Arbeitsblatt für die 1

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Arbeitsblatt für die 1
VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03)
6. Sitzung, S. 1
Die großen Romane Thomas Manns. Auseinandersetzung mit den epischen Hauptwerken
6. Vorlesung, 21.11.2002
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,
am vergangenen Donnerstag habe ich Ihnen die Entstehungsbedingungen und die Binnenstruktur
des Romans Der Zauberberg zu vermitteln versucht und dabei besonders auf die Bedeutung des
Themas „Zeit“ für die Konzeption dieses Romans hingewiesen.
Heute möchte ich Ihnen einige der thematischen Linien des Romans aufzeigen, wobei ich mich
insbesondere an den zentralen Figuren orientiere, die ihrerseits Verkörperungen von Ideen und
Themen sind, die den Roman durchziehen. In einer für Thomas Manns Erzählkunst spezifischen
Weise sind diese Figuren nämlich gleichermaßen „Charaktere“ – das heißt: Persönlichkeiten mit
individueller Prägung, Entwicklung und Differenzierung – als auch „Typen“ – das heißt: Träger
bestimmter Einstellungen, Weltanschauungen und Probleme. Sie haben also sowohl ein Eigenleben als auch eine Funktion in Bezug auf das Romankonzept; ihnen liegen häufig konkrete Menschen aus Thomas Manns Umfeld als realistische Porträtvorlage zugrunde und ihnen sind zugleich
auch konkrete zeit- und geistesgeschichtliche Anliegen mitgegeben, die sie als personalisierte
Leitmotive verkörpern. Ich stelle das in Form einer Tabellen dar:
Name
Namensbedeutung Persönlichkeitsmerkmale
Hans
Castorp
Vorname = dt.
Kollektiv
Nachname = norddeutsch, trocken
träge, naiv, harmlos ↔
neugierig, bereit für
neue geistige u.
sexuelle Erfahrungen
Joachim
Ziemßen
Nachname verweist
auf das, was „sich
ziemt“
Disziplin, Haltung,
Gehorsam, Tapferkeit
Clawdia
Chauchat
Vorname = östliche
Form von „Claudia“
= die Lahme, die
Schleichende
Lasziv, herausfordernd, sinnlich,
exotisch; wichtig: ihre
Augen, die sich „bei
einem gewissen
Nachname = „heiße
Seitenblick ... auf eine
Katze“ = Anspielung
schmelzende Weise
auf die Sinnlichkeit
völlig ins SchleirigName = VerknüpNächtige verdunkeln
fung der „russischen“ können“; Stimme:
und der „franzöangenehm heiser,
sischen“ Aspekte
leicht verschleiert
des Sinnlichen und
Sexuellen
Funktion in Bezug
auf Hans Castorp
Ideen-Träger
der mittlere Held als
„deutscher“ Held;
Vermittlung zwischen
den Gegensätzen =
Humanität
Männlichkeit und
Vetter von HC; Geaufrechter Gang,
genpol zu HCs Bereitschaft, sich „gehen positives Soldatentum
zu lassen“.
Verbindung: JZs
„Schwäche“ für die
„hochbusige Marusja“
Begegnung mit CC
wirkt katalytisch auf
HC: er erinnert sich
seiner ersten „stummen“ Liebe zu Pribislaw Hippe = Auslöser
der Krankheit.
Mit CC erlebt HC zum
ersten Mal eine
sexuelle Erfahrung,
die ebenfalls „stumm“
bleibt (Verbindungsmotive: die Augen, der
weiße Kragen, die
Bleistift-Szene).
Durch CC erwirbt HC
bei ihrer Rückkehr mit
Peeperkorn die
Fähigkeit, Rivalität
zugunsten der
Kooperation zu
überwinden
Sexualität, Sinnlichkeit, morbide
Körperlichkeit
VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03)
Pribislav
Hippe
Vorname = östlich,
weich, verführerisch
Nachname: Hippe =
Sense des Todes
ca. 14jähriger Junge,
Augen und Stimme
wie bei Clawdia
Chauchat
HCs erste Erfahrung
mit Liebe, die als
homosexuelles Begehren unverwirklicht
und „stumm“ bleibt;
wichtiger Auslöser
seiner Erkrankung auf
dem Zauberberg.
HC überwindet die
verbotene Faszination
Verbotene Liebe,
sexuelle Attraktion.
Psychoanalytiker /
Psychosomatiker,
fremdländisch, anbiedernd („Kamerad“),
jugendbewegt
(„Sandalen und
Wollsocken“),
schließlich dem
Okkultismus zugeneigt.
Für HC die erste
Möglichkeit, Sexualität
„zur Sprache“ zu
bringen und körperliche Krankheit als
Ausdruck seelischer
Probleme zu
verstehen.
Vertreter der in den
ersten Jahrzehnten
des 20. Jhdts weit verbreiteten psychoanalytischen Diskussion ohne genaue
Zuordnung zu einer
Schule.
Befreiung aus der
Abhängigkeit vom
Unbewussten und
Okkulten
Ambivalenz zwischen
„Aufklärung“ („Seelenzergliederung“) und
„Verdunkelung“
(Okkultismus).
Große eindrucksvolle
Gestalt, forsch,
polternd, auch zart,
sehr widersprüchlich.
Verhilft HC zu einer
„objektiven“ somatischen Diagnose.
Fördert HCs Interesse
für Symptome und
Körperprozesse
(Verwesung).
Rivale hinsichtlich
Clawdia Chauchat (die
„Haut“)
Ambivalenz zwischen
Arzt und Zuhälter
(„Hüttchenbesitzer“).
Holländer, reich, laut,
von „Format“; tritt als
Begleiter / Geliebter
von Clawdia Chauchat
bei deren Rückkehr
auf.
Herausforderung für
HC, sich mit dieser
„Persönlichkeit“
auseinander zu setzen, sich zu entscheiden: PPs
Anwesenheit zwingt
zur Stellungnahme
Dionysische Figur,
verkörpert den
Lebensgenuss,
scheitert jedoch auch
daran (Selbstmord
wegen Impotenz)
Kupplerische und
verschwörerische
Unterstützung von
HCs Neigung zu
Clawdia.
Verkörpert die für HC
eigentlich unmögliche
Verbindung von
Krankheit und
Dummheit
(Porträt: Thomas
Manns Schul-Liebe
Willri Timpe)
Dr. Edhin
Krokowski
Namen östlich, dunkel; Anspielung an
„Krypta“, „Katakombe“
Leitmotivisch: seine
schwarze Kleidung
Hofrat Dr.
Behrens
Nachname aus
„bero“ = Bär
Porträt: Prof. Dr.
Jessen, Leiter des
Sanatoriums in Da- Leitmotivisch: seine
vos, in dem sich Ka- blauen Backen
tia Mann aufhielt;
Jessen musste nach
dem Erscheinen des
Zauberberg sein Amt
niederlegen: Vorwurf
der Duldung des
lasziven Treibens
Pieter = niederdt. /
Mijnheer
niederld. Form von
Pieter
Peeperkorn Peter = Fels
Peeperkorn = Pfefferkorn, Pfeffersack
(= Kaufmann), auch
Anspielung auf Korn
als Getränk
Eigenartige Mischung
aus Redegewandtheit
und Präsenz
Porträt: der Dichter
einerseits und
Gerhart Hauptmann;
„Verwischtheit“ und
führte zu MissstimUnverständlichkeit.
mung zwischen
Begnadeter Trinker
Hauptmann und
und Schlemmer
Thomas Mann
Karoline
Stöhr
Name = Fisch; auch
Anspielung auf „stören“ und auf „störrisch“
6. Sitzung, S. 2
Dumm und ungebildet, ohne sich
dessen bewusst zu
sein; Hasenzähne;
laute Sprechweise,
tumbe Augen. Ihre
Todesbote (Analogien
zu Tadzio in Der Tod
in Venedig)
Mythologische
Dimension: Herr des
Totenreichs
(„Rhadamantys“)
VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03)
6. Sitzung, S. 3
„Bildungsschnitzer“
sind leitmotivisch und
funktional für den
Roman.
Abgrenzung HCs als
„gebildet“ und durch
die Krankheit „veredelt“ (Frau Stöhr als
Ihre einzige Fähigkeit: Kontrastfigur)
28 unterschiedliche
Fischsaucen kochen
zu können
Lodovico
Vorname: latinisierte Italienisch in Aussprache und Gehabe,
Settembrini Form von Ludwig /
gebildet,
Luigi
redegewandt, auch
Nachname = klar arein wenig zwielichtig
tikuliert, Anspielung
(„Satana“,
an hl. Zahl Sieben
„Drehorgelmann“).
Historisches Vorbild:
Mittellos (armselige
Luigi Settembrini,
Kleidung).
neapolit. aufkläreSchriftsteller und
rischer u. politisch
aktiver Philologe des Wissenschaftler –
allerdings wird die
19. Jhdts
Seriosität seiner
Tätigkeit als „Literat“
immer wieder
zweifelhaft.
Lehrer HCs, befördert
gezielt dessen
„Bildungsgang“, indem
er mit ihm eine Art des
sokratischen Dialogs
pflegt: darin kommen
wichtige Themen der
abendländischen
Aufklärung, der fortschrittlichen Politik
und der Ethik zur
Sprache; zugleich
führen sie HC auch in
die Technik des
intellektuellen Diskurses ein.
Settembrini ist sowohl
ein Verführer
(„Drehorgelspieler“,
kokette Liebeleien mit
Mädchen) als auch
eine Schutzfigur
(Warnungen vor
Abenteuern,
Aufforderung zur
Rückkehr ins
Flachland).
Zunächst wirkt Settembrini alleine auf
HC ein, später im
Wechselspiel mit Leo
Naphta
Gegenfigur zu Settembrini; erst in der
Position zwischen den
beiden polaren
Einfluss-Figuren findet
Naphta: Naphtali =
HC zu seiner eigenen
„Scharfe gequälte
einer der Stämme
Position: Humanität
Israels; naphta (gr.) Geistigkeit“.
muss eine
= Bergöl; Naphthalin
Jüdische KennVersöhnung der
= Kohlenwasserstoff
zeichnung der Figur
Gegensätze sein,
als Grundlage für
wie bei vielen anderen nicht die VerInsektizide, Pestizide
im Zauberberg auch. absolutierung einer
Leo Naphta ist zum
einzigen Position
Christentum (Katho(Kapitel „Schnee“).
lizismus) konvertierter Jude, Jesuit in
der Zeit des Verbots
des Jesuitenordens
Leo Naphta Leo = Löwe, häufiger
jüdischer Vorname
(Übers. aus Ari =
Löwe)
„Ätzend häßlich“,
scharf, gebogene
Nase, dicke Brillengläser, Stimme wie
„gesprungener Teller“.
Vertreter einer an
Antike und Aufklärung
orientierten rationalistischen Humanität.
Er glaubt an den
Fortschritt des
Menschen durch die
Vernunft; der Körper
ist für ihn Ausdruck
des Humanen,
insofern er gesund
und edel ist (im Sinne
des antiken Körperideals); alles Atavistische, Dunkle,
Irrationale ist ihm
zuwider.
Allerdings liegt eine
Brechung in der Figur:
Settembrini wird als
Freimaurer gezeichnet. Damit gerät
er in die Ambivalenz
von aufgeklärtem
Humanismus und
obskurantistischer
Geheimlehre.
In Settembrini
Synthese der polaren
Gegensätze Geist –
Körper angelegt.
In den Kolloquien mit
Settembrini heftiger
Vertreter einer
reaktionären
Revolution: mittelalterliche, mystische
und archaische Werte
werden von Naphta
vertreten als Ausdruck
eines ganzheitlichen
Menschenbildes. Er
tritt ein für das
intensive erleben von
Gewalt, Schmerz,
Macht und Kampf. Er
ist Anti-Aufklärer im
Sinne einer Kritik am
VL Härle: Die Romane Thomas Manns (WiSe 2002/03)
(Bismarcks Gesetzgebung)
Porträt-Vorlage: der
Philosoph Georg
Lukács.
6. Sitzung, S. 4
reinen Rationalismus.
Naphtas Position ist
zwar christlich
motiviert, verweist
aber auch auf
Elemente der NaziIdeologie voraus.
In den Kontroversen
Settembrini – Naphta
nimmt Thomas Mann
bereits Elemente der
„Dialektik der
Aufklärung“ vorweg.
Weitere Träger „sprechender Namen“:
Herr Albin
albus, der Weiße, Blasse; auch Assoziationen zu „albern“
Lehrer Pópow
russischer Lehrer, Anspielung auf „Popo“, Gesäß = Züchtigung in Schule
Dr. Leo Blumenkohl
komischer jüdischer Name; seine Krankheit wuchert wie Blumenkohl
Anton K. Ferge
dt-russischer Patient, Ferge = Fährmann (in die Unterwelt; Charon)
Ferdinand Wehsal
jämmerlicher und duldsamer Patient, masochistische Züge
Sonnenschein
jüdischer Patient
Leila Gerngroß
„die arme kleine Gerngroß“, junge Patientin, die stirbt und nicht „groß“ werden darf; leila = hebr. Nacht
Adriatica von Mylendonck
Oberin im Sanatorium, spöttische Form der Adels-Tradition