitig in konventionelle Kraftwerkparks investieren, können wir die Versorgungssicherheit nicht garantieren und werden Kostenund Preiseffekte haben, die uns im internationalen Vergleich zu stark belasten. Das ist die Herausforderung, die auf uns zukommt. Glauben Sie vor diesem Hintergrund, dass Kohlekraftwerke vielleicht wieder eine gewisse Akzeptanz bekommen? Das ist schwer vorherzusagen. Derzeit sind Kohlekraftwerke genauso wie Erdgaskraftwerke wirtschaftlich für die Unternehmen nicht attraktiv. Das wird sich ändern und ich denke, dass sich in den nächsten Jahren ein gewisser Lernprozess in der Bevölkerung vollziehen wird. Der Bevölkerung ist nicht bewusst, dass viele alte Kohlekraftwerke jetzt noch in der Kaltreserve zu nutzen sind, aber in den nächsten zehn Jahren außer Betrieb gehen, sodass sie im Jahr 2020 nicht mehr zur Verfügung stehen. Bis zum Jahr 2020 werden ungefähr 10.000 bis 12.000 Megawatt zusätzliche Kraftwerksleistung benötigt. Ich würde die Prognose wagen, dass bei diesen 10.000 bis 12.000 Megawatt nicht nur Erdgaskraftwerke, sondern auch in einer Größenordnung von 20 bis 30 Prozent einige Kohlekraftwerke dabei sein werden. Was macht Sie optimistisch, dass die Bürger große Infrastrukturprojekte in Zukunft eher akzeptieren? Wir brauchen ganz sicher eine stärker faktenbasierte Aufklärung, aber jeder weiß auch, wenn abends die Sonne untergeht, ist die Leistung der Fotovoltaik gleich null. Woher kommt dann der Strom? Wenn man das Bürgern deutlich sagt, dann kommt es auch zu einem Aha-Erlebnis. Der Mensch argumentiert und handelt zum großen Teil rational. bei der Finanzierung von Infrastrukturpro-jekten wie einer 380-Kilovolt-Leitung funktioniert, da wäre ich vorsichtig. Die Bürger protestieren gegen große Infrastrukturprojekte, aber selten gegen den Bau einer neuen Automobilfabrik. Warum? Die meisten Diskussionen werden in Schwarz-Weiß geführt. Wie kann man diese Schützengräben überwinden? Wir haben bei den Infrastrukturprojekten viel Unwissenheit, gerade im Strombereich. Dann hat es natürlich auch mit der öffentlichen Darstellung des Themas zu tun. Wir sehen zur besten Sendezeit in ARD und ZDF Berichte, dass das Dorf XY energieautark ist. Jeder schraubt sich seine Fotovoltaikanlage aufs Dach und meint, dass damit die Energieversorgung des deutschen Industriestandorts sichergestellt werden kann. Und drittens stehen Großprojekte von großen Energieversorgern ohnehin in einem schlechten Licht da, weil die Unternehmen schlecht dastehen. In den Augen vieler Bürger wollen sie nur ihr Geschäft sichern. Der Anspruch, mit Beteiligungsverfahren 100 Prozent der Bevölkerung hinter sich zu bekommen, ist falsch. Und wir sollten nicht so tun, als ob wir jeglichen Protest verhindern könnten. Das werden wir nicht hinbekommen, weil die Interessen zu unterschiedlich sind. Wenn ich ein Haus habe und davor eine Stromtrasse gebaut wird, stört die einfach mein Sichtfeld. Da hilft mir die beste Kommunikation nichts. Wenn wir die Energiewende wollen, dann hat das Einfluss auf unsere Landschaft und unser Lebensumfeld. Das kann man nicht schönreden, aber man muss sich bewusst machen, was wir dadurch vermeiden. Wir haben uns in Deutschland angewöhnt, dass wir 70 Prozent unserer Energie importieren, oder anders formuliert: Wir exportieren 70 Prozent der Umweltbelastung. Und wenn wieder eine Ölplattform im Golf von Mexiko versinkt, gibt es große Aufregung. Können Bürgersolaranlagen und -windparks helfen und für mehr Akzeptanz sorgen? Ja, eindeutig, das ist auch nachweisbar und in Schleswig-Holstein zu beobachten. Früher haben wir über Diskoeffekte von Windkraftwerken oder etwa Schattenwurf diskutiert. Heute ärgern sich die Leute, wenn es keinen Diskoeffekt gibt, weil sie dann wissen, dass sich ihr Konto nicht füllt. Zugegeben, ich übertreibe ein wenig. Es ist aber so, dass die finanzielle Bürgerbeteiligung mit dem Image zu tun hat. Die Leute sagen in ihrem Bekanntenkreis mit einem gewissen Stolz: „Ich habe einen Windpark.“ Ob es Trotzdem: Niemand bezweifelt, dass Bürgerbeteiligung heute ein Muss ist. Brauchen wir mehr Beteiligungsmöglichkeiten? Das bezweifle ich auch nicht, aber aus meiner Sicht reichen die Beteiligungsmöglichkeiten aus. Die Frage ist, wann man mit der Kommunikation beginnt. Ich denke, die Beteiligung der Bevölkerung über Kommunikation sollte früher beginnen. Zu welchem Zeitpunkt? Nehmen Sie den Bundesnetzplan, der gerade erarbeitet wird. Die Information der Bevölkerung über diesen Erarbeitungsprozess ist mangelhaft. Im Herbst 2011 ist der Szenariorahmen definiert worden. Schon allein den Szenariorahmen hätte man in der Öffentlichkeit viel stärker kommunizieren müssen, damit die Bevölkerung sich auch damit beschäftigen kann. Stattdessen passiert jetzt Folgendes: Im Juni wurde der Bundesnetzplan kommuniziert. Die Leute sind auf diese Diskussion aber medial gar nicht eingestimmt. Man hätte das zurückliegende halbe Jahr wirklich nutzen müssen, um die Leute über den Prozess zu informieren. Jetzt laufen wir Gefahr, dass im Juni, wenn der Netzplan vorgelegt wird, ein großer Aufschrei durch das Land geht, weil mehr Kilometer herauskommen als die, die bisher in der Diskussion waren. Die Bürger wollen nicht nur gehört werden, sondern auch mitreden. Sehen Sie konkrete Mitsprachemöglichkeiten in Beteiligungsverfahren? Bei Gas- oder Kohlekraftwerken fehlt mir die Fantasie für reale Mitsprachemöglichkeiten. Vielleicht über die architektonische Gestaltung der Gebäude. Wir reden derzeit auch über die Gestaltung von Strommasten, damit sie besser in das Landschaftsbild passen, wie zum Beispiel bei der Thüringer Waldtrasse. Bei weitergehenden Gestaltungsmöglichkeiten wäre ich sehr vorsichtig. Stephan Kohler 211 Oliver Krischer »Wir brauchen eine offenere und transparentere Planungskultur.« Oliver Krischer über die Gründe für Proteste gegen Großprojekte, Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21 und die Folgen der Energiewende. Ist die eigene Betroffenheit der ausschlaggebende Grund für Proteste gegen Großprojekte? der Protest ist dann auch ein Engagement für ein allgemeines Ziel. Das trifft sicherlich auf viele Projekte zu, aber längst nicht auf alle. Es gibt die persönliche Betroffenheit, bei der Bürger eine Verschlechterung für das persönliche Lebensumfeld befürchten. Es gibt aber selbstverständlich auch den Protest, weil man das Projekt an sich und die damit verbundene Entwicklung für falsch hält. Ist der Verbraucher widersprüchlich, weil er die Energiewende unterstützt, aber Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite ablehnt? Zur Person Spielen denn ideologische Gründe heute noch eine Rolle? Der studierte Biologe war vor seiner Wahl zum Bundestagsabgeordneten 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in NRW und unter anderem zuständig für Klima, Energie und Landwirtschaft. Im Bundestag ist er Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Oliver Krischer engagiert sich zudem im BUND sowie im NABU. Schwerpunktthemen seiner Arbeit sind der Klimawandel und die Energiewende. Nein, das sind keine ideologischen Gründe, sondern da geht es um grundsätzliche Fragen, die auf Widersprüche in der Gesellschaft hindeuten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Projekt allgemein formulierten Zielen der Politik und der Gesellschaft wie dem Klimaschutz oder der Verkehrsplanung zuwiderläuft. Die Menschen merken an vielen Stellen sehr wohl, dass die Formulierung politischer Ziele auf der einen Seite und praktisches Handeln, das sich dann oft in Großprojekten manifestiert, auf der anderen Seite auseinanderfallen. Natürlich sind das Grundsatzhaltungen und 212 INTERVIEWS Natürlich hat niemand gerne ein Kraftwerk, eine Stromleitung oder ein Windrad in seinem Garten stehen. Die Frage ist immer nur, wie werden solche Projekte begonnen? Wenn die Bürger verstehen, warum eine bestimmte Entscheidung notwendig ist, dann sind sie auch bereit, Belastungen zu akzeptieren. Wenn sie sich dann konstruktiv in den Planungsprozess einbringen, heißt das ja nicht, dass man prinzipiell dagegen ist, sondern es geht dann oft um Fragen der konkreten Ausgestaltung. Natürlich gibt es immer Leute, die nur ihr persönliches Umfeld interessiert und die gegen alles sind. Das ist aber eine Minderheit. Kann auch eine Entscheidung für ein Kohlekraftwerk notwendig sein, schließlich werden alte klimaschädliche Anlagen durch moderne klimafreundlichere Anlagen ersetzt? Diese politische Debatte führen wir seit Jahren. Die Antwort darauf ist: Mit den neuen Kohlekraftwerken zementieren wir eine alte, überkommene Struktur. Es gibt einen politischen Konsens in Deutschland, dass die erneuerbaren Energien in den nächsten Jahrzehnten mindestens 80 Prozent ausmachen müssen. Ein bestimmter Sockel an Kohlekraftwerken passt nicht zu diesem Ziel. Die Argumentation des effizienteren Kraftwerks ist für mich auch aus einem anderen Grund nicht einleuchtend. Ein Kraftwerk, das vorher einen Wirkungsgrad von 35 Prozent hatte und dann einen von 45 hat, ist zwar effizienter, aber noch weit davon entfernt, klimafreundlich oder hocheffizient zu sein. Bleiben wir noch einen Moment bei den Protesten. Wenn es um die Führung von Stromtrassen geht, wird es sicherlich Konflikte geben. Wer kann vermitteln und eine Mediationsfunktion übernehmen? Sie gehen davon aus, dass es Proteste geben wird – dahinter würde ich schon mal ein Fragezeichen setzen. Bei jedem Projekt wird es Diskussionsbeiträge aus der betroffe- nen Bürgerschaft geben, auch grundsätzlicher Art. Das Entscheidende ist nicht, wer das Mediationsverfahren leitet. Entscheidend ist, dass Projektinitiatoren ihre Planungen von vornherein transparent machen. In der Vergangenheit wurde mit einer kleinen Mitteilung im Anzeigenteil der Zeitung bekannt gegeben, dass man sich 14 Tage lang im Rathaus einen Plan angucken kann – das bekam doch niemand in der Bürgerschaft mit und plötzlich gab es vollendete Tatsachen. Was schlagen Sie vor? Wir brauchen in Deutschland eine offenere und transparentere Planungskultur, die die Menschen von der Grobkonzeption bis zur fertigen Planung einbezieht. Sie müssen mit den Menschen vorab diskutieren, wie man welche Trasse gestalten kann und welcher Standort der sinnvollste ist. Natürlich dauert das eine Zeit lang. Am Ende ist es für die Projektbetreiber einfacher, weil man Klagen vermeiden kann. Und wenn man im Verfahren feststellt, dass man sich überhaupt nicht einigen kann, ist eine Mediation sinnvoll. Zu welchem Zeitpunkt sollen Bürger einbezogen werden? Meines Erachtens ist es schon zu spät, wenn die Initiatoren anfangen, den ersten Plan zu zeichnen, der über eine Skizze hinausgeht. Ein Unternehmen oder auch der Staat sollten an die Öffentlichkeit gehen, wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass sie ein Projekt realisieren wollen. Zumindest in der betroffenen Region sollte man darüber informieren, was man sich im Groben vorstellt. Im Prozess muss man dann über die konkrete Ausgestaltung diskutieren. Für Probleme gibt es oft Lösungen, die nicht sofort auf der Hand liegen. Da kann es nur sinnvoll sein, die Ideen und Alternativen der Bürger zu hören. Das findet heute viel zu wenig statt. Was läuft falsch? In der Praxis ist es häufig so, dass ein Unternehmen schon Millionen in einen Plan investiert und auf den Zentimeter festgelegt hat, wo welche Straßenlaterne hingestellt werden soll. Da ist die Konfrontation schon vorprogrammiert und die Stimmung von vornherein schwierig. Das ist für alle Beteiligten ein Lernprozess. In Deutschland ist das Oliver Krischer 213 auch eine Kulturfrage. Wir haben aufwendige Planungsverfahren, die aber im Ergebnis Bürgerbeteiligung eher verhindern als befördern. Die Schweizer sind da anders, weil sie mehr Tradition bei Bürgerbeteiligung von der ersten Projektüberlegung bis zur Realisierung haben. Die kriegen dann auch ein Projekt wie den Gotthardtunnel hin. Sollte man die Menschen grundsätzlich über ein Projekt abstimmen lassen? Projekte sind oft Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnisses oder Bedarfs, sei es beispielsweise für Energieerzeugung oder für Mobilität. Zur Ehrlichkeit gehört dann auch dazu, die Konsequenzen tung des Projektes im Grundsätzlichen sprechen. während Bürgerinnen und Bürger gar nicht gefragt werden. Entwickelt sich diese Kultur gerade bei uns? Sollte man bestimmte Beteiligungsmöglichkeiten gesetzlich festschreiben? Ja, sie entwickelt sich, weil viele Unternehmen und auch der Staat aus den Erfahrungen von Stuttgart 21 gelernt haben und wissen: Selbst wenn man einen Planfeststellungsbeschluss durch Gerichte durchgefochten hat, ist es legitim, dass Menschen ein Projekt weiter hinterfragen, denn Bedingungen ändern sich oft sehr schnell, wie etwa bei der Energiewende. Mein Eindruck ist, dass bei neueren Planungen wie bei manchen Stromleitungsprojekten schon ganz anders agiert wird. »Bei den Planungsverfahren kann man noch eine ganze Menge entschlacken.« zu benennen: Wenn wir Variante A nicht umsetzen, kommt Variante B. Nicht bauen bedeutet dann zum Beispiel bei Schienenstrecken oder Straßen Verkehrsbelastung an einer anderen Stelle. Es kommt darauf an, dass sich alle Beteiligten über die Folgen im Klaren sind, wenn Variante A nicht kommt. Diese Debatte ist sicherlich nicht einfach, weil es eine in Deutschland wenig praktizierte Kultur ist. Wir sind da alle immer sehr preußisch: Bei uns kommt eine Behörde, legt einen Plan auf den Tisch und das ist dann der Kampfpunkt. Es fehlt der Prozess, dass wir über die Ausgestal214 INTERVIEWS Wir haben relativ lange Planungsverfahren in Deutschland. Sind mehr Bürgerbeteiligung und kürzere Planungsverfahren ein Widerspruch? Bei den Planungsverfahren kann man noch eine ganze Menge entschlacken. Für die Diskussion über ein Projekt, seine Notwendigkeit und die Ausgestaltung müssen wir uns mehr Zeit nehmen. Im Gegenzug kann man dann im Planverfahren das ein oder andere vielleicht verkürzen. Da gibt es sehr viele formale Regelungen und Beteiligungen von Institutionen, die mit der Planung gar nichts zu tun haben, Von Zwangsmechanismen im Vorfeld eines Planungsverfahrens halte ich nichts. Wir neigen in Deutschland dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Solche Verfahren sollten im allgemeinen Rahmen und nicht mit 27 Unterparagrafen geregelt werden. Wir können Kriterien definieren und Verfahren entwickeln, die einen empfehlenden Charakter haben, sodass sich Unternehmen oder öffentliche Planer daran orientieren können. Kann mehr Bürgerbeteiligung im Zweifelsfall Planungsunsicherheit für Unternehmen bedeuten? Exakt das Gegenteil ist der Fall. Im Endeffekt ist es für Unternehmen besser, die Schwierigkeiten am Anfang statt am Ende des Prozesses zu kennen. Das schafft für Unternehmer mehr Rechtssicherheit. Wenn ich Bedenken im Vorfeld klären kann und Menschen mitnehme, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es nachher Klagen gibt, sehr viel geringer. Neben den Bürgerprotesten gibt es einen weiteren Konfliktpunkt, den zwischen Energiewende und Natur- bzw. Tierschutz. Wie kann man solche Konflikte auflösen? Alle müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien Konsequenzen für die Landschaft hat und am Ende auch Naturschutzfragen tangiert. Nicht jedes Windrad ist an jedem Standort sinnvoll, aber wenn die Energiewende abgeschlossen ist, wird es wenig Ecken in Deutschland ohne Windenergieanlagen geben. Wenn man sich grundsätzlich einig ist, dass eine Windkraftanlage oder eine Biogasanlage sinnvoll ist, gibt es in jedem Ort und in jeder Region auch eine Lösung. ausgestatteten Energieeffizienzfonds geben muss, der Kommunen hilft, die energetische Gebäudesanierung durchzuführen. Wir wollen das durch Abbau umweltschädlicher Subventionen wie zum Beispiel des Dienstwagenprivilegs finanzieren. Sie machen sich stark für Energieeffizienz. Das betrifft Kommunen und private Haushalte. Die Kommunen wehren sich gegen die energetische Gebäudesanierung von drei Prozent im Bestand pro Jahr. Was sagen Sie dazu? Brauchen wir Brückentechnologien? Die Kommunen wehren sich nicht prinzipiell dagegen, sondern ihnen fehlt das Geld. Das Problem ist, dass Energieeffizienz immer gerne als Belastung dargestellt wird. Energieeffizienz ist aber auch ein Geldsparthema, gerade wenn man sich die Heizkosten, Strom- und Gasrechnungen der Kommunen anschaut. Es gibt viele Beispiele von Kommunen, die das konsequent angegangen haben und die ihre Gebäude saniert oder oft auch nur ihre Hausmeister geschult haben. Das sind oft Kleinigkeiten, mit denen man viel bewirken kann. Das rechnet sich schon über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren. Wie kann man den Kommunen finanziell helfen? Man könnte gegebenenfalls einfach zinslose oder zinsgünstige Darlehen ausgeben. Die öffentliche Hand, das sind Kommunen, genauso der Bund und die Länder, habt eine Vorbildfunktion. Sie können nicht von Privatleuten erwarten, dass sie ihr Häuschen sanieren, obwohl Sie selbst im Rathaus noch Fenster von 1953 haben. Wir denken, dass es auf Bundesebene einen vernünftig Der Begriff Brückentechnologie ist ein bisschen verbrannt in der deutschen Debatte, deshalb benutze ich ihn ungern. Wenn man davon redet, betrifft das natürlich das Thema Gas, weil Gas flexible Formen der Stromerzeugung und hocheffiziente KraftWärme-Kopplung möglich macht. Das ist sicherlich eine Erzeugungsart, die uns auf Jahre und Jahrzehnte als Ausgleich für die schwankende Erzeugung aus erneuerbaren Energien weiter begleiten wird. Der wirtschaftliche Betrieb von Kohlekraftwerken, gerade solchen, die jetzt ans Netz gehen und noch 20 bis 30 Jahre laufen, wird dagegen immer schwieriger und passt nicht zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber die Inbetriebnahme genehmigter Anlagen stellt auch niemand in Frage, wenn die Betreiber das wollen. Die Energiewende kostet Geld. Wer soll sie bezahlen? Natürlich kostet die Energiewende Geld, und im Endeffekt werden diejenigen, die Energie verbrauchen, das bezahlen. Und das sind wir alle. Aber die Horrorzahlen, die da oft von interessierter Seite genannt werden, sind Panikmache. Ich sehe das als Investition in die Zukunft, die wir an vielen Stellen sowieso machen müssen. Wenn Sie eine Windkraftanlage bauen, dann kostet das zuerst Geld, und danach ent- stehen fast keine Kosten mehr. Laut Bundesamt für Statistik haben wir im Jahr 2011 für 86 Milliarden Euro fossile Rohstoffe importiert. Mir wäre es am liebsten, wenn da eine Null stünde. Das Geld für Energieimporte könnten wir besser für andere Maßnahmen einsetzen. Im Moment sorgen wir mit der EEG-Umlage dafür, dass der Strom zukünftig nicht nur umweltschonend, sondern auch günstig mit regionaler Wertschöpfung zu haben sein wird. In der Diskussion wird häufig sehr schwarz-weiß gemalt. Wie kann man neue Maßstäbe setzen, um diese Schützengräben zu überwinden? Das geht am besten, wenn man Betroffene von vornherein einbindet. Das ist der einzige Weg, aus dieser Schützengrabenmentalität herauszukommen. Wie es gehen kann, sehen wir im Moment in der Eifel, wo ein Pumpspeicherwerk gebaut werden soll. Dort wurden keine fertigen Pläne hingelegt, sondern eine Landkarte mit Möglichkeiten, wo der Pumpspeicher entstehen könnte. Damit sind die Investoren in einem sehr frühen Stadium auf alle potenziell Betroffenen zugegangen und haben teilweise auch Einzelgespräche geführt. Das ist die Zeit und das Geld wert, weil es von Einzelfällen abgesehen eine sehr breite Akzeptanz gibt. Oliver Krischer 215 Dr. Johannes F. Lambertz »Zeigen die Proteste eine neue gesellschaftliche Entwicklung?« Dr. Johannes F. Lambertz über Erwartungen an die Politik und die Praxis der Bürgerbeteiligung bei Genehmigungsverfahren. Landauf, landab stoßen Großprojekte auf Akzeptanzprobleme. Sind wir tatsächlich auf dem Weg in die „Dagegen-Republik“, wie manche Medien kommentieren? Zur Person Dr. Johannes F. Lambertz ist seit Februar 2008 Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG mit Zuständigkeit für Braunkohlekraftwerke und Tagebau. Der Diplom-Ingenieur war zuvor seit 2003 im Vorstand von RWE Power für das Ressort fossil befeuerte Kraftwerke verantwortlich. Seine Laufbahn im RWEKonzern begann er 1981 bei der Rheinbraun AG, in deren Vorstand er 2002 berufen wurde. 216 INTERVIEWS Bei der Realisierung von Großprojekten gibt es in der Tat zunehmend Schwierigkeiten. Gerade im Bereich der Energiewende wissen die Bürger zwar um die Notwendigkeit von Infrastrukturprojekten und unterstützen diese in der Theorie, aber nur solange die eigene „Komfortzone“ nicht berührt wird – diese Diskrepanz belegen auch viele aktuelle Umfragen. Dennoch ist das Bild der „Dagegen-Republik“ überzogen, denn Protestbewegungen und ihre Darstellung in den Medien sind das eine. Der tatsächliche Bürgerwille ist das andere. Das hat der Fall von Stuttgart 21 eindrucksvoll bewiesen, denn das überraschend eindeutige Ergebnis des Volksentscheids war genau das Gegenteil von dem, was auf den Titelseiten der Zeitungen häufig zu lesen war. Man sollte also nicht vergessen, dass eine „schweigende Mehrheit“ häufig eine neutrale bis positive Haltung zu Projekten hat und es oft nur eine allerdings sehr sprachfähige Minderheit der Bevölkerung ist, die gegen ein Projekt öffentlich Stellung bezieht. Zeigen die Proteste eine neue gesellschaftliche Entwicklung? Es ist nicht neu, dass Menschen Beeinträchtigungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld nicht gerne in Kauf nehmen. Was sich aber geändert hat, ist die Fähigkeit der Politik, klare Leitplanken zu setzen und bei notwendigen Maßnahmen auch mal Gegenwind auszuhalten. Die Politik kann nicht nur Wellness verkünden, sondern muss auch deutlich machen, dass alles Risiken und Nebenwirkungen hat. Denken Politiker heute zu sehr in Legislaturperioden? Politiker haben sich ein Stück weit an die allgemeinen Rahmenbedingungen angepasst. Früher waren Politiker erfolgreich, die Ecken und Kanten hatten und bei denen man wusste, wofür sie stehen. Wenn ein Politiker heute so ist, verliert er wahrscheinlich die nächste Wahl. Die Konsequenz ist, dass wir viele glatt geschliffene Politiker haben und sich die Glaubwürdigkeit dieser Berufskaste – ähnlich wie bei den Managern – in den letzten Jah- ren deutlich verschlechtert hat. An der Begeisterung für Herrn Gauck als Bundespräsident konnte man sehen, dass die Menschen eine Sehnsucht nach Orientierung und Geradlinigkeit haben. Daher denke ich, dass am Ende der Politiker der erfolgreichste ist, der authentisch, ehrlich und transparent sagt, was er denkt. Was erwarten Sie im Gegenzug von der Wirtschaft? Unternehmer und Manager müssen vor allem glaubwürdig sein. Dazu gehört, dass man neben Vorteilen von Projekten auch Nachteile deutlich anspricht. Dabei sollte man einerseits nicht verhehlen, dass man Geld verdienen möchte. Gleichzeitig können aber auch nur erfolgreiche Unternehmen Arbeitsplätze schaffen und sichern. Ein Unternehmen hat naturgemäß das Ziel, Gewinn zu produzieren und die Voraussetzungen zu schaffen, nachhaltig bestehen zu können. Gleichzeitig ist es aber auch Teil der Gesellschaft und muss ihren Anforderungen gerecht werden. Unternehmen müssen sich daher aktiv einbringen, wenn es um die Lösung großer gesellschaftlicher Probleme geht. Umfragen zeigen häufig ein eher negatives Bild der Industrie bei den Menschen. Was ist die Ursache? Das liegt zum großen Teil wohl daran, dass wirtschaftliche Zusammenhänge oft nicht klar genug sind. Denn wenn man auf der einen Seite Windräder und Solarzellen herstellen möchte, braucht man auf der anderen Seite auch Stahl und Carbonfasern und damit energieintensive Industrien. Das viel stärker deutlich zu machen, ist auch Aufgabe der Industrie. Generell muss der Nutzen von Industrie für Wachstum und Wohlstand stärker erkennbar werden. Es ist nicht in unserem Sinne, dass ganze Industriezweige nach Indien und China abwandern und wir die Erzeugnisse dann nach Deutschland importieren. Und zwar nicht nur aus volkswirtschaftlichen Gründen. In Zentraleuropa produzieren wir mit besten Verfahren und nach höchsten Umweltstandards, auch das ist ein Wert, der oft übersehen wird. Daran sollten sich auch diejenigen, die Industrie kritisieren, hin und wieder erinnern. Und wenn wir schon einmal beim Thema Klarheit und Wahrheit sind: Eine Industrienation wie Deutschland braucht zwingend die Versorger, die Strom in der benötigten Menge jederzeit zu marktfähigen Konditionen liefern können und die somit eine Vielzahl von Arbeitsplätzen sichern. Insbesondere große Unternehmen werden als gierig und lobbyistisch wahrgenommen. Woher rührt Ihrer Meinung nach dieses negative Bild? Zum einen gilt bei uns grundsätzlich „small is beautiful“, sodass große, internationale Unternehmen hier immer mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Zudem ist die Wirtschaft unübersichtlicher und vielleicht auch intransparenter geworden. Wenn Produktionsstätten ins Ausland verlagert werden, ist das in vielen Fällen nicht eine Frage von Gier, sondern von unternehmerischem Überleben. Das ist der Allgemeinheit und vor allem Betroffenen oft nur schwer oder gar nicht zu erklären. Die emotionale Bewertung prägt aber häufig das Bild. Bezüglich des Lobbyismus wäre ich auch vorsichtig mit pauschalen Generalisierungen. Dass Unternehmen für ihre Interessen eintreten, ist nicht verwerflich. Eine gesunde Wirtschaft braucht einen gesunden Dialog zwiDr. Johannes F. Lambertz 217 schen Industrie und Politik. Dieser muss allerdings transparent und offen sein. Hier kann auch die Industrie sicher noch lernen. Was kann die Wirtschaft tun, um die Notwendigkeit von Investitionen deutlich zu machen? Der Investor muss den Nutzen seiner Investition in der heutigen Zeit frühzeitiger erläutern. Dabei reicht die Begründung nicht mehr, dass etwas betriebswirtschaftlich wichtig ist, man damit Geld verdienen kann und Arbeitsplätze schafft. Vielmehr muss der Investor der betroffenen Bevölkerung auch den Sinn des Projekts verdeutlichen. Wenn es bei- Seiten ab. Ist es Ziel des Protestes, ein geplantes Projekt zu verändern, Nachteile zu minimieren, Vorteile auszubauen – also im Dialog das Projekt zu verändern? Oder soll das Projekt verhindert werden, egal welche alternativen Gestaltungsmöglichkeiten der Investor auf den Tisch legt? Bei einer grundsätzlich ablehnenden Haltung läuft fast jeder Versuch, für Akzeptanz zu werben, ins Leere. Wenn beide Seiten aufeinander zugehen, gelingt es aber auch in vielen Fällen, Lösungen zu finden. Es ist deshalb Pflicht der Industrie, sich mit allen Bürgern, die durch Projekte betroffen sind, auseinanderzusetzen. »Dialog muss freiwillig sein, er kann nicht verordnet werden.« spielsweise um die Errichtung eines Kohle- oder Gaskraftwerks geht, muss er erklären, warum das Kraftwerk aus seiner Sicht für unsere Gesellschaft in Summe sinnvoll ist. Nur so kann man Zustimmung erhalten. Daneben unterliegt die Bewertung von Investitionen auch immer konjunkturellen Trends: In schlechten Zeiten werden sie als wichtig angesehen, in guten Zeiten neigt man dazu, sie als selbstverständlich oder sogar als überflüssig zu betrachten. Können Sie verstehen, dass man aufgrund persönlicher Nachteile gegen Großprojekte protestiert? Was ist der Schlüssel zu mehr Akzeptanz? Eine Folge des gesellschaftlichen Wandels ist, dass jeder Einzelne primär seine eigenen Interessen verfolgt und weniger auf die Allgemeinheit achtet. Das gilt für den Manager genauso wie für den Politiker, den Gewerkschaftsfunktionär oder den normalen Bürger. Man muss aber auch anerkennen, dass einzelne Betroffene persönliche Nachteile von neuen Großprojekten oder Infrastrukturmaßnahmen haben. Hier gilt es, einen fairen Interessenausgleich zu finden. Transparenz, Einbindung und Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Der Erfolg hängt aber immer von beiden Es gibt den Vorschlag, dass Projektinitiatoren NGOs oder Bür- 218 INTERVIEWS gerinitiativen zwei Prozent der Investitionsmittel für Kommunikationsmittel oder für Gutachten zu Verfügung stellen. Was halten Sie davon? Dieser Vorschlag impliziert, dass im Moment keine Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Das ist unserer Erfahrung nach nicht der Fall, denn gerade im Hinblick auf Kampagnen und den Zugang zu Medien sind NGOs den Unternehmen oder der Politik durchaus gewachsen, wenn nicht gar ihnen gegenüber im Vorteil. Dazu kommt, dass NGOs untereinander sehr gut vernetzt sind und so eine sehr große Schlagkraft haben. Von solchen Gesichtspunkten abgesehen spielt aber auch noch ein anderer Aspekt eine Rolle, und zwar die Frage der rechtlichen Legitimation von NGOs in solchen Prozessen. Wir haben einen Gesetzgeber, der die Gesetze erlässt, und eine Genehmigungsbehörde, die prüft, ob die Gesetze eingehalten werden. Das sind die zwei Spieler, die neben den persönlich Betroffenen ihre Rolle übernehmen müssen. Wenn nun aber Bürgerinitiativen oder NGOs, die ja nicht unbedingt Allgemein-, sondern häufig Partikularinteressen vertreten, zwischen Gesetzgeber und Genehmigungsbehörde geschaltet werden und die Projektinitiatoren hierfür auch noch zahlen sollen, dann stellen wir unser ganzes System auf den Kopf. Heißt das, dass die NGOs nur die Interessen von Minderheiten vertreten? Nicht zwingend, aber klar ist doch, dass sie nicht für die gesamte Bevölkerung sprechen können. Die Genehmigungsbehörde agiert nicht in einem luftleeren Raum, sondern erfüllt den Auftrag des Gesetzgebers. Sie ist dazu verpflichtet, Bürger einzubeziehen und deren Anliegen im Genehmigungsverfahren zu reflektieren. Das führt in manchen Fällen dazu, dass Sachverhalte noch weiter gehender Überprüfungen bedürfen. Ich gehe davon aus, dass die Genehmigungsbehörde ihre Pflicht sorgfältig erfüllt. Wer daran zweifelt, kann dagegen klagen, denn wir leben in einem Rechtstaat. Warum spielen NGOs in diesen Diskussionen eine so große Rolle? NGOs besitzen in der Bevölkerung eine hohe Glaubwürdigkeit, insbesondere weil man ihnen keine Profitorientierung unterstellt. Viele Menschen sind ehrenamtlich in NGOs tätig und es ist gut, dass wir diese Organisationen haben. Schwierig wird es nur, wenn es in der Diskussion um ideologische Grundsatzfragen geht. In derartigen öffentlichen Debatten werden NGOs auch in den Medien häufig sehr positiv dargestellt und viele Statements werden ungeprüft übernommen, obwohl es viele Beispiele gibt, bei denen Fakten nicht gestimmt haben. Sehen Sie die Gefahr, dass die Medien das Meinungsbild verzerren? Ja, das hat man bei Stuttgart 21 deutlich gesehen. Die Menschen glauben natürlich vieles, was die Medien verkünden, deswegen sollten sich Medien ihrer Verantwortung in gesellschaftlichen Debatten sehr wohl bewusst sein. Fakt ist aber: Je besser Menschen informiert sind, desto eher können sie sich eine eigene Meinung bilden. Das ist schlussendlich eine Frage des Wissens. Wir sollten schon viel früher, im Kindergarten oder in der Grundschule, beginnen, Interesse für Naturwissenschaften sowie Technik zu wecken und Zusammenhänge zu erklären. In den Niederlanden wird beispielsweise sehr viel Geld für den Deichbau ausgegeben, was ja auch Protest hervorrufen könnte. Aber schon im Kindergarten wird dort erklärt, warum Deichbau in den Niederlanden so wichtig ist. Genauso müsste man auch in Deutschland erklären, dass wir unseren hohen Wohlstand unserer starken Industrie verdanken. Was halten Sie von informellen Beteiligungsformaten, gerade mit dem Ziel, alle Fakten noch einmal sachlich zu diskutieren? Bevor man sich in Schützengräben verschanzt, sollte man der Öffentlichkeit ein Projekt mit allen Vor- und Nachteilen vorstellen. Informelle Beteiligungsmöglichkeiten, wie runde Tische, Nachbarschaftsforen, Informationsangebote oder Ähnliches, können hierfür durchaus sinnvoll sein. Aber dabei gilt: Es gibt keine „One size fits all“-Lösung. Die Projekte sind unterschiedlich, deswegen müssen auch die Instrumente unterschiedlich sein. Mitten in der Innenstadt von Stuttgart ist die Situation völlig anders als bei einem Windrad in der Eifel. Sollten solche Verfahren denn verbindlich werden? Dialog muss freiwillig sein, er kann nicht verordnet werden. Wenn ein Unternehmen klug ist, wird es solche Formate einsetzen. Aber die Entscheidung kann nur beim Unternehmen selbst liegen. Und noch etwas: Runde Tische zum Beispiel dürfen auch nicht zu einer Ersatzge- setzgebung führen. Beachtet werden muss auch, dass diese Instrumente der Partizipation nicht zu Verfahrensverzögerungen missbraucht werden dürfen. In der Energiewende zum Beispiel, beim Netzausbau, wird das Dilemma deutlich: Alles soll ganz schnell gehen und gleichzeitig mit ganz viel Bürgerbeteiligung. Dieser Widerspruch muss noch gelöst werden. Deshalb alles beim Alten belassen? Die derzeit praktizierten Genehmigungsverfahren sind ein erprobtes System zur gestuften Bewertung von Infrastrukturprojekten. Sie beinhalten schon heute Einspruchsmöglichkeiten und Formen der Mitgestaltung für betroffene Bürger. Diese Möglichkeiten werden in vielen Fällen – allerdings unspektakulär und mit wenig medialer Anteilnahme – wahrgenommen und führen häufig auch zu Veränderungen der Planung. Die Novellierung des Verbandsklagerechts erweitert diese Möglichkeiten noch. An der einen oder anderen Stelle können Anpassungen sinnvoll sein. Doch sollten wir nicht leichtfertig Bewährtes über Bord werfen. Zumal eine wirkliche Alternative nicht erkennbar ist. Deshalb ist mein Appell: Wer über neue oder zusätzliche Verfahrenswege nachdenkt, sollte darauf achten, dass diese die bewährte Genehmigungspraxis nicht aushöhlen oder unsicher machen. Dr. Johannes F. Lambertz 219 Dr. Gerd Landsberg »Wir brauchen die transparente Demokratie.« Dr. Gerd Landsberg über die Rolle der Kommunen bei der Energiewende und Verbesserungsmöglichkeiten der Planfeststellungsverfahren. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat den Begriff der „transparenten Demokratie“ geprägt. Was bedeutet das konkret? Zur Person Der promovierte Jurist ist seit 1998 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Zuvor war er Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf und Referent im Bundesministerium der Justiz. Im Rahmen der Energiewende engagiert sich Dr. Gerd Landsberg für die Einbindung der Städte und Gemeinden sowie der Bürger. 220 INTERVIEWS Damit ist die frühzeitige, anschauliche und nachhaltige Bürgerbeteiligung gemeint. Transparent bedeutet im Hinblick auf die Realisierung von Großprojekten, dass die Bürger als Voraussetzung einer aktiven Beteiligung die Inhalte der oft hochkomplexen Planungen verstehen können müssen. Deswegen ist es ganz wichtig, derartige Vorhaben von Beginn an, etwa durch zusammenfassende Erklärungen sowie kurze und anschauliche Darstellungen statt 100-seitiger Gutachten, transparent zu machen. Uns muss es gelingen, bereits im Stadium der Planung den Baubeginn in Form eines „virtuellen Baggers“ vorzuziehen. Wie weit geht diese Mitwirkung? Die Gesamtabwägung der verschiedenen Interessen und Belange erfolgt in der Verantwortung des Planungsträgers und damit auch der Kommune. Insofern kann aber eine verstärkte Bürgermitwirkung unsere repräsentative Demokratie konstruktiv bereichern. Wie kann man zu hohe Erwartungen vermeiden? Die repräsentative Demokratie hat sich auf der Grundlage des Grundgesetzes in über 60 Jahren bewährt. Danach werden die gewählten Vertreter, also auch die kommunalen Ratsmitglieder, von den Bürgern legitimiert, Planungsentscheidungen zu treffen. Die repräsentative Demokratie lebt aber vom Wissen und von den Ideen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Einbringung dieses Fundus bedeutet gerade für die Städte und Gemeinden bei der Planung von Projekten einen unschätzbaren Mehrwert. Dieses Potenzial zu aktivieren und vor Ort zu nutzen, ist daher eine dauerhafte Aufgabe insbesondere der Städte und Gemeinden. Reichen die bestehenden Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht aus? In einigen Fällen ja, in anderen Fällen nein. Die rechtlichen Beteiligungsmöglichkeiten reichen etwa in der Bauleitplanung aus. Dort findet eine moderne und in der Praxis vielfach erprobte zweistufige Beteiligung der Bürger statt. Danach muss die Öffentlichkeit auf der ersten Stufe möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung, sich wesentlich unterscheidende Lösungen sowie über die voraussichtlichen Auswirkungen unterrichtet werden. In diesem frühen Stadium ist der Öffentlichkeit grundsätzlich Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben (§ 3 Abs. 1 S. 1 BauGB). Dieses Verfahren sollte zwingend auch bei der Planfeststellung und damit bei klassischen Großvorhaben, wie beim Autobahnausbau, beim Bahnbau, bei Flughäfen, aber auch bei Energietrassen, eingeführt werden. Denn bei der Planfeststellung durch die sogenannten Fachplanungsträger ist bis dato gerade keine frühzeitige Bürgerbeteiligung zwingend durchzuführen. Vielmehr besteht gerade bei Großprojekten nicht selten der Eindruck, dass bereits zu Beginn des Planungsprozesses eine Ergebnisoffenheit nicht mehr gegeben ist. Was muss in der Verwaltung passieren, damit Bürger besser eingebunden werden? In der Verwaltung bedarf es Strukturen, um auf die breiteren Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, insbesondere in Form der neuen Medien, zu reagieren. Das ist aber auch eine Kostenfrage. Den Städten und Gemeinden fehlen oftmals das Geld und qualifiziertes Personal, um eine umfassende Bürgerbeteiligung durchführen zu können. Wenn aber gerade eine umfassende und moderne Bürgerbeteiligung qualifiziertes Personal und ausreichende Finanzmittel benötigt, ist speziell für frühzeitige Grundlagenbeteiligungen eine klare Regelung auch für die Zuordnung der entstehenden Kosten, etwa zum späteren Investor, nötig. Ist das Internet das beste Mittel für Bürgerbeteiligung? Es gibt heute im Kommunalbereich eine sehr starke Nutzung des Internets, zum Beispiel bei Vorschlägen der Bürger zu Einsparmöglichkeiten in den Haushaltsplanungen von Städten und Gemeinden. Man sollte aber nicht ausschließlich das Internet zur Anwendung bringen. Entscheidend ist oftmals eine unmittelbare Unterrichtung und Einbindung der Betroffenen. Hierbei hängt die konkrete Durchführung der Bürgerbeteiligung von der jeweiligen Zielgruppe, dem Aufwand und der Aufgabe ab. Die elektronische (Schrift-) Kommunikation sollte daher gerade bei komplexen Planungen grundsätzlich mit Präsenzbeteiligungen, also auch Bürgerversammlungen etc., im Sinne eines Kommunikationsmix kombiniert werden. Wann ist welches Bürgerbeteiligungsformat sinnvoll? Es gibt keine Königswege. Die Art und Form der Bürgerbeteiligung ist jeweils kontext- und projektabhängig. Wenn man noch unterschiedliche Varianten im Grundsatz diskutiert und ein bestimmtes Projekt eine Dynamik entfalten soll, können offene Kommunikationsformen wie das Internet sinnvoll sein, beispielsweise im Bereich der generellen Ausrichtung der Stadtentwicklung oder bei Einsparungsvorschlägen der Bürger für den Haushalt. Bei solchen Themen geht es um kreative Ideen. Wenn es aber zum Beispiel darum geht, Windenergieanlagen, die aufgrund der Energiewende erforderlich sind, auszubauen, spielen bei Vorliegen der entsprechenden Rahmenbedingungen in einer Gemeinde oftmals häufig nur noch die Differenzierungen beim Standort oder bei der Höhenbegrenzung eine Rolle. Hier ist daher eine konkrete Erörterung mit den Bürgern sachgeDr. Gerd Landsberg 221 recht. Grundsätzlich ist es speziell bei komplexeren Projekten stets sinnvoll, ergänzend zum Internet über Bürgerversammlungen den persönlichen Kontakt zu suchen und eine offene Diskussion mit den Betroffenen zu führen. Der Sachverstand vieler bringt immer einen Mehrwert. Es muss aber klar sein, dass man nie alle Wünsche befriedigen kann. Wie kann man das Gemeinwohl mehr in den Vordergrund stellen? Insbesondere für diejenigen, die direkt von Projekten betroffen sind, spielen persönliche Interessen oftmals eine größere Rolle. Diese Interessen führen nicht selten zu einer Abwehrhaltung. Daher sollte man auch die Menschen, die nicht unmittelbar in ihrer Nachbarschaft von Projekten betroffen sind, viel frühzeitiger einbeziehen. Hierdurch kann etwa der gesamtgesellschaftliche Mehrwert zum Beispiel von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien deutlicher gemacht werden. Die zu spät erfolgte und im Ergebnis positive Abstimmung der Bürger in Baden-Württemberg für Stuttgart 21 ist hierfür ein Beispiel. Daher wäre es sinnvoll, bei Projekten dieser Art bereits sehr frühzeitig auf breiter Ebene ein Bürgergutachten erstellen zu lassen. Damit könnten vermehrt Allgemeinwohlbelange der nicht unmittelbar Betroffenen einbezogen werden. Zudem könnte auch der „Not in my backyard“-Gesichtspunkt relativiert werden. Denn es ist im Ergebnis nicht zum Ziel führend, wenn die Bürger zwar zu über 90 Prozent für erneuerbare Energien sind, aber dagegen protestieren, wenn die Windkraftanlage oder die Biomas222 INTERVIEWS seanlage in der Nähe des eigenen Umfelds errichtet wird. Verzögert Bürgerbeteiligung Entscheidungsprozesse? Es besteht in der Tat auf den ersten Blick ein Spannungsverhältnis zwischen einer umfassenden Bürgerbeteiligung und der gleichzeitigen Verkürzung von Planungsverfahren. Umgekehrt kann aber gerade eine frühzeitige, nachhaltige und moderne Bürgerbeteiligung dazu führen, dass Belange der Bürger, die diese ansonsten häufig erst über zeitintensive Gerichtsverfahren einbringen würden, bereits im Vorfeld geklärt werden. Eine frühzeitige und intensive Einbindung der Bürger kann daher zu einer Beschleunigung von Planungsverfahren führen. Kommen wir zur Energiewende: Wer ist für ihre Umsetzung verantwortlich? Bei der Umsetzung der Energiewende spielen viele Akteure eine wichtige Rolle. Neben Bund und Ländern sind die Energieerzeuger und Versorger wichtige Akteure. Die großen Versorger bringen ihr Know-how im Bereich der Technik, der Versorgung und der Hochstromspannungsleitungen mit ein. Die kommunalen Stadtwerke haben über ihre Mittlerfunktion als Versorger und zunehmend auch als Erzeuger den unmittelbaren Kontakt zum Endkunden, also zum Bürger selbst. Sie spielen daher eine wichtige Rolle. Insbesondere haben aber die Kommunen eine ganz entscheidende Aufgabe. Sie sind die Planungsebene für die Flächennutzungsplanung und den nachfolgenden Bebauungsplan. Sie sind mit über 176.000 kommunalen Gebäuden der größte öffentliche Gebäudebesitzer und auch der größte öffentliche Auftraggeber, etwa bei der Beschaffung energieeffizienter Produkte. Bei den Kommunen liegt daher ein großes energetisches Einsparpotenzial. Die Kommunen sind die bürgernächste Ebene und insoweit auch Berater und Vorbild für Bürgerschaft und örtliche Wirtschaft. Daher ist die Energiewende ohne die Kommunen nicht zu bewerkstelligen. Aber auch die Bürger sind Akteure und nicht nur Mitwirkende, weil sie nicht nur an der Planung der anderen teilhaben, sondern auch über Mehrwertmodelle, also etwa Bürger- oder Energiegenossenschaften, an der Energiewende positiv partizipieren können. Der Bürger wird daher als Akteur der Energiewende immer wichtiger. Nur mit dem Bürger werden wir im Übrigen auch eine dezentrale Energieerzeugung und -versorgung gewährleisten können. Ist finanzielle Beteiligung ein sinnvolles Modell? Ja, es ist der richtige Weg, dass man Bürger über Genossenschaftsmodelle beteiligt und für sie einen greifbaren Mehrwert schafft. Denn man kann betroffenen Bürgern oder Gemeinden nicht vermitteln, dass sie aus Gründen des Allgemeinwohls durch den Bau von Stromtrassen einseitig über die damit verbundenen Nachteile die Lasten tragen sollen. Es ist daher der falsche Ansatz, wenn der Gewinn aus derartigen Trassen allein beim externen Investor bleibt und der Bürger nur die Windenergieanlage vor seinem Haus sieht beziehungsweise die Gemeinde hierdurch etwa in ihrem touristischen Profil negativ belastet wird, umgekehrt aber nicht das Geld für den nötigen Kita-Ausbau hat. Hier geht es darum, derartige Projekte über finanzielle Ausgleiche, aber auch durch Bürgermodelle für alle akzeptabel zu machen. Das beinhaltet dann auch eine zusätzliche Wertschöpfung für die Kommunen. Die Energiewende ist mit hohen Kosten verbunden. Wird das deutlich genug? Es ist in der Tat anzuraten, die Punkte Versorgungssicherheit sowie Bezahlbarkeit stets im Blick zu behalten. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) geht zur Umsetzung der Energiewende von jährlichen Kosten in einer Höhe von 25 Milliarden Euro aus. Im Bereich der erneuerbaren Energien wird zum Teil angenommen, dass sie langfristig ohne eine Förderung auskommen und sich daher rechnen werden. Die dafür nötigen Einsparungen im Gebäudebereich erfordern aber gerade bei Gebäuden der Siebzigerund Achtzigerjahre wegen des dort bestehenden erheblichen energetischen Sanierungsstaus große Investitionen, um die Grenzwerte der Energieeinsparungsverordnung einhalten zu können. Investitionen müssen sich aber auch für die Eigentümer rechnen, bei gleichzeitiger Sozialverträglichkeit für die Mieter. Hier sind daher alle Akteure gefordert, dies offen zu kommunizieren und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Wie sehen Sie in diesem Kontext die Rolle der NGOs? NGOs spielen eine wichtige und sinnvolle Rolle. Allerdings nehmen auch NGOs ihre Partikularinteressen wahr. In Bezug auf die Energiewende kommen NGOs vielfach aus dem Umweltbereich. Sie vertreten natürlich in berechtigter Weise ihre eigenen Belange und die ihrer Mitglieder. Wünschenswert wären aber ergänzend auch NGOs für das Allgemeinwohl. So kann zum Beispiel beim Ausbau von Windenergieanlagen letztendlich nur eine Gesamtabwägung aller privaten und öffentlichen Belange helfen. Ganz konkret bedeutet dies, dass wir auch in einer Gesamtabwägung darüber entscheiden müssen, welche Rolle der Feld- letzten Jahren immer weniger Vertrauen schenken. Davon profitieren auch die NGOs. Wie sollten Planungsträger mit NGOs umgehen? Um einen Mehrwert für den Planungsträger zu erreichen, sollte man NGOs frühzeitig einbinden, weil hier häufig sehr versierte Experten arbeiten. Diese können ihr Fachwissen »Es muss aber klar sein, dass man nie alle Wünsche befriedigen kann.« hamster oder die Kleine Hufeisennase (eine Fledermausart) bei der Verhinderung oder der Umsetzung der Energiewende vor Ort spielen. Haben NGOs an Bedeutung gewonnen? NGOs haben durch EuGH-Urteile rechtlich an Bedeutung gewonnen. Diese Entscheidungen haben bestätigt, dass die Frage der unmittelbaren Betroffenheit nicht der Maßstab für eine Beteiligung der NGOs für die Planung von (Groß-)Vorhaben an anderer Stelle ist. Zudem ist auf der fachlichen Ebene bei den NGOs sehr viel Kompetenz vorhanden und sie profitieren von einem sehr hohen Aktivitätspotenzial und Human Resources. Bei den nationalen Umweltorganisationen gibt es auch eine sehr gute Vernetzung bis hin zur unteren lokalen Ebene. Daher haben NGOs in den letzten Jahrzehnten auch tatsächlich an Bedeutung gewonnen. Hinzu kommt, dass Bürger der Politik in den mit einem Mehrwert für alle in die Planung einbringen. Wenn eine Kommune diese Experten daher früh einbezieht und dann auch gemeinsam zu einem Konsens bei der Projektentwicklung kommt, ist das jedenfalls sehr viel sinnvoller, als wenn der Planungsträger bereits eine „fertige Planung“ erstellt hat. Transparenz und Ergebnisoffenheit sind daher auch hier die Gebote der Stunde. Dr. Gerd Landsberg 223 Matthias Machnig »Die Energiewende ist ein Gemeinschaftswerk.« Matthias Machnig über Beispiele gelungener Bürgerbeteiligung bei der Energiewende. Woher rührt die Ablehnung vieler Großprojekte? Zur Person Matthias Machnig war vor seiner Ernennung zum Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie im Jahr 2009 Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Davor war er als Staatssekretär für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bundesgeschäftsführer der SPD und Unternehmensberater tätig. Als Wirtschaftsminister arbeitet er aktiv an der Umsetzung der Energiewende mit. 224 INTERVIEWS Großprojekte werden häufig in einer Form öffentlich skandalisiert, die mit der Realität wenig zu tun hat. Deswegen sind die möglichst frühzeitige Einbindung und die öffentliche Diskussion über Ziele und Hintergründe im Planungsprozess sehr wichtig, um Verständnis und Akzeptanz in der Bevölkerung aufzubauen. Im Rahmen des Verfahrens muss auch auf Planänderungen reagiert werden, damit deutlich wird, dass man bereit ist, Themen, die in der Bevölkerung von Bedeutung sind, zu respektieren. Last, but not least muss der gelegentlich auftretende Opportunismus der politischen Klasse reduziert werden. Wir müssen für notwendige Großprojekte auch öffentlich Verantwortung tragen und von vorneherein öffentlich für sie werben und dürfen uns nicht taktisch oder opportun, je nachdem wie es gerade die politische Landschaft notwendig macht, verhalten. Hat die Politik der Bevölkerung die Herausforderungen der Energiewende bisher ausreichend erklärt? Nein. Wir haben nicht genügend deutlich gemacht, welche Aufgabe mit der Energiewende in den nächsten zehn Jahren verbunden ist. Das ist das größte industriepolitische Projekt, das es in Deutschland seit vielen Jahrzehnten gibt. Das ist nicht wirklich verstanden. Zudem müssen wir begreifen, dass dies ein Gemeinschaftswerk ist, das aus einer Koalition aus Politik, Unternehmen und Bürgern besteht. Diese Allianz muss aufgebaut werden. Dazu brauchen wir eine viel breitere und auch erklärende Diskussion und mehr Transparenz. brauche, weil man durch Netzoptimierung die bestehenden Leitungen so ertüchtigen könne, dass zusätzlicher Leitungsbau nicht notwendig sei. Über die Lastflussdiagramme wird deutlich, dass eine solche These nicht haltbar ist. Wir müssen auch bereit sein, Daten und Argumente öffentlich zu präsentieren, um Bürger von der Notwendigkeit des Baus einer solchen Leitung zu überzeugen. Wie kann diese Transparenz konkret aussehen? Unternehmen sollten frühzeitig Projekte zur Diskussion stellen und für sie werben. Die Begründungsnotwendigkeit hat dramatisch zugenommen, ohne dass sich die Kommunikation der Projektentwickler verändert hat. Das liegt daran, dass Projektinitiatoren nur das technische Argument kommunizieren und andere Argumente in den Abwägungsfragen nicht entsprechend berücksichtigen. Unternehmen müssten zum Beispiel klarmachen, dass sie das Thema Naturschutz ernst nehmen und nicht nur als lästig empfinden, auch regional- und strukturpolitische Aspekte müssten sie deutlicher machen. Ein Beispiel ist 50Hertz, der Netzbetreiber in meiner Region, der die 380-Kilovolt-Leitung über den Thüringer Wald baut. Vonseiten der Bürgerinitiativen wurde der Vorwurf laut, dass es bei den Daten nicht genügend Transparenz gibt, zum Beispiel was die Lastflüsse angeht. 50Hertz hat daher die Lastflussdiagramme ins Netz gestellt, damit sich jeder einen Überblick verschaffen kann, ob eine Trasse erforderlich ist. In einigen Studien ist nämlich immer wieder die These vertreten worden, dass man diese Strecke gar nicht Welchen Beitrag müssen die Unternehmen leisten? Warum tun Unternehmen das noch zu wenig? Sie haben Angst vor den Konflikten und davor, dass sich Verfahren verlängern. Das ist auch verständlich, denn wir haben inzwischen Planungsprozesse, die uns nur noch begrenzt wettbewerbsfähig machen. Wir brauchen beim Netzausbau von der Planung bis zur Realisierung im Schnitt 121 Monate, das sind zehn Jahre. Wir haben jetzt das Netzausbaubeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht, damit wollen wir das auf 48 Monate reduzieren. Wenn wir bestimmte Schritte nicht in zeitlich überschaubaren Abständen realisieren, ist die Energiewende gefährdet. Diese Diskussion müssen wir öffentlich führen, und zwar auf der Bundesebene genauso wie vor Ort, wenn es um bestimmte Projekte geht. Dazu müssen auch die Unternehmen bereit sein, sehr frühzeitig in die Diskussion zu gehen. Verzögert Bürgerbeteiligung die Planungen nicht noch mehr? Nicht zwingend. Wir haben beispielsweise im Rahmen der Verkehrsinfrastrukturprojekte Ost ein Planungsbeschleunigungsverfahren eingeführt, durch das dann auch Verfahren vor Gerichten entsprechend verkürzt wurden. Wie läuft die Kommunikation bei der Realisierung des Pumpspeicherkraftwerks in Thüringen? Beim Pumpspeicherwerk in Tambach-Dietharz haben wir zunächst sehr frühzeitig die Öffentlichkeit informiert. Zweitens hat der Projektträger beim Thema Oberbecken drei unterschiedliche Varianten in das Raumordnungsverfahren eingestellt. Wir wollen jetzt in einem breiten Dialog mit der Region, mit den Verantwortlichen vor Ort und mit den Bürgern überlegen, was unter naturschutzfachlichen, aber auch unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten das beste Oberbecken ist. Diese Offenheit, dass man zwar ein Projekt will, aber im Rahmen des Projektes auch Optionen deutlich macht, halte ich für ganz entscheidend, und dazu kann ich nur raten, weil das klarmacht, dass man den Bürger mit in diese Planungsprozesse einbeziehen und seine Meinung in der Sache hören will. Wie verhalten sich die unterschiedlichen Akteure in diesem Prozess? Matthias Machnig 225 Die unmittelbar betroffenen Kommunen, die Bürgermeister und die Stadträte unterstützen das Projekt. Das haben wir dadurch erreicht, dass wir sehr frühzeitig mit den Kommunen gesprochen, die Projekte erläutert und die Pläne auf den Tisch gelegt haben. Dabei war es besonders wich- gemacht worden ist, dass das nicht zu einer Verunstaltung des Landschaftsbilds führt. Inwieweit gibt es tatsächlich die Möglichkeit, die Anregungen und auch Wünsche der Bürger in der Planung umzusetzen? »Wir müssen für notwendige Großprojekte auch öffentlich Verantwortung tragen.« tig, infrastrukturelle, naturschutzfachliche und betriebswirtschaftliche Konsequenzen darzulegen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass entsprechende Gewerbesteuereinnahmen in der Region bleiben. Zudem haben die lokalen Bürgermeister und ich das Projekt in einem sehr frühen Stadium im Rahmen einer Pressekonferenz öffentlich vorgestellt. Darüber hinaus hat der Projektentwickler zusammen mit unserem Haus Veranstaltungen in der Region gemacht. Natürlich haben wir auch versucht, in der Landesregierung von vornherein eine möglichst breite Akzeptanz in den verschiedenen Ressorts herzustellen. Wurden die Konflikte so gelöst? Es gibt immer wieder lokale Interessen und Protest vor Ort, aber im Rahmen einer repräsentativen Umfrage haben wir festgestellt, dass 82 Prozent der Thüringer Pumpspeicherkraftwerke unterstützen. Das liegt daran, dass es in Thüringen seit den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts Pumpspeicherkraftwerke gibt und die Erfahrung 226 INTERVIEWS Das hängt natürlich von den Projekten ab. Bei der geplanten 380-Kilovolt-Leitung über den Thüringer Wald haben wir unterschiedliche Trassenverläufe geprüft und öffentlich erörtert. Wir haben uns dann für eine Variante entschieden, die vom Gedanken getragen war, von den Städten möglichst viel Abstand zu halten. Daneben musste noch die Frage entschieden werden, ob eine Erdverkabelung oder konventionelle Systeme besser für den Thüringer Wald sind. Dabei hat sich gezeigt, dass die Erdkabellösung in unserem Falle durch die zu schlagende Schneise zu einschneidenden Eingriffen in die Natur geführt hätte. Es war ein wichtiger Gesichtspunkt zu zeigen, dass wir Optionen sowohl technischer Natur als auch, was die Trassenführung angeht, prüfen. Ich habe mehrfach mit den Vertretern der Bürgerinitiative gesprochen, sodass man mir nicht den Vorwurf machen kann, dass man einfach ein Projekt durchpeitschen will. Das ist ganz wichtig, denn das beliebteste Argument bei solchen Projekten ist, dass die politisch Verantwortlichen sich der Diskussion nicht stellen und etwas durchpeitschen wollen. Deswegen muss man sich manchmal auch unangenehmen Debatten stellen, bei denen man vielleicht vor Ort zunächst einmal in der Minderheit ist. Aber man muss auch dort zeigen, dass man von der Entscheidung überzeugt ist, für diese Entscheidung streitet und auch gute Argumente dafür hat, was man dort tut. Scheut die Politik solche Konflikte ansonsten zu oft? Ja, natürlich. Viele opponieren unter sehr vordergründigen, parteitaktischen Gesichtspunkten gegen bestimmte Projekte. Man kann auf der Bundesebene nicht die Energiewende propagieren und dann vor Ort konkrete Projekte ablehnen. Wir müssen auch zu mehr Aufklärung in der energiepolitischen Debatte beitragen, denn den Menschen ist überhaupt nicht bewusst, wie viel Strom wir aktuell aus erneuerbaren und wie viel wir aus konventionellen Energien beziehen. Ich bin Befürworter der erneuerbaren Energien, aber wir müssen klarmachen, dass wir jetzt in eine Transformationsphase unseres Energieversorgungssystems eintreten, in der es eben auch um einen vernünftigen Mix aus erneuerbaren und klassischen fossilen Energien geht, und wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir innerhalb von kürzesten Zeiträumen komplett auf Erneuerbare umstellen können. Was ist die Rolle von Kraftwerken, die fossile Energieträger nutzen? Wir haben heute noch einen Anteil von rund 20 Prozent Kernenergie. Dieser muss bis 2022 auf null gebracht werden. Wir haben daher im Bereich der Fossilen einen Zubaubedarf von etwa 20.000 Megawatt bis zum Jahre 2020. Knapp 10.000 Megawatt sind im Bau, das heißt, weitere 10.000 Megawatt müssen folgen. Wir müssen stärker deutlich machen, dass wir als Industrieland einen Energiemix brauchen, um in den nächsten Jahren wettbewerbsfähig zu bleiben, im Hinblick sowohl auf die Energieversorgung und Energiesicherheit als auch auf die Kostenstruktur. Gibt es Akzeptanz für neue Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen? Die Frage ist, was das für Kraftwerke sind, wenn wir die nächsten 10.000 Megawatt dazubauen. Gegenwärtig rechnen sich Gaskraftwerke nicht, selbst Hocheffizienzkraftwerke wie Irsching 2 in Bayern schreiben rote Zahlen. Darauf müssen wir auch reagieren. Daher brauchen wir ein anderes Marktdesign, um das zu bewerkstelligen. Wir müssen klarmachen, dass wir Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen, möglichst mit Kraft-Wärme-Kopplung, brauchen. Für Kraft-Wärme-Kopplung gibt es auch eine hohe Akzeptanz vor Ort, das ist eines der effizientesten Energieversorgungssysteme, die es gibt. Wir brauchen auch Gas und dazu brauchen wir entsprechende Rahmenbedingungen. Wir müssen dann auch bereit sein, die bestehenden, alten Kraftwerke endlich vom Netz zu nehmenn, um dann zu zeigen, dass wir über neue Investitionen eine Reduktion von CO² -Emmissionen im Kohlebereich erreichen. Die Zukunft des Industriestandorts Deutschland ist die Gretchenfrage der Energiewende. Ja, das ist eine der Schlüsselfragen. Energie ist das Herz-Kreislauf-System einer modernen Industriegesellschaft. Wie verändert die Energiewende den Industriestandort Deutschland? Die großen Chancen bestehen darin, dass wir weltweit zeigen, dass man ohne Kernenergie und durch einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien als Industrieland wettbewerbsfähig bleiben kann, und zwar dadurch, dass wir in den Bereichen der Energieeffizienz, der Energietechnik und der Green Tech Innovationsführer werden. Das Risiko sind die Kostenstrukturen. Wir müssen eine Energiewende schaffen, die auch die Industrie wettbewerbsfähig hält und die Energie nicht zu einer sozialen Frage macht. In der Abwägung komme ich trotzdem immer ceneffizienz das Schlüsselthema sein. Die Energiewende wird auch einen Innovations- und Investitionsdruck auf die Unternehmen entwickeln, die dadurch im Bereich der Energie- und Ressourceneffizienz eben Sprünge nach vorn machen und daraus Wettbewerbsvorteile erzielen, weil die Potenziale, die dort schlummern, bei Weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Blockieren NGOs die Energiewende? Es gibt mittlerweile sehr konstruktive Ansätze auch vonseiten der NGOs. Beispielsweise hat die Deutsche Umwelthilfe ein Projekt entwickelt, wie ein Moderationsprozess etwa im Netzausbau auf den Weg gebracht werden kann, um Akzeptanz herzustellen. Es gibt viele NGOs, die verstanden haben, dass sich mit der Energiewende auch neue Infrastrukturfragen stellen, und auch bereit sind, ihre Verantwortung dafür wahr- »Wir brauchen als Industrieland einen Energiemix.« noch zu dem Standpunkt, dass das eine große Chance für den Industrieund Innovationsstandort Deutschland ist und uns mittelfristig auch wettbewerbsfähiger macht, weil mit der Energiewende nicht nur das Thema Energieproduktion, sondern vor allen Dingen auch das Thema Energieeffizienz in den Mittelpunkt rückt. Wenn man sich anschaut, wie sich in den nächsten Jahren Wettbewerbsfähigkeit definiert, dann wird neben Kostenstrukturen, Löhnen und Ähnlichem Energie- und Ressour- zunehmen und sich keinen schlanken Fuß zu machen nach dem Motto: „Wir sind immer nur für das Schöne und Gute und die anderen für die schlimme Realität verantwortlich.“ Es ist sehr wichtig, dass wir NGOs in die Prozesse involvieren und im Rahmen solcher Infrastruktur- und Ausbauprojekte zu Partnern machen. Matthias Machnig 227 Hildegard Müller »Widerstand gegen Projekte scheitert nicht am Geld.« Hildegard Müller über die angebliche „Dagegen-Republik“ sowie die mit der Energiewende verbundenen Herausforderungen. Zur Person Hildegard Müller ist seit Oktober 2008 Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Zuvor war die studierte Dipl.-Kauffrau seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestags sowie seit 2005 Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin. In dieser Funktion war sie unter anderem für die Bund-Länder-Koordination und den Bürokratieabbau zuständig. 228 INTERVIEWS Warum findet der Protest der „Wutbürger“ so große Aufmerksamkeit? Warum scheint der Nutzen von Großprojekten der Bevölkerung nicht mehr bewusst zu sein? Zählt die Schaffung von Arbeitsplätzen noch als Argument für Großprojekte? Wir leben in einer Gesellschaft, in der bestimmte Akteure und Multiplikatoren großen gesellschaftlichen Einfluss auf den politischen Diskurs haben. Viele dieser Multiplikatoren sind mit dem, was sie persönlich in ihrem Leben erreicht haben, sehr zufrieden und wollen diesen Zustand erhalten. Besonders dieser Gruppe gelingt es gegenwärtig häufig, ihre Themen und Sorgen besonders stark in die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist nicht immer von der Mehrheit getragen, wie man auch bei der Volksabstimmung zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 gesehen hat. Das liegt auch an dem erreichten Wohlstandsniveau. Deswegen ist die Toleranz für große Infrastrukturvorhaben, die erst mal Belastungen mit sich bringen, gering. Und die auf den ersten Blick selbstlose Sorge um Umwelt, Emissionen, den Juchtenkäfer und das schöne Landschaftsbild ist dann sehr schnell die Sorge um den eigenen Besitz. Das lässt sich aber nicht verallgemeinern. Natürlich gab es früher auch beim Autobahnbau Proteste, aber viele Dörfer wollten damals unbedingt an die Autobahn angeschlossen sein, um am großen Geschehen teilhaben zu können. Das hängt sehr von der aktuellen Konjunktur und vom jeweiligen Beschäftigungsniveau ab. Wenn es im Moment eine hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland geben würde, wäre die Debatte eine andere als bei der aktuellen guten wirtschaftlichen Situation. Spielt bei den Protesten noch eine bestimmte Weltanschauung eine Rolle? Nun, vielleicht die „Weltanschauung“ des Bürgers, der alles hat, was ihm lieb ist, und das auch nicht mehr verlieren möchte. Was im ersten Augenschein als politisches Engagement oder Weltanschauung anmutet, entpuppt sich auf den zweiten Blick aber manchmal als blanker Eigennutz. Wie steht es um das Bild der Wirtschaft im Allgemeinen? Obwohl das Bild von Unternehmen häufig sehr negativ ist, sind die unmittelbaren Erfahrungen mit dem Unternehmen vor Ort in aller Regel eher positiv. Das kann ich auch bezüglich der Zufriedenheit unserer Kunden mit dem eigenen Versorgungsunternehmen sagen. Hier gibt es vielerorts noch einen grundsoliden Stolz auf das Industrieland Deutschland. Leben wir in einer „DagegenRepublik“? Nein, denn man darf bei der Diskussion nicht vergessen, dass in den vergangenen Jahren auch sehr viele Projekte realisiert worden sind. Kraftwerke sind ans Netz gegangen, Windanlagen wurden gebaut und Verteilnetz-Projekte umgesetzt. Über reibungsfreie Projekte wird viel weniger berichtet, deswegen kann man nicht grundsätzlich von einer „Dagegen-Republik“ sprechen. Obwohl die Energiewende großen Zuspruch findet, gibt es immer wieder Proteste gegen Windräder, Kraftwerke oder Stromleitungen. Woran liegt das? Das ist einfach unangenehm, wer möchte schon direkt neben einem Windrad wohnen? Der Grad der persönlichen Betroffenheit nimmt in dem Moment zu, wenn sich die unmittelbare Lebenswelt verändert. Wie kann man mögliche Konflikte um Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien bewältigen? Man muss die Projekte so umsetzen, dass möglichst wenige Leute beeinträchtigt werden. Und wenn sie von einem Projekt persönlich betroffen sind, muss man sie möglichst früh einbinden. Bei den Leitungen versucht man gerade, Lösungen über Abstandsregelungen und Entschädigungszahlungen zu finden. Mehr und mehr Menschen wird auch klar, dass es ohne den Bau von Stromtrassen keine Energiewende geben wird. Das Grundgrummeln gegen solche Projekte nimmt also ab. Brauchen wir finanzielle Kompensationen? Da wäre ich vorsichtig, denn bei Projekten, die der Allgemeinheit dienen, müssen die Bürger als Teil dieser Gesellschaft auch gewisse Lasten tolerieren. Wir sollten auch die Energiepreise nicht mit noch mehr Steuern und Abgaben belasten. Für pri- vate Haushalte betragen sie heute bereits 45 Prozent des Strompreises. Steigt die Akzeptanz, wenn Bürger wirtschaftlich von Projekten profitieren? Ja, das belegen viele bestehende Modelle, die sich bewährt haben und nicht nur da wirken, wo sie unmittelbar umgesetzt werden, sondern generell auch ein anderes Bewusstsein im Umgang mit der Sache herbeiführen. Auch viele unserer Unternehmen arbeiten mit solchen Beteiligungsprojekten. Sind der Bevölkerung die Herausforderung und die Folgen der Energiewende bewusst? Nein, nicht im vollen Umfang. Das zeigen auch die Umfragen, die wir regelmäßig machen. Nachdem die Energiewende beschlossen worden war, gab es eine euphorische Stimmung im Hinblick auf die erneuerbaren Energien. Jetzt bemerken wir immer mehr Probleme bei der konkreten Umsetzung, und diese sind den Bürgern leider noch nicht restlos bewusst. Welche Probleme gibt es konkret? Es gibt sehr große systemische Herausforderungen. Zunächst einmal Hildegard Müller 229 brauchen wir eine sehr hohe Anzahl neuer Netze, denn es gibt, obwohl alle immer von Dezentralität reden, doch eine gewisse Zentralisierung: Im Norden weht meistens mehr Wind und im Süden scheint tendenziell mehr die Sonne. Das sind schwierige technische Fragestellungen, die es beim Ausbau der fluktuierenden Energieträger zu bewältigen gibt. Zudem müssen wir Versorgungssicherheit gewährleisten und das bedeutet, dass wir trotz des Ausbaus der erneuerbaren Energien auch große Kraftwerke brauchen. Das wissen die Hauptakteure aus allen Bereichen, aber die Mehrheit der Bevölkerung weiß das nicht. Wir müssen daran arbeiten, dass diese Herausforderungen stärker in den Fokus der Debatte gelangen. Nur wenn man um die Probleme weiß, kann man sie auch lösen. Welchen Stellenwert werden Kraftwerke, die fossile Energieträger nutzen, zukünftig haben? Gas und Kohle werden eine große Rolle spielen. Gegenwärtig können wir froh sein, dass wir die kostengünstige Braunkohle noch als kostendämpfenden und stabilisierenden Faktor für die Versorgungssicherheit haben. Wir brauchen in Deutschland definitiv noch lange Zeit ihre Leistung. Ob die Kraftwerke dann allerdings so viel arbeiten können, wie es für ihren ökonomischen Betrieb notwendig wäre, ist fraglich. Wie wird die Energiewende den deutschen Industriestandort verändern? Im Jahr 2050 – wenn wir die Energieversorgung insgesamt umgebaut haben werden – wird Deutschland 230 INTERVIEWS ein modernes Land mit einer hochinnovativen Energieversorgung und letztendlich mit ganz anderem Verbrauchsverhalten sein. Wir werden neue Vertriebsstrukturen haben und Innovationen im Alltag vorfinden, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben. Das kann eine ganz spannende, tolle, interessante Welt sein, wenn wir es bis dahin ordentlich hinbekommen. in die Planungen ihrer Projekte investiert, daher klammern sie sich häufig an Details, die man noch ändern könnte. Ein guter Projektmanager muss aber auch die Kreativität und Bereitschaft mitbringen, sein Projekt zu öffnen und andere Wege zu gehen. Aber er muss natürlich dann auch klar erkennen können, an welchen Stellen Schwierigkeiten entstehen. Gefährdet die Energiewende den deutschen Industriestandort? Sollten bei Projekten auch immer Alternativen dargestellt werden? Gegenwärtig ist die Angst berechtigt, denn wir sind in einer Situation, in der es kein gutes Klima für Investitionen gibt, die wir für die Energiewende brauchen. Wenn die Preise für einige Industriebereiche zu hoch werden, kann das auch bedeuten, dass sie abwandern. Daran kann niemand ein Interesse haben. Das kann man so nicht verallgemeinern. Wenn man ein Projekt realisieren möchte und die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch so sind, dass es umsetzbar ist, kann man nicht überzeugend eine Alternative zum Projekt darstellen. Es können aber in der Debatte Alternativen für Teilaspekte entstehen, die man dann auch ernsthaft prüfen sollte. Welche Rolle werden die großen Energieversorger in Zukunft spielen? Große Energieversorgungsunternehmen werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen, denn ohne sie werden wir unsere ehrgeizigen Ziele nicht erreichen. Wir brauchen das Knowhow und die Fähigkeit, große Projekte stemmen zu können. Große Unternehmen, regionale Versorger, Stadtwerke: Alle Größenordnungen werden wichtig sein. Viele fordern echte Mitsprachemöglichkeiten, sodass auch Veränderungen bei Projekten noch möglich sind. Wie weit kann so etwas gehen? Es gibt auch heute schon mehr Einflussmöglichkeiten, als es auf den ersten Blick oft scheint. Projektinitiatoren haben viel Zeit und Energie Was müssen wir in der Bürgerbeteiligung besser machen? Wichtig ist vor allem, die Verfahren so verständlich zu machen, dass sich nicht nur spezialisierte Topanwälte, sondern auch normale Bürger beteiligen können. Momentan ist es oft so, dass eine Handvoll von Akteuren einen Paragrafenkampf kämpft und darauf angesetzt wird, das Haar in der Suppe zu finden, um das Projekt zu stoppen. Sollten wir bestimmte Instrumente gesetzlich vorschreiben? Man sollte die Wege der Partizipation nicht en détail durchstrukturieren, weil Bürgerbeteiligung auch von Informalität und Spontaneität lebt. Ein vernünftiges, begleitendes Projektmanagement für die Kommu- nikationsarbeit könnte jedoch sicherlich sinnvoll sein. Muss man die bestehenden Möglichkeiten nur modifizieren? Wir brauchen diesen Vierklang, dass Beteiligung besser, klüger, verständlicher und schneller wird. Zudem darf die Rechtssicherheit darunter nicht leiden. Wenn man dieses Zusammenspiel nicht hinbekommt und nur auf Kosten von ein oder zwei Punkten die Verfahren verändern würde, sollte man vielleicht lieber die Hände davon lassen. Und alles so lassen wie es ist? Der Status quo ist nicht der schlechteste. Deswegen sollte man aufpassen, dass die Verfahren nicht noch länger dauern und vielleicht noch komplizierter werden. Wer ist für die Bürgerbeteiligung verantwortlich? Derjenige, der etwas umsetzen will, hat auch eine gewisse Verantwortung, solche Verfahren anzustoßen. Die Politik hat dann die Verantwortung, die zeitlichen Restriktionen im Auge zu behalten, damit sie noch vernünftig sind und den Prozess nicht künstlich verlängern oder verkürzen. Schwebt Ihnen ein Zeitpunkt für die Einbindung von Bürgern vor? Man könnte den Scoping-Termin, an dem die Projekte vorgestellt werden, für alle Bürger öffnen. Natürlich sollte man Pläne erst dann auf den Tisch legen, wenn sie richtig ausgereift sind. Brauchen wir mehr direkte Demokratie? Es geht nicht immer darum, mehr und neue Verfahren zu schaffen. Wir brauchen wieder ein Bewusstsein dafür, dass die bestehenden, demokratischen Strukturen ihre Berechtigung haben und grundsätzlich gut sind. Das wird in der Diskussion sehr häufig vergessen und die Arbeit der Politiker sowie der parlamentarischen Unternehmen sollten zum Beispiel Social Media stärker nutzen, denn sie stehen in einem ständigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Wenn NGOs oder andere Akteure sich dieser Mittel effektiv bedienen, sollte man versuchen, auch selbst dazu in »Zunächst einmal brauchen wir eine sehr hohe Anzahl neuer Netze.« Demokratie wird häufig diskreditiert. Dabei vergessen wir, wie gut unsere Demokratie funktioniert. Volksabstimmungen wie bei Stuttgart 21 sind also nicht sinnvoll? Sie sind nicht automatisch immer die beste Lösung. Was dabei ja auch völlig unklar ist, ist die Frage des Bezugsrahmens. Sollte bei regionalen Projekten mit bundesweiter Relevanz, wie dem Flughafen Berlin-Brandenburg oder Stuttgart 21, ganz Deutschland abstimmen? Was spielen die Medien für eine Rolle? Die Medien sind heute von einer extremen Schnelligkeit und einer sehr kurzen inhaltlichen Aufmerksamkeitsspanne dominiert. Damit passen sie sich dem heutigen Zeitgeist an, das ist auch völlig verständlich. Andererseits sind die Probleme so komplex geworden, dass sie gerne mal ausgeblendet werden. Das wiederum ist oftmals schade. der Lage zu sein. Generell gilt: Offen und frühzeitig mit Themen und Problemen umzugehen, hat sich nach meiner Erfahrung bewährt. Es gibt einen Vorschlag, dass Projektinitiatoren zwei Prozent der Projektsumme den Projektgegnern zu Kommunikationszwecken und zur Erstellung von Gutachten zur Verfügung stellen. Was halten Sie davon? Bis jetzt kann ich nicht feststellen, dass der Widerstand gegen Projekte je am Geld gescheitert ist. Eine Aktion von Greenpeace hat übrigens oftmals mehr Medienpräsenz als eine teure Medienkampagne eines Unternehmens. Sollten Unternehmen ihre Kommunikation ebenfalls anpassen? Hildegard Müller 231 Andreas Nauen »Windenergieanlagen haben eine sehr hohe Symbolkraft.« Andreas Nauen über die Möglichkeiten, Windräder immer weiter zu optimieren, und die Potenziale von Bürgerwindparks. Seit Jahren werden Windkraftanlagen für die vermeintliche „Verspargelung“ der Landschaft kritisiert. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, dagegen bezeichnet Windräder als „schöne Maschinen“. Wie sehen Sie als Hersteller von großen Windkraftanlagen Ihre Produkte? Zur Person Andreas Nauen ist seit Juli 2010 Vorstandsvorsitzender der REpower Systems SE in Hamburg, eines weltweit führenden Herstellers von Windenergieanlagen im Onshoreund Offshore-Bereich. Zuvor war er fast 20 Jahre lang in unterschiedlichen Positionen bei Siemens beschäftigt, wo er zuletzt das Windenergiegeschäft verantwortete. 232 INTERVIEWS Es freut mich, dass der badenwürttembergische Ministerpräsident von „schönen Maschinen“ redet. Wenn ich sage, dass ich sie schön finde, würde man mir ja gleich vorwerfen, ich sei in dieser Frage befangen. Aber Hand aufs Herz – es gibt durchaus Hässlicheres als Windräder. Entscheidend ist aber auch: Windenergieanlagen haben eine sehr hohe Symbolkraft. Das spiegelt sich auch in der Werbung für ganz andere Produkte wider. In sehr vielen Spots sind heutzutage Windenergieanlagen zu sehen, offensichtlich als Zeichen für ein modernes, verantwortungsbewusstes Leben. Für den Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz ist die neue Onshore-Windkraftanlage auf dem Energieberg Georgswerder übrigens auch ein „weithin sichtbares Stück Energie- wende“, wie er bei der Inbetriebnahme im Januar 2012 sagte. Die technische Entwicklung im Bereich der Windenergie geht immer stärker hin zu zwar effizienteren, aber damit auch höheren Anlagen. Glauben Sie, dass die Akzeptanz dadurch sinkt? Diese Entwicklung hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite kann es als störend empfunden werden, dass die Windräder größer sind und noch mehr auffallen. Auf der anderen Seite werden beim Repowering alte, kleine und ineffiziente Windräder durch größere und leistungsstärkere ersetzt. Auf diese Weise halbiert sich die Zahl der Mühlen und der Ertrag steigt um das Dreifache – das ist erst mal keine so schlechte Bilanz. Und das muss man auch vermitteln, um Vorbehalte abzubauen. Was tut REpower, um potenzielle Belastungen der Bürger durch Windkraftanlagen zu reduzieren? Vor allem setzen wir darauf, von vornherein leise Maschinen zu entwickeln, um potenzielle Lärmbelästigungen auf ein Minimum zu reduzieren. Zudem besteht die Option, Windräder zu bestimmten Zeiten lärmreduziert laufen zu lassen, indem die Blätter ein wenig anders eingestellt werden. Darüber hinaus arbeiten wir kontinuierlich auch an einer verbesserten Optik. Natürlich können wir allgemein am Aussehen von Windrädern nichts ändern. Aber wir bemühen uns – sofern dies wirtschaftlich möglich ist –, nicht nur technisch leistungsstarke, sondern auch optisch ansprechende Maschinen zu bauen. So sind die Türme neuerer Generationen unten breiter und sie verschlanken sich nach oben hin stärker. Das wird von vielen, auch von mir, als schöner empfunden. Außerdem sind die Flugbeleuchtungen nachts abschaltbar – technisch einfach, aber effektiv. REpower baut große Windkraftanlagen sowohl für Offshore- als auch für Onshore-Windparks. Wie reagieren die Menschen auf Ihre Projekte? Auch wenn wir grundsätzlich Zustimmung zur Windenergie erleben, gibt es gerade bei Großprojekten schon einmal eine skeptische Haltung in der Bevölkerung. Wir haben es dann häufiger mit dem „Not in my backyard“-Effekt zu tun. Diese Skepsis hat meist ganz boden- ständige Gründe. Windräder können natürlich als laut empfunden werden oder Schatten werfen. Soll eine Windturbine in der Nähe einer Wohnbebauung errichtet werden, befürchten die Menschen, dass ihr Eigentum im Wert gemindert wird. Sind diese Gründe nachvollziehbar? Aus der persönlichen Perspektive von Anwohnern mag eine skeptische Haltung berechtigt sein. Sachlich ist sie aber nicht begründet. Denn es gibt keine Beweise dafür, dass Immobilien oder Grundstücke durch Windräder in der Nachbarschaft an Wert einbüßen. Tatsächlich geben Betroffene ihre kritische Position häufig auf, wenn ein Windpark erst einmal fertig gebaut ist – Studien belegen dies. Windenergieanlagen stehen wiederholt unter Natur- und Tierschutzaspekten in der Kritik. Wie gehen Sie damit um? Klima- und Naturschutz in Einklang zu bringen, ist in der Tat eine Herausforderung. Die Ausgangslage ist kompliziert. Denn: Auf der einen Seite sind die Menschen für den Einsatz regenerativer Energien und damit für den Bau von Windrädern. Auf der anderen Seite sind sie dagegen, weil sie vor Ort Gefährdungen von Fauna oder Flora befürchten – für viele ein ernster Zielkonflikt zwischen globalem Umwelt- bzw. Klimaschutz sowie lokalem Natur- und Tierschutz. Unser Ziel ist es, die Belastungen beim Bau neuer Anlagen unter beiden Gesichtspunkten gering zu halten und daran auch konsequent weiterzuarbeiten. So sind wir etwa auch Mitglied der Forschungsinitiative Research at alpha ventus. Die Initiative verfolgt eine Reihe von Forschungsprojekten für einen verbesserten Natur- und Tierschutz, beispielsweise zum Thema Blasenschleier für die Rammarbeiten oder zum Schutz von Zugvögeln. Die Entscheidung, ob die Turbinen bei den Projekten in das Fundament gerammt oder gedreht werden, liegt aber letztendlich bei unseren Kunden. Ist die Sensibilität gegenüber großen Projekten in Deutschland besonders ausgeprägt? Insgesamt ist die Akzeptanz für Windräder in Deutschland nach wie vor hoch. Natürlich entstehen hier und dort Konflikte, aber es gibt keiAndreas Nauen 233 nen Fundamentaldissens. Meistens stören sich die Menschen an Einzelaspekten, wie dem Abstand zur Wohnbebauung. Wir versuchen dann, Lösungen zu finden, indem wir die Abstände vergrößern oder weniger Turbinen aufstellen als geplant. Deutschland ist in dieser Hinsicht aber kein Sonderfall, denn ähnliche Diskussionen gibt es auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Kanada. Dort herrscht vereinzelt sogar die irrationale Angst, dass Kühe, die unter Windrädern grasen, tot umfallen. In Großbritannien spielt das Thema „National Heritage“ eine wichtige Rolle, also das Landschaftsbild. Darauf ist man dort sehr stolz. Das Bild der Landschaft wird durch Windenergieanlagen natürlich beeinflusst, deshalb gibt es dort auch immer wieder Widerstände. Sensibilitäten sind insofern Ist die Diskussion um Proteste gegen Windräder ein mediales Zerrbild? Ja, denn letztes Jahr wurden in Deutschland wieder Anlagen mit einer Leistung von ungefähr 1.900 Megawatt aufgestellt und dagegen hat sich in der Breite kaum Protest geregt. Die Genehmigungen dafür liegen zwar schon einige Jahre zurück, aber ich denke nicht, dass sich daran etwas ändert und der deutsche Markt einbrechen wird. Und wenn es doch einmal Konflikte gibt: Wie werden sie konkret gelöst? Durch den Bau möglichst leiser, ästhetisch anspruchsvoller und umweltgerechter Anlagen wollen wir bereits im Vorfeld sämtliche Optionen ausnutzen, um das Konfliktpotenzial gering zu halten. Wenn es bei »Es gibt gar nicht so viele Projekte, bei denen wirklich massive Probleme auftreten.« kein rein deutsches Phänomen. In den USA treten diese Probleme allerdings seltener auf. Das liegt sicherlich auch an anderen topografischen Gegebenheiten. Mit der Windenergie ist also keine „German Angst“ verbunden? Nein, im Hinblick auf die Windenergie gibt es dieses Phänomen nicht. Die Akzeptanz für Windenergie wie auch für andere erneuerbare Energien ist viel höher als für konventionelle Energien. Grundsätzlich haben wir das Image der „Guten“. 234 INTERVIEWS der Projektrealisierung doch zu Konflikten kommt, berührt dies zunächst den Verantwortungsbereich unserer Kunden. Selbstverständlich unterstützen wir sie bei der Lösung, zum Beispiel indem wir im Verbund mit ihnen Informationsveranstaltungen durchführen. Dabei versuchen wir zu erklären, welche technischen Lösungen es gibt. Unsere Mitarbeiter sind zudem oft bei formellen Bürgeranhörungen auf dem Podium vertreten, um Auskunft über die Anlagen zu geben. Wenn man den Menschen verständlich erklärt, worum es geht, und sie früh einbezieht, verringern sich unserer Erfahrung nach die Konflikte drastisch. Gerade im Kontext der Energiewende fordern viele Stimmen mehr Bürgerbeteiligung. Gibt es im Verwaltungsrecht schon genug Beteiligungsmöglichkeiten? Sowohl auf der formellen als auch auf der informellen Ebene existieren aus meiner Sicht bereits genügend Beteiligungsmöglichkeiten. REpower und die Entwickler von Windrädern binden den unmittelbaren Kreis der Betroffenen heute schon sehr frühzeitig ein. Und noch einmal: Es gibt gar nicht so viele Projekte, bei denen wirklich massive Probleme auftreten. Was halten Sie von finanzieller Bürgerbeteiligung an Projekten? Das ist ein sinnvolles Modell, das ja auch überall auf der Welt Anwendung findet. Denn je mehr Beteiligung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Protesten. Gerade Schleswig-Holstein ist in diesem Bereich Vorreiter. Der Großteil sind hier Bürgerwindparks. REpower hat mit dem Modell der Mitarbeiterwindmühle sogar einen eigenen Bürgerwindpark mit vier Turbinen, der sehr beliebt bei unseren Mitarbeitern ist. Ein großer Energieversorger an der Ostsee hat gut die Hälfte der Leistung bei einem Offshore-Projekt an Stadtwerke verkauft. Auch solche Beteiligungsformen erhöhen die Akzeptanz. Stellen Sie im Hinblick auf die Akzeptanz regionale Unterschiede fest? Die Akzeptanz ist auch dort am größten, wo Arbeitsplätze in unserer Industrie bestehen. Da gibt es einen Zusammenhang. Wir beschäftigten 600 Mitarbeiter in der Nähe von Rendsburg. Windenergie ist dort in Energiewende ist nicht umsonst zu haben – aber das ist gegenüber der breiten Öffentlichkeit nicht ohne Weiteres vermittelbar. »Grundsätzlich haben wir das Image der ›Guten‹.« besonderer Weise im Bewusstsein der Menschen verankert. Das gilt für REpower, aber auch für andere Hersteller: Sämtliche Winderzeuger, Ingenieursabteilungen und Werke haben ihren Sitz ja in Norddeutschland. Daher wiegt das Arbeitsplatzargument dort deutlich mehr als im Süden. Auch in Dänemark, wo die Dichte an Turbinen viel höher ist als hierzulande, ist die Akzeptanz für Windräder sehr hoch, was ebenfalls mit der Vielzahl von Arbeitsplätzen in der Windenergiebranche zusammenhängt. Seit dem Ausstieg aus der Kernenergie Mitte der Achtzigerjahre ist Windenergie dort ein wichtiger Industriezweig. Als Hersteller profitieren Sie direkt von der Energiewende. In der öffentlichen Diskussion ist aber zunehmend auch von Lasten die Rede. Denken Sie, dass die Lasten, die mit der Energiewende verbunden sind, deutlich genug gemacht werden? Nein, die Erklärung ist sicherlich an der einen oder anderen Stelle zu kurz gekommen. Letztes Jahr wurde die Entscheidung für die Energiewende bejubelt – und so getan, als wäre sie gratis. Dabei ist sie mit erheblichen Aufwänden verbunden, nehmen Sie zum Beispiel die Anbindung der Offshore-Windparks an die Netze. Die Wie kann eine plausible Erklärung aussehen? Mit Argumentationen nur zu einzelnen Aspekten der Energiewende kann man die Menschen nicht überzeugen. Meiner Meinung nach gelingt das nur, indem man die Teilaspekte in ein Gesamtbild einbettet. Die notwendigen Belastungen durch die Energiewende können nur mit Blick auf die Vorteile für die gesamte Volkswirtschaft und die Umwelt begründet werden. Zum Abschluss: Die Beschlüsse der Bundesregierung zur Energiewende sind ja auf Basis der Empfehlung der Ethikkommission gefallen. Halten Sie so etwas für ein gutes Modell? Oder ist das eine Abgabe von Verantwortung? Ich habe das nicht als Abgabe von Verantwortung empfunden. Es war gut, dass man kluge Köpfe einbezogen und versucht hat, die Entscheidungen so neutral und so sachlich wie möglich zu treffen. Ob es geholfen hat, kann nur die Zukunft zeigen. Andreas Nauen 235 Dr. Eberhard Pausch »Nachhaltigkeit und Verantwortlichkeit müssen Alltag der Politik sein.« Dr. Eberhard Pausch über gesellschaftliche Werte sowie die Notwendigkeit einer Kommunikation, die alle Teile der Gesellschaft mit einbindet. Was ist ausschlaggebend für die sinkende Akzeptanz von Großprojekten: die eigene Betroffenheit oder eine bestimmte Weltanschauung? Die eigene Betroffenheit ist sicherlich ein wichtiger Ausgangspunkt für viele. Dazu gehört die Angst vor negativen Folgen für die Umwelt, die Gesundheit oder für das soziale Miteinander. Eine bestimmte Weltanschauung ist wohl weniger wichtig, das war vielleicht in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch der Fall. Heute spielen private und soziale Motive eine größere Rolle. Sind die Proteste teilweise auch egoistisch? Zur Person Oberkirchenrat Dr. Eberhard Pausch ist seit 2000 Referent für Fragen öffentlicher Verantwortung im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. In dieser Funktion ist Dr. Pausch unter anderem für Friedensethik und Demokratiefragen zuständig. Davor war er als Gemeindepfarrer in Frankfurt am Main tätig. 236 INTERVIEWS Es gibt sicherlich in einigen Fällen diese „Not in my backyard“-Mentalität. Das ist das altbekannte St.-Florians-Prinzip, dass andere Häuser ruhig angezündet werden dürfen, solange das eigene verschont bleibt. Das ist natürlich eine sehr egoistische Sicht. Ich glaube aber nicht, dass diese Haltung für die meisten Bürgerinnen und Bürger kennzeichnend ist. Richtig ist, dass Windräder Lärm verursachen und Stromleitungen Auswirkungen haben können, die gesundheits- schädlich sind. Solche Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Großprojekte möchte verständlicherweise niemand. Da geht es also nicht um Bequemlichkeit oder Egoismus, sondern zum Beispiel um ernst zu nehmende Gesundheitsfragen. Ist der Einzelne heute noch bereit, Lasten für das Gemeinwohl in seinem unmittelbaren Umfeld zu tragen? Ja, wenn solche Einschränkungen oder Belastungen gut begründet werden. Man muss die Menschen informieren und man muss sie mitnehmen. Wer muss diese Informationen und Begründungen geben? Die Bürger und Bürgerinnen müssen sich von sich aus auch über Tageszeitungen, Fernsehen und Internet um Informationen bemühen, da besteht auch eine gewisse Holschuld. Vorrangig sind gleichwohl Politik und Wirtschaft gefordert, Informationen zu geben und Entscheidungen zu begründen. Das bedeutet auch, über alle Implikationen eines Projekts oder einer Entscheidung zu sprechen. Einige Implikationen werden erfreulich sein, andere weniger erfreulich und andere werden vielleicht auch kaum einschätzbar sein. Aber man muss all das ganz offen und ehrlich kommunizieren und den Menschen auch die Wahrheit zumuten. Haben Sie das Gefühl, dass Politik und Wirtschaft das in ausreichender Form tun? Häufig tun sie es leider nicht. Das sieht man auch sehr deutlich an aktuellen politischen Entscheidungen wie der Energiewende oder der Aussetzung der Wehrpflicht. Diese beiden Themen sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung, doch die vorgenommenen Weichenstellungen wurden kaum öffentlich begründet, sondern im Hauruckverfahren abgehandelt. Aus meiner Sicht war die Entscheidung für die Energiewende zwar richtig, aber es war für mich nicht nachvollziehbar, wie man von einem Tag auf den anderen diesen Beschluss fassen konnte, zudem hat man diese Entscheidung viel zu wenig begründet. Die Bundesregierung hat die Beschlüsse zur Energiewende auf Basis der Entscheidung der Ethikkommission getroffen. Wurde die Entscheidung damit nicht ausreichend begründet? Nein. Ich halte von diesen Kommissionen wenig, denn sie haben oft nur eine legitimatorische Funktion. In Wahrheit hatte die Bundesregierung die Entscheidung wohl schon vorher getroffen. Wenn sie sich tatsächlich auf das Urteil einer Kommission hätte berufen wollen, dann hätte sie die Ethikkommission zu Beginn ihrer Amtsperiode einberufen und dann auf der Grundlage der Einschätzung dieser Kommission ihre Politik entwerfen müssen. Das hat sie aber nicht getan, sie hat erst nach Fukushima gehandelt und erst dann die Kommission eingesetzt. Das war nicht sehr überzeugend, sondern mehr ein Schauspiel. Dasselbe gilt auch für viele andere Kommissionen, wie seinerzeit etwa die Hartz-Kommission unter Schröder. Diese wurde vor allem eingesetzt, um die Politik der damaligen Bundesregierung zu rechtfertigen. Das Bild von Wirtschaft und Politik ist eher negativ. Woran liegt das? Das negative Bild der Wirtschaft hat sicherlich mit der Finanzkrise des Jahres 2008 zu tun. Da hat man bestimmte Erfahrungen mit binnen- wirtschaftlichen Strukturen, mit der Hilflosigkeit der Politik und vor allem mit der Ohnmacht der einzelnen Bürger und Bürgerinnen gemacht, die zu dem negativen Bild beigetragen haben. Das negative Bild der Politik entsteht sicherlich dadurch, dass sie für den Bürger zunächst einfach sehr abstrakt ist. Der Staat ist ja auch ein unglaublich vielfältiges, komplexes und unübersichtliches Gebilde und die Akteure innerhalb des Großakteurs Staat sind ein Universum für sich. Es ist einfach schwierig, damit umzugehen. Dazu kommt, dass oft von Alternativlosigkeit gesprochen wird. Wenn ein Gesetzesentwurf dem Parlament vorgelegt wird, steht da meistens: „Alternativen: keine.“ Das ist verheerend, denn Politik sollte immer so beschaffen sein, dass sie Alternativen eröffnet. Wenn man als Regierung dem Bundestag einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, dann müsste man zu dem Beschluss nach meinem Verständnis mindestens eine oder zwei Alternativen aufzeigen können. Man sollte begründen, warum man für die erste Alternative und nicht für die zweite oder dritte ist. Das wird oft nicht gemacht und das ärgert mich als Bürger dieses Dr. Eberhard Pausch 237 Staates. Zudem haben Politik und Wirtschaft oft die Tendenz, sich nur mit sich selbst oder miteinander zu beschäftigen und dabei die Kommunikation mit der Gesamtgesellschaft zu vergessen. Erwarten die Bürger vielleicht zu viel von Politik und Wirtschaft? gibt ebenso den Bereich Religion und Weltanschauung, der für die ethische Orientierung zuständig ist. Dieser Bereich muss gepflegt werden und auch Einfluss haben können auf das, was in Politik und Wirtschaft geschieht. Und es gibt den Bereich der Wissenschaft. Es muss gehört werden, wenn Fachleute ein »Die Zukunft kann man angstfrei, konstruktiv und verantwortlich gestalten.« Man kann keine Allmacht von diesen Institutionen und Systemen erwarten. Das wäre natürlich ein völlig falscher Ansatz. Politik und Wirtschaft haben einen begrenzten Einfluss und eine begrenzte Rolle in unserer Gesellschaft. Es gibt überhaupt kein Zentrum, das die Gesamtgesellschaft komplett steuern könnte. Das sollte man auch nicht anstreben, sondern man sollte nur die jeweiligen Systeme möglichst effizient und wirkungsfähig ausgestalten. Ein Problem entsteht immer dann, wenn eines dieser Subsysteme in der Gesellschaft, wie beispielsweise die Wirtschaft, versucht, das Gesamtsystem Gesellschaft zu steuern. Genau dasselbe ist der Fall, wenn die Politik dies versucht, dann hat man am Schluss ein totalitäres System. Was erwarten Sie von Politik und Wirtschaft? Es muss zu einer besseren Balance zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen kommen. Es gibt ja nicht nur Wirtschaft und Politik in der Gesellschaft, es 238 INTERVIEWS bestimmtes Urteil haben. Das darf nicht an den Ohren der Politiker oder der in der Wirtschaft verantwortlichen Personen vorbeigehen. Zudem müssen sich auch die Kommunikationsformen ändern. Das Internet muss eine viel größere Rolle spielen. Das ist ja vielleicht der Erfolg der Piratenpartei: dass die neuen Kommunikationsformen entsprechend genutzt werden. Sie holen die Bürger und Bürgerinnen, die in der Internetwelt leben, da ab, wo sie sich befinden. Ist Bürgerbeteiligung ein Mittel, um die Akzeptanz für politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu erhöhen? Man sollte die Möglichkeiten der Bürgerbefragung viel mehr nutzen und in den Dialog mit den Menschen treten, die von einem Projekt betroffen sind. Das ist allein deshalb schon erforderlich, weil die Planungsphasen für Projekte ja so lang sind, dass sich die Zustimmung oder Ablehnung dafür im Laufe der Zeit verändern kann. Deshalb muss man kontinuierlich mit den Menschen im Gespräch bleiben. Was halten Sie von direkter Demokratie? Die direkte Demokratie macht die Demokratie sicherlich bunter und gibt den Bürgern auch eine gewisse Kontrollfunktion in die Hand. Sie birgt aber auch Risiken, das sieht man beispielsweise an der Entscheidung der Schweizer zum MinarettVerbot. Sinnvoller sind aus meiner Sicht Bürgerbefragungen, die keinen absolut zwingenden Charakter haben, aber als Impulse für politische Entscheidungen respektiert werden müssen. Bei Stuttgart 21 gab es ja den Volksentscheid und trotzdem gibt es noch Proteste. Was halten Sie davon? Das ist ein Problem der demokratischen Kultur. Die Leute, die jetzt noch protestieren, artikulieren ihr eigenes Ego und ihre Befindlichkeit, aber sie respektieren weder die Volksentscheidung noch respektieren sie die Gegebenheiten, die in der Politik nun vorhanden sind. Diesen Respekt muss es aber geben und den muss man auch von den Bürgern und Bürgerinnen, die anderer Meinung sind, erwarten können. Das ist eine Frage unserer Umgangskultur. Mit Großprojekten ist oft die Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden. Dieses Argument scheint aber immer weniger zu zählen. Haben sich hier die Werte verschoben? Arbeitsplätze zu schaffen, ist natürlich etwas Positives. Es gibt aber auch noch andere Kriterien, die zu berücksichtigen sind, wenn man die ethische Qualität eines Großprojektes einschätzen möchte. Es geht um soziale Faktoren, dazu zählen die Arbeitsplätze. Es geht um die Frage, ob das Projekt der Umwelt nützt oder schadet. Es geht um die Frage des ökonomischen Gewinns und es geht auch um die Frage, ob ein solches Großprojekt dem Frieden dient. Wenn sich eine Firma ansiedeln will, die Waffen exportiert, dann ist damit die Frage der Friedensverträglichkeit verbunden, die auch ethisch zu bewerten ist. Es gibt also verschiedene Faktoren, die alle berücksichtigt werden müssen. Hat sich bei der Bewertung dieser unterschiedlichen Faktoren in den letzten Jahren etwas verändert? Ja. Die Themen Nachhaltigkeit, Umwelt und Frieden hatten vor dreißig, vierzig Jahren fast gar keinen Stellenwert. Das führte dann zur Entstehung von Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen, die diese Fragen vorantrieben, was dann in der Gründung der Partei „Die Grünen“ mündete. schaft mit beeinflussen. Ebenso gibt es viele säkular begründete Wertvorstellungen, die beispielsweise menschenrechtliche Fundierungen haben, die ebenso unsere Gesellschaft beeinflussen. Die christlichen Wertvorstellungen spielen also eine Rolle, aber sie sind in diesem Bereich eben nicht die einzigen. Bräuchten wir eine neue gesellschaftliche Versöhnungsformel? Ja, und zwar eine wie „Mut für die Zukunft“, die den Menschen deutlich macht, dass man die Zukunft angstfrei, konstruktiv und verantwortlich gestalten kann. Wer könnte eine solche Versöhnungsformel am besten formulieren? Jemand wie unser neuer Bundespräsident könnte das vielleicht sagen. Natürlich sollten sich das auch die Regierung und die politischen Parteien auf die Fahne schreiben, denn die müssen das praktische Handeln gestalten. Der Bundespräsident ist für Visionen zuständig und soll ethi- »Das Internet muss eine viel größere Rolle spielen.« Welchen Stellenwert haben heute noch christliche Werte in unserer Gesellschaft? Sie haben einen Einfluss auf das Verhalten der Bürger und Bürgerinnen und auch auf das von Politikern. Ethische Werte speisen sich aber nicht unbedingt alle aus christlichen Quellen. Es gibt ja auch in anderen Religionen, beispielsweise im Islam, bestimmte Werte, die unsere Gesell- sche Orientierung geben, er soll aber nicht das Alltagsgeschäft gestalten. Wir müssen aber die Nachhaltigkeit und die Verantwortlichkeit gerade auch in den Alltag der Politik transportieren. Dr. Eberhard Pausch 239 Dr. Philipp Rösler »Energieeffizienz ›made in Germany‹ ist schon heute ein Exportschlager.« Dr. Philipp Rösler über das Gelingen des Netzausbaus, einen Energiemix der Versorgungssicherheit garantiert, und die Bedeutung der Bürgerbeteiligung. Über ein Jahr nach den Beschlüssen zur Energiewende: Wo stehen wir heute und was sind die größten Herausforderungen? Zur Person Dr. Philipp Rösler ist seit Mai 2011 Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, deutscher Vizekanzler und Bundesvorsitzender der FDP. Von 2009 bis 2011 war Rösler Bundesminister für Gesundheit. Von Februar bis Oktober 2009 war er Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie stellvertretender Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. 240 INTERVIEWS Die Energiewende ist beschlossene Sache. Deutschland steigt bis 2022 aus der Kernenergie aus. Gleichzeitig wird der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter voranschreiten. Damit dies ohne Abstriche bei der Versorgungssicherheit geschehen kann, brauchen wir leistungsfähige Netze, gesicherte Kraftwerksleistung, eine bessere Systemverträglichkeit der erneuerbaren Energien und auf beiden Seiten des Netzes, also bei Stromangebot und Stromnachfrage, mehr Flexibilität. Daneben gilt es, die wichtigen Handlungsfelder der Energieeffizienz und Energieforschung entschlossen anzugehen. Dies alles ist kein kurzfristiges Projekt, sondern ein gewaltiges Reformvorhaben, das uns über Jahrzehnte beschäftigen wird. Schließlich gilt es, riesige Infrastrukturprojekte zu stemmen, dabei die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhalten, Wachstumspotenziale zu erschließen und die Strompreise für alle bezahlbar zu halten. Mit dem Gesetzespaket aus dem Jahr 2011 haben wir bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen, beispielsweise für mehr Transparenz beim Netzausbau. Viele Aufgaben liegen aber noch vor uns. Zur Überprüfung unserer Fortschritte werden wir jährlich einen Monitoring-Bericht zur Energiewende vorlegen. Der erste Bericht erscheint im Dezember 2012. Natur- und Umweltschutz auf der einen, notwendige Infrastrukturmaßnahmen auf der anderen Seite. Wie lassen sich diese Konflikte auflösen und welche Rolle spielen die Umwelt- und Naturschutzverbände dabei? Dass es bei einem Jahrhundertprojekt wie der Energiewende die unterschiedlichsten Interessenlagen gibt, ist nicht verwunderlich. Wichtig ist aber, dass alle miteinander um die besten Lösungen ringen: Behörden, Unternehmen, Bürger, aber auch Umwelt- und Naturschutzverbände und -initiativen. Wir stehen gemeinsam vor der Aufgabe, möglichst pragmatische, umweltverträgliche Wege für den Netzausbau zu finden. Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte, um den Ausbau der Übertragungsnetze zu beschleunigen? Bereits im vergangenen Jahr haben wir wichtige Rahmenbedingungen für den Netzausbau geschaffen. Ich nenne nur das NABEG und die EnWG-Novelle. Die Übertragungsnetzbetreiber haben mit ihrem Entwurf des Netzentwicklungsplans die Grundlage für den Ausbau und die Modernisierung der Übertragungsnetze vorgelegt. Demnach sind 3.800 km neue Übertragungsnetze und Investitionen von ca. 20 Milliarden Euro bis 2022 nötig. Die Bundesnetzagentur begleitet den gesamten Prozess: Derzeit wird der Plan geprüft und öffentlich konsultiert. Die genaue Trassenführung wird dann Anfang 2013 im Bundesbedarfsplangesetz festgelegt. Außerdem haben wir alle relevanten Akteure auf der Netzplattform beim BMWi zusammengebracht. Man hat sich dort auf Zieldaten für die Fertigstellung besonders dringlicher Projekte, deren energiewirtschaftliche Notwendigkeit bereits im Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) festgestellt wurde, verständigt. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei die Bundesländer, denn diese sind für die Planungs- und Genehmigungsverfahren der EnLAG-Projekte zuständig. Viele Vorhaben sind mehrere Jahre im Verzug, zum Beispiel die Thüringer Strombrücke als wichtigste Nord-Süd-Leitung. Das können wir uns nicht leisten. Die Bundesregierung hat daher den Bundesländern vorgeschlagen, die Planungs- und Genehmigungsverfahren für zukünftige länderübergreifende EnLAG-Projekte vollständig von der Bundesnetzagentur durchführen zu lassen. Die Netzanschlüsse an die Offshore-Windparks machen die Probleme der Energiewende gerade sehr evident. Der Streit geht unter anderem um die Haftung, wo Sie die Netzbetreiber in der Verantwortung sehen. Bezahlen sollen die Verbraucher. Schiebt die Politik damit die Verantwortung auf Wirtschaft und Gesellschaft ab? Die generelle Verantwortung der Netzbetreiber für den Netzanschluss steht außer Frage. Wegen Risiken, die sich aus den Anfangsschwierigkeiten dieser Zukunftstechnologie ergeben, die wir aber für das Gelingen der Energiewende in Kauf nehmen müssen, wird auch ein Stück weit die Allgemeinheit in die Pflicht genommen. Allerdings werden wir die Haftungsregeln mit einem Systemwechsel hin zu einem OffshoreNetzentwicklungsplan verbinden. Zukünftig werden wir verbindliche Zeitvorgaben zur Errichtung von „Steckdosen auf See“ haben und damit größtmögliche Investitionssicherheit für Kabelhersteller, Netzbetreiber und Windparks schaffen. Das wird unternehmerisches Engagement im Offshore-Bereich stärken und gleichzeitig die Haftungsrisiken minimieren. Wie verändert sich der Wirtschaftsstandort Deutschland durch die Energiewende? Wo sind die Chancen und die Risiken? Wir wollen und wir werden die Energiewende so gestalten, dass sie eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland wird. Energieeffizienz „made in Germany“ ist schon heute ein Exportschlager. Jetzt schaut alle Welt darauf, wie wir den Umbau der Energieversorgung in Deutschland gestalten. Ich setze darauf, dass es mit der Innovationskraft unserer Unternehmen, dem Wissen unserer Ingenieure, der Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen und Institute und einer Dr. Philipp Rösler 241 marktwirtschaftlich orientierten Energiepolitik gelingt, ein überzeugendes, international exportfähiges Modell für eine leistungsfähige, nachhaltige Energieversorgung zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass es uns im eigenen Land gelingt, den Ausbau der Erneuerbaren intelligenter, innovationsfreudiger und kosteneffizienter zu gestalten. Klar ist, dass wir bei der Energiewende nicht nach „guten“ und „schlechten“ Industrien unterscheiden dürfen. Kupfer und Stahl gehören ebenso zur Energiewende wie Software und Steuerungselektronik. Bestehende Entlastungen für energiein- sagen, welche Speichertechnologien uns zu welchen Kosten im Jahr 2050 zur Verfügung stehen. Wir können auch noch nicht sagen, wie das europäische Stromnetz im Jahr 2050 aussieht. Beides sind jedoch ganz entscheidende Faktoren für die Struktur der Stromversorgung. Eines ist aber sicher: Auf dem Weg in das regenerative Zeitalter benötigen wir konventionelle Kraftwerke. Gerade flexible Gaskraftwerke, aber auch Kohlekraftwerke sind unersetzlich, um die schwankende Stromerzeugung aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen auszugleichen und die Systemstabilität und somit die »Die Energiewende ist eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland.« tensive Unternehmen erhalten Arbeitsplätze am Industriestandort Deutschland und sind daher richtig und wichtig. Energiekosten sind wichtige Standortfaktoren im internationalen Wettbewerb. Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Das BMWi hat im letzten Jahr das Kraftwerksforum gegründet, um mit allen Beteiligten zu klären, wie das künftige Strommarktdesign aussehen könnte. Eine aktuelle Studie der dena kommt zu dem Ergebnis, dass es ohne fossile Kraftwerke auch im Jahr 2050 nicht gehen wird. Welcher Energiemix ist notwendig, um den Industriestandort Deutschland zu sichern? Wie lässt sich in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für Kohleverstromung herstellen? Die Erneuerbaren sollen im Energiemix der Zukunft den Hauptanteil übernehmen. Wann und wie das geschieht, wird aber nicht in Studien, sondern in der ökonomischen und politischen Realität entschieden. Wir können heute noch nicht 242 INTERVIEWS Indem wir deutlich machen, dass nur ein ausgewogener Energiemix uns vor einseitigen Abhängigkeiten und großen Preisrisiken, beispielsweise beim Erdgas, bewahrt. Im Übrigen scheint mir die Kohleverstromung in Kombination mit Wärmegewinnung, also die Kraft-Wärme-Kopplung, durchaus auf Akzeptanz zu treffen. Jedenfalls fand die Novelle des KraftWärme-Kopplungs-Gesetzes im Juli 2012, die auch die Kohleverstromung einschließt, breite Zustimmung. Bürger protestieren vor Ort immer wieder gegen den Bau von Windrädern und Stromnetzen in Sichtweite. Wie kann man die Konflikte auflösen und mehr Akzeptanz für die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen schaffen? Die Energiewende ist ein Gemeinschaftsprojekt, das wir alle schultern müssen. Kein anderes Industrieland der Welt hat sich so ehrgeizige Ziele gesetzt und sich so konsequent auf den Weg zu einer grundlegenden Umstrukturierung der Energieversorgung begeben wie Deutschland. Ohne Frage: Der Umbau kostet Geld und bedeutet Flächenverbrauch. Dies wird nicht jedem gefallen. Umso wichtiger ist der frühzeitige Dialog mit den Menschen vor Ort. Wo Zielkonflikte entstehen, müssen sie offen und transparent diskutiert werden. Wichtig ist mir, dass die Diskussionen ehrlich geführt werden. Wer hofft, dass Strom- oder Gasspeicher schon in den nächsten zehn Jahren eine Alternative zum Ausbau von Höchstspannungsnetzen darstellen, der muss zur Kenntnis nehmen, dass bisher keine seriöse wissenschaftliche Untersuchung diese Hoffnung stützt. Trotz intensiver Forschungsförderung stehen wir bei neuen Großspeichertechnologien noch ganz am Anfang. Beim Ausbau der Höchstspannungsnetze haben wir, wie schon gesagt, mit dem Prozess der Erstellung des Netzentwicklungsplans ein gänzlich neues, umfassendes Verfahren der Bürgerbeteiligung geschaffen. Jeder kann sich hier einbringen. Die Bundesnetzagentur hat zuletzt mit ihren bundesweiten „Bürgerdialogen“ im Oktober auf die Beteiligungsmöglichkeiten hingewiesen. Das BMWi will mit seiner Initiative „Ja zum Netzausbau“, die derzeit bundesweit anläuft, ein besseres Verständnis für den energiewirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Netzausbau und Erneuerbaren-Ausbau schaffen. Und in Kürze soll eine von BMWi und BMU gemeinsam getragene Informations- und Dialogoffensive für den Netzausbau starten. Ich bin optimistisch, dass ein besseres Verständnis des Gesamtprojekts Energiewende auch im Leitungsbau manches erleichtern wird. Was können Unternehmen tun, um mehr Akzeptanz in der Bevölkerung für ihre Projekte zu gewinnen? Auch Unternehmen können zur Akzeptanz ihrer Projekte durch die Bevölkerung beitragen, indem sie die betroffenen Bürger frühzeitig informieren und den Dialog vor Ort aktiv vorantreiben. Wichtig ist, dass sowohl den vom Netzausbau betroffenen Bürgern als auch der breiten Öffentlichkeit ein Mitspracherecht beim Netzausbau eingeräumt wird. Die Wirtschaft muss offen sein für die berechtigten Interessen der Bürger und Verbände und, wo immer es geht, selbst einen Beitrag zu einem fairen Interessenausgleich leisten. Welchen Beitrag erwarten Sie von jedem einzelnen Bürger bei der Umsetzung der Energiewende? Ich hoffe auf ein gewisses Interesse und Aufgeschlossenheit jedes Einzelnen gegenüber dem Gemeinschaftsprojekt Energiewende. Und wenn es um konkrete Entscheidungen vor Ort wie beispielsweise den Verlauf einer Stromtrasse geht, erwarte ich Diskussions- und Dialogfähigkeit aller Beteiligten. Die Energiewende kann nur gelingen, wenn alle ihren Teil dazu beitragen. Sie fordern, dass durch die Energiewende „Arbeitsplätze nicht gefährdet sein“ dürfen und „jeder seine Stromrechnung bezahlen“ kann. Wie wollen Sie diesen finanziellen Spagat lösen, ohne die Akzeptanz für die Energiewende aufs Spiel zu setzen? Zur Verantwortung der Politik gehört der Mut, notwendige Entscheidungen auch dann zu treffen, wenn sie nicht beliebt oder einfach sind. Ehrlich ist es, zu sagen, dass es die Energiewende nicht zum Nulltarif gibt. Sie erfordert milliardenschwere Investitionen. Wir sind es den Menschen zugleich aber schuldig, überall dort nachzusteuern, wo wir sehen, dass Kosten aus dem Ruder laufen oder Ziele nicht erreicht werden. Das ist aktuell beim Erneuerbare-Energien-Gesetz der Fall. Deshalb sind wir uns in der Bundesregierung einig, dass eine EEG-Reform hin zu mehr marktwirtschaftlichen Elementen von zentraler Bedeutung ist. Meines Erachtens darf dieses Vorhaben nicht auf die lange Bank geschoben werden. Brauchen wir über die bestehenden Instrumente in den Genehmigungsverfahren hinaus mehr Beteiligungsmöglichkeiten? Das Verfahren zur Aufstellung des Netzentwicklungsplans ist gegenüber der bisherigen Praxis eine echte Revolution. So viel Transparenz hinsichtlich der Netzplanung und so viele Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung hatten wir noch nie. Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich eher in der Rahmenkommunikation. Nicht nur Bundesregierung, Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreiber sollten für die Lektüre und Auseinandersetzung mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans werben, sondern auch Landesregierungen, Städte, Kommunen und Verbände. Schließlich geht es beim Netzausbau um ein Schlüsselelement der Energiewende. Widerspricht mehr Bürgerbeteiligung Ihrem Ziel, die Planungsverfahren erheblich zu verkürzen, oder ist beides miteinander vereinbar? Mehr Bürgerbeteiligung gleich am Anfang der Leitungsbauplanung kann am Ende viel Zeit ersparen. Die öffentliche Konsultation des Netzentwicklungsplans ist eine gute und wichtige zeitliche Investition, da wir die Menschen beim Großprojekt Energiewende und Netzausbau mitnehmen wollen. Zudem gilt es, Planungs- und Genehmigungsverfahren für mehrere Bundesländer betreffende Leitungsbauprojekte bei der Bundesnetzagentur zu bündeln. Dadurch vermeiden wir zeitaufwendige Doppelprüfungen. Hier brauchen wir auch die Bereitschaft der Bundesländer. Insgesamt könnten wir die Verfahrensdauer nach unserer Abschätzung von zehn auf vier Jahre verkürzen, ohne dass es Einbußen bei der Bürgerbeteiligung gäbe. Das wäre ein guter Fortschritt hin zu einer erfolgreichen Energiewende. Dr. Philipp Rösler 243 Prof. Dr. Dieter Rucht »Der negative Nimbus von Protestierenden als Querulanten ist weg.« Professor Dieter Rucht über die Entwicklung bürgerlicher Proteste sowie Verbesserungsmöglichkeiten im formellen Beteiligungsverfahren. Warum war die Aufmerksamkeit für Stuttgart 21 auch bundesweit so groß? Zur Person Prof. Dr. Dieter Rucht gilt als führender Experte im Bereich der sozialen Bewegungen. Der Sozialwissenschaftler forschte unter anderem in Paris und Harvard und ist seit 2001 Honorarprofessor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zuletzt war er von 2005 bis 2011 Koleiter der ehemaligen Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In dieser Funktion erforschte er unter anderem die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21. 244 INTERVIEWS Es lag jedenfalls nicht nur am Bahnhof. Das allein hätte nicht zu so großer Aufmerksamkeit geführt. Ein Grund war, dass der Protest in seiner Dauerhaftigkeit und Massenhaftigkeit für die breite Öffentlichkeit überraschend war. Zudem spielte eine Rolle, dass in diesem Konflikt zwei allgemeine Themen mit verhandelt wurden: erstens die Frage von Demokratie, Bürgerbeteiligung und Transparenz. Und zweitens die Frage: Was bedeutet Fortschritt? Was bedeutet Modernität? Bei den Planern besteht ja die Überzeugung: Das Projekt ist ein Fortschritt und unter dem Strich ein Gewinn für die Allgemeinheit. Dem steht aber zunehmender Zweifel in der Bevölkerung entgegen. Für viele Menschen sind eben proklamierte Vorteile, wie die Einsparung von Reisezeit, nicht so wichtig. Was sind die Gründe für Proteste gegen Infrastrukturvorhaben im Allgemeinen? Es ist sehr schwer, über die Proteste schlechthin zu sprechen, denn selbst innerhalb eines konkreten Themen- felds zeigt sich eine Vielzahl von Motiven. Es gibt erstens diejenigen, die persönlich negativ betroffen sind oder sich betroffen fühlen. Dann gibt es Leute, die eher indirekt betroffen sind; sie haben keinen unmittelbaren Nachteil, aber wollen beispielsweise verhindern, dass sich die Lebensverhältnisse vor Ort verändern. Dann gibt es eine dritte Gruppe von Leuten, die anhand des konkreten Projektes eine sehr viel allgemeinere Kritik formulieren, zum Beispiel, dass das Projekt Ausdruck eines falschen Verständnisses von Fortschritt darstellt und es bessere Alternativen gibt. Welche Gruppe ist bei Protesten gegen Infrastrukturprojekte die größte? Bei Infrastrukturprojekten ist die erste Gruppe die größte, also die Leute, die subjektiv oder objektiv unmittelbar und persönlich negativ betroffen sind. Bei Flughafenprojekten ist das sehr deutlich zu sehen. Bei einer Befragung von Flughafengegnern, die von der Universität Göttingen durchgeführt wurde, wurde festgestellt, dass 90 Prozent der Befragten Besitzer von Immobilien waren. Es gibt also einen sehr hohen Anteil von Menschen, die direkt und persönlich negativ betroffen sind, etwa durch Fluglärm oder den Wertverlust von Wohnungen und Grundstücken. Beim geplanten Pumpspeicherkraftwerk im Schwarzwald wiederum protestieren die Menschen eher aus einer indirekten Betroffenheit. Der Speicher soll ja fernab von Siedlungen gebaut werden, sodass keine unmittelbare Betroffenheit, etwa durch eine Wertminderung von Immobilien, besteht. Es gibt dann aber im weiteren Umkreis durchaus eine Betroffenheit, beispielsweise von Menschen, die in der Tourismusbranche arbeiten und befürchten, dass der Fremdenverkehr durch das Projekt leiden könnte. Ist es heute ein Stück weit „schick“ zu protestieren? Das Wort „schick“ weist auf eine modische Attitüde hin. Das mag insbesondere bei manchen Jugendlichen der Fall sein, die in einem bestimmten Milieu aufwachsen, in dem es dazugehört, dass man protestiert. Aber generell ist das kein verbreitetes Phänomen. Allerdings ist es schon so, dass Proteste insgesamt konsensfähiger geworden sind und weithin als normales Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert werden. Dadurch dass die Protestbeteiligten stärker aus der gesellschaftlichen Mitte und nicht nur von Randgruppen oder objektiv benachteiligten Gruppen kommen, ist der negative Nimbus von Protestierenden als Außenseitern, Querulanten, Ideologen oder Radikalen sukzessive in den Hintergrund gedrängt worden, sodass Protest als normales und legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung zunehmend akzeptiert ist. Das erleichtert es dann auch eher protestfernen Menschen zu demonstrieren. Zudem hat sich das Demokratieverständnis gewandelt. Heute herrscht die Vorstellung, dass politische Beteiligung nicht nur bedeutet, alle paar Jahre ein Kreuz zu machen. Konflikt gehört zur Normalität von Demo-kratie. Dieses Verständnis von einer konfliktfähigen Demokratie und einer entsprechenden Bürgerschaft ist über die Jahrzehnte gewachsen. Das Phänomen des bürgerlichen Protests ist aber keineswegs neu. Schon in den 1910er Jahren gab es bürgerschaftlichen Widerspruch zum Beispiel gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Hat die Zahl der Proteste insgesamt in den letzten Jahren zugenommen? Wenn man das Protestgeschehen bilanziert, dann sieht man keine lineare, sondern eine zyklische Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf die Zahl der Protestierenden. Bei der Zahl der Proteste haben wir eine langfristige Zunahme von den Fünfziger- bis zu den Neunzigerjahren und eine deutliche Abnahme in den früheren 2000er Jahren festgestellt. Es gibt vermutlich eine kräftige Zunahme der Proteste in den letzten Jahren. Dazu liegen aber noch keine genauen Zahlen vor. Es ist nicht so, dass es generelle gesellschaftliche Trends oder Mechanismen gibt, die zwingend zu immer mehr Protest führen. Sind die Proteste ein deutsches Phänomen? Nein, das sehe ich nicht so. Das widerspricht natürlich der gängigen Wahrnehmung, dass es in Deutschland eine enorme Technikfeindschaft, „German Angst“ oder „Hystérie Allemande“ gibt. Es ist schon so, dass die Proteste in Deutschland im Schnitt etwas stärker als in vielen vergleichbaren Ländern sind, Prof. Dr. Dieter Rucht 245 aber das liegt nicht an der deutschen „Volksseele“ mit ihrem angeblichen Hang zur Romantik, sondern daran, dass sich hier über Jahrzehnte Gruppen gebildet haben, die Aufklärungs- oder auch Agitationsarbeit leisten und im Allgemeinen besser organisiert sind als in den meisten übrigen Ländern. Um diesen angeblichen deutschen Sonderfall zu relativieren: Es gibt an vielen Orten der Welt intensive, vehemente Proteste, etwa gegen Wasserkraftwerke in Indien, die Narmada-Staudämme. In Tokio gab es beim Flughafenprojekt Narita mehrere tote Demonstranten. In Frankreich kam es auch im Zusammenhang mit Atomkraft zu heftigen Protesten. In Norwegen gab es beim Bau von Staudämmen Belagerungen und Blockaden. Protest findet man in vielen Ländern, vielleicht nicht in dieser Dichte wie in Deutschland, aber doch in derselben Art und Vehemenz. Feld der Auseinandersetzung darstellt, wo man Initiative und Mut zeigen kann. Es gibt ja auch immer wieder Proteste gegen erneuerbare Energien. Finden Sie, dass sich der Verbraucher widersprüchlich verhält, weil er auf der einen Seite die Energiewende will, aber keine Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite möchte? Das ist erst mal im Prinzip richtig. Wobei wiederum der Verbraucher nur als Durchschnittsgröße existiert und es große Abweichungen gibt. Das heißt, dass es auch Leute gibt, die solche Dinge in Kauf nehmen, selbst wenn sie ihnen nicht gefallen, und dass es Leute gibt, die mit der konkreten Planung nicht einverstanden sind und daher Modifizierungen fordern. Es ergibt sich somit ein differenzierteres Bild. Diese Schelte im Hinblick auf die Egoisten, die zwar zu jeder Tag- und Nachtzeit nach Mal- »Konflikt gehört zur Normalität von Demokratie.« Wie wird sich der Protest in Zukunft entwickeln? Prognosen in diesem Bereich sind immer höchst spekulativ. Ich denke aber, dass die Proteste gegen Infrastrukturprojekte zunehmen werden und es weiterhin ein überwiegend bürgerlicher Protest sein wird. Zugleich wird regionaler Protest auch ein Betätigungsfeld für Jugendliche sein, die nicht unbedingt gegen das Projekt und seine konkreten Bedingungen angehen, sondern für die das einfach ein 246 INTERVIEWS lorca fliegen, aber keinen Flughafen vor ihrer Haustür haben wollen, trifft eben nur für einen kleinen Teil der Protestierenden zu. Mangelt es den Deutschen an Gemeinwohlorientierung? Es gibt Individualisierungstendenzen, eine stärkere Ich-Bezogenheit und ein gewisses Selbstbewusstsein, seine eigenen Interessen offensiv zu vertreten. Zugleich existiert auch nach wie vor ein erheblicher Anteil von gemeinwohlbezoge- nen oder altruistischen Formen des Engagements. Ich nehme vielen Leuten ab, dass sie aus tiefster Überzeugung auf persönliche Vorteile verzichten und für eine benachteiligte Gruppe oder für die Allgemeinheit einstehen. Besteht zwischen Projektgegnern und Projektinitiatoren „Waffengleichheit“? Die meisten Projekte werden durchgesetzt. Das muss man sich erst einmal vor Augen halten. Die Unternehmen bedienen sich also sehr wirkungsvoll ihres Know-hows. Unternehmen haben allerdings jahrelang die Gegenseite unterschätzt. NGOs und Bürgerinitiativen haben inzwischen aufgeholt und sich in ihren Methoden und Techniken professionalisiert. Zudem haben sie einen prinzipiellen Vorteil, nämlich, dass sie a priori glaubwürdiger oder weniger interessengebunden erscheinen. Damit fliegt ihnen die Sympathie viel eher zu als einem Konzernvorstand, der nüchterne Statements vor den laufenden Kameras abgibt. Können Unternehmen von NGOs lernen? Nicht wirklich, denn es ist nicht eine Frage des Kopierens von bestimmten Techniken der Mobilisierung oder der Cleverness in der Imagewerbung. Wichtiger ist es, die andere Seite ernst zu nehmen, eine wirklich offene Kommunikation im Unterschied zu einer Pseudo-Offenheit zu pflegen, Schwächen und Fehler einzuräumen, Nachteile zu benennen – dies alles gehört mit dazu. Gehört dazu auch, Bürger früher in Prozesse mit einzubeziehen? Wenn ja, wann und wie? Ja, Bürger müssen frühzeitig einbezogen werden. Wenn in einem Unternehmen eine Idee entsteht oder eine Profitmöglichkeit erkannt wird, ist es natürlich legitim, dass man erst intern verschiedene Alternativen diskutiert und nicht sofort an die Öffentlichkeit geht. Unternehmen sollten allerdings mehr in Alternativen denken. Derzeit ist es so, dass Entscheidungen durch den Vorstand oder Aufsichtsrat gefällt und dann häufig als alternativlos präsentiert werden. Wenn es aber intern diskutierte Alternativen gibt, wäre es sinnvoll, diese in der Kommunikation nach außen zu thematisieren und öffentlich abzuwägen, sodass es für die Bürger klarer wird, warum man sich für oder gegen eine Alternative entschieden hat. So kann man vermeiden, dass nach langer Diskussion plötzlich eine Gruppe auf den Plan tritt und eine andere und vielleicht nahe liegende Alternative fordert. Wie stehen Sie zu Volksentscheiden im Vorlauf von Projekten? Ich halte direkte Abstimmungen generell nicht unbedingt für das Mittel der Wahl; sie sind ein außergewöhnliches Instrument für politisch schwer lösbare Konflikte. Solche Bürger- und Volksentscheide sollten auch nicht ganz am Anfang einer Projektplanung durchgeführt werden, weil zu diesem Zeitpunkt die Implikationen von einzelnen Vorschlägen noch gar nicht klar sind. Andererseits sollte eine Abstimmung nicht so spät kommen wie in Stuttgart. Ich bin nicht für eine Hauruck-Lösung in dem Sinne, dass die Leute ganz am Anfang abstimmen sollen und dann das Projekt rigoros durchgezogen oder eben fallen gelassen wird. Denken Sie, dass die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht ausreichen? eine stärkere Trennung geben zwischen denen, die bewilligen, auf der einen Seite sowie den Befürworten und den Projektgegnern auf der anderen Seite. Die dritte Partei in dem Spiel, diejenige, die geneh- »Ja, Bürger müssen frühzeitig einbezogen werden.« Viele bestehende Formen der Bürgerbeteiligung – insbesondere die Einspruchsmöglichkeiten im Rahmen von Planfeststellungsverfahren – sind eine Farce. Das liegt daran, dass zum einen die Informationsfülle erdrückend ist. Man kann nicht als Normalbürger Hunderte Aktenordner durcharbeiten. Zweitens sind die Zugangsbedingungen nicht optimal. Wenn man nur eine zwei- oder vierwöchige Auslegungsfrist gewährt und die noch an die Bürozeiten der Behörde bindet, dann schließt man viele Menschen aus. Das größte Defizit ist aber, dass die Einspruchsverfahren in der Regel in einem Stadium erfolgen, in dem schon so gut wie alles gelaufen ist. Wie sollte man die Verfahren ändern? Ich plädiere für ein zweistufiges Verfahren: Auf der ersten Stufe sollte es eine öffentliche Anhörung geben, bei der das Für und Wider des Projekts grundsätzlich diskutiert werden kann. In einem späteren Stadium muss ein Planfeststellungsverfahren erfolgen, das ähnlich wie das jetzige aussieht und rechtsgültige Beschlüsse erbringt. Aber in diesem Verfahren sollte es migt, darf den Antragstellern strukturell nicht so nah sein. Formal ist die Behörde natürlich ein Dritter. Aber sie ist aufgrund der Vorgeschichte so nah an den Antragstellern, dass eine Grenzverwischung stattfindet. Man müsste deshalb für die Etablierung einer dritten Partei sorgen, die am Schluss für die Genehmigung zuständig ist. Aber diese Partei muss tatsächlich inhaltlich abwägen und darf nicht nur pro forma ein Anhörungsverfahren durchziehen. Rechtfertigt Bürgerbeteiligung längere Planungszeiten und höhere Kosten? Wenn sich dadurch die Lebensqualität und die Akzeptanz verbessern, dann sind längere Planungszeiten und höhere Kosten gerechtfertigt, jedenfalls unter übergeordneten Gesichtspunkten. Aber die betriebswirtschaftliche Logik wird sich darauf nicht einlassen, denn was hilft es, wenn in zehn oder zwanzig Jahren die Bundesbürger mit ihrer Politik zufriedener sind, aber das eigene Unternehmen nicht mehr konkurrenzfähig ist oder sich der Marktanteil halbiert? Ein betriebswirtschaftliches Kalkül zu verfolgen, kann man einem Unternehmen nicht vorwerfen. Prof. Dr. Dieter Rucht 247 Elisabeth Schick »Mehr Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge schaffen.« Elisabeth Schick über vermeintlich „gute“ und „böse“ Industrien, das Wohlstandsniveau und die fehlende Begeisterung für Technologie und Innovationen in Deutschland. In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht bisweilen der Eindruck, dass zwischen „bösen“ Industrien auf der einen und Unternehmen der „Green Economy“ als den „Guten“ auf der anderen Seite differenziert wird. Auf welcher Seite sehen Sie die BASF? Zur Person Elisabeth Schick leitet seit 2009 die Einheit Communications & Government Relations bei der BASF SE. Sie studierte Japanologie und Geschichte und ist seit 1993 bei der BASF tätig. Nach einem Volontariat in der Unternehmenskommunikation war sie zunächst Pressesprecherin. Es folgten Aufgaben in unterschiedlichen Einheiten des Unternehmens, unter anderem im Bereich Personal und bei der BASF Japan. Ab 2002 leitete Schick die Unternehmenskommunikation Europa. 248 INTERVIEWS Wir erleben in der aktuellen Debatte hier und da eine Form der Moralisierung, die nicht zielführend ist. Denn eine Kategorisierung in „Gut“ und „Böse“ ist per se falsch. Ohne die Chemie zum Beispiel, eine der traditionsreichsten deutschen Schlüsselindustrien, wird es uns nicht gelingen, die großen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu meistern. Polarisierung bringt uns nicht weiter: Die vermeintlich grünen „Branchen“ sind allesamt auf innovative Lösungen und Produkte der Chemie angewiesen. Klar ist aber auch, dass wir – wenn es etwa um Umweltschutzfragen geht – unsere Hausaufgaben machen müssen. Unsere Zentrale in Ludwigshafen liegt in einem großen Ballungsraum, wir haben rund zweieinhalb Millionen Nachbarn. Um hier erfolgreich tätig zu sein, brauchen wir Akzeptanz. Welche Rolle spielt das Arbeitsplatzargument heute bei der Schaffung von Akzeptanz? Das Thema ist in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung stärker in den Hintergrund getreten. Wir müssen den Leuten aber wieder deutlicher machen, dass jeder Arbeitsplatz in der Industrie weitere Arbeitsplätze in anderen Bereichen nach sich zieht. Auch der Bäcker und der Gastronom um die Ecke profitieren also davon und noch viel mehr Beteiligte in der Dienstleistungskette. In der Region um Ludwigshafen ist das Bewusstsein sehr stark, dass die BASF zahlreiche Arbeitsplätze schafft und sichert. Aber je weiter man sich entfernt, desto geringer ist die Akzeptanz. Woran liegt das? Ein Grund ist sicherlich, dass wirtschaftliche Zusammenhänge heute in den Medien immer weniger analysiert werden. Wir brauchen mehr Verständnis dafür, worauf unser Wohlstand basiert. Wenn man sich etwas leisten will, muss man ein Fundament haben, auf dem man aufbauen kann. Deutschland ist eine sehr reife, in manchen Bereichen schon sehr gesättigte Wohl- standsgesellschaft. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass diese Stellung hart erarbeitet ist und dass es große Anstrengungen braucht, sie zu erhalten. Das hängt wiederum eng mit der Frage zusammen, welche Ausprägung unser Wirtschaftsstandort in Zukunft haben soll. Was kommt denn Ihres Erachtens in der öffentlichen Diskussion zu kurz? Es gibt zum Beispiel einen großen Bedarf zu erklären, woher ein Produkt kommt und wie es entsteht. Also von der Idee über die Fertigung, den Vertrieb und den Verkauf bis zum Endkunden, der ja auch verantwortungsbewusst damit umgehen soll. Nachhaltigkeit muss gelernt werden, so wie zum Beispiel Kinder von Anfang an lernen müssen, dass jede Handlung auch Konsequenzen hat. Wir müssen die nachfolgenden Generationen richtig anleiten. Also grundsätzlich ein Plädoyer für mehr Nachhaltigkeit? Richtig, aber auch für mehr Klarheit und Transparenz. Es ist zum Beispiel falsch, wenn man einen CO² Fußabdruck von Produkten erstellt und dabei nur einen bestimmten Ausschnitt der Wertschöpfungskette betrachtet. Man muss die Dinge sozusagen von der Wiege bis zur Bahre betrachten. Und das ist nun mal komplex. In Deutschland stoßen große Infrastrukturprojekte zunehmend auf Skepsis in der Bevölkerung. Wenn Sie diese ablehnende Haltung vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrung in einem weltweit tätigen Unternehmen wie BASF betrachten – gibt es das Phänomen der „German Angst“? Proteste gegen Infrastrukturmaßnahmen gibt es immer häufiger. Aber es ist schon etwas dran: Der Deutsche ist tendenziell eher ein Bedenkenträger und detailverliebt. Dazu kommt unser Wohlstand. In Asien und auch in den USA sind die Menschen fortschrittsorientierter und sehen stets auch die Chancen eines Projektes. Anders als dort sind Fortschritt und Wohlstandsorientierung hier in Deutschland keine tragenden Motive mehr, stattdessen macht sich eher eine Mentalität der Besitzstandwahrung breit. Finden innovative Methoden und Verfahren wie die Gentechnik in den USA deshalb auch eine breitere Zustimmung als hierzulande? Das muss man differenziert betrachten. In den USA gibt es zum Beispiel ein großindustrielles Agrarwesen – große Felder, große Maschinen. Dadurch ist der Zugang zur Technologie leichter und damit auch die Bereitschaft der Menschen größer, Neues zu wagen und zu akzeptieren. In den USA können Sie stundenlang durch menschenlose Weiten fahren. Da ist es einfacher zu sagen: „Hier können wir etwas ausprobieren.“ In Europa verführt die räumliche Enge dazu, sehr genau hinzuschauen: Was macht mein Nachbar, wie werde ich beeinträchtigt? Die Sensibilitäten sind hierzulande viel stärker ausgeprägt. Und diese erhöhte Sensibilität motiviert dann Proteste wie die gegen Stuttgart 21? Es war immer schon eine Herausforderung, große Infrastrukturprojekte oder auch Industrieanlagen zu realisieren. Die Menschen im Vorfeld aufzuklären und mitzunehmen, war auch vor Stuttgart 21 wichtig. Aber die Menschen sind heute sehr viel empfindlicher gegenüber Projekten, die ihr Leben negativ beeinflussen Elisabeth Schick 249 könnte und reagieren auch sehr kritisch im Hinblick auf die finanziellen Dimensionen großer Projekte, gerade wenn die öffentlichen Hand an der Finanzierung beteiligt ist. Wobei man sagen muss, dass die Proteste im Fall von Stuttgart 21 eine neue Dimension erreicht hatten. Das Ausmaß der Emotionalisierung und Zuspitzung war sehr hoch. gen sehr viel. Generell sehe ich gerade im bürgerlichen Mittelstand eine neue Biedermeier-Bewegung, die sich vornehmlich um ihren eigenen Lebensbereich – Familie, enger Freundeskreis – und alles, was vor der eigenen Haustür stattfindet, kümmert. Der Rest, also die Allgemeinheit, scheint da weniger relevant zu sein. Deswegen spielt es für viele »Wir brauchen mehr Verständnis dafür, worauf unser Wohlstand basiert.« Warum waren die Proteste gegen Stuttgart 21 so heftig? Eine besondere Sogwirkung haben sicherlich die Prominenten und Lokalmatadore entfaltet, die sich an die Spitze der Bewegung gestellt haben. Deren Engagement hat viele Menschen mobilisiert. Auffallend war, dass unter den Protestierenden viele Rentner waren – symptomatisch für den demografischen Wandel, den wir zurzeit erleben. Menschen im Ruhestand haben andere Bedürfnisse als solche, die mitten im Berufsleben stehen. Sie artikulieren sich anders und haben mehr freie Zeit – die sie dann offensichtlich auch stärker nutzen können, um ihre Positionen deutlich zu machen. Finden Sie die Proteste egoistisch? Es gibt durchaus egoistische Motive. Es ist aber auch alles eine Frage der Perspektive. Eine halbe Stunde länger im Zug zu sitzen, macht einem Rentner vielleicht nicht so viel aus – für Berufspendler ist eine halbe Stunde tägliche Zeitersparnis dage250 INTERVIEWS offensichtlich auch eine geringere Rolle, welchen gesamtgesellschaftlichen Nutzen Großprojekte haben. Lassen Sie uns zu einem Thema kommen, das Menschen und Wirtschaft derzeit stark bewegt: die Energiewende. Sind den Menschen die damit verbundenen Zusammenhänge und Konsequenzen hinreichend bewusst? Nein, es fehlt schon am ganz grundsätzlichen Wissen über physikalische Zusammenhänge. Es gibt kaum Verständnis dafür, woher Strom kommt, wozu man neue Leitungen braucht und warum es problematisch ist, wenn man lange Wege mit Energie überbrücken muss. Die meisten Menschen wissen nicht, dass man Strom aus Windanlagen gar nicht schnell genug abtransportieren kann, wenn es stürmt, oder welche technischen Herausforderungen es zunehmend im Netz gibt. Wo liegt das Verständnisproblem? Auch die Wirtschaft muss sich dem selbstkritisch stellen. Wir geben uns stellenweise vielleicht nicht genug Mühe, die Zusammenhänge nachvollziehbar rüberzubringen und so zu vermitteln, dass sie ankommen. Wir brauchen mehr Außenorientierung. Zu oft diskutieren wir nur in den eigenen Kreisen. Brauchen wir mehr Leadership im Land – vor allem in der Frage, wo wir eigentlich hinwollen? Wir erwarten von der Politik, dass sie Rahmenbedingungen schafft. Das kann auch ein gesellschaftliches Modell sein, in dem man zusammen mit den Stakeholdern an einem Tisch eine Zukunftsvision entwickelt. Dabei müsste es auch um die Frage gehen, wie viel Wohlstand wir uns leisten können und welchen Fußabdruck eine Gesellschaft hinterlässt. Apropos „Stakeholder an den Tisch holen“: Ihr ehemaliger Vorstandsvorsitzender Jürgen Hambrecht war Mitglied der Ethikkommission, die die Grundlagen für die Beschlüsse der Bundesregierung zur Energiewende erarbeitet hat. Halten Sie das für ein zukunftsweisendes Modell? In einem solchen Rahmen die Perspektive der Industrie vertreten zu können, war sicher wichtig. Aber wir haben eine parlamentarische Demokratie mit gewählten Volksvertretern, die für die Bürger sprechen sollen. Und in die Verantwortung dieser Volksvertreter fällt es, gerade auch schwierige Entscheidungen zu treffen. Ähnlich sehe ich das beim Thema Bürgerbeteiligung. Man kann partizipatorische Formate sicherlich nutzen, um Entscheidungen vorzubereiten und Meinungen abzufragen. Doch die schlussendliche Entscheidung kann nur von legitimierten und gewählten Volksvertretern getroffen werden. Tun Wirtschaftsunternehmen genug, um die Menschen für sich zu gewinnen? Es gibt traditionsgemäß Firmen, die in diesem Bereich seit Langem sehr aktiv sind. Insbesondere Familienunternehmen oder Unternehmen, die Schwierigkeiten hatten, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Als die BASF 1865 gegründet wurde, musste das Unternehmen Arbeitskräfte aus einem ganz großen Einzugsgebiet holen und sich dafür natürlich auch etwas einfallen lassen, zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau. Wir verfolgen seit Langem schon einen sehr starken Community-Ansatz. Wie kann mehr Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge geschaffen werden? Indem man die Menschen mehr für Technologie und Innovation begeistert. Zusammen mit anderen Unternehmen wie Bosch und Trumpf hat die BASF zum Beispiel vor einigen Jahren die Wissensfabrik gegründet, mit der wir versuchen, mehr naturwissenschaftliche Bildung in die Schulen zu tragen. Wenn man Zusammenhänge darstellt und Einblicke in die ganze Wertschöpfungskette gewährt, finden viele das auf einmal hochinteressant. Es reicht aber natürlich nicht, das nur einmal zu erklären. Das muss immer wieder geschehen, denn die Zeit ist schnelllebig. Welche Erfahrungen haben Sie mit Bürgerbeteiligung? Ein Beispiel: Wir bauen gerade für eine Milliarde Euro eine neue TDIAnlage in Ludwigshafen. TDI ist ein wichtiges chemisches Grundprodukt für Spezialkunststoffe. Im Rahmen des behördlichen Genehmigungsprozesses finden auch Anhörungen statt. Unsere Erfahrung mit diesen formellen Beteiligungsverfahren ist, dass sich daran nur wenige beteiligen. Das läuft fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ab. Die Aufmerksamkeit steigt erst dann, wenn NGOs oder politische Gruppierungen versuchen, diese Foren als Plattform für sich zu nutzen. Das ist bedauerlich, denn den offenen Dialog mit den Bürgern halte ich für sehr wichtig. Welche Möglichkeiten neben diesen formellen Verfahren sehen Sie für den Austausch mit den Bürgern? auf Wünsche einzugehen und Vertrauen zu bilden. Haben sich NGOs in den letzten Jahren professionalisiert und können Unternehmen davon noch etwas lernen? NGOs emotionalisieren auf jeden Fall besser als Unternehmen, in dieser Hinsicht können wir sicherlich noch etwas lernen. Ihnen spielt aber auch das David-gegen-Goliath-Phänomen in die Hände. Zudem sind NGOs bei der Informationsübermittlung professioneller und einfach schneller geworden. Bei der Geschwindigkeit und bei der Emotionalität, mit der sie arbeiten, sind die NGOs oft im Vorteil. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die »NGOs emotionalisieren auf jeden Fall besser als Unternehmen.« Wir setzen zusätzlich auf eigene Formate. Die BASF ist hier seit vielen Jahren aktiv und hat eine lange Tradition von selbst initiierten Bürgerdialogen. Seit ungefähr 20 Jahren gibt es bei uns sogenannte Community Advisory Panels (CAPs). Das sind Foren, in denen viermal im Jahr ein intensiver Dialog mit Meinungsbildnern geführt wird – das können Elternsprecher sein, Vertreter vom BUND, Vertreter aus dem Stadtparlament, engagierte Lehrer oder Polizisten. Dabei suchen sich die Teilnehmer die Themen aus und gestalten den Prozess selbst. Die CAPs sind ein sehr erfolgreiches Instrument, um sich auszutauschen, Tendenz, dass Verbraucher zunehmend dafür sensibilisiert sind, wenn etwas aufgesetzt ist oder zu aggressiv erscheint. Elisabeth Schick 251 Dr. Rolf Martin Schmitz »Wir brauchen wieder mehr Vorbilder.« Dr. Rolf Martin Schmitz über Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Vorbilder in Wirtschaft und Politik. Hat Stuttgart 21 die Akzeptanz von Großprojekten verändert? Zur Person Dr. Rolf Martin Schmitz wurde 2009 in den Vorstand der RWE AG mit dem Ressort Operative Steuerung Deutschland bestellt. Im Oktober 2010 übernahm er diese Aufgabe für alle Regionen des RWE-Konzerns als Chief Operating Officer und ist seit Juli 2012 stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Vor seinem Eintritt in den RWE-Konzernvorstand hatte er verschiedene Führungspositionen in der Energiewirtschaft inne, zuletzt als Vorstandsvorsitzender der Kölner RheinEnergie AG. Von 2008 bis 2010 war er zudem ehrenamtlicher Präsident des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft. 252 INTERVIEWS Stuttgart 21 hat in den Medien breiten Raum eingenommen – sicherlich stärker, als das bei anderen kontroversen Projekten der Fall war. Es war ein medienwirksames Ereignis, aber letztlich kein neues Phänomen. Denn Proteste auch gegen bereits genehmigte Projekte gab es schon viel früher. Deswegen haben Investoren in den letzten Jahren auch dazugelernt und binden die betroffenen Bürger immer früher ein. Ob das im Einzelfall ausreichend ist, sei dahingestellt. Für uns bei RWE ist Akzeptanz ein zentrales Thema, wie man zum Beispiel bei unseren Kraftwerksprojekten im Rheinischen Revier oder am runden Tisch für das geplante Pumpspeicherkraftwerk Atdorf, an dem wir beteiligt sind, sehen kann. Was halten Sie denn von der These, dass der Protest nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei? Der Protest war sicherlich in der Mitte von Stuttgart angekommen. Da sind Bürger mobilisiert worden, von denen man vorher nicht gedacht hätte, dass sie auf die Straße gehen. Aber sie fühlten sich mitgerissen, weil es direkt vor ihrer Haustür war. Das ist etwas komplett anderes, als wenn man etwa ins Wendland rausfahren muss, um zu protestieren. Aber wie gesagt: Für mich hat sich weder ein völlig neues Phänomen noch ein Quantensprung im Bürgerprotest gezeigt. auch weniger um die besten Argumente, sondern darum, welches Gefühl dominiert, denn Menschen sind nicht immer rational. Was ist die Rolle der Politik bei der Realisierung von Großprojekten aus der Sicht eines privaten Investors? Ja, das ist so. Großunternehmen sind anonymer. Im Vergleich dazu geht man bei kleineren, regionalen Unternehmen davon aus, dass ihre Profite in der Region bleiben und damit den Menschen vor Ort zugutekommen. Die lokale Bindung und die regionale Wertschöpfung spielen eine große Rolle. Mit dem Unternehmen vor Ort verbindet man immer auch Personen und das schafft Nähe und Vertrauen. Die Politik trägt Verantwortung, sich aktiv in den Prozess einzubringen. Sie muss sich positionieren und Nutzen sowie Konsequenzen eines Projektes aus ihrer Perspektive erklären. Das Wichtigste ist aber, dass man mindestens innerhalb von Koalitionen an einem Strang zieht. Wenn das nicht der Fall ist, befördert das eher Unsicherheit und schafft eine bessere Plattform für Gegner von Projekten. Ist man sich dagegen einig, sorgt das für Orientierung und Deeskalation in der Öffentlichkeit. Es gibt ja neben den Befürwortern meistens eine kleine, sehr aktive Gruppe, die gegen ein Projekt mobilisiert, und eine große Gruppe, die das beobachtet. Diese große Gruppe lässt sich beeinflussen. Da geht es letztlich Besteht eine stärkere Ablehnung gegenüber Aktivitäten von Großunternehmen als gegenüber solchen von Kleinunternehmen? Ganz konkret gibt es ja große Widerstände gegen Kohlekraftwerke. Ist die Kohlekraft die Kernkraft 2.0? Der Widerstand gegen die Kernenergie hatte eine andere, über Jahrzehnte gewachsene Sozialisierung, deshalb kann man das nicht vergleichen. Zukünftig wird es wichtig sein, dass wir in der öffentlichen Diskussion wegkommen von ideologischen Grundsatzdebatten, wenn die Energiewende gelingen soll. Ich bin absolut von der Notwendigkeit überzeugt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien richtig ist, weil wir nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung haben. Dennoch muss man gleichzeitig auch die Wirtschaftskraft erhalten, die es uns überhaupt erst erlaubt, diesen Übergang zu gestalten. Wir müssen verstehen, dass es uns in Deutschland so gut geht, weil wir einen industriellen Kern haben. Um diesen zu erhalten, brauchen wir zum Beispiel die Braunkohle als bezahlbare Energieform. Ich denke auch, dass wir gerade im Rheinischen Revier für die Braunkohle weiterhin Akzeptanz finden werden, insbesondere wenn wir alte Anlagen durch effizientere neue Anlagen ersetzen. Kann man für Kohle als Brückentechnologie Akzeptanz schaffen? Es gibt natürlich eine stärkere Kritik an der Kohle, die durch die CO ² Diskussion entstanden ist. Ich glaube aber, dass das Thema Versorgungssicherheit wieder einen größeren Stellenwert gewinnen wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in fünf Jahren ein anderes Meinungsbild im Hinblick auf die Braunkohle haben werden. Es ist Aufgabe der Politik, mit uns darüber aufzuklären, welche Alternativen es gibt, und vor allem, wie sich diese auf die Strompreise und die Versorgungssicherheit auswirken. Wir werden einfach erkennen müssen, dass wir uns nicht alles leisten können. Was müssen Politik und Wirtschaft konkret tun? Zunächst: Politik und Wirtschaft arbeiten heute noch zu oft gegeneinander. Wir brauchen ein Verständnis, dass wir die großen Herausforderungen unseres Landes nur in einem konstruktiven Miteinander lösen können. Politiker dürfen nicht aus politischem Opportunismus und mit Blick auf das nächste Wahlergebnis handeln, sondern müssen inhaltlich von Konzepten überzeugt sein, die auch langfristig tragen. Letzteres gilt auch für die Wirtschaft, denn man kann Strategien nicht aus taktischen Überlegungen ständig ändern. Das geht vielleicht eine Zeit lang gut, aber wenn man das Hemd und die Farbe zu oft wechselt, verlieren die Menschen irgendwann zu Recht das Vertrauen. Für Politiker wie für Wirtschaftsführer gilt: Die Bürger lassen sich meistens dadurch gewinnen, dass man Dr. Rolf Martin Schmitz 253 offen und ehrlich kommuniziert und mit Taten zeigt, dass man zu seinem Wort steht. Die Menschen wollen die Energiewende, aber häufig keine Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite. Wie kommt das? wenn man von etwas profitiert, nimmt man auch Lasten auf sich. Wir haben selbst einige Bürgerwindparks realisiert, die problemlos umsetzbar waren. Für mich ist eine sinnvolle Bürgerbeteiligung immer dann gegeben, wenn der Bürger selbst etwas davon hat. Es wird ja gerade auch in »Politik und Wirtschaft arbeiten heute noch zu oft gegeneinander.« Das liegt daran, dass die Politik zu lange das Bild vermittelt hat, als wäre die Realisierung der Energiewende vollkommen unproblematisch. Ganz abstrakt erkennt man zwar die Zusammenhänge, im konkreten Fall vor Ort blendet man das aber gerne aus. Es gibt bislang kaum jemanden, der die Konsequenzen der Energiewende in aller Deutlichkeit anspricht. Die Politik wäre in der Pflicht, das gesamte Bild zu zeigen. Dazu kann für den einzelnen Bürger auch gehören, dass in der Nähe des eigenen Hauses Windkraftstandorte oder neue Hochspannungsleitungen gebaut werden müssen. Solche Botschaften sind unpopulär. Trotzdem müssen sie unmissverständlich vorgetragen werden, sonst kann der Bürger nicht nachvollziehen, warum er nun Lasten tragen soll. Information muss transparent, vollständig und wahrhaftig sein. Und wer überzeugen will, muss auch Vorbild sein. Steigt die Akzeptanz durch Bürgerwindparks oder Bürgersolaranlagen? Ja, das sind sinnvolle Modelle, denn 254 INTERVIEWS Bezug auf den Leitungsbau diskutiert, dass Betroffene einen monetären Ausgleich erhalten. Das halte ich für sinnvoll, denn der Anreiz, etwas nur aus gemeinnützigen Gründen für die Umwelt oder die Allgemeinheit zu tun, ist offenbar geringer, als wenn man spürbar selbst profitiert. Spielt das Gemeinwohl für die Menschen denn keine Rolle mehr? Es gibt ja im sozialen Bereich sehr viel ehrenamtliches Engagement, aber in Bezug auf die Energiewende haben die meisten nicht in erster Linie das Gemeinwohl im Kopf. Heute vertreten die Menschen ihre Partikularinteressen viel selbstbewusster, auch mit juristischen Mitteln. Woran liegt das? Das ist zum einen ein Wohlstandsphänomen und zum anderen ein Erziehungsproblem. Die Nachkriegsgenerationen wurden zu einer Ellenbogenmentalität erzogen, sodass man glaubt, dass in unserer kompetitiven Gesellschaft nur der Stärkste überlebt. Unsere Kinder bekommen schon in der Schule vermittelt, dass nur die Besten weiterkommen, und das führt zu einem vermehrten Egoismus. In der Erziehung, in der Schule und im Elternhaus macht man häufig nicht deutlich, dass die eigene Freiheit nur so weit geht, wie sie die Freiheit des anderen nicht einengt. Dieses einfache Prinzip gilt heute nicht mehr, sondern wir haben eine Gesellschaft von Gewinnern und Verlierern. Sehen Sie auch eine Verantwortung der Wirtschaft, da gegenzusteuern? Wir brauchen auch in der Wirtschaft wieder mehr Vorbilder. Wir sind ein Land, das sehr stark personenbezogen lebt und denkt. Daher muss man versuchen, gute Leute in die richtigen Positionen zu bringen, denen es auch gelingt, Vertrauen zu gewinnen. Der zweite Punkt ist, dass die Wirtschaft nicht gegen allgemeine Entwicklungen ankämpfen, sondern verstärkt deren Folgen aufzeigen sollte. Dazu gehört, gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen und aktiv voranzutreiben. Industrie unterschieden wird. Teilen Sie diese Beobachtung? In Deutschland besteht vor allem in der Standortdebatte in der Tat der Hang dazu, bei zentralen Fragen ideologische Fronten aufzubauen, beispielsweise auch zwischen der Industrie und NGOs. Man hat in der Vergangenheit auch einfach viel zu wenig miteinander geredet – wir brauchen aber in Zukunft einen viel intensiveren Dialog miteinander, denn wir haben schließlich eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft. Das wurde in der Vergangenheit häufig vergessen – sicherlich auch, weil das Wohlstandsniveau sehr hoch ist. Die Wirtschaft insgesamt, aber auch die einzelnen Unternehmen sollten hier eine größere Außen- und Dialogorientierung an den Tag legen. Welche Verantwortung haben die Medien? Auch das ist für mich eine Sache der Wahrhaftigkeit. Es ist ja nicht verwerflich, wenn man ein Partikularinteresse hat, das sollte man auch klar und deutlich benennen. Das muss aber nicht automatisch im Widerspruch zu gesamtgesellschaftlichen Interessen stehen. Im Gegenteil, oft können damit auch aus volkswirtschaftlicher Gesamtsicht sinnvolle Anliegen verbunden sein. Leider stelle ich häufig die Tendenz fest, dass es Medien in den letzten Jahren immer weniger um differenzierte Vermittlung von Inhalten und sachlichen Informationen als um Emotionen geht. Das betrifft nicht nur Boulevardblätter, sondern auch Wirtschaftszeitungen und vor allem die verschiedenen Formate im Fernsehen. Wahrscheinlich ist das aber einfach dem Zeitgeist geschuldet, denn ein Großteil der Leser ist ja gar nicht bereit dazu, ausführliche Analysen zu lesen, sondern rezipiert nur noch Stakkato-Nachrichten. Somit passen sich die Medien diesem Trend einfach an. Das klassische Henne-Ei-Phänomen. In der öffentlichen Diskussion drängt sich der Eindruck auf, dass zwischen „guter“ und „böser“ Im Zusammenhang mit der Energiewende gab es die Ethikkommission. Wie stehen Sie dazu? Droht dann nicht die Gefahr, dass unterstellt wird, nur Partikularinteressen zu vertreten? Von solch einem Modell halte ich nicht allzu viel, wenn damit die Verantwortung an nicht demokratisch legitimierte Dritte abgegeben wird. Es ist natürlich immer gut, sich schlauzumachen und von Experten beraten zu lassen. Aber ein Politiker muss genauso wie der Chef eines Wirtschaftsunternehmens am Schluss den Mut haben, selbst eine Entscheidung zu treffen und für diese auch geradezustehen. Stehen Sie deswegen auch Bürgerentscheiden skeptisch gegenüber? Für mich sind mehr Bürger- und Volksentscheide keine Lösung. Zum einen ist das Risiko von Populismus sehr groß. Zudem haben wir in Deutschland das System der repräsentativen Demokratie, das sich in den letzten Jahrzehnten bewährt hat. Dieses etablierte System durch die Stärkung von direkter Demokratie zu schwächen, halte ich für unklug. Das könnte eine Instabilität zur Folge haben, die weder aus politischer noch aus wirtschaftlicher Sicht gut für unser Land wäre. Reichen die Beteiligungsmöglichkeiten im formellen Verwaltungsrecht aus? Es gibt genügend formelle Einspruchsmöglichkeiten. Sie sind so konzipiert, dass man sich damit aktiv auseinandersetzen und auch Zeit investieren muss. Viele Menschen sind allerdings nicht bereit, sich so tief in die Themen einzuarbeiten. Das müssen Unternehmen berücksichtigen und parallel zum Genehmigungsverfahren intensiv mit den Menschen kommunizieren und die Pläne darlegen. Das sollte man zu einem Zeitpunkt tun, zu dem die Pläne schon hinreichend konkret sind, aber noch Raum für Änderungen und Verbesserung bieten. Für manche Experten geht es in der Debatte um Bürgerbeteiligung nicht nur um das Wie, sondern es sollte auch über das Ob abgestimmt werden. Ist das ein Weg zur Befriedung? Aus der Sicht eines Investors kann ich diesem Vorschlag nicht zustimmen, denn das würde ja bedeuten, dass man selbst nicht hinter seinem Projekt steht. Wenn ich selbst das Ob in Frage stelle, wäre das für mich ein Widerspruch. Dann sollte ich eher den Job wechseln. Das Ob muss klar sein, aber man muss dennoch offen für neue Argumente sein. Sollte Bürgerbeteiligung gesetzlich normiert werden? Wenn es sinnvoll ist, sollten Unternehmen immer Bürgerbeteiligung durchführen. Diese gesetzlich zu normieren, würde den Handlungsspielraum für Unternehmen aber einschränken und wäre kein gutes Signal für in- und ausländische Investoren. Es liegt im Eigeninteresse von Unternehmen, Akzeptanz für Projekte zu schaffen, daher berücksichtigen immer mehr Unternehmen Bürgerbeteiligung ohnehin in ihren Planungen. Da hatte die Debatte der letzten Monate sicherlich einen guten Effekt. Dr. Rolf Martin Schmitz 255 Olaf Scholz »Partizipation als Chance begreifen.« Olaf Scholz zur deutschen Planungs- und Beteiligungskultur aus politischer Sicht. Hamburg verfügt über eine ausgeprägte Tradition direkter Demokratie. Sind Bürger- und Volksentscheide ein Mittel, um mehr Akzeptanz für Großprojekte herzustellen? Zur Person Olaf Scholz wurde im März 2011 zum Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg gewählt. Bereits seit 2009 ist der studierte Jurist Landesvorsitzender der Hamburger Sozialdemokraten und stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Zuvor gehörte Scholz fast zwei Jahre lang als Bundesminister für Arbeit und Soziales der damaligen Bundesregierung an. Zu den politischen Zielen des Hamburger Regierungschefs und seines Senats zählt unter anderem der Bau von jährlich 6.000 neuen Wohnungen in der Hansestadt. 256 INTERVIEWS Volks- und Bürgerentscheide erhöhen ohne Zweifel die Legitimation dessen, was am Ende eines Entscheidungsprozesses herauskommt. Das gilt insbesondere für Fragestellungen, die für alle Beteiligten nachvollziehbar sind und zu denen sich die Bürger ohne große Schwierigkeiten eine eigene Meinung bilden können. Hierzu gehört beispielsweise der Bürgerentscheid über das Bauvorhaben eines schwedischen Möbelkonzerns im Hamburger Stadtteil Altona, ein Thema, das jedem Anwohner schnell zugänglich war. Was aber nicht immer der Fall sein dürfte … Kompliziert wird es in der Tat immer dann, wenn die Themen sehr kleinteilig sind. Die Bürgerinnen und Bürger können sich dann nur mit großem und in den Augen vieler unvertretbarem Aufwand in die Lage versetzen, das Für und Wider eines Projekts abzuwägen. Insofern ist es in puncto Akzeptanz von Bedeutung, ob es gelingt, dass derartige Bürgerentscheide sich auf Fragen konzentrieren, die eine Vielzahl von Menschen bewegen und zu denen sich viele ein eigenes Urteil bilden können. Dann sind derartige Instrumente also kein Allheilmittel? Nein, ein Allheilmittel in Sachen Akzeptanz sind Bürger- und Volksentscheide nicht. Die Grenzen dieser Instrumente verlaufen für mich dort, wo die Legitimation schwindet, weil die Zahl derjenigen, die sich an einem solchen Verfahren beteiligen, zu gering wird. Das ist vor allem bei Bürgerentscheiden der Fall, die sich auf vergleichsweise kleine Räume beziehen. Dieser Problematik begegnen wir in Hamburg mit einer Lösung, die es dem Senat erlaubt, in besonders wichtigen Fällen nach einem Bürgerentscheid noch eine eigene, gegebenenfalls abweichende Entscheidung zu treffen. Die Kernfrage ist also, auf welcher Basis eine Entscheidung gründet? Ja, und zwar in der direkten genauso wie in der repräsentativen Demokratie. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie sichergestellt werden kann, dass Bürger- und Volksentscheide immer ausreichend legitimiert sind. Eine solche Legitimation kann meiner Auffassung nach nur darin bestehen, dass die aufgerufene Bevölkerung einer Gemeinde, eines Stadtteils, eines Landes oder der Bundesrepublik Deutschland genau weiß, worum es geht. Die Themen solcher Verfahren müssen hinreichend öffentlich diskutiert werden und sie müssen auch alle berühren. Und nicht zuletzt müssen sich genügend Bürgerinnen und Bürger an der Entscheidung beteiligen. Können Quoren eine Lösung sein? Ich bin überzeugt, dass bei Bürgerentscheiden zu geringe Quoren oder gar keine Quoren ein Problem sind. Zu hohe sind es allerdings auch. Hamburg hat insbesondere in der Stadtteilentwicklung reichlich Erfahrung mit Bürgerbeteiligungsformaten. Können andere davon lernen? Hamburg hat bereits in den Siebzigerjahren eine moderne Stadtentwicklung eingeleitet. Außer von den formalen Entscheidungsgremien wurde dieser Prozess immer schon von Partizipationsformaten beglei- tet. Das hat sich bewährt. Es hat sich aber auch herausgestellt, dass es keine ultimative Lösung gibt. Mal hat sich das eine, mal das andere Verfahren als hilfreich erwiesen. Die Suche nach einem Patentrezept in Sachen Beteiligung sollte man daher aufgeben und stattdessen immer für neue Konzepte offen sein. tieren. Überhaupt bin ich überzeugt, dass alles, was unser Gemeinwesen berührt, eine ausreichende Rückkoppelung bei den Bürgerinnen und Bürgern braucht. Wenn das vernünftig gemacht wird, kann es die Akzeptanz auch von schwierigen Entscheidungen erhöhen. Partizipation ist keine Bedrohung, sondern eine Chance. Und wie sehen solche neuen Konzepte in der Praxis aus? Wer soll die Kosten tragen für solche Beteiligungsformate? In Hamburg haben wir beispielsweise gerade eine Stadtwerkstatt ins Leben gerufen, die im Bereich der Stadtplanung ganz unterschiedliche Methoden der Bürgerbeteiligung vereint. Dieses Werkstattformat ist eine qualitative Weiterentwicklung auf Grundlage all der Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit bei verschiedenen Einzelprojekten sammeln konnten. Das kann man nicht über einen Leisten schlagen. In einem Fall wird es der Investor sein, im anderen der Staat als öffentliche Institution oder eine Gemeinde. In Hamburg praktizieren wir etwa im Bereich der Stadtentwicklung Modelle, für die staatliche Mittel bereitgestellt werden. Bei der Finanzierung gibt es aber ebenso wie bei den Formaten keine allgemeingültigen Regeln. Welche ist dabei die zentrale Erkenntnis? Wichtig ist, dass möglichst viele, die sich von einem Projekt berührt oder beeinträchtigt fühlen, in die Planungen mit eingebunden werden. Denn wer sich als Teil eines solchen Entscheidungsprozesses begreift, dem wird es leichter fallen, die schließlich gefundene Entscheidung zu akzep- Obwohl formal die Möglichkeit besteht, sich schon frühzeitig an öffentlichen Planungsprozessen zu beteiligen, melden Bürger häufig erst dann Protest an, wenn ein Projekt bereits Fahrt aufgenommen hat. Woran hapert es? Wir verfügen in Deutschland über gut ausgearbeitete BeteiligungsOlaf Scholz 257 verfahren, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlauben, ihre Belange, Ansichten und auch Einsichten im Planungsprozess frühzeitig vorzutragen. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Menschen dies nicht für das eigentlich entscheidende Verfahren halten, sondern offenbar andere Formen der Kommunikation erwarten. Angesichts der hohen Verrechtlichung des formalen Partizipationsprozesses ist das auch nachvollziehbar. Und was bedeutet das für die Verfahrenspraxis? Ich bin überzeugt, dass wir über rechtliche Konsequenzen der Beteiligungsprozesse nachdenken müssen. Selbstverständlich muss man auf die formalen Verfahren verweisen. Soweit das den Planungsprozess in rechtlicher Hinsicht nicht beeinträchtigt, muss es aber daneben auch neue Formen der Kommunikation geben. Klagen über dieses Phänomen aufzuhalten, hilft nicht weiter, stattdessen sollte man lieber nach Lösungen suchen. Das geltende Verwaltungsrecht der Bundesrepublik Deutschland lässt dafür allerdings wenig Spielraum. Denn das Gespräch und die Verständigung entfalten bei uns keine rechtlich bindende Wirkung. men. Ein Vergleich, der dann aber alle Beteiligten – ob Verbände oder individuell Betroffene – genauso bindet wie den Investor. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir mit der Tatsache, dass in Deutschland manche Planung nicht nur einmal, sondern fünfmal durchdiskutiert wird, weiter leben müssen. Soll heißen, andere Staaten haben uns hier etwas voraus? Inwieweit muss eine Gesellschaft Konflikte aushalten können – zum Beispiel, wenn es um widerstreitende Erwartungen bezüglich Wirtschaftswachstum und Umweltschutz geht? In den Mediationsverfahren der USA beispielsweise können unterschiedliche Belange ausgeglichen werden. Das Besondere dieser amerikanischen „Mediations“ ist, dass die schließlich getroffene Entscheidung für alle Beteiligten bindend ist. Unser deutsches Verfahrensrecht dagegen erlaubt es, dass auch nach einem solchen „Vergleich“ jeder noch seine Interessen individuell durchsetzen kann. Ohnehin sind die Möglichkeiten für einen Vergleich bei uns beschränkt auf das, was man von Rechts »Ich werbe sehr dafür, auf die Kraft der Argumente und der Fakten zu setzen.« Was die Entscheidungsfindung aber möglicherweise nicht vereinfacht … Man darf nicht erschrocken sein, wenn nach einer ordnungsgemäßen, unter großen Mühen veranstalteten und öffentlich auch wahrgenommenen Planungsbeteiligung am Ende ein Planungsbeschluss steht – und die Diskussion über das Vorhaben trotzdem noch einmal von Neuem beginnt. So ist das eben. Sich mit 258 INTERVIEWS wegen als Genehmigungsbehörde etwa einem Investor als Auflagen erteilen könnte. Sehen Sie dennoch Lösungswege? Es empfiehlt sich, immer wieder neu über Optionen im Rahmen unseres deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgefüges nachzudenken. Etwa über die Frage, ob ein Planungsverfahren auch die Möglichkeit eröffnen kann, zu einem Vergleich zu kom- Einfache Lösungen gibt es da nicht, sondern unterschiedliche Interessen, für die ein vernünftiger Ausgleich gefunden werden muss. Und bei sehr bedeutenden Vorhaben, wie etwa der Elbvertiefung, sind das auch ganz große Dinge, die miteinander zu verhandeln sind. Bei diesem Vorhaben ist das gut gelungen. Für die Belange der wirtschaftlichen Entwicklung des Hafens und die Belange des Natur- und Umweltschutzes ist durch die vorbereitenden Verfahren und mit dem Planfeststellungsbeschluss ein guter und vernünftiger Ausgleich gefunden worden. Aber wie groß ist die Kompromissbereitschaft tatsächlich? Ist nicht auch oft Egoismus im Spiel, wenn Bürger sich gegen bestimmte Projekte sperren? Natürlich gibt es Vorhaben, bei denen die Kritik vor allem von der eigenen Betroffenheit herrührt. Das ist nichts Illegitimes, es gehört schließlich mit zur Diskussionskultur. Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger vorrangig egoistische Motive verfolgen. Vielmehr scheint den meisten von ihnen klar zu sein, dass es Anliegen gibt, die für die Gemeinschaft von großer Bedeutung sind. Nehmen wir das Beispiel Wohnungsbau in Hamburg: Selbst diejenigen Bürger, die gegen das eine oder andere konkrete Bauvorhaben vorgehen, vergessen meistens nicht zu erwähnen, dass ihnen klar ist, dass die Stadt dringend viele neue Wohnungen bauen muss und dass sie damit im Prinzip auch einverstanden sind. Welche Verantwortung trägt der Bürger für einen gelingenden Dialog? Wir alle sind Bürgerinnen und Bürger. Und wir alle sollten nicht aufhören, das von einem selbst als richtig Erkannte auch mit Argumenten darzulegen. Wer auf Argumente verzichtet und nicht bereit ist, seine Fakten vorzutragen, darf sich nicht wundern, wenn die Skepsis überwiegt. Ich werbe sehr dafür, auf die Kraft der Argumente und der Fakten zu setzen. Denn umso weniger werden sich am Ende diejenigen durchsetzen, die den Vorwurf fehlender Transparenz einfach nur der billigen Polemik wegen erheben. Ist das ein Plädoyer für mehr Rationalität in der oftmals sehr erhitzten Auseinandersetzung? Das demokratische Gespräch hat eine eigene Tonlage. Die ist in einer Regierung schon einmal anders als in einem Parlament. Und im Parlament wieder anders als auf einer großen Straßendemonstration. Aber trotz dieser offensichtlichen Unterschiede sollten alle Beteiligten, auf der einen wie auf der anderen Seite, sich immer so verhalten, dass es ein Gespräch bleibt und man den Rahmen des kritischen Meinungsaustauschs nicht überschreitet oder gar dauerhaft verlässt. Vor allem die Akteure, die bestimmte Planungen verfolgen, sollten immer ruhig bleiben und angemessene Worte finden. Gilt das auch für die Medien? Es wäre vor allem gut, wenn die Medien sich häufiger eine Haltung zutrauen würden. Es ist zum Beispiel nicht hilfreich, den Bau einer Anlage zu skandalisieren und zugleich ihren Nicht-Bau, was durchaus vorkommt. sich erst noch auf dem Papier in der Planung befindet. Aber ist das nicht Zweckoptimismus? Man sollte niemandem etwas vormachen. Es ist richtig, die Energiewende voranzubringen. Und an der einen oder anderen Stelle wird die veränderte technische Infrastruktur natürlich Konsequenzen für das Landschafts- oder Stadtbild haben. Wer das beschönigt, malt die Welt in zu »Partizipation ist keine Bedrohung, sondern eine Chance.« Womit wir beim Stichwort Energiewende wären. Ein Vorhaben, das zwar allgemein begrüßt wird, aber auch Widerstände hervorruft, wenn etwa der Bau neuer Windräder oder Stromtrassen konkret wird. Wie löst man diesen Widerspruch auf? rosigen Farben. Und doch bin ich überzeugt, dass dieses Problem nur in den Augen derer unlösbar ist, die an eine friktionsfreie Welt glauben. Den Pessimismus Ihrer Fragestellung teile ich nur eingeschränkt. Die meisten Bürgerinnen und Bürger, die für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze sind, verstehen sehr wohl, dass das Folgen für sie persönlich haben kann – Folgen, die manchmal auch unangenehm sein können. Andere befürchtete Folgen treten gar nicht ein, lösen aber im Vorfeld viele Besorgnisse aus, bevor man sich überhaupt mit den neuen Realitäten auseinandersetzen kann. Nur ein Beispiel: Ich bin überzeugt, dass ein bereits errichtetes Windrad auf mehr Akzeptanz stößt als eines, das Olaf Scholz 259 Michael Vassiliadis »Wir brauchen Begeisterung für Technik und Innovation.« Michael Vassiliadis über industrielle Wertschöpfungsketten und die Notwendigkeit einer Prozesssteuerung für die Energiewende. Ist die Angst vor einer Verschlechterung der Lebensqualität ausschlaggebend für Proteste gegen Großprojekte? Bei den Stichworten „Angst“ und „Verschlechterung der Lebensqualität“ muss man zwei Motive unterscheiden. Angst kann bedeuten, dass man durch ein Projekt negative Auswirkungen für eine größere Gruppe von Menschen oder das Gemeinwohl befürchtet. Dieses Motiv ist zu trennen von der Sorge um die Verschlechterung der eigenen Lebensqualität, wie etwa finanzielle Nachteile durch die Wertminderung von Immobilien. Beide Motive sind aber legitim. Zur Person Michael Vassiliadis ist seit 2009 Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Er ist Mitglied im Aufsichtsrat der K+S AG, der Evonik STEAG GmbH, der Henkel KGaA und der BASF SE. Im Juni 2007 rief ihn die Bundesregierung in den Rat für nachhaltige Entwicklung, 2011 war er Mitglied der Ethikkommission für sichere Energieversorgung. 260 INTERVIEWS Wie steht es um die Zustimmung zu unserer Wirtschaft? Es gibt in der Bevölkerung grundsätzlich eine hohe Akzeptanz von Gedanken wie Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft. Gleichzeitig ist das Misstrauen, dass die Unternehmen nur Eigeninteressen verfolgen, immens gestiegen und weit verbreitet. Von daher fallen die Argumente der Gegner von Großprojekten auch immer auf fruchtbaren Boden. Gibt es da unterschiedliche Wahrnehmungen von kleinen und großen Unternehmen? Je größer eine Institution ist, desto undurchschaubarer und beängstigender wirkt sie. Die vier Großen der Energiewirtschaft sind auch wieder eine herausgehobene Gruppe mit einem ganz eigenen Profil in der öffentlichen Wahrnehmung, unabhängig auch von anderen Unternehmen dieser Größenordnung. Das andere ist die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen. Öffentliche Unternehmen stehen im Allgemeinen besser da als private, weil man ihnen weniger Profitinteressen unterstellt. Kommen wir zur Energiewende: Woran hapert es bei der Umsetzung und was ist zu tun? Die Entscheidung für die Energiewende wurde wesentlich auf Grundlage der Diskussionen in der Ethikkommission gefällt. Diese kam zu dem Ergebnis, dass der Ausstieg aus der Kernenergie binnen zehn Jahren möglich ist, allerdings nur unter einer ganzen Reihe von Bedingungen. Dazu gehören der Netzausbau sowie der Bau von Kohle- und Gaskraftwerken. Letztes Jahr war dieser Zusammenhang bewusst. Mittlerweile zerfasert das in zusammen- hanglose Einzeldiskussionen. Das hat auch mit der fehlenden Prozessverantwortlichkeit und einem schlechten Projektmanagement der Energiewende zu tun. Was bedeutet das konkret? Wenn man eine Analogie zu Unternehmen zieht und die Energiewende mit großen Projekten vergleicht, die in Unternehmen durchgeführt werden, dann gibt es in der Regel Erfolge, wenn es einen Projektverantwortlichen gibt – den gibt es nicht bei der Energiewende. Es gibt Erfolge, wenn es ein definiertes Projektbudget gibt – es gibt aber keine Gesamtkostenrechnung der Energiewende. Es gibt Erfolge, wenn Ziele, Meilensteine zur Zielerreichung und Prozesse zum Nachsteuern definiert sind – auch das fehlt. Das sind drei wesentliche Defizite bei der Umsetzung der Energiewende. Den Menschen geht dieses Hin und Her sicherlich auf die Nerven und das führt zu sinkendem Vertrauen, dass die Energiewende auf eine verantwortliche Weise auf den Weg gebracht wird. Welche Rolle und welche Verantwortung hat denn die Wirt- schaft bei der Umsetzung der Energiewende? Man muss zwischen Unternehmen und der Wirtschaft unterscheiden. Unternehmen müssen nicht nur erklären, sondern vor allem machen. Unternehmen, die Energie erzeugen, und Unternehmen, die intensiv Energie verbrauchen, müssen die Energiewende umsetzen. Es gibt kein Unternehmen, das nicht nachhaltig von den Konsequenzen der Energiewende betroffen sein wird. Von daher ist die wichtigste Aufgabe der Unternehmen, ihre Strategien zu finden und auf dieser Grundlage in den Dialog mit der Politik zu treten. Die Wirtschaft, wie zum Beispiel der BDI, ist im Moment nicht sehr sprachfähig. Man erlebt das auch in den Darstellungen der Unternehmen, die sich aufgrund verschiedener Interessen und Geschäftserwartungen sehr unterschiedlich äußern. Man hat nicht das Gefühl, dass es ein koordiniertes Auftreten oder ein durchdachtes Programm zur Umsetzung der Energiewende gibt. Welche Botschaft sollten die Unternehmen in die Diskussion mit einbringen? Ganz entscheidend ist das Argument der Wettbewerbsfähigkeit. Aktuelle Untersuchungen ergeben, dass den Menschen bewusst ist, dass eine international konkurrenzfähige Energieversorgung für Unternehmen wichtig ist, weil ihre Wettbewerbsfähigkeit ansonsten massiv leidet. Dennoch entsteht bei diesem Argument immer noch großes Misstrauen. Wir müssen diese Lücke schließen und dafür werben, dass es für energieintensive Unternehmen ein Segment gibt, in dem besonders auf die Wettbewerbsfähigkeit geachtet wird. Gerade im Kontext der Energiewende gibt es ja das NIMBY-Phänomen: Der Verbraucher will die Energiewende, aber keine Windräder oder Stromleitungen in Sichtweite. Haben Sie eine Erklärung für diese vermeintlich widersprüchliche Haltung? Diese Haltung hat erst mal nichts mit der Energiewende zu tun. Wenn eine Autobahn nah an Wohnbebauung gebaut werden soll, gibt es dagegen auch Widerstände, obwohl man grundsätzlich Autobahnen befürwortet. Dieses Verhalten ändert sich nicht, nur weil es um die Energiewende geht. Die Energiewende eröffMichael Vassiliadis 261 net aber die Chance, dass man eine neue Diskussion darüber führen kann, was Allgemeinwohl und was privater Nutzen ist und wie diese Aspekte in Einklang gebracht werden können. Das gilt zum Beispiel auch für eine grüne Partei, die mit diesen Widersprüchen konfrontiert ist und einer Bürgerinitiative im Wahlkreis erklären muss, warum man für die Energiewende Stromnetze braucht. Warum fehlt dieses Bewusstsein? Wir driften ja mittlerweile in zwei Welten auseinander. Die privat erlebte Welt, in der man das eigene Haus mit Fotovoltaikmodulen auf dem Dach, Wärmepumpe im Keller und Batteriespeicher in der Garage versorgt, sodass man kaum noch auf ein Stromnetz angewiesen ist und nicht versteht, warum man noch große Kraftwerke bauen sollte. Dane- »Öffentliche Unternehmen stehen im Allgemeinen besser da als private.« Hat die Energiewende auch generationenübergreifend das Potenzial für eine neue gesellschaftliche Versöhnungsformel? Wenn die Energiewende vernünftig umgesetzt wird, kann sie ein identitätsstiftendes Projekt für die Gesellschaft werden. Nach dem Motto: „Wir sind Vorreiter und zeigen Verantwortung.“ Das wäre eine große Chance, an der wir als IG BCE auch aktiv mitwirken wollen. Die IG BCE fordert Kohle als Brückentechnologie. Wie kann man dafür Akzeptanz schaffen? Zum einen müssen wir mehr Verständnis und Begeisterung für Technik und Innovation wecken. Noch wesentlicher ist aber, die Tatsache zu vermitteln, dass sich unsere Energieversorgung ohne Kohleverstromung nicht aufrechterhalten lässt, bis wir Strom in dem Ausmaß speichern können, dass wir energieintensive Prozesse auch mit Energie versorgen können. 262 INTERVIEWS ben gibt es die andere Welt, in der man Ammoniak, Aluminium, Papier, Zement und Keramik herstellen will. Wenn man diese Industrien in Deutschland halten will, kommt man nicht mit dem Diesel-Generator im Keller und den Fotovoltaikmodulen auf dem Dach aus, dafür braucht man die großen Kraftwerke. Der Unterschied zwischen privater und industrieller Energieversorgung ist vielen Menschen aber nicht klar. Daran muss inhaltlich gearbeitet werden. Das klingt aber auch danach, dass Sie eine intensivere und offenere Debatte über die künftige Ausrichtung und die Erfolgsvoraussetzungen für den Standort Deutschland fordern. Ja genau. Wir brauchen mehr Bewusstsein dafür, welchen Wert die Industrie für den Standort Deutschland hat. Wir brauchen die Industrie, damit es uns nicht so wie den Menschen in Griechenland oder England geht. Kein Land in Europa ist so gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen wie Deutschland. Das liegt an unserer industriellen Basis, die wir zukunftsfähig absichern müssen. Diese Diskussionskette durchhalten zu können, beginnt schon bei der Debatte über die EEG -Befreiung für die Industrie. Viele Menschen verstehen nicht, warum es Ausnahmen für die Industrie gibt, anstatt zu begreifen, dass das Voraussetzungen sind, um überhaupt hier produzieren zu können. Das führt dann zu der Frage, warum wir Aluminium in Deutschland herstellen und nicht in Kanada, Island oder Dubai. Selbst wenn wir über 800.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in diesen Industrien reden, gibt es Menschen, die sagen, dass wir doch ohnehin auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft sind. Dabei wird dann auch noch die Wertschöpfungskette ausgeblendet, denn ein nicht unerheblicher Teil der Dienstleistungen ist ja industrienah. Wie stehen Sie zur wirtschaftlichen Beteiligung der Bürger an Projekten, wie Bürgerwindparks oder Bürgersolaranlagen? Das sind Erfolg versprechende Modelle und eine Basis nicht nur für Akzeptanz, sondern für wirkliche Zusammenarbeit. Es gibt positive Beispiele, wie eine Biogasanlage, die in einer Gemeinde zunächst für große Ablehnung gesorgt hat, bis man die Bürger vor Ort eingebunden hat. Das hat dazu geführt, dass die Anlage dann mehrheitlich unterstützt wurde. Wie sollte man Bürger ansonsten an Projekten beteiligen? Der zentrale Aspekt ist frühzeitige Einbeziehung. Bürgerbeteiligung muss zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem Einflussnahme noch möglich ist. Unsere Praxis ist im Moment so, dass ein Unternehmen ein größeres Projekt plant und dann auf die Genehmigungsbehörde zugeht. Wenn diese nach dem Planungsrecht ihren Erörterungstermin durchführt und die Planung des Unternehmens bekannt gibt, ist das Projekt nur noch mit einem sehr hohen Aufwand modifizierbar. Bürger, die an solchen Terminen teilnehmen, fühlen sich dann verständlicherweise außen vor und verstehen nicht, was da vor sich geht. Diejenigen, die das verstehen, sind die Verbände mit ihrem Fachwissen und ihren Batterien von Anwälten, die aus den Erörterungsterminen das machen, was wir oft erleben. Wir müssen daher dieses Instrumentarium wieder den Bürgern und den konstruktiven Verbänden zurückgeben, sodass sie Vorschläge zu einem Zeitpunkt einbringen können, an dem diese auch noch Berücksichtigung finden können. Deswegen ist der neue Ansatz richtig, die Öffentlichkeit frühzeitig in die Planungsverfahren einzubeziehen und auch Dialoge zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt zu organisieren, an dem Unternehmensplanung noch gestaltbar ist. Sehen Sie eine Gefahr, dass diese Beteiligungsmöglichkeiten Prozesse verlangsamen? Mit solchen Verfahren verbindet sich die Hoffnung, dass man dadurch mehr Akzeptanz schafft und daher hinterher weniger Einspruchsverfahren stattfinden. Allerdings bin ich da skeptisch, denn das ist ja ein ideales Bild, bei dem man davon ausgeht, dass diejenigen, die hinterher prozessieren, dieselben sind, die vorher mit diskutiert haben. Bräuchte es eine gesetzliche Verpflichtung, Bürgerbeteiligung durchzuführen? Ich halte nichts von einer Verpflichtung. Es liegt im Grunde im Interesse des Antragstellers, aber auch in seiner Verantwortung, Kommunikation herzustellen. Es gibt einen Vorschlag, dass Projektbetreiber zwei Prozent der Projektmittel NGOs und Bürgerinitiativen für die Erstellung von Gutachten oder für Kommunikationsmaßnahmen zur Verfügung stellen sollen, um Waffengleichheit herzustellen. Was halten Sie davon? Projekt um Glaubwürdigkeit bemüht, aber zur gleichen Zeit beispielsweise Personalabbau oder eine sehr unangemessene Erhöhung der Vorstandsbezüge ankündigt, ist das völlig unglaubwürdig. Und es ist eine Illusion zu glauben, dass man diese Themen voneinander trennen könnte. Auch deswegen, weil es dabei ums Gemeinwohl geht und man als Unternehmen dieses Feld nicht nur den NGOs überlassen kann. Die nehmen für sich in Anspruch, für das Ganze zu kämpfen, während die Unternehmen nur an Profit denken. Wenn man dem etwas entgegensetzen will, muss man die Allgemeinwohlorientierung als nachhaltigen Ansatz für das gesamte Unternehmen sehen. Ein punktuelles Vorgehen ist zum Scheitern verurteilt. Das klingt sehr deutsch und auch ein bisschen nach Klientelpolitik. Wir wissen, dass dafür am Ende die »Der zentrale Aspekt ist frühzeitige Einbeziehung.« Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entweder mit der Lohnsteuer oder mit der Stromrechnung bezahlen – wie für die meisten Kosten der Energiewende. Was müssen Unternehmen in ihrem Kommunikationsverhalten ändern? Ein großes Defizit ist, dass Unternehmen meistens ihren Blick ausschließlich auf ein konkretes Projekt richten. Man sollte aber den Blick fürs Ganze nicht vergessen, denn wenn man sich bei einem konkreten Michael Vassiliadis 263 Prof. Dr. Ulrich von Alemann »Zwei Prozent für Waffengleichheit?« Prof. Dr. Ulrich von Alemann und Prof. Dr. Joachim Klewes machten den Vorschlag, dass Projektinitiatoren Projektgegnern zwei Prozent der gesamten Projektmittel zur Verfügung stellen könnten, um „Waffengleichheit“ herzustellen. Warum lehnen Teile der Bevölkerung viele Großprojekte ab? Viele, die gegen Großprojekte protestieren, haben Ängste und fühlen sich bedroht, weil sie die Auswirkungen eines Großprojektes auf ihre eigene Lebensqualität nicht abschätzen können. Das gilt für Infrastrukturprojekte wie Flughäfen, Autobahnen, S-Bahnen, aber genauso für Energieprojekte. Die eigene Betroffenheit und eine Angst vor Nachteilen im eigenen Umfeld, die mit Veränderungen einhergehen, sind wichtige Gründe für die Proteste. Zur Person Prof. Dr. Ulrich von Alemann ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf sowie Vorsitzender des Kuratoriums der Change Centre Foundation, einer gemeinnützigen und unabhängigen Wissenschaftsstiftung mit Sitz in Meerbusch. Von Alemann ist Experte der europäischen und deutschen Parteien- und Demokratieforschung. Zudem forscht er über die politische Beteiligung der Bürger auf allen politischen Ebenen. 264 INTERVIEWS Gab es das schon immer oder ist das ein neues Phänomen? Angst vor Innovation, Technisierung und Veränderung gab es schon immer. Das ist ein altes Phänomen, das wir schon aus der ersten Industrialisierung kennen. In den letzten 20 Jahren hat sich zusätzlich eine neue Skepsis gegenüber Großprojekten entwickelt. Das hängt damit zusammen, dass Klimaveränderungen stärker wissenschaftlich thematisiert wurden und die Bevölkerung heute eine deutlich höhere Sensibilität für Gesundheitsfragen hat. Die Debatte über Gesundheitsschädigungen im Zusammenhang mit der Umwelt ist angestiegen. Es kommt also eine ältere Ängstlichkeit und Skepsis mit einer neueren Sensibilität gegenüber Umweltveränderungen zusammen. Gibt es generell eine Ablehnung von Großprojekten oder bestimmten Technologien? Es ist ein Mythos, dass sich hier und heute keine Großprojekte mehr durchführen ließen. Es herrscht keine allgemeine Technikfeindlichkeit. Die Technikskepsis hat sich aber gegenüber den Siebzigerjahren verändert. Sie ist auch ganz unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt heute erhebliche Vorbehalte gegenüber Technologien, bei denen die Bevölkerung konkrete Gesundheitsbeschwerden befürchtet, wie bei der Gentechnologie. Andere Technologien, wie im Telekommunikationsbereich, werden völlig unkritisch bewertet und genießen eine hohe Akzeptanz, obwohl immer wieder auf mögliche Strahlungsschäden hingewiesen wird. Die Erfahrungen mit Protesten etwa wie bei Stuttgart 21 können nicht grundsätzlich auf alle Großprojekte in Deutschland übertragen werden. Welche Rollen spielen die Parteien bei der Realisierung von Großprojekten? Bei den Großprojekten habe ich den Eindruck, dass die Bedeutung der Parteien und der parteipolitischen Polarisierungslinien gesunken ist. Es ist nicht mehr so, dass man generell sagen kann, diese Partei ist für und diese Partei ist gegen das Projekt. Die Bevölkerung bewegt sich auch nicht mehr in denselben Frontlinien wie die Parteien, sondern viele Streitpunkte werden in der Zivilgesellschaft weitgehend losgelöst von den Parteien diskutiert. Ändert sich die Position der Parteien, je nachdem, ob sie in der Regierungsverantwortung sind? Ja, das erleben wir gerade bei den Grünen. Es gibt mittlerweile einen internen Dissens-Faktor, weil einige führende Grüne, wie beispielsweise Jürgen Trittin, sagen, dass der Preis für den Ausstieg aus der Atomenergie der massive Ausbau von Überlandstromleitungen und Speicherwerken ist und dass diese Projekte im Notfall auch an der Parteibasis vorbei durchgesetzt werden müssen, weil sie eben notwendig sind. In Baden-Württemberg ist es noch offensichtlicher. Dort müssen die Grünen als Regierungspartei den Bahnhof jetzt doch bauen, obwohl die Basis skeptisch ist. Die Grünen werden als Regierungspartei in diesen Dissens einfach hineingezogen und können ihn kaum vermeiden. Nach Stuttgart 21 haben alle Parteien mehr Bürgerbeteiligung gefordert. War das nur der übliche Reflex der Politik? Nein, das hat auch mit der Lage der Parteien zu tun. Die Parteien verlieren seit Jahren Mitglieder. Das gilt insbesondere für die großen Parteien. Und sie wissen um ihre Probleme mit der Akzeptanz bei der Bevölkerung. Schon aus diesem Grund dürfen sie den Bereich der Bürgerbeteiligung und der Partizipation auf gar keinen Fall den Bürgerbewegungen allein überlassen. Ist der deutsche Protest ein Stück weit schizophren? Auf der einen Seite will der Verbraucher die Energiewende, auf der anderen Seite demonstriert er gegen Windräder vor der Haustür. Nach meiner Beobachtung halten sich die Proteste gegen erneuerbare Energien in Grenzen. Wir haben in Deutschland eine extrem hohe Dichte an Windrädern, die nicht durch Proteste unmöglich gemacht wurde. Ich sehe die Proteste auch nicht als ansteigend, sondern sie werden eher zurückgehen, weil die Leute genau diesen Widerspruch bemerken. Es gibt eine breite Unterstützung für den Atomausstieg und die Bürger spüren, dass sie auch die Konsequenzen tragen müssen. Kann man daraus schließen, dass die Gemeinwohlorientierung der Bürger zunimmt? Ja, nach meiner Beurteilung ist die Gemeinwohlorientierung insgesamt nicht gesunken: Im Gegenteil, sie ist eher gestiegen. Die Sensibilität für friedliche Lösungen ist genauso gewachsen wie die für Umweltschutz. Im Vergleich zu früher sehen Sie heute weniger wilde Müllkippen am Waldrand, um ein Beispiel zu nennen. Ich rechne damit, dass die Debatten über Moral, gerade die von Politikern, intensiver werden. Auch die Moralschwelle wird durch die Medien und die öffentliche Debatte eine andere Höhe erreichen. Generell sind die Politiker oder die Moral aber nicht schlechter geworden. Richtig ist, Prof. Dr. Ulrich von Alemann 265 dass die Moralmaßstäbe steigen. Dasselbe gilt für die Gemeinwohlorientierung – subjektiv besteht das Gefühl, dass sie abnimmt, objektiv nimmt sie eher zu. Bürgerbeteiligung soll den Nutzen für die Allgemeinheit stärker bewusst machen und so mehr Akzeptanz schaffen. Wie kann man die breite Bevölkerung stärker integrieren? Es gibt zum einen die Möglichkeit von Bürgerentscheiden auf Landesund auf kommunaler Ebene. Zum anderen gibt es verschiedene Möglichkeiten der Verwaltungsbeteiligung über Planfeststellungsverfahren. Das ist aber eine Sache für Spezialisten, weil es sich auf Bürgerseite nur wenige leisten können, sich durch die Pläne zu kämpfen. Man versteht ja größtenteils gar nicht, was da steht, wenn man nicht gerade Bauexperte ist. Und daneben gibt es die konsultativen Konsensformen durch runde Tische, Mediationen oder Ähnliches. In der Demokratie entscheidet nicht immer die ganze Bevölkerung. Wir wollen Beteiligung, auch Wahlbeteiligung, nicht erzwingen. Wir können Demokratie auch nicht einfach nur als Mehrheitsherrschaft definieren. Wir haben eine ganze Menge von Elementen, die der Mehrheitsherrschaft völlig entzogen sind, wie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, ist – wie es Aristoteles ausdrücken würde – eine gemischte Verfassung. Die Aktivbürgerschaft ist immer eine Minderheit. Wenn ein informelles Beteiligungsformat, wie ein Mediationsverfahren, relativ offen und transparent durchgeführt wird, es nicht von vornherein bestimmte Gruppen ausschließt und die betroffene Bevölkerung in einem vernünftigen Rahmen einbezogen wird, dann sehe ich aus demokratietheoretischer Sicht keine großen Probleme. Schwierig ist, wenn wie in Frankfurt ein Mediationsergebnis erreicht wurde, das anschließend von Politik und Betrei- »Die Aktivbürgerschaft ist immer eine Minderheit.« Bei diesen konsultativen Beteiligungsformen wird nur eine bestimmte Gruppe von Menschen beteiligt – obwohl das Projekt eventuell einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat. Ist es demokratisch, wenn nur eine kleine Gruppe von Menschen, die ja nicht demokratisch legitimiert ist, in einen solchen Entscheidungsprozess involviert ist? 266 INTERVIEWS bern wieder über den Haufen geworfen wird. Da fühlt sich die Bevölkerung verschaukelt. Sollten Konsensformen wie Mediationen gesetzlich verankert werden? Nein. Eine Mediation hilft nicht bei jedem Projekt. Es sollte kein rechtlich verbindliches Verfahren sein, das gleichberechtigt neben den Verwaltungsverfahren oder politischen Entscheidungsverfahren steht. Würde man die Mediation rechtlich verbindlich machen, würde dies sie unterlaufen. Dann wäre der Charme der Freiwilligkeit beeinträchtigt. Die Schweiz fährt mit direktdemokratischen Instrumenten im Hinblick auf die Akzeptanz von Großprojekten ganz gut. Was ist in Deutschland sinnvoller: direktdemokratische Abstimmungen oder informelle Beteiligungsmöglichkeiten? Ich sehe da keinen Gegensatz. Wir könnten von beidem etwas mehr gebrauchen, ohne dass wir dabei in irgendeiner Weise die grundsätzliche Kompetenz der Parlamente untergraben. Die Grundlage ist die repräsentative Demokratie. Unsere Demokratie sollte aber durch informelle und formelle Formen der Beteiligung ergänzt werden. Das kann immer nur eine Ergänzung sein. Es wäre nie eine Alternative, dass wir in Deutschland eine direkte Demokratie einführen sollten. Das Schweizer Modell ist für mich kein durchweg positives Beispiel, weil es auch deutliche Nachteile hat, was man beim Referendum zum Minarett-Verbot sieht. Beim Gotthardtunnel hat es funktioniert. Wäre es nicht sinnvoll, die Bürger grundsätzlich darüber abstimmen zu lassen, ob sie ein Projekt wollen oder nicht? Beim Gotthardtunnel war die Entscheidung für die Bevölkerung einfacher zu treffen, sodass sie sich klarer – Ja oder Nein – äußern konnte. Bei einem großen Kraftwerk ist diese Entscheidung sehr viel schwieriger abzuwägen. Das gilt auch für die vielen dringend notwendigen Über- landleitungen und Windräder. Da wird es schwieriger, Antworten zu formulieren. Insofern ist es problematisch, wenn solche Projekte einfach einem Volksentscheid mit der Fragestellung Ja oder Nein unterworfen werden. Durch die Proteste wird sich Stuttgart 21 verzögern. Kann Bürgerbeteiligung Planungszeiten verkürzen? Ja, ich bleibe dabei: Mehr Bürgerbeteiligung, mehr Transparenz, mehr Offenheit für gute Argumente und mehr Selbstverpflichtung sowie frühzeitige und umfassende Informierung der Öffentlichkeit sind einer erfolgreichen Projektdurchführung dienlich. Die Auseinandersetzungen zwischen Projektinitiatoren und -gegnern werden oftmals als Kampf von David gegen Goliath dargestellt. Gibt es Waffengleichheit zwischen den Projektgegnern und den Projektinitiatoren? Es gibt ein Ungleichgewicht der Waffen. Die Projektbetreiber haben viel mehr Ressourcen, um professionelle Kommunikationskampagnen einzusetzen. Die Projektgegner dagegen, wie Bürgerinitiativen, haben in der Regel weniger Mittel. Nur, diese wenigen Mittel sind häufiger mit einer höheren Glaubwürdigkeit und größerem Engagement – eben mit Herzblut, das auch mal in Wallung kommen kann – verbunden. Im Gegensatz zu den Betreibern unterstellt man den Projektgegnern, dass sie nicht nur ihr Eigeninteresse vertreten. Das ist allerdings falsch, denn Anwohner, die sich gegen Lärm oder Emissionen wehren, verfolgen natürlich auch ein Eigeninteresse – sie wollen Belastungen in ihrem direkten Umfeld vermeiden. Alle Beteiligten haben ihre eigenen Interessen, wobei ich weder die Interessen der Betreiber noch die der Betroffenen positiv oder negativ werten würde. Politik ist Interesse, das ist nun mal so. Interesse ist kein negatives Wort, es beschreibt einfach die bestehende Situation. Die Betroffenen und Gegner von Großprojekten arbeiten sich häufig sehr zent gut angelegtes Geld. Die Idee funktioniert nur, wenn die Betreiber ernsthaft bereit sind, Kritik aufzunehmen, offen für neue Lösungen und so in einem gewissen Rahmen auch Veränderungen denkbar sind. Diese ernsthafte Absicht muss erkennbar sein. Wenn die BetreiberSeite hofft, dass mehr Geld automatisch zu mehr Akzeptanz führt, werden sich die Gegner eines Projektes »Es gibt ein Ungleichgewicht der Waffen.« clever in die Materie ein und versuchen, sich einen Vorsprung zu erwerben. Obwohl sie eigentlich gar keinen Vorsprung haben, weil die Ressourcen von Großunternehmen dem überlegen sind. Manche NGOs treten dem mit einer intellektuellen Cleverness entgegen, die bei ihnen vielleicht auch ein bisschen stärker ausgeprägt ist. kaum darauf einlassen. Das würde eher zu einer Verhärtung der Fronten führen. Natürlich besteht die Gefahr, dass dem Betreiber unterstellt wird, er wolle seine Gegner einkaufen. Deswegen muss man dies mit einem sehr offenen Moderationsprozess verbinden, in dem möglichst eine neutrale dritte Seite involviert ist. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, haben Sie vorgeschlagen, zwei Prozent der Projektmittel den Projektgegnern zur Verfügung zu stellen. Wie soll das praktisch aussehen? Das heißt, Sie sehen den Nutzen einer solchen Investition vor allem aufseiten der Projektbetreiber, der Initiatoren? Dieser Vorschlag war eher eine Vision und keine fertige und durchgerechnete Strategie. Wenn zwei Prozent der Projektsumme zur Verfügung gestellt würden, dann würde das Großprojekt zwei Prozent teurer. Wenn man aber bedenkt, dass sich ein Projekt wegen Protesten etwa um ein Jahr verzögert, kostet das den Investor vielleicht rund 20 Prozent mehr. Aus diesem Blickwinkel wären diese fiktiven zwei Pro- Ja, das war genau die Idee dahinter. Es war ein Szenario, um deutlich zu machen, dass es klüger ist, in die Vorbereitung eines Projektes zu investieren statt das Risiko von höheren Kosten einzugehen wegen heftiger Proteste, die die Umsetzung gefährden. Allen Interessen kann man nicht gerecht werden, aber möglichst vielen. Das ermöglicht einen Konsens und führt zu Planungssicherheit für die Unternehmen, aber auch zur Interessenwahrnehmung der Betroffenen. Prof. Dr. Ulrich von Alemann 267 Akzeptanz von Großprojekten: Ein Quellenverzeichnis zum Nachschlagen und Vertiefen Für alle Leser, die sich nach Lektüre dieses Bandes noch intensiver mit dem Themenkomplex Bürgerbeteiligung bei Großprojekten beschäftigen möchten und an weiteren Informationen interessiert sind, haben wir ein Nachschlagewerk – das Kompendium „Akzeptanz von Großprojekten“ – zusammengestellt. Sie finden das Kompendium unter: www.rwe.com/akzeptanzstudie/ kompendium Das Kompendium hat den Anspruch, eine Übersicht über aktuelle Forschung, Monografien, Umfragen und Pressestimmen rund um die Themen Akzeptanz von industriellen Großprojekten sowie Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung bei der Realisierung von Großprojekten in Deutschland zu geben. Zudem sollen in diesem Kontext die besonderen Herausforderungen, die mit der Energiewende und der damit notwendigen Realisierung zahlreicher Infrastrukturprojekte einhergehen, erläutert werden. Das Kompendium wird fortlaufend aktualisiert. Die Struktur des Kompendiums orientiert sich an den folgenden Fragestellungen: Welche gesetzlichen Regelungen existieren für die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Durchführung von industriellen Großprojekten? Welche konkreten Beteiligungsmodelle gibt es, um alle betroffenen Akteure bei der Realisierung von Großprojekten einbeziehen zu können? Welche Studien und Monografien beschäftigen sich mit den Themen Akzeptanz von industriellen Projekten, Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligung in Deutschland sowie Herausforderungen der Energiewende? Das Kompendium ist nicht nur ein reines Quellenverzeichnis mit allen notwendigen Hinweisen zur Literatur, denn darüber hinaus haben wir zu jedem Titel eine kurze Zusammenfassung verfasst, damit der Leser auf den ersten Blick erkennen kann, womit sich der jeweilige Titel beschäftigt. Ausdrücklich wollen wir darauf verweisen, dass diese Zusammenfassung nicht vom Autor/Herausgeber/Rechteinhaber des jeweiligen Titels stammt, sondern von uns verfasst worden ist. Sofern vorhanden, werden auch Links benannt, die direkt zu den jeweiligen Titeln oder zu Websites führen, die nähere Informationen über die jeweiligen Titel geben. Da wir die bereitgestellten Quellen nicht selbst erstellt haben, weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass wir uns diese Inhalte nicht zu eigen machen und nicht für sie verantwortlich sind. Eine Vollständigkeit können wir nicht garantieren. Auch können wir die Aktualität der angegebenen Links nicht gewährleisten. Wie reflektieren die Medien grundsätzlich zu diesem Themenkomplex? (Aufgrund der Masse an Presseartikeln wurde an dieser Stelle nur eine Auswahl getroffen.) 270 KOMPENDIUM Quellenverzeichnis 271 Literaturverzeichnis ARD DeutschlandTrend (02.02.2012): 50 Prozent der Deutschen unzufrieden mit der sozialen Marktwirtschaft. http://www.presseportal.de/ pm/6694/2191955/ard-deutschlandtrend-februar-50-prozent-der-deutschenunzufrieden-mit-der-sozialen-marktwirtschaft Zugegriffen: 04.07.2012 Bergmann, Knut (18.06.2012): Zum Verhältnis von Parlamentarismus und Protest, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Hg.): Protest und Beteiligung 62. Jahrgang, 25-26/2012 Bertelsmann Stiftung (27.12.2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertstudie. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/ SID-31AB6839-955E8F91/bst/xcms _ bst _ dms _ 30530 _ 30531 _ 2.pdf Zugegriffen: 04.07.2012 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (2012): Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor. 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Bevölkerungs- und Unternehmensbefragung http://www.igbce.de/download/13322/1/energie-kompass-praesentation.pdf Zugegriffen: 04.07.2012 272 LITERATUR Institut für Demoskopie Allensbach (2011): Akzeptanzprobleme großer Infrastrukturprojekte. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. http://www.vdzement.de/fileadmin/gruppen/bdz/1Presse _ Veranstaltung/ Veranstaltungen/Text _ Handout _ Koecher.pdf Zugegriffen: 04.07.2012 International Labor Organization (ILO) (2012): Transition to green economy could yield up to 60 million jobs. http://www.ilo.org/global/aboutthe-ilo/press-and-media-centre/news/WCMS _ 181795/lang--en/index.htm Zugegriffen: 04.07.2012 Konrad Adenauer Stiftung (2011): Das Bürgerliche und der Protest. Auswertung einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. http://www.kas.de/wf/de/33.21970/ Zugegriffen: 04.07.2012 Matzig, Gerhard (2011): Einfach nur dagegen. 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November 2012 veröffentlicht worden. Informationen hierüber erhalten Sie zudem im Internet unter www.rwe.com.