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Aktuelle Themen 490
Obamas Gesundheitsreform
Themen international
10. August 2010
Mehr Versicherungsschutz, höhere Kosten
Nach langem zähen Ringen um die Neuordnung des amerikanischen
Gesundheitssystems konnte Präsident Obama dem historischen Vorhaben Ende März endlich mit seiner Unterschrift Gesetzeskraft verleihen. Für die USA ist dies die größte Reform im Gesundheitswesen seit der
Einführung von Medicare in den 1960er Jahren. Mit ihr soll ein großer Kreis der
derzeit nicht versicherten US-Bürger in das System einbezogen und, wenn auch
in geringerem Maße, die Kostenkontrolle verbessert und die Qualität der medizinischen Leistungen erhöht werden.
Durch die Ausweitung des Krankenschutzes, für die in der ersten
Zehnjahresperiode Gesamtkosten von brutto USD 938 Mrd. veranschlagt werden, soll die Zahl der unversicherten Amerikaner bis
2019 um schätzungsweise 32 Millionen gesenkt werden . Gegen Ende
des Jahrzehnts wären dann nahezu 95% der US-Bürger krankenversichert, deutlich mehr als heute 83%. Hierfür werden der Zugang zu den öffentlichen Versicherungsprogrammen erleichtert, eine Versicherungspflicht eingeführt und staatliche Versicherungsbörsen in den einzelnen Bundesstaaten eingerichtet, an denen geförderte Policen erworben werden können. Zudem werden zahlreiche Regeln zugunsten der Versicherungsnehmer geändert. So dürfen Versicherer zum
Beispiel keine Personen mit Vorerkrankungen mehr abweisen.
Schätzungen des Congressional Budget Office zufolge könnte das
US-Staatsdefizit dank der Gesundheitsreform um USD 143 Mrd. in
der ersten Dekade sinken. Für das nachfolgende Jahrzehnt kalkuliert das
Autor
Amy Medearis
amy.medearis@comcast.net
Editor
Klaus Deutsch
+49 30 3407-3682
klaus.deutsch@db.com
Publikationsassistenz
Judith Runge
Deutsche Bank Research
Frankfurt am Main
Deutschland
Internet: www.dbresearch.de
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Fax: +49 69 910-31877
DB Research Management
Thomas Mayer
Haushaltsbüro dann mit defizitreduzierenden Effekten von bis zu 0,5% des BIP.
Finanziert werden die Mehrausgaben für neue Versicherte durch Steuererhöhungen und kostensenkende Maßnahmen, etwa durch eine Verbrauchssteuer auf
teure Policen, einen erhöhten Medicare-Beitragssatz für wohlhabende Amerikaner, Strafzahlungen für Unversicherte und Unternehmen, die ihren Mitarbeitern
keinen Krankenschutz anbieten, sowie niedrigere Vergütungssätze für MedicareLeistungserbringer. Einige dieser Maßnahmen zur Gegenfinanzierung der Reform
dürften politisch jedoch nur schwer durchsetzbar sein, wodurch sich die Nettobelastung erhöhen könnte.
Schwachstellen weist die Reform hingegen im Hinblick auf ihre kostendämpfende Wirkung auf. Es steht daher nicht zu erwarten, dass ein weite-
rer Anstieg der Ausgabenquote von derzeit mehr als 17% des BIP verhindert
werden kann. Zwar enthält das Gesetz durchaus eine Reihe von Maßnahmen,
die geeignet scheinen, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu bremsen,
allerdings wird sich deren Wirkung nur langsam entfalten und relativ begrenzt
bleiben. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung kann die Reform daher nur ein erster
Schritt auf dem Weg zu mehr Kostenkontrolle sowie besserer Effizienz und Qualität der Versorgung sein. Weitere Schritte müssen folgen. Denn ohne wirksame
Kostenregulierung im Gesundheitsbereich wird das US-Staatsdefizit auf lange
Sicht immer weiter steigen.
Aktuelle Themen 490
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10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Die großen staatlichen Versicherungsprogramme
Medicare
Das Versicherungsprogramm wurde 1965 ins
Leben gerufen und steht jedem Bürger ab 65
Jahren und jüngeren Berechtigten mit bestimmten Behinderungen offen. 2008 waren
14,3% der US-Bevölkerung über Medicare
versichert (Census 2009). Das Programm
umfasst mehrere Versicherungsarten:
Teil A (Krankenhausversicherung) deckt die
stationäre Behandlung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ab (ohne Langzeitpflege).
Ebenfalls im Leistungsumfang enthalten ist
die Hospiz- und in begrenztem Umfang auch
die Hauspflege von bestimmten Patientengruppen. Finanziert wird Teil A in der Hauptsache durch einen Sozialversicherungsbeitrag
von 2,9% auf den Arbeitslohn, der je zur
Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber
getragen wird. Die meisten MedicareBerechtigten müssen für Teil A keine Prämien
entrichten, wenn entweder sie oder der Ehepartner während der Erwerbstätigkeit Beiträge
eingezahlt hat.
Teil B (ergänzende Krankenversicherung)
deckt die ärztliche und ambulante Behandlung
ab. Zum Leistungsumfang gehören für notwendig erachtete medizinische Leistungen,
die nicht unter Teil A fallen, darunter verschiedene physio- und ergotherapeutische
Gesundheitsleistungen, Labor- und Röntgenuntersuchungen und einige häusliche Pflegedienstleistungen. Die meisten Versicherten
zahlen einkommensabhängige Monatsbeiträge, mit denen die Kosten zu 25% finanziert
werden können.
Medicare Advantage, auch unter der Bezeichnung Medicare Teil C bekannt, eröffnet Versicherten die Möglichkeit, eine private Zusatzversicherung für Leistungen abzuschließen,
die nicht durch Medicare Teil A und B abgedeckt werden, wie etwa augen- und zahnärztliche Behandlungen. Ursprünglich wurde Teil
C konzipiert, um die Kosten zu senken. Die
schrittweise Einführung von Mindestvergütungssätzen, mit denen vor allem für die
ländlichen Gebiete Versicherer gewonnen
werden sollten, hat jedoch im vergangenen
Jahrzehnt genau das Gegenteil bewirkt. 2009
lagen die Vergütungssätze pro Versicherten
im Schnitt bei 114% der traditionellen
Medicare-Vergütungssätze.
Teil D (Prescription Drug Plan) ist 2003 unter
der Bush-Regierung in Kraft getreten und
erlaubt Medicare-Versicherten, einen Teil der
Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente zu versichern. Die Finanzierung erfolgt
zum Teil über Prämien (weniger als ein Viertel).
10. August 2010
Hintergrund: Der lange steinige Weg zur Reform
„This legislation will not fix everything that ails our health care system. But it moves us decisively in the right direction. This is what
change looks like.“ – Präsident Obama in seiner Rede vom 21. März
2010 anlässlich der Verabschiedung der Gesundheitsreform durch
das US-Repräsentantenhaus.
Nach über einem Jahr heftiger Debatten und politscher Machtkämpfe stimmte der US-Kongress schließlich mit knapper Mehrheit der
historischen Neuordnung des amerikanischen Gesundheitswesens
zu. Ende März verlieh Präsident Obama dem Vorhaben dann mit
seiner Unterschrift Gesetzeskraft. Damit wird ein Großteil der derzeit
rund 50 Millionen Nichtversicherten in den Versicherungsschutz
einbezogen und die überwiegende Mehrheit der US-Bürger erstmals
der Versicherungspflicht unterliegen. Zudem werden zahlreiche
neue Regelungen für das Versicherungswesen eingeführt. Für die
USA ist dies der größte sozialpolitische Umbruch seit den 1960er
Jahren.
Eine Reform des US-Gesundheitswesens ist überfällig. Denn obwohl die USA deutlich mehr Geld für Gesundheit ausgeben als jedes andere Land (Schätzungen zufolge USD 2,5 Bill. im Jahr 2009),
steht die Gesundheit der Bevölkerung nicht in angemessener Relation zu den hohen Ausgaben. So machen die US-Gesundheitsausgaben über 17% des BIP aus und sind damit deutlich höher als
der OECD-Schnitt von etwa 9%. Nichtsdestotrotz liegen die USA
bei den typischen Indikatoren für die Volksgesundheit wie Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit im Vergleich zu anderen Industrieländern im hinteren Drittel. Ohne Reformen würden die
Gesundheitskosten in den nächsten Jahren noch weiter in die Höhe
schnellen und wären für den Staatshaushalt nicht länger tragbar.
Hinzu kommt, dass immer mehr US-Bürger überhaupt nicht krankenversichert sind. Die im neuen Gesetz vorgesehene weitgehende
Einbeziehung dieser Personen in den Versicherungsschutz wird
folglich für mehr Gleichheit bei der Gesundheitsversorgung sorgen.
Da durch den hohen Anteil an Nichtversicherten zudem ungedeckte
Kosten in beträchtlicher Höhe entstehen, dürfte die Reform – sowohl
direkt als auch indirekt – wirtschaftlichen Nutzen generieren. Dieser
könnte sogar noch deutlich höher ausfallen, wenn die Ineffizienzen
im US-Gesundheitssystem nachhaltiger bekämpft würden.
Genau hier liegt aber die eigentliche Herausforderung. Zwar bringt
die US-Gesundheitsreform einen bedeutenden Durchbruch bei der
Ausweitung des Versicherungsschutzes, die Ineffizienzen im System
werden jedoch nicht nachdrücklich genug angegangen, noch wird
genug zur Kostendämpfung getan. Zumindest zum Teil liegt dies an
dem Druck, mit dem sich mächtige Interessengruppen im Gesundheitswesen (die großen Lobbyistenverbände in den USA vertreten
die Senioren, Kliniken, Pharmaindustrie und Ärzte) einer weitreichenderen Neuordnung des komplexen Systems widersetzen, von
dem nahezu alle Akteure profitieren. Weder in der Öffentlichkeit
noch seitens der Politik besteht zudem sonderliches Interesse an
der Umstellung auf ein (gesetzliches) „Single-Payer―-System. Auch
die großen Fehlanreize im US-Gesundheitswesen wurden bei der
Reform kaum angepackt: Die Steuerbefreiung von arbeitgebervermittelten Versicherungsplänen und die Einzelleistungsvergütung, die
Quantität statt Qualität entlohnt. Tatsächlich geben die Amerikaner
einer „All-you-can-eat―-Gesundheitsvorsorge den Vorzug und stehen
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Aktuelle Themen 490
Medicaid
Medicaid steht nur Einzelpersonen und Familien mit geringem Einkommen offen, die die
von Bund und Bundesstaaten festgelegten
Zugangsbedingungen erfüllen. Die allgemeinen Richtlinien für den Versicherungsschutz
werden zwar vom Bund vorgegeben, die
Verwaltung obliegt jedoch den Bundesstaaten. Sie entscheiden über den berechtigten
Personenkreis sowie Art und Umfang der
Leistungen. 2008 waren 14,1% der USBevölkerung über Medicaid versichert
(Census 2009).
Durchschnittlich 57% der Kosten für die Behandlung von Medicaid-Patienten werden
vom Bund getragen, 43% von den Bundesstaaten. Schätzungen des CBO (2009) zufolge lagen die gesamten staatsfinanzierten
Ausgaben für Medicaid 2009 bei USD 255
Mrd. Einige Einzelstaaten verlangen für bestimmte medizinische Leistungen geringfügige
fixe Zuzahlungen von den Versicherten.
Children’s Health Insurance Program
(CHIP)
Seit 1997 übernimmt CHIP unter der Verwaltung der Centers for Medicare and Medicaid
Services die gesundheitliche Fürsorge von
nahezu 10 Millionen Kindern und Schwangeren. 2009 wurde die Finanzierung des Programms mit dem Children's Health Insurance
Program Reauthorization Act (CHIPRA) bis
2013 sichergestellt. Ebenso wie Medicaid wird
CHIP sowohl aus Mitteln des Bundes als auch
der Bundesstaaten finanziert. Hierzu stellt der
Bund bis zu einer bestimmten Obergrenze
Mittel zur Verfügung – 2009 waren dies USD
16 Mrd. – die dann von den Bundesstaaten
um den gleichen Betrag aufgestockt werden.
Auch für CHIP werden die Mindestanforderungen vom Bund vorgegeben und durch die
Staaten in Hinblick auf Ausgestaltung, berechtigte Personenkreise, Leistungsumfang, Zugangsbedingungen, Verwaltung und Betrieb
weiter konkretisiert.
Soldaten und Veteranen
Mehr als 9,2 Millionen aktive und ehemalige
Angehörige des Militärs der Vereinigten Staaten und deren Familienangehörige sowie
berechtigte Veteranen sind über diverse
Programme gegen das Risiko von Krankheit
abgesichert. Die größten Erbringer von
Gesundheitsleistungen für das Militär sind das
US-Verteidigungsministerium (für alle aktiven
und ehemaligen Angehörige des US-Militärs
und deren berechtigte Familienangehörigen)
und das Department of Veterans Affairs (für
alle Veteranen und deren berechtigte Familienangehörigen). Die Zugangsbedingungen,
Leistungskataloge und Finanzierungsstrukturen sind je nach Programm unterschiedlich
ausgestaltet.
Quelle: Centers for Medicaid and Medicare Services
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Managed-Care-Konzepten ablehnend gegenüber. Deshalb fanden
zahlreiche erfolgversprechende Kostensenkungs-Konzepte, auch
solche namhafter Gesundheitsökonomen, keinen Eingang in das
Reformpaket. Denn sie hätten zu einer radikalen Umkehr im USGesundheitswesen geführt (z.B. Einführung eines „Single-Payer―Systems, Vergütung für Qualität statt Quantität, Abschaffung der
steuerlichen Vorteile bei arbeitgebervermittelten Versicherungsprogrammen). Trotz allem ist die Reform ein Schritt zu mehr Kostenkontrolle und stellt eindeutig eine Verbesserung gegenüber dem
untragbaren Status quo dar.
Der Verabschiedung des Gesundheitspakets ging eine regelrechte
politische Achterbahnfahrt voraus. Während des Wahlkampfes 2008
konnte Obama breite Teile der Bevölkerung und Politiker aller Parteien für seinen Plan einer grundlegenden Gesundheitsreform gewinnen. Letzten Sommer begann die Unterstützung dann jedoch
aus verschiedenen Gründen zu bröckeln. Zwar sind sich die meisten
Amerikaner nach wie vor einig, dass das Gesundheitssystem der
Vereinigten Staaten vor grundlegenden Herausforderungen steht,
mit ihrer persönlichen Versicherungssituation ist die überwiegende
Mehrheit aber durchaus zufrieden. So zeigte sich die Bevölkerung
gespalten bei der Frage, ob eine weitreichende Reform, wie sie von
Präsident Obama und den Demokraten im Kongress angestrebt
wurde, tatsächlich zu einer Verbesserung der eigenen Gesundheitsvorsorge führen würde. Kritik wurde laut, andere wichtige innenpolitische Themen, insbesondere die Schaffung von Arbeitsplätzen,
würden zugunsten der Gesundheitsvorsorge zurückgestellt.
Gleichzeitig prangerten die oppositionellen Republikaner die Reform
als „sozialistisches― Vorhaben an, mit dem ein Sechstel der Volkswirtschaft in Staatshand gebracht werden solle. Womit allgemein die
Sorge wuchs, infolge von „Obamacare― könnten Steuern, Prämien
und das Haushaltsdefizit steigen. Skepsis und Bedenken in der
Bevölkerung, der Widerstand der Tea-Party-Bewegung gegen die
Reform und der politische Einfluss von Interessengruppen, die sich
gegen einen grundlegenden Umbau des Gesundheitssystems aussprachen, all dies führte dazu, dass die öffentliche Meinung in den
entscheidenden letzten Monaten der Debatte leicht zu Ungunsten
der Reform kippte.
Dennoch versuchten die Demokraten weiterhin ihr Reformvorhaben
im Kongress durchzusetzen. Nach monatelangen Beratungen und
Verhandlungen verabschiedeten schließlich beide Kammern des
Kongresses Gesetzesentwürfe: Das Repräsentantenhaus am 7.
November 2009 mit 220 zu 215 Stimmen und der Senat am 24.
Dezember mit 60 zu 40 Stimmen, genau jener Drei-FünftelMehrheit, mit der eine prozedurale Blockade durch die Republikaner
verhindert werden kann. Anfang Januar 2010 trafen sich dann erstmals die Spitzenvertreter von Repräsentantenhaus und Senat, um
im Rahmen von informellen Gesprächen einen Kompromissentwurf
auszuhandeln. Insbesondere bei der Finanzierung des erweiterten
Krankenschutzes durch höhere Einnahmen war man sich bereits
nähergekommen. Doch dann fanden die Gespräche ein vorzeitiges
Ende, als der Republikaner Scott Brown die Nachwahl für einen
Senatorenposten im US-Bundestaat Massachusetts für sich entscheiden konnte und die Demokraten im Senat damit nicht mehr
über die nötige 60-Stimmen-Mehrheit zur Durchsetzung wichtiger
Gesetzesvorhaben verfügten.
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Diese Niederlage kam für die Demokraten völlig unerwartet. In den
Monaten Februar und März stand die Gesundheitsreform dann wiederholt vor dem Aus. Anders als ihm von manchem seiner Berater
nahegelegt wurde, setzte Präsident Obama jedoch nicht auf einen
Kurswechsel und ein deutlich abgespecktes Maßnahmenpaket,
sondern zeigte zuletzt massiven Einsatz in der Debatte und überzeugte schließlich die Spitzenvertreter der Demokraten im Kongress
davon, trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisse eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems mitzutragen. Um das Gesetz durchzubringen, griff man zum sogenannten „Reconciliation―Verfahren, das eigentlich für budgetrelevante Gesetzesänderungen
vorgesehen ist. Statt der normalerweise erforderlichen 60 Stimmen
reichte nun die einfache Mehrheit, um die notwendigen Änderungen
an dem vom Senat beschlossenen Reformpaket zu verabschieden.
Wenig Rückhalt in der
Bevölkerung
Sind Sie für oder gegen die von
Kongress und Regierung
verabschiedete Gesundheitsreform?
46%
50%
Dafür
Dagegen
Quelle: Umfrage der Washington Post-ABC News
vom 23.-26. März 2010
1
Die vorliegende Studie will einen Überblick über das US-Gesundheitssystem und seine zentralen Probleme vermitteln, die Eckpunkte
der Reform erläutern und deren Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und den US-Haushalt bewerten. Die Analyse erfolgt aus
makroökonomischer Perspektive. Im Vordergrund steht dabei die
Frage, ob die im Reconciliation Act enthaltenen kostendämpfenden
Maßnahmen geeignet sind, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu bremsen, die aus heutiger Sicht größte längerfristige Bedrohung für den US-Haushalt.
Sorge wegen des Defizits
Wird Ihrer Meinung nach die
Gesundheitsreform das Defizit erhöhen,
senken oder nicht verändern?
5%
16%
Überblick über das US-Gesundheitssystem
14%
65%
Erhöhen
Senken
Keine Veränderung
Weiß nicht
Quelle: Umfrage der Washington Post-ABC News
vom 23.-26. März 2010
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Die meisten Amerikaner sind über
ihren Arbeitgeber
krankenversichert …
10. August 2010
Aber selbst das erwies sich als schwierig. Schlussendlich hat sich
aber das äußerst riskante politische Manöver von Präsident Obama
ausgezahlt. Am 21. März nahm der Gesetzesentwurf des Senats die
entscheidende Hürde im Repräsentantenhaus und am 25. März
billigten dann beide Kammern des Kongresses die „Reconciliation
Bill―. Ob sich die Reform langfristig politisch (und ökonomisch) auszahlt, hängt nun davon ab, inwieweit es Regierung und Kongress
gelingt, die Öffentlichkeit von dem umstrittenen Maßnahmenpaket
zu überzeugen.
Gesundheitsausgaben werden in den USA sowohl von öffentlichen
Krankenversicherungssystemen als auch von einem privaten Versicherungsmarkt getragen. 2008 steuerten die privaten Krankenversicherungen mit 52,7% etwas mehr als die Hälfte zu den Kosten bei.
47,3% wurden vom Staat bezahlt, wovon 34,9% auf den Bund und
12,4% auf die Bundesstaaten und Gemeinden entfielen (CMS,
2010a). Der staatliche Anteil liegt damit deutlich unter dem Schnitt
der OECD. Anders als in den OECD-Staaten, wo meist ein universaler Krankenschutz greift, kommt in den USA jedoch nur ein verhältnismäßig kleiner Bevölkerungskreis in den Genuss einer öffentlichen
Krankenversicherung (Einkommensschwache, Senioren und
Schwerbeschädigte). Die großen staatlich finanzierten Programme
sind Medicare (für Senioren über 65), Medicaid (für Einkommensschwache und Schwerbehinderte) und CHIP, das Children’s Health
Insurance Program für Kinder. Die meisten Gesundheitsleistungen
werden von privaten Einrichtungen erbracht, und das obwohl nahezu die Hälfte der Kosten durch den Staat finanziert wird.
Den jüngsten Zahlen zufolge waren im Jahr 2008 66,7% der Amerikaner privat, 58,5% über den Arbeitgeber und 8,9% über eine private Direktpolice versichert. 29% nahmen eine staatliche Gesundheitsfürsorge in Anspruch und 15,4% waren gar nicht versichert (Census
2009).
5
Aktuelle Themen 490
Versicherungsschutz nach
Typ, 2008
%
Nicht versichert
Militär
Medicaid
Medicare
Staatl. insgesamt
Direktversicherung
Versicherung durch
den Arbeitgeber
Privat insgesamt
0
20
40
60
80
3
Quelle: US Census Bureau
… aufgrund steigender Kosten bieten
jedoch manche Unternehmen inzwischen keinen Versicherungsschutz
mehr an
Dass der arbeitgebervermittelte Krankenschutz in den USA eine
1
derart große Rolle spielt, hat vor allen Dingen historische Gründe ,
aber auch die Steuergesetzgebung hat einen Beitrag geleistet. So
sind durch den Arbeitgeber erbrachte Versicherungsleistungen
steuerfrei. Politischen Rückenwind erhält die arbeitgeberseitig organisierte Versicherung zudem von den Gewerkschaften, wohl auch
weil viele Gewerkschaftsmitglieder, zum Beispiel in der Industrie,
von den großzügigen Versicherungsplänen ihrer Unternehmen profitieren. Der Kostenanstieg bei den Prämien in den vergangenen
Jahren hat jedoch vor allem bei kleinen Unternehmen zu einer Erosion der arbeitgeberseitigen Versicherung geführt, auch wenn nach
wie vor die Mehrheit der Amerikaner unter 65 Jahren über den Arbeitgeber versichert ist. Viele Firmen bieten inzwischen keine Versicherungsprogramme mehr an bzw. beschäftigen zunehmend Teilzeitangestellte, für die kein Krankenschutz erforderlich ist. Gleichzeitig ist die Zahl der nicht versicherten US-Bürger gestiegen, trotz
Ausweitung des staatlichen Versicherungsschutzes (und des stetig
steigenden Anteils der öffentlichen Hand an den Gesundheitsausgaben). Und immer mehr Familien geraten aufgrund der hohen
Prämien und Eigenleistungen in finanzielle Schwierigkeiten.
Das relativ unübersichtliche Stückwerk aus öffentlicher und privat
finanzierter Krankenversicherung (mit Nichtversicherung) macht das
Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten zu einem komplizierten
Gebilde, das einen erhöhten Verwaltungsaufwand erfordert und nur
schwer zu reformieren ist.
Schwachstellen des Systems
Anteil der Nichtversicherten
% der Gesamtbevölkerung
16,0
1. dem unzureichenden Krankenschutz,
15,5
2. stetig steigenden Kosten und
15,0
3. der uneinheitlichen Versorgungsqualität.
14,5
14,0
13,5
13,0
12,5
99 00 01 02 03 04 05 06 07 08
4
Quelle: US Census Bureau
Nichtversicherte nach
Alter, 2008
%
35
30
25
20
15
10
5
0
< 18 18 – 25 – 35 – 45 – 65 >
24
34
44
64
Quelle: US Census Bureau
6
Das US-Gesundheitssystem steht vor einer dreifachen Herausforderung:
Unzureichender Krankenschutz
In den USA leben unverhältnismäßig viele Menschen ohne Krankenversicherung, und das obwohl es eines der reichsten Länder der
Welt ist. 2008 waren es 46,3 Millionen. Knapp ein Sechstel der Bevölkerung unter 65 Jahren war damit ohne Schutz im Krankheitsfall
(Census 2009). Ihre Zahl wäre noch deutlich höher, wenn Personen,
die im Jahresverlauf eine Versicherungslücke aufweisen, als
Unversicherte in den Statistiken auftauchen würden. Stattdessen gilt
jeder, der nur einen Teil des Jahres über einen Krankenschutz verfügt, als versichert. Ein hoher Prozentsatz der Nichtversicherten
sind Kinder. 2008 waren 7,3 Millionen, oder 9,9%, der Kinder unter
18 Jahren nicht krankenversichert.
Anders als bei einem universalen Single-Payer-System bleiben bei
einem vielschichtigen Gebilde wie dem US-Gesundheitssystem
viele Menschen ohne Krankenschutz. Betroffen sind all jene, die
weder über den eigenen noch über den Arbeitgeber eines Familienangehörigen versichert sind, jene, deren Alter, Einkommen oder
Schwerbehinderungsgrad sie nicht für Medicare oder Medicaid qualifiziert sowie jene, die sich keine private Police leisten können, aber
auch die risikobereiten Gruppen (für gewöhnlich die Jungen und
Gesunden), die sich gegen eine Krankenversicherung entscheiden.
1
5
Während des Zweiten Weltkrieges standen die Löhne unter staatlicher Kontrolle.
Dies veranlasste viele Arbeitgeber dazu, ihren Angestellten Gesundheitsleistungen
anstelle von Lohnerhöhungen zu gewähren.
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Nichtversicherte nach
ethnischer Herkunft, 2008
%
35
30
25
20
15
10
5
0
Weiße
(außer
Hispanos)
Schwarze
Asiaten
Hispanos
(alle
Ethnien)
Quelle: US Census Bureau
6
Die Erosion des Krankenschutzes in den vergangenen drei Jahrzehnten ist zu mehr als die Hälfte auf die zunehmende Kostenbelastung zurückzuführen. Die Zahl der Nichtversicherten ist vor allen
Dingen deshalb so stark gestiegen, weil immer weniger Amerikaner
in der Lage sind, die extrem hohen Prämien zu bezahlen, und viele
Unternehmen ihren Angestellten keinen Versicherungsschutz mehr
anbieten wollen oder können. Seit Beginn der 1980er Jahre ist die
Zahl der unter 65-Jährigen, die über ihren Arbeitgeber versichert
sind, um nahezu zehn Prozentpunkte zurückgegangen, von 73% im
Jahr 1983 auf 63%. Die hohen Versicherungskosten haben viele
Firmen dazu veranlasst, die Versicherungsprogramme für ihre Mitarbeiter entweder ganz zu streichen oder mehr Teilzeitangestellte
und Zeitarbeiter zu beschäftigen. Selbst große Konzerne, die für
ihre aktiven und pensionierten Angestellten früher großzügige Versicherungspläne bereitstellten, mussten diese zurückfahren, um wett2
bewerbsfähig zu bleiben.
Ohne Reform würde die Zahl der Unversicherten folglich in den
nächsten Jahren rasant steigen, auf schätzungsweise 54 Millionen
im Jahr 2019. Zwar ist die Zahl der Kinder, die über keinen Krankenschutz verfügen, von 11% in 2007 auf 9,9% in 2008 gesunken,
zu verdanken war dies jedoch ausschließlich dem im Konjunkturprogramm 2009 beschlossenen Ausbau des staatlichen Kinderprogramms CHIP. Für die Jahre 2009 und 2010 erwartet die Mehrheit
der Experten einen weiteren sprunghaften Anstieg, da viele Amerikaner während der Rezession ihre Arbeit verloren haben und damit
nicht länger über ihren Arbeitgeber versichert sind.
Nichtversicherte nach
Einkommen, 2008
USD 1.000
30
25
20
15
10
5
0
<25.000 25.000 - 50.000 - 75.000
49.999 74.999 oder >
Quelle: US Census Bureau
Untersuchungen belegen jedoch, dass die Mehrheit der Unversicherten dies nicht aus eigener Entscheidung tut. Vor allem einkommensschwache Bevölkerungskreise haben keine Krankenversicherung. So wiesen 48% der Haushalte, deren Einkommen weniger
als das doppelte der staatlichen Armutsgrenze (ca. USD 40.000)
betrug, im Jahresverlauf 2007 Versicherungslücken auf (OECD,
2008). Überproportional vertreten sind hier auch junge Erwachsene
und Farbige (vor allem Hispanos, unter denen viele illegale Einwanderer sind).
7
Fehlender Krankenschutz führt zu
hohen verdeckten Kosten
Der unzureichende Krankenschutz gefährdet nicht nur die Gesundheit des Einzelnen, sondern ist auch ein zusätzlicher Belastungsfaktor für die persönlichen und öffentlichen Finanzen. Wer keine Krankenversicherung hat wird Vorsorgeuntersuchungen möglicherweise
nicht wahrnehmen und Behandlungen hinauszögern, selbst wenn er
an einer schweren Erkrankung wie Diabetes leidet. Sein gesundheitlicher Zustand wird sich immer weiter verschlechtern, bis Behandlungen in der Notaufnahme eines Krankenhauses unumgänglich
sind. Die ungedeckten Kosten – unbezahlte Leistungen und Rechnungen von Ärzten und Kliniken an Nichtversicherte – werden zu
einem guten Teil vom Bund und den Bundesstaaten erstattet. 2008
waren dies ca. USD 43 Mrd. (Hadley et al., 2008). Hinzu kommen
indirekte Kosten von schätzungsweise USD 100-200 Mrd. pro Jahr
– unter anderem für entstandene Gesundheitsschäden, geringere
Arbeitsproduktivität, Entwicklungs- und Lernstörungen bei Kindern
sowie eine geringere Lebenserwartung (CEA, 2009; Axeen und
Carpenter, 2008).
Es wird davon ausgegangen, dass jedes Jahr über zwei Millionen
Privathaushalte in den USA wegen Rechnungen für medizinische
Leistungen Insolvenz anmelden müssen. Einer Studie der Harvard
2
10. August 2010
Ein bekanntes Beispiel, das Bände spricht: In einem Automobil von General Motors steckt mehr Gesundheitsvorsorge als Stahl.
7
Aktuelle Themen 490
University zufolge waren 2007 in mehr als 62% aller Insolvenzfälle
Krankheiten oder Verletzungen der Auslöser (Himmelstein, 2009).
Während der jüngsten Wirtschaftskrise dürfte sich dieser Anteil weiter erhöht haben. In nahezu 78% der Fälle bestand zu Beginn der
Krankheit sogar eine Krankenversicherung. Oftmals führte diese
dann jedoch zum Verlust von Arbeitsplatz und Krankenschutz.
Tatsächlich kann die arbeitgebervermittelte Krankenversicherung
sogar zu Verzerrungen am Arbeitsmarkt führen. Denn die Arbeitnehmer dürften aus Sorge, ihren Krankenschutz zu verlieren, zögern, eine neue Stelle anzunehmen oder sich selbstständig zu machen. Dieses sogenannte „Job-Lock-Phänomen― wurde von
Gesundheitsökonomen immer wieder kontrovers diskutiert. Dabei
wurde wiederholt die Abkehr von dem derzeitigen arbeitgeberseitigen Modell und die Einführung eines universalen Systems angemahnt (siehe u.a. Endhoven, 2007). In der aktuellen Gesundheitsdebatte konnten sich jedoch verschiedene Interessengruppen, insbesondere die Gewerkschaften, gegen diese Forderung nach einem
radikalen Umbau des arbeitgebervermittelten Systems positionieren.
Stetig steigende Kosten
In den vergangenen Jahrzehnten sind die US-Gesundheitsausgaben in die Höhe geschnellt, von 5,2% des BIP im Jahr 1960
auf schätzungsweise 17,3% im Jahr 2009. Von kurzen Unterbrechungen abgesehen, lag damit die jährliche Zuwachsrate im gesamten Zeitraum durchschnittlich 2,5 Prozentpunkte über dem Verbraucherpreisanstieg (CMS, 2010b).
US-Gesundheitsausgaben
2000-2019
16.000
25
14.000
20
12.000
10.000
15
8.000
10
6.000
4.000
5
2.000
0
00 03 06 09 12 15 18
Pro-Kopf, in USD (links)
% des BIP (rechts)
Quelle: Centers for Medicare and Medicaid Service
8
Zwar hat sich den jüngsten Zahlen der National Health Expenditure
Accounts zufolge der Anstieg der US-Gesundheitskosten von 6,0%
im Jahr 2007 auf 4,4% im Jahr 2008 verlangsamt. Dies lag aber
daran, dass die US-Bürger im Zuge der Rezession zurückhaltender
mit Ausgaben waren, auch bei der Gesundheit.
Während sich im privaten Bereich der Anstieg der Prämien und
Eigenleistungen verlangsamt hat, sind nicht zuletzt wegen der im
American Recovery and Reinvestment Act 2009 beschlossenen
Stimulierungsmaßnahmen die Ausgaben für Medicare und Medicaid
prozentual weiter angestiegen. Insgesamt gaben die Vereinigten
Staaten 2008 USD 2,3 Bill. für Gesundheit aus. Die Pro-KopfAusgaben lagen bei USD 7.681. Damit stieg der Anteil der Gesundheitskosten von 15,9% des BIP im Jahr 2007 auf 16,2% im Jahr
2008. Und die Gesundheitskosten werden weiter wachsen. Die Centers for Medicare and Medicaid Services gehen davon aus, dass sie
bereits 2019 fast USD 4,5 Bill. bzw. USD 13.400 pro Kopf erreichen
könnten (CMS, 2010b).
Finanziert wird das Wachstum der Kosten von den Privathaushalten,
den Arbeitgebern und dem Staat. 2009 gab eine über den Arbeitgeber versicherte vierköpfige Familie durchschnittlich USD 16.771 für
medizinische Leistungen aus, 7,4% mehr als noch im Jahr zuvor.
Fast 59% der gesamten Kosten wurden dabei vom Arbeitgeber in
Form von Zuschüssen zu den monatlichen Prämien übernommen.
Der Arbeitnehmer zahlte ca. 24% über die in der Regel vom Lohn
abgezogene Prämie und weitere 17% über Eigenleistungen (z.B.
Zuzahlungen und Selbstbehalte).
Auf lange Sicht ist der Kostenanstieg bei den Gesundheitskosten
eindeutig untragbar. Ohne Reformen werden die Ausgaben in den
kommenden Jahren förmlich explodieren. Sowohl für die privaten
Haushalte als auch für den öffentlichen Sektor wäre die Kostenbelastung enorm; in beiden Bereichen müssten andere Ausgaben
8
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Wie Kostenbeteiligung funktioniert
Prämie: Der Beitrag, der in der Regel monatlich als Gegenleistung für den Versicherungsschutz zu zahlen ist. Wird die Krankenversicherung durch den Arbeitgeber vermittelt,
übernimmt dieser einen Teil der Prämie. Der
verbleibende Teil wird dem Arbeitnehmer
jeden Monat vom Lohn abgezogen.
„Co-Payment“: Ein vorgegebener Festbetrag, den der Versicherte für medizinische
Leistungen zuzahlen muss.
„Co-Insurance“: Ein vorgegebener Prozentsatz, den der Versicherte für medizinische
Leistungen zuzahlen muss. Bei Policen, die
eine „Co-Insurance― vorsehen, werden im
Allgemeinen 80% resp. 70% der Kosten vom
Versicherungsunternehmen getragen und
20% resp. 30% vom Versicherten.
Selbstbehalt: Ein vorgegebener Festbetrag,
der vom Versicherten im Krankheitsfall selber
getragen werden muss, bevor die Versicherung einspringt.
Die Kostenbeteiligung variiert je nach Art des
Krankenschutzes. Bei individuellen Policen
liegt sie für gewöhnlich höher (insbesondere
bei „verbraucherorientierten― Versicherungsplänen mit in der Regel höheren Prämien).
Medicaid-Patienten hingegen müssen nur
einen sehr geringen Teil der Kosten selbst
tragen, Medicare-Patienten einen etwas
höheren, der jedoch im Allgemeinen niedriger
ist als bei individuellen oder arbeitgebervermittelten Policen. So lag die durchschnittliche
Jahresprämie bei der häufigsten Variante der
Krankenversicherung, dem arbeitgebervermittelten „Preferred Provider Plan― bei unter
Vertrag stehenden Leistungserbringern, 2009
für einen Single bei USD 4.824 und für eine
Familie bei USD 13.375. Gegenüber 1999 ist
die Prämie für Familien damit um 131% explodiert. Für die gleiche Versicherungsvariante betrug der Selbstbehalt, von dem Routineuntersuchungen bei Vertragsärzten ausgenommen sind, 2009 im Schnitt etwa USD 634
für eine Familie. Hinzu kamen Zuzahlungen in
Höhe von durchschnittlich USD 20 für jeden
Besuch bei einem unter Vertrag stehenden
Hausarzt und USD 28 für einen Besuch beim
Facharzt. Beinhaltete der Versicherungsschutz eine „Co-Insurance―-Klausel musste
der Versicherte 2009 im Durchschnitt 18% der
Behandlungskosten beim Hausarzt aus eigener Tasche bezahlen. Wurde ein praktischer
Arzt aufgesucht, der nicht dem Netzwerk der
Vertragsärzte angehört, stieg dieser Anteil gar
auf 30-35%, wobei die „Co-Insurance―Bedingungen je nach Leistungsart variieren.
Der Großteil der arbeitgebervermittelten
Versicherungspläne sieht für fortschrittliche
diagnostische Verfahren und ambulante OPs
in der Regel prozentuale Zuzahlungen vor,
während für Notfallbehandlungen meist ein
Festbetrag zu entrichten ist. In aller Regel
enthalten die Versicherungsverträge Höchstgrenzen für die jährliche Kostenbeteiligung
der Versicherten. …
10. August 2010
zugunsten der Gesundheit zurückgestellt werden. Der überparteiliche Rechnungshof des Kongresses (Congressional Budget Office)
geht in seiner jüngsten Langzeitprognose davon aus, dass die
Gesundheitskosten von aktuell 17% des BIP auf 25% im Jahr 2025
anschwellen werden. 2050 würden sie bereits 37% des BIP erreichen und 2082 49% (CBO, 2007). Allein die öffentlichen Ausgaben
für Medicare (ohne Prämienzahlungen der Versicherten) und
Medicaid würden von derzeit 4% auf 7% im Jahr 2025 klettern. Für
2050 prognostiziert das CBO dann einen Anstieg auf 12% und für
2082 gar auf 19%. Etwas weniger pessimistisch fällt die Schätzung
des Aufsichtsgremiums, der Trustees of Medicare and Medicaid,
aus. Sie gehen davon aus, dass sich bei beiden Programmen der
Kostenanstieg in Zukunft verlangsamen wird. Dies führt insbesondere für den langfristigen Horizont zu optimistischeren Prognosen.
Aber auch wenn man günstigere Annahmen als das CBO unterstellt,
würde eine derart hohe öffentliche Ausgabenquote eindeutig jeglichen Rahmen sprengen. Es bestünde also in jedem Fall Handlungsbedarf. So wenig verlässlich diese Prognosen auch sein mögen, machen sie nur allzu deutlich klar, dass die Ausgaben für Gesundheit ohne grundlegende Reformen in Zukunft nicht mehr tragbar wären.
Dass die USA mehr für Gesundheit ausgeben und die Kosten dort
schneller steigen als anderswo hat eine Reihe von Gründen. So
haben die Ausgaben für stationäre und ambulante Krankenhausbehandlungen einen höheren Anteil an den Gesamtkosten als in den
anderen OECD-Ländern. Noch ungünstiger fällt der Vergleich bei
den Verwaltungskosten aus. OECD-Gesundheitsdaten zufolge liegt
zudem das Preisniveau 25% höher als im Schnitt der OECD; vor
allem Krankenhausbehandlungen, Pharmazeutika und Arztbesuche
sind deutlich teurer als in den anderen OECD-Staaten. Außerdem
stehen pro Kopf im Schnitt weniger Ärzte und Krankenhausbetten
zur Verfügung, was die Vermutung nahelegt, dass auch das knappe
Angebot zum Teil preistreibend wirkt. Und obwohl die Amerikaner
seltener zum Arzt gehen und weniger Tage im Krankenhaus verbringen, sind die Nutzungsraten wesentlich höher als anderswo in der
OECD – d.h. mehr Diagnoseverfahren und Tests, insbesondere im
Bereich innovative medizinische Technologien – (OECD 2009).
Gesundheitsökonomen machen daher den medizinisch-technischen
Fortschritt hauptverantwortlich für das rasante Wachstum der USGesundheitsausgaben, wobei vor allem die gegenüber anderen
Ländern deutlich höheren Nutzungsraten innovativer (und teurer)
Diagnoseverfahren und Behandlungsmethoden den Preisdruck erhöhen. Der medizinische Fortschritt lässt die Nachfrage nach innovativen Technologien steigen. Sind sie erst einmal vorhanden, werden neueste Testverfahren, Behandlungsmethoden und Medikamente verstärkt in Anspruch genommen. Mit dem Ergebnis, dass
sich die Kostenspirale weiter nach oben dreht.
Auch mit Blick auf die fortschreitende Entwicklung im medizinischen
Bereich haben die Versicherungen ihre Leistungskataloge erweitert.
Infolgedessen sind die Prämien gestiegen, die durch die Versicherten zu erbringenden Eigenleistungen aber gesunken, was zu einer
höheren Inanspruchnahme von Leistungen (teilweise über das medizinisch Notwendige hinaus) geführt hat. Die extremen Fehlanreize
im US-Gesundheitswesen wurden damit sogar noch verstärkt. Da
sich in den USA die Vergütung der Leistungserbringer (Ärzte und
Krankenhäuser) an der Einzelleistung und nicht an Behandlungsphasen oder am Therapieerfolg orientiert, werden dort mehr diagnostische Verfahren und Tests verschrieben als anderswo; zudem
9
Aktuelle Themen 490
… Bei einem typischen „Preferred Provider
Plan― liegt diese bei im Schnitt USD 2.000 für
einen Single und USD 4.000 für eine Familie.
Seit dem Jahr 2000 ist die Kostenbeteiligung
der Arbeitnehmer an der Gesundheitsversorgung deutlich schneller gestiegen als die
Verbraucherpreise.
Quellen: Kaiser Family Foundation (2009), CBO (2008),
Fronstein (2007).
Kostentreiber im USGesundheitswesen
— Technischer Fortschritt
— Vergütung nach Einzelleistung
— Zu viele Fach-, zu wenige Hausärzte
— Mangelnde Kostentransparenz
— Ärztliche Haftung
— Hohe Verwaltungskosten
Durschnittl. Ausgaben für
med. Leistungen/Familie
USD
18.000
16.000
14.000
12.000
10.000
8.000
6.000
4.000
2.000
0
2005 2006 2007 2008 2009
9
Quelle: Milliman Medical Index (MMI) 2009
Wachstum der Gesundheitsausgaben
% des BIP
60
50
40
30
20
10
0
2007 2021 2036 2051 2066 2081
Sonstige
Medicaid
Medicare
Quelle: Congressional Budget Office
10
10
kommen aufgrund der bestehenden finanziellen Anreize teure
Technologien öfter zum Einsatz. Auch seitens der Versicherer besteht wenig Interesse an Kostensenkungen, schließlich erhalten sie
für arbeitgebervermittelte Versicherungspläne Verwaltungsgebühren, die umso höher ausfallen je mehr die Ausgaben steigen. Und
wie Untersuchungen regionaler Varianzen in der medizinischen Versorgung belegen, trägt auch die größere Facharztdichte zu den
vergleichsweise höheren Kosten bei. Denn Spezialisten greifen eher
zu kostspieligen medizinischen Technologien und verlangen höhere
Honorare als Allgemeinärzte.
Die Versicherten zahlen nur einen geringen (wenn auch wachsenden) Teil der Kosten für ihre medizinische Versorgung aus eigener
Tasche, was im Allgemeinen zur Inanspruchnahme überflüssiger
Leistungen verleitet. 1965 trugen die Verbraucher noch 43% der
Gesamtkosten, über die Jahre ist ihr Anteil dann kontinuierlich gesunken und erreichte 2008 gerade mal noch 11,9%. Zugleich stieg
die Kostenbelastung bei den privaten Versicherern sowie Medicaid
und Medicare überproportional an (de Rugy, 2010). Da die meisten
Policen nur geringfügige Kostenbeteiligungen (in der Regel in Form
von Festbeträgen) vorsehen, werden die Versicherten auch bei ungünstiger Kosten-Nutzen-Analyse nicht auf kostspielige Diagnoseverfahren und Behandlungen verzichten wollen. Und solange die
eigenen Behandlungskosten für den Versicherten mangels Transparenz nicht nachvollziehbar sind, wird die Nachfrage steigen, auch
nach unnötigen Leistungen.
Doch dies sind nicht die einzigen Gründe, weshalb die Gesundheitsausgaben in den USA höher als in anderen Industrieländern
sind. Hinzu kommen noch die rasche Ausbreitung von Schadensersatzprozessen bei ärztlichen Kunstfehlern (die zu steigenden Prämien bei den Berufs-Haftpflichtversicherungen für Ärzte und überflüssigen Tests und Verfahren führen) sowie die vergleichsweise
hohen Arzneimittelpreise und Einkommen amerikanischer Ärzte.
Außerdem zieht das Mischsystem aus unterschiedlichen Versicherungsträgern und Finanzierungsquellen deutlich höhere Verwaltungskosten nach sich. Hierin und in den hohen KrankenhausWiederaufnahmeraten ist auch der Grund zu suchen, weshalb das
US-Gesundheitswesen verglichen mit den Gesundheitssystemen
anderer Länder weniger produktiv ist.
Ein weiterer Kostentreiber ist der demografische Wandel. In Zukunft
werden immer mehr Amerikaner Anspruch auf Medicare (und Langzeitpflege unter Medicaid) haben, wodurch die Kosten steigen werden. Allerdings sollte man dabei nicht außer Acht lassen, dass die
Alterung der Bevölkerung bisher keine wesentliche kostentreibende
Wirkung entfaltet hat. Prognosen zufolge dürfte dies auch in den
nächsten 70 und mehr Jahren so bleiben: Selbst wenn sich die demografische Entwicklung beschleunigen sollte, wäre nur ein geringer Teil des Kostenanstiegs im öffentlichen Gesundheitssektor der
USA auf die Alterung zurückzuführen. Die weitaus größere Gefahr
droht bei überproportionalem Kostenwachstum, d.h. wenn die
durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Person stärker ansteigen als das Pro-Kopf-Einkommen.
Festzuhalten bleibt, dass keineswegs alle der genannten Kostentreiber Negativfaktoren sind. So stehen den Privathaushalten in den
USA und anderen Ländern im Schnitt immer höhere verfügbare
Einkommen und damit mehr Geld für das hochwertige Gut „Gesundheit― zur Verfügung. (Mit anderen Worten: Je reicher ein Land,
desto höher die Nachfrage und der Verbrauch von Gesundheitsleis-
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Ausgabenentwicklung für
Medicare/Medicaid
% des BIP
20
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
07
17
27
37
47
57
67
77
Effekt überproportionales
Kostenwachstum
Effekt Demografie
Ohne überproportionales
Kostenwachstum / Demografie
Quelle: Congressional Budget Office
11
Um die Volksgesundheit ist es in
Ländern mit deutlich niedrigeren
Gesundheitsausgaben besser
bestellt
tungen.) An und für sich ist der Kostenanstieg im Gesundheitswesen, in den USA wie in anderen Industrieländern, eine positive und
natürliche Entwicklung, die uns ein längeres gesünderes Leben
ermöglicht (Cutler, 2004). Das Problem ist demzufolge nicht die
steigende Ausgabenlast im US-Gesundheitswesen, sondern dass
der Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zu den immer höheren Kosten steht.
Ungleichheiten bei Qualität und Effizienz der Versorgung
Wirtschaftswissenschaftler und Politiker würden die zunehmende
Kostenlast wohl weniger als Bedrohung wahrnehmen, wenn sie in
Relation zum Gesundheitszustand der Amerikaner stünde. Doch
lediglich ein Bruchteil des Kostenanstiegs kommt der Volksgesundheit zugute, und die Kosteneffizienz des Systems lässt stark zu
wünschen.
So ist es in den USA in vielerlei Hinsicht schlechter um den
Gesundheitszustand der Bevölkerung bestellt als in anderen Industrieländern, in denen die Gesundheitsausgaben deutlich niedriger
sind. Obwohl die Vereinigten Staaten innerhalb der OECD pro Kopf
mit Abstand am meisten Geld für die Gesundheit ausgeben, ist die
Lebenserwartung bei der Geburt dort in den letzten Jahrzehnten
langsamer gestiegen als in den meisten anderen OECD-Ländern.
Das gleiche gilt für den Anstieg der Lebenserwartung im Alter von
65 Jahren, auch er war verhaltener als im Schnitt der OECD. Zugleich hat die sozial bedingte Ungleichheit der Lebenserwartung
erheblich zugenommen. Und die Säuglingssterblichkeit, ein weiterer
Indikator für die Volksgesundheit, ist in den USA weniger deutlich
zurückgegangen als in anderen OECD-Ländern.
Gesundheitsökonomen zufolge kommt ein extrem hoher Teil der
Ausgaben – bis zu ein Drittel oder nahezu 5% des BIP – nicht der
Verbesserung des Versorgungsniveaus zugute. Positiv betrachtet
kann diese immense Verschwendung Chance und Herausforderung
zugleich sein. Denn hier bietet sich ein riesiges Einsparpotenzial,
ohne dass dabei der Gesundheitszustand der Bevölkerung negativ
beeinflusst würde.
Pro-Kopf Gesundheitsausgaben, 2007
USD KKP
8.000
7.000
6.000
5.000
4.000
3.000
2.000
1.000
0
OECD
US NO CH LU CA NL AT FR BE DE DK IE SE IS AU GB
'06
Privat
FI GR IT ES JP NZ PT KP CZ SK HU PL MX TR
'06
'06
'05
Staat
Quelle: OECD Health Data, 2009
10. August 2010
12
11
Aktuelle Themen 490
Bis zu ein Drittel der USGesundheitsausgaben wird verschwendet
Wie Fachpublikationen belegen, führen höhere Ausgaben nicht
zwangsläufig zu einer besseren Qualität der Versorgung. Innerhalb
der USA bestehen große regionale Diskrepanzen bei den MedicareAusgaben pro Versicherten. Auch von Klinik zu Klinik schwanken
die Kosten stark – ein breites Feld also für die vergleichende For3
schung.
Lebenserwartung bei der Geburt, Gesamtbevölkerung, 2006
In Jahren
84
82
80
78
76
74
72
70
68
HU TR SK MX PL CZ US DK PT KP LU BE FI GB GR DE IR NL AT SE NZ NO CA FR AU ES IS IT CH JP
Quelle: OECD Health Data 2009
Kein regionaler Zusammenhang
zwischen Ausgaben und Qualität der
Versorgung
Regionale Unterschiede
bei den Ausgaben
Anstieg gg. Vorjahr in %
Miami, Florida
East Long Island, New York
5,0
Nationaler Durchschnitt
3,0
Boston, Massachusetts
3,0
San Francisco, Kalifornien
2,4
Salem, Oregon
2,3
4,0
Durchschnittl. jährlicher Anstieg der
Pro-Kopf-Ausgaben für Medicare, 1992-2006
Quelle: Fisher et al., 2009
14
Medicare-Ausgaben
pro Versicherten
Quintil
Stationäre
Aufenthalte,
Tage pro
Versicherten
I
II
III
IV
V
1,4
1,6
1,8
2,1
2,1
Arztbesuche
10,7 12,1 13,0 13,6 14,5
pro Versicherten
MRT* pro
100 Versicherte
16,6 17,6 19,3 19,7 21,9
CT** pro
100 Versicherte
46,9 54,0 58,7 61,2 61,4
* Magnetresonanztomographie
** Computertomographie
Quelle Sutherland et al., 2009
12
Eine im Rahmen des Dartmouth Atlas Project durchgeführte Analyse
der Medicare-Ausgaben nach Regionen und medizinischer Behandlungsart lässt keinen Zusammenhang zwischen der Höhe der Aufwendungen und der Versorgungsqualität in einem Staat erkennen
und widerlegt damit die gängige Ansicht, höhere Ausgaben wirkten
sich grundsätzlich positiv auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung aus. Die Dartmouth-Experten fanden heraus, dass die um lokale Preisunterschiede, Alter, ethnische Herkunft und Volksgesundheit
bereinigten Medicare-Ausgaben um das 2,5-fache schwanken. Dies
ist der Studie zufolge allerdings nicht darauf zurückzuführen, dass in
Gegenden mit höheren Pro-Kopf-Ausgaben die Krankenstände höher waren oder mehr Pflegedienstleistungen beansprucht wurden.
Noch mehr muss aber überraschen, dass der Gesundheitszustand
der Bevölkerung in diesen Regionen keineswegs besser war (Fisher
et. al., 2009).
Tatsächlich kann die Patientenversorgung in Regionen mit hohen
Ausgaben sogar beeinträchtigt sein, da mit der Zahl der behandelnden Ärzte und dem fehlenden Überblick über die Krankengeschichte
auch das Risiko von Fehldiagnosen steigt. Je höher die Betten- und
Fachärztedichte, desto eher wird der Patient in ein Krankenhaus
oder zu einem Spezialisten überwiesen, wodurch zwar die Zahl der
Behandlungen und die Kosten steigen, aber im Schnitt nicht das
Gesundheitsniveau. So ist dem Dartmouth Atlas zufolge die Mortalität in Regionen mit hohen Medicare-Ausgaben bei einer Reihe von
Krankheiten wie akutem Herzinfarkt, Oberschenkelhalsfraktur und
Darmkrebs sogar höher als in Gegenden, in denen Medicare deutlich weniger Geld aufwendet. Wie die Forscher so schön sagen:
―Gehen Sie nur ins Krankenhaus, wenn es absolut sein muss. Es
könnte Sie teuer zu stehen kommen―.
Wie kommt es zu diesen regionalen Unterschieden? Die DartmouthForscher kommen auf Basis der Daten des Medicare Current
Beneficiary Survey zu dem Ergebnis, dass Patienten in den Regionen mit den höchsten Medicare-Ausgaben länger im Krankenhaus
3
15
13
Untersuchungen zufolge fielen z. B. im University California Los Angeles Hospital
für die Gesundheitsvorsorge in den letzten sechs Lebensmonaten fast doppelt so
hohe Medicare-Ausgaben an wie in der Mayo Clinic in Minnesota.
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
bleiben, öfter einen Arzt aufsuchen und mehr Magnetresonanztomografie- (MRT) und Computertomografie-Untersuchungen vornehmen lassen. Hauptursächlich für die regionalen Unterschiede
scheinen also die Ermessensentscheidungen der Ärzte sein. Dies
legt den Schluss nahe, dass sich durch eine Reform der Vergütungs- und Versorgungssysteme viel Geld einsparen ließe, ohne
dass die medizinische Versorgung leiden müsste (Sutherland et al.,
2009).
Eckpunkte der US-Gesundheitsreform 2010
Staatliche Zuschüsse für die
Versicherungsbörsen
Einkommen Einkommen**
Prämie
(in %
(USD)
(% des EinArmutsg.*)
kommens***)
Bis zu 133
Im Folgenden wollen wir einen Überblick über die Kernelemente der
Gesundheitsreform in ihrer endgültigen Fassung geben. Diese umfasst den am 29. Dezember 2009 vom Senat und am 21. März 2010
vom Repräsentantenhaus gebilligten „Patient Protection and
Affordable Care Act― und den am 25. März 2010 von beiden Kammern des Kongresses verabschiedeten „Health Care and Education
Affordability Reconciliation Act―.
29.326
2,1
133-150
29.326-33.075
3,00-4,00
Versicherungspflicht und Zuschüsse
150-200
33.075-44.100
4,00-6,30
200-250
44.100-55.125
6,30-8,05
250-300
55.125-66.150
8,05-9,50
300-400
66.150-88.200
9,5
Das Gesetz sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, mit denen die
Zahl der derzeit unversicherten legalen US-Bürger deutlich reduziert
werden soll. So wird ab 2014 erstmalig eine Versicherungspflicht
(das sogenannte „Individual Mandate‖) eingeführt. Im gleichen Jahr
werden Versicherungsbörsen eingerichtet, an denen Amerikaner, die
keinen anderen Zugang zu einer Krankenversicherung haben, Policen erwerben können. Wer ein niedriges oder mittleres Einkommen
bezieht, nicht über den Arbeitgeber versichert ist und sich über die
Versicherungsbörse eine Krankenpolice suchen muss, soll für die
Prämien Zuschüsse aus staatlichen Steuermitteln bekommen.
Betroffen hiervon sind alle Einzelpersonen und Familien mit einem
Einkommen von 133% bis 400% der staatlich festgelegten Armutsgrenze (aktuell USD 29.326 bis USD 88.200 jährlich). Amerikaner,
deren Einkommen unterhalb 133% liegt, sind zum Bezug von
Medicaid berechtigt. Die Höhe der Prämienzuschüsse ist einkommensabhängig und reicht von 2% für Einkommen von 100% der
Armutsgrenze bis 9,5% für Einkommen von 300-400% (siehe Tabelle). Zahlt ein Arbeitnehmer mehr als 9,5% des Familieneinkommens
für die Prämie bzw. sein Arbeitgeber weniger als 60%, kann auch er
sich über die Börse versichern lassen und einen Zuschuss beantragen. Ab 2019 ist der Anstieg der Zuschüsse an den Verbraucherpreisindex gekoppelt, ab diesem Zeitpunkt liegt ihre Zuwachsrate
damit unter dem geschätzten Anstieg der Gesundheitsausgaben
und Prämien. Oder mit anderen Worten: Die Zuschüsse fallen mit
der Zeit weniger großzügig aus. Das CBO (2010) geht davon aus,
dass die Versicherungsnehmer der Börsen 2015 im Schnitt Zuschüsse von USD 5.200 pro Person erhalten werden, die bis 2019
auf USD 6.000 klettern dürften. Insgesamt würden die Versicherungsbörsen und ihre Finanzierung den Haushalt in der ersten Dekade nach Verabschiedung der Gesundheitsreform (2010-2019) mit
zusätzlichen USD 464 Mrd. belasten.
* Staatliche Armutsgrenze, ** 2010 Poverty Guidelines,
*** von … bis
Quellen: US-Repräsentantenhaus und USGesundheitsministerium
16
Amerikaner mit einem Einkommen
unter USD 88.200 erhalten ab 2014
Zuschüsse
10. August 2010
Um die Ausweitung des Krankenschutzes auf Nichtversicherte voranzutreiben und deren Finanzierung zu ermöglichen, sieht das
Gesetz Strafgebühren für Personen und Unternehmen vor, die sich
der Versicherungspflicht entziehen. Für Personen, die sich gegen
eine Krankenversicherung entscheiden und deren Einkommen
oberhalb der Steuerfreigrenze liegt, wird ab 2014 eine Gebühr fällig.
Bis 2016 steigt diese dann auf mindestens USD 695 oder 2,5% des
Einkommens. Gegenüber dem „Patient Protection and Affordable
Care Act― sind die Strafgebühren im „Reconciliation Act― progressi13
Aktuelle Themen 490
Strafgebühren für Nichtversicherte
In USD
In % des Einkommens
2014
95
1,0
2015
325
2,0
ab 2016
695
2,5
Quelle: US-Repräsentantenhaus
17
Ab 2010 können kleine Unternehmen
erhöhte steuerliche Abzüge geltend
machen, wenn sie ihre Arbeitnehmer
krankenversichern
ver ausgestaltet: Die Festbeträge, durch die vor allem Niedrigverdiener belastet worden wären, wurden deutlich gesenkt, die prozentual vom Einkommen berechneten Strafzahlungen, die Besserverdiener belasten, erhöht. Unternehmen mit mehr als 50 Angestellten
müssen pro vollzeitbeschäftigten Mitarbeiter eine Strafe von USD
2.000 zahlen, wenn sie ihren Arbeitnehmern keinen Krankenversicherungsschutz vermitteln und diese eine staatlich bezuschusste
Police über die Versicherungsbörsen erwerben. Allerdings gilt dies
erst ab dem 31. Mitarbeiter. Mit anderen Worten: Ein Unternehmen
mit 51 Angestellten, das diesen keinen Versicherungsplan anbietet,
muss für 21 Vollzeitbeschäftigte eine Strafe in Höhe von je USD
2.000 zahlen.
Bereits 2010, vier Jahre vor der Einführung von Versicherungsbörsen und Strafgebühren, können kleine Unternehmen erhöhte steuerliche Abzüge geltend machen, wenn sie ihren Arbeitnehmern einen
Krankenversicherungsschutz anbieten. Firmen mit weniger als 25
Vollzeitmitarbeitern dürfen 35% der Prämienzahlungen für ihre Angestellten steuerlich absetzen, nach Einführung der Versicherungsbörsen im Jahr 2014 sogar 50%. Schätzungen des Congressional
Budget Office zufolge wird das Haushaltsdefizit durch diese Steuervergünstigungen im Zeitraum 2010-2019 um weitere USD 40 Mrd.
steigen.
Neuer Versicherungsmarkt für Amerikaner ohne Krankenschutz
2014 öffnen staatlich geführte
Versicherungsbörsen
Ab 2014 sollen in jedem der 50 US-Bundesstaaten staatlich kontrollierte Versicherungsbörsen eingerichtet werden, an denen bis dahin
unversicherte Einzelpersonen und Kleinunternehmen Policen erwerben können. Ob sie diese Einzel- und Kleingruppenversicherungen über dieselbe oder zwei getrennte Börsen anbieten, bleibt den
Einzelstaaten überlassen, ebenso die Entscheidung, ob sie die Börsen allein oder in Kooperation mit einem anderen Bundesstaat betreiben wollen. Außerdem wird das US-Gesundheitsministerium für
jene Staaten, die sich gegen die Gründung einer Börse entscheiden,
eine staatenübergreifende Vermittlungsagentur einrichten. Policen,
die über die Börsen vermittelt (oder direkt beim Versicherer erworben) werden, müssen bestimmten Standards genügen und unterliegen hinsichtlich Verbraucherschutz, Tarifgestaltung und Liquidität
der Kontrolle durch die Versicherungsaufsichtsbehörden in den einzelnen Bundesstaaten. So müssen Versicherer alle Antragsteller
akzeptieren, können niemand aufgrund von Vorerkrankungen den
Versicherungsschutz verweigern oder entziehen und dürfen die
Beiträge nicht erhöhen, wenn sich der Gesundheitszustand des
Versicherten verschlechtert. Der ursprünglich im Gesetzesentwurf
des Repräsentantenhauses enthaltene Plan, über die Versicherungsbörsen auch eine staatliche Krankenversicherung („Public
Option―) anzubieten, wurde wieder verworfen.
Größte Ausweitung des Medicaid-Versichertenkreises seit 1965
Mehr Amerikaner erhalten Zugang zu
Medicaid
14
2014 wird auch der Zugang zu Medicaid erleichtert. Ab dann sind
nahezu alle Personen unter 65 Jahren und einem Einkommen von
weniger als 133% der staatlichen Armutsgrenze (USD 29.327 für
eine vierköpfige Familie) teilnahmeberechtigt, selbst kinderlose Geringverdiener, denen derzeit noch in den meisten Bundesstaaten der
Zugang verwehrt bleibt. Damit Ärzte die Behandlung dieser neuen
Medicaid-Patienten nicht verweigern, werden die Honorare für am
Programm teilnehmende Hausärzte 2013 und 2014 schrittweise auf
das Medicare-Niveau angehoben. Bis Ende 2016 werden sowohl
die Erhöhung der Vergütungssätze für Medicaid-Hausärzte als auch
die Ausweitung auf einen größeren Versichertenkreis vollständig
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
vom Bund finanziert. Die leeren Kassen der US-Bundesstaaten
werden bis zu diesem Zeitpunkt also gar nicht und in den nachfolgenden Jahren nur geringfügig belastet. Denn noch bis 2019 übernimmt der Bund für die meisten Einzelstaaten ca. 90% der zusätzlichen Kosten, wobei der Anteil von Jahr zu Jahr leicht variiert (derzeit zahlt der Bund im Schnitt ungefähr 57% der MedicaidLeistungen). Für die derzeit über Medicaid versicherten Erwachsenen müssen die Bundesstaaten den bestehenden Krankenschutz
solange aufrechterhalten, bis die neu eröffneten Versicherungsbörsen den Betrieb vollständig aufgenommen haben, für über Medicaid
und CHIP versicherte Kinder sogar bis Ende 2015. Zugleich soll ab
2014 der Zuschuss, den der Bund für CHIP-Versicherte leistet, von
derzeit durchschnittlich 70% auf dann 93% steigen. Schätzungen
des CBO zufolge dürften die für Medicaid und CHIP geplanten
Mehrausgaben die öffentlichen Finanzen im Zeitraum 2010-2019 mit
USD 434 Mrd. belasten.
Medicare: Ausbau des Arzneimittel-Versicherungsschutzes,
Kürzungen bei der Vergütung
„Donut Hole“ bei Medicare soll bis
2020 geschlossen werden
Bei der Versicherung nach Medicare Teil D (Prescription Drug Plan)
soll die Lücke in der Erstattung für verschreibungspflichtige Medikamente, das sogenannte „Donut Hole―, schrittweise geschlossen
werden. Nimmt der Versicherte innerhalb eines Jahres über einen
bestimmten Betrag hinausgehende Leistungen in Anspruch, hat er
diese Kosten alleine zu tragen. Erst ab einem deutlich höheren Betrag springt dann der Staat wieder ein und übernimmt 75% der
Arzneimittelkosten. Das Reformgesetz sieht für Medicare-Patienten,
die in diese Lücke hineinrutschen, 2010 eine Rückerstattung in
Höhe von USD 250 vor. Ferner wurde festgelegt, dass Pharmaunternehmen ab 2011 für Markenmedikamente einen Rabatt von 50%
gewähren müssen. Um das „Donut Hole― ganz zu schließen, soll
dieser dann in Stufen bis 2020 auf 75% für Original- und Nachahmermedikamente angehoben werden. Das im Rahmen des
„Reconciliation―-Verfahrens stark erweiterte „Medicare Coverage
Gap Discount Program‖ wird den Staat im Zeitraum 2010-2019
USD 42,6 Mrd. kosten.
Dem gegenüber stehen Einsparungen bei der Medicare-Vergütung,
über die ein Großteil der Reform finanziert werden soll. Die wichtigsten im Überblick:
Scharfe Einschnitte bei den
Medicare-Vergütungen für
Krankenhäuser und Versicherer
— 2011 werden alle im Rahmen der privaten Zusatzversicherung
Medicare Advantage (MA) gezahlten Vergütungen eingefroren.
Im folgenden Jahr sollen dann die Vergütungssätze auf das Niveau der traditionellen Medicare-Versicherungen gesenkt werden. Je nach Region fallen die Kürzungen mehr oder weniger
stark aus. Die Umsetzung soll in mehreren Stufen erfolgen. Für
den Zehnjahreszeitraum wird mit Einsparungen von USD 136
Mrd. gerechnet.
— Die jährlichen Anpassungen der Einzelleistungsvergütungssätze
für stationäre Krankenhausaufenthalte, stationäre Langzeitpflege, stationäre Rehabilitationsmaßnahmen, psychiatrische Klinikaufenthalte und ambulante Behandlungen sollen geringer ausfallen. Im Zehnjahreszeitraum 2010-19 dürfte dies für Einsparungen
in Höhe von USD 196 sorgen.
4
— Ab 2014 werden die DSH-Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser gekürzt, die einen überproportional hohen Anteil von
4
10. August 2010
Krankenhäuser, die einen überproportional hohen Anteil von Geringverdienern
behandeln, erhalten „Disproportionate-Share Hospital― (DSH)-Ausgleichs15
Aktuelle Themen 490
Niedrigverdienern behandeln. Im Zehnjahreszeitraum sollen so
bei Medicare geschätzte USD 22 Mrd. eingespart, bei Medicaid
USD 14 Mrd.
Striktere Kontrolle der Versicherer
Versicherer dürfen Versicherungsschutz nicht mehr verweigern oder
entziehen
Für die Versicherer dürfte sich die Gesundheitsreform als einträgliches Geschäft erweisen. Denn nach Einführung von Versicherungspflicht und Börsen im Jahr 2014 bekommen sie Millionen neuer
Kunden. Im Gegenzug müssen sie eine Reihe neuer Regelungen
zur Kontrolle des Versicherungsmarktes hinnehmen. So darf kein
jährlicher oder auf das gesamte Leben bezogener Höchstbetrag
mehr festgelegt werden, bei dessen Überschreitung keine Erstattung mehr erfolgt. Des Weiteren ist es weder gestattet, kranken
Versicherten den Versicherungsschutz zu entziehen, noch darf er
aufgrund von Vorerkrankungen (Geschlecht, ethnischer Herkunft,
Einkommen etc.) verweigert werden. Und bei neu abgeschlossenen
Policen ist ein Antragsprozess bei einer neuen unabhängigen Kontrollbehörde zu durchlaufen. Für Medicare-Patienten sowie privat
über die Börsen Versicherte sind Vorsorgeuntersuchungen kostenlos, die Versicherungsunternehmen dürfen für Vorsorgeuntersuchungen keine Zuzahlungen oder Selbstbehalte mehr fordern. Diese
Regelung wird ab 2018 auf alle Versicherungspläne ausgeweitet.
Zudem müssen die Versicherer dafür Sorge tragen, dass ein bestimmter Anteil der Prämienzahlungen in Gesundheitsleistungen
und nicht in die Verwaltung fließt. Ab 2011 sind dies 80% bei Einzelund Kleingruppen-Policen und 85% bei Großgruppen-Versicherungsplänen. Um die hohe Zahl junger unversicherter Erwachsener
zu verringern, sind schließlich noch Kinder bis zum Alter von 26
Jahren bei ihren Eltern mitzuversichern.
Finanzierung der Reform
Reform soll durch eine 40%-Steuer
auf Luxuspolicen gegenfinanziert
werden …
Die Finanzierung der Reform erwies sich als einer der größten
Knackpunkte im Gesetzgebungsverfahren. In der Endphase der
Verhandlungen musste dann noch eine Einigung erzielt werden, wie
großzügigere Zuschüsse und ein erweiterter Medicaid-Zugang
durch zusätzliche Kürzungen bei der Medicare-Vergütung (s. vorheriger Abschnitt) und Steuererhöhungen gegenfinanziert werden sollen. Während das Gesetz des Senats hierzu eine Verbrauchsabgabe auf teure Versicherungspolicen vorsah, sollte in der Fassung des
Repräsentantenhauses die Gegenfinanzierung durch eine Reichensteuer erfolgen. Durchgesetzt hat sich schließlich der Vorschlag des Senats. Allerdings wird die neue Steuer auf hochpreisige
Policen nicht, wie im Senatsentwurf vorgesehen, bereits 2013 in
Kraft treten, sondern erst 2018. Zudem wurden die Freibeträge erhöht. Gemäß der endgültigen Fassung sollen nun Versicherungspläne über USD 10.200 für Singles und USD 27.500 für Familien mit
einer 40%-igen Verbrauchssteuer belegt werden, zahlbar durch das
Versicherungsunternehmen oder den Arbeitgeber. Zum Vergleich:
Die Prämienzahlungen für eine arbeitgebervermittelte Versicherung
betrugen 2009 durchschnittlich USD 13.375 und blieben damit deutlich unterhalb des Freibetrags. Zwar liegen bisher keine offiziellen
Schätzungen vor, wie viele Versicherungspläne im Jahr 2018 von
der Verbrauchsabgabe betroffen sein werden, mehr als ein Zehntel
5
dürfte es jedoch nicht sein. Für Rentner, Angestellte in Risikoberu-
5
16
zahlungen. Krankenhäuser sollen auch weiterhin bei der Behandlung dieser Gruppen unterstützen. Sowohl Medicare als auch Medicaid sehen solche Ausgleichszahlungen vor.
Schätzungen des CBO vom November 2009 (CBO, 2009d) zufolge wären bei
Einführung der ursprünglich vom Senat geplanten niedrigeren Freibeträge 19%
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
fen und Unternehmen mit einem hohen Anteil weiblicher und/oder
älterer Arbeitnehmer gelten höhere Freibeträge von USD 11.850 für
eine Single- und USD 30.950 für eine Familienversicherung. Ab
2020 ist der Anstieg der Freibeträge an die Inflationsrate gekoppelt
(2019: Inflation plus 1 Prozentpunkt). Steigen die Prämien schneller
als die Inflationsrate an, fallen jedes Jahr mehr Versicherungspläne
unter die neue Abgabe. Das CBO beziffert die bis 2020 durch die
Verbrauchssteuer generierten Mehreinnahmen auf USD 32 Mrd.
(USD 12 Mrd. in 2018, dem ersten Jahr nach Inkrafttreten, und USD
20 Mrd. in 2019).
… sowie durch massive Steuererhöhungen für Besserverdienende
Um die Steuermindereinnahmen infolge der späteren Einführung
auszugleichen, sieht der Reconciliaton Act verhältnismäßig kräftige
Beitrags- und Steuererhöhungen für Besserverdiener vor. So wird
der Beitragssatz für die Krankenhausversicherung unter Medicare
Teil A für Familien mit einem Arbeitseinkommen über USD 250.000
(und Singles mit einem Arbeitseinkommen über USD 200.000) um
0,9 Prozentpunkte von aktuell 1,45% auf dann 2,35% erhöht. Außerdem wird auf Kapitalerträge eine neue Medicare-Steuer von
3,8% erhoben. Ursprünglich war im Gesetz des Repräsentantenhauses ein höherer Beitragssatz für Medicare Teil A (5,4%) vorgesehen, der jedoch erst ab Arbeitseinkommen über USD 500.000
(USD 1 Mio. für Familien) greifen sollte. Durch die Verbreiterung der
Bemessungsgrundlage sind nun auch die oberen Einkommen und
nicht nur die absoluten Spitzenverdiener betroffen.
Auswirkungen der Reform
Deutlich weniger Nichtversicherte
2019 werden 94% der Amerikaner
krankenversichert sein
Auswirkung auf den
Versicherungsschutz, 2019
Unter 65-Jährige, Mio.
Ohne Reform
Keine
Versicherung
Versicherungsbörsen*
Individuell
und andere
Arbeitgeber
Medicaid/
CHIP
180
160
140
120
100
80
60
40
20
0
Mit Reform
* Ohne Reform keine Börsen
Quelle: Congressional Budget Office
18
Der in der Reconciliation Act beschlossene Ausbau des Versicherungsschutzes dürfte nach der endgültigen Schätzung des
Congressional Budget Office und der Steuerschätzer des Joint
Committee on Taxation die Zahl der unversicherten Amerikaner
unterhalb des Rentenalters um ca. 32 Mio. auf etwa 23 Mio. bis zum
Jahr 2019 verringern. Knapp ein Drittel davon wären illegale Einwanderer, denen der Zugang zu den Versicherungsbörsen verwehrt
bleibt. Rechnet man diese heraus, steigt die Quote der versicherten
Amerikaner vor Erreichen des Seniorenalters von 65 Jahren von
heute 83% auf nahezu 94% an – gewiss eine bemerkenswerte
Ausweitung, die aber immer noch nicht ganz an eine universale
Krankenversicherung heranreicht.
Zudem werden die Amerikaner ihren Krankenschutz über andere
Quellen als heute beziehen, auch wenn die Mehrheit ihrer jetzigen
Versicherung (z.B. über den Arbeitgeber) treu bleiben dürfte. Das
CBO (2010) geht davon aus, dass bis 2019 29 Mio. US-Bürger über
die Börsen gegen das Risiko von Krankheit abgesichert sein werden
(24 Mio. davon über bezuschusste individuelle Policen und die restlichen 5 Mio. über arbeitgebervermittelte Versicherungen, für die
keine Zuschüsse gewährt werden). Weitere 16 Mio. hätten Zugang
zu Medicaid und CHIP. Gleichzeitig dürfte die Zahl der Personen,
die sich außerhalb der Börsen durch individuelle Verträge absichern,
um 5 Mio. zurückgehen. Auch bei den arbeitgebervermittelten Verträgen wäre ein Rückgang um 3 Mio. zu verzeichnen. Diese Nettoveränderung ergibt sich aus einem Zuwachs von 6-7 Mio. bisher
Unversicherten, weiteren 8-9 Mio. Mitarbeitern von Kleinunternehmen, deren Arbeitgeber keinen Versicherungsschutz mehr anbieten,
der arbeitgebervermittelten Versicherungspläne von der Verbrauchssteuer betroffen gewesen. Eine Schätzung des CBO, wie hoch dieser Anteil nach Anhebung
der Freigrenzen in der endgültigen Fassung sein wird, liegt noch nicht vor.
10. August 2010
17
Aktuelle Themen 490
sowie 1-2 Mio. Arbeitnehmern, die ihren arbeitgebervermittelten
Schutz aufgeben, um sich über die Börsen abzusichern.
Die Kosten sind entsprechend hoch. Auf der anderen Seite führt die
Erweiterung des Versichertenkreises zu einem Rückgang bei den
ungedeckten Kosten, die den medizinischen Einrichtungen, dem
Bund, den Bundesstaaten und den Gemeinden in der Vergangenheit durch die Nichtversicherung vieler Amerikaner entstanden sind.
Addiert man die aus der verbesserten Volksgesundheit resultierenden positiven Effekte – geringere Krankenstände, weniger Sterbefälle, weniger Insolvenzfälle durch Krankheit – hinzu, ergeben sich für
die US-Volkswirtschaft in der Summe jedes Jahr Einsparungen im
zweistelligen Milliardenbereich (CEA, 2009).
Vor- und Nachteile für Verbraucher und Leistungserbringer
Die Reform wird für die meisten Amerikaner Veränderungen bringen, auch
wenn die Mehrheit ihrer Krankenversicherung treu bleiben dürfte
Wie sich die Reform für den einzelnen Verbraucher auswirkt hängt
in erheblichem Maße davon ab, wie alt er ist, wieviel er verdient, in
welchem Beschäftigungsverhältnis er steht (abhängig oder unabhängig) und welche Art von Krankenschutz er vor der Reform hatte
(vorausgesetzt, er war überhaupt versichert). Besserverdiener und
reiche Amerikaner werden wie bereits erwähnt stärker besteuert
(2008 verfügten 2,8% der Familien über ein Einkommen von mehr
als USD 250.000). Aber auch eine Reihe anderer Personengruppen
wird die Auswirkungen zu spüren bekommen. Zu den Gewinnern
der Reform gehören junge nicht versicherte Erwachsene (unter 26
Jahre), sie sind in Zukunft bei ihren Eltern mitversichert. Ebenfalls
profitieren werden kinderlose Geringverdiener, ihnen steht künftig
Medicaid offen. Bei den über 65-Jährigen kann sich die Reform sowohl positiv als auch negativ bemerkbar machen. Senioren, die eine
Medicare-Advantage-Police abgeschlossen haben, werden wohl
tiefer in die eigene Tasche greifen müssen, da angesichts der im
Rahmen der Reform beschlossenen drastisch reduzierten MedicareZuschüsse zu diesen Versicherungsplänen Prämien und Eigenleistungen steigen dürften. Auf der anderen Seite werden Vorsorgeuntersuchungen für Medicare-Versicherte kostenlos und auch für verschreibungspflichtige Medikamente fallen durch die Schließung des
„Donut Hole― in Medicare Teil D künftig geringere Zuzahlungen an.
Prämien insgesamt nahezu
unverändert
Die weitaus deutlichsten Spuren werden auf Verbraucherebene (bei
Einzelpersonen wie Unternehmen) wohl die reformbedingte Entwicklung von Versicherungsprämien und Eigenleistungen hinterlassen. Das Congressional Budget Office und die Steuerschätzer des
Joint Committee on Taxation gehen davon aus, dass die Prämien
verglichen mit der vor der Reform gültigen Gesetzeslage im Schnitt
unverändert bleiben bzw. nur leicht ansteigen (CBO, 2009d). Grund
hierfür ist, dass auch in Zukunft der Großteil der Amerikaner über
den Arbeitsplatz versichert sein wird (83% im Jahr 2016 vs. 17%
über Einzelversicherungen) und die Schätzer hier von äußerst mo6
deraten Prämienerhöhungen ausgehen.
Wer sich individuell versichert, muss
höhere Prämien zahlen (bekommt
dafür aber in der Regel mehr
Versicherungsleistungen)
So erwartet das CBO, dass bei von Unternehmen mit 50 oder weniger Angestellten vermittelten Kleingruppen-Versicherungsplänen die
Prämien pro Versicherten 2016 im Schnitt zwischen 1% höher und
2% niedriger liegen werden als ohne Reform. Bei GroßgruppenPolicen von Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern dürften sie
6
18
Die am 30. November 2009 vom CBO veröffentlichte Schätzung zur Auswirkung
der Reform auf die Prämienhöhe erfolgte auf Basis des Senat-Gesetzes. In ihrer
endgültigen Kostenschätzung vom März 2010 verweisen die Rechnungsprüfer darauf, dass sich bei den Prämien nach Verabschiedung des Reconciliation Act keine
wesentlichen Abweichungen gegenüber den ursprünglichen Prognosen vom November 2009 ergeben (CBO, 2009d).
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
laut Rechnungshof im Schnitt gar bis zu 3% geringer ausfallen. Ein
anderes Bild bietet sich bei privat oder über die Börsen abgeschlossenen Einzelversicherungen. Hier kalkuliert das CBO mit durchschnittlich 10-13% höheren Prämien pro Versicherten im Jahr 2016.
Auswirkung auf die Durchschnittsprämien
im Jahr 2016
In %
EinzelKleingruppenGroßgruppenversicherungen versicherungen versicherungen
Anteil der unter 65Jährigen an diesen
Versicherungsarten
Geschätzte durchschnittliche Prämiendifferenz gg. Gesetzeslage
vor Reform, ohne Zuschüsse
Anteil der Personen, die
Anspruch auf Zuschüsse haben
Durchschnittliche Einsparung für geförderte
Personen
17
13
70
+10 bis +13
+1 bis -2
0 bis -3
57
12
k.a.
-56 bis -59
-8 bis -11
k.a.
Der Einzelversicherungsmarkt umfasst Personen, die sich entweder individuell am privaten Markt oder über
die geplanten Börsen versichern. Über Kleingruppenversicherungen sind Mitarbeiter von Unternehmen mit
bis zu 50 Angestellten abgesichert, über Großgruppenversicherungen Mitarbeiter von Unternehmen mit
mehr als 50 Angestellten. Im Einzelversicherungsbereich werden die Prämien von den Börsen bezuschusst,
im Kleingruppenbereich gelten steuerliche Vergünstigungen.
Quelle: Congressional Budget Office
19
Allerdings schlägt bei dieser Schätzung der im Schnitt bessere
Krankenschutz für Einzelversicherte zu Buche. Denn die über die
Versicherungsbörsen angebotenen Policen müssen bei Leistungsumfang und Kostenerstattung Mindeststandards erfüllen, wodurch
der Versicherte zwar weniger zuzahlen, dafür aber bei den Prämien
tiefer in die Tasche greifen muss. Auch sollte nicht übersehen werden, dass nahezu die Hälfte der Einzelversicherten einen Anspruch
auf Zuschüsse hat. Im Endeffekt dürften die Prämien für den gleichen Krankenschutz damit 56-59% niedriger liegen als vor der Reform. Eine Studie der Lewin Group kommt auf Grundlage des ursprünglich von Repräsentantenhaus und Senat verabschiedeten
Gesetzes zu dem Ergebnis, dass ein Privathaushalt infolge der Reform pro Jahr insgesamt nicht einmal USD 100 mehr für Gesundheitsausgaben (Prämien und Kostenbeteiligung) aufwenden muss.
Für Haushalte mit bisher unversicherten Mitgliedern fallen hingegen
aufgrund der Versicherungspflicht deutlich höhere Prämien (über
USD 1.000) als vor der Reform an (Sheils, 2009).
Kleine Unternehmen, die noch keinen
Versicherungsschutz anbieten,
werden zur Kasse gebeten …
10. August 2010
Welche Auswirkungen die Reform auf Unternehmen hat hängt weitgehend von deren Größe und der Tatsache ab, ob sie ihren Mitarbeitern vor Inkrafttreten des Gesundheitspakets einen Krankenschutz angeboten haben. Für die großen Konzerne dürfte sich wenig ändern. Kleine Unternehmen hingegen könnten (entweder durch
die Versicherung ihrer Mitarbeiter oder Strafgebühren) stärker belastet werden. Beschäftigen Sie nur eine geringe Zahl von Mitarbeitern
sind sie jedoch von der Verpflichtung, diese zu versichern, entbunden oder können steuerliche Abzüge geltend machen. Sheils (2009)
schätzt, dass Firmen, die ihren Angestellten bereits einen Kranken19
Aktuelle Themen 490
schutz anbieten, im Rahmen des ursprünglichen Gesetzesentwurfes
des Repräsentantenhauses jedes Jahr pro Angestellten USD 133
mehr für den Krankenschutz aufwenden müssten. Im Gegensatz
dazu würde der Gesetzesentwurf des Senats zu sinkenden Ausgaben führen; hier lägen die Kosten pro Jahr und Angestellten USD
233 niedriger als vor der Reform. Grund sind die niedrigeren Strafgebühren, die manchen Arbeitgeber dazu verleiten könnten, keinen
Versicherungsschutz mehr anzubieten. Bei Unternehmen, die ihre
Mitarbeiter bisher nicht versichern, würde der Gesetzesentwurf des
Repräsentantenhaus die Kosten pro Angestellten um USD 800 in
die Höhe treiben, der des Senats, ebenfalls aufgrund der geringeren
Strafgebühren, nur um USD 316. Da das Reformgesetz pro nichtversicherten Arbeitnehmer höhere Strafgebühren als der Gesetzesentwurf des Senats vorsieht (bei kleinen Unternehmen allerdings
erst ab dem 31. Mitarbeiter), dürfte die Reform für Unternehmen, die
bereits einen Krankenschutz gewährleisten, nahezu kostenneutral
sein. Vorausgesetzt es handelt sich nicht um teure Policen, auf die
eine Verbrauchssteuer fällig wird. Unternehmen, die bisher keinen
Krankenschutz anbieten, müssen dagegen etwas tiefer in die Kasse
greifen (ca. USD 500 pro Mitarbeiter). Wohingegen Firmen mit weniger als 25 Angestellten, also die Mehrheit der Unternehmen ohne
arbeitgebervermittelte Krankenversicherung, dank der Kleinstunternehmen gewährten Steuervergünstigungen möglicherweise
sogar ein leichtes Plus pro Mitarbeiter verzeichnen könnten.
… aber die kleinsten unter ihnen
können erhöhte steuerliche Abzüge
geltend machen
Auf Seiten der Leistungserbringer können die Krankenhäuser infolge der Reform mit einem stärkeren Zulauf von versicherten Bürgern
und sinkenden ungedeckten Kosten rechnen, wobei sich der erweiterte Zugang zu Medicaid durchaus als zweischneidiges Schwert
erweisen könnte. Denn das Programm übernimmt in der Regel nur
einen Teil der Krankenhauskosten. Hinzu kommen Einbußen in
Höhe von USD 155 Mrd. aus der gekürzten Medicare-Vergütung.
Unterm Strich dürfte die Reform für die Krankenhäuser mehr oder
weniger kostenneutral ausfallen. Für die Ärzte ergeben sich ebenfalls positive Effekte durch eine höhere Patientenzahl und niedrigere
ungedeckte Kosten. Einer der mächtigsten Lobbyverbände in den
USA, der für Obamas Vorhaben war, der Ärzteverband American
Medical Association, geht davon aus, dass infolge der Reform der
Verwaltungsaufwand für Ärzte deutlich abnehmen wird. Dank der
zu erwartenden Entbürokratisierung der Versicherungspläne können
sie viel Zeit und Kosten sparen, so das Argument der AMA.
Die Finanzmärkte reagierten zunächst verhalten auf die Verab7
schiedung des Gesetzespakets . Wohl auch deshalb, weil es Jahre
dauern wird, bis die meisten wichtigen Maßnahmen umgesetzt werden und noch länger, bis die Reform ihre volle Wirkung entfaltet. Der
Dow Jones Industrial Average notierte nach Verabschiedung der
Reform leicht im Plus. Zu den Gewinnern gehörten Aktien von Krankenhausbetreibern und Pharmafirmen, zu den Verlierern Versicherungswerte. Die Versicherer bekommen zwar Millionen neuer Kunden, müssen aber im Gegenzug neue Abgaben und schärfere Restriktionen hinnehmen. In Zukunft dürfen sie niemandem aufgrund
seines Gesundheitszustands, Geschlechts, Alters oder Einkommens
den Krankenschutz verweigern oder entziehen. Im Allgemeinen
müssen sie also künftig erstmals auch weniger gesunde und damit
teurere Kunden akzeptieren. Dagegen ist die Pharmaindustrie bei
der Reform weitaus besser weggekommen, als die Konzerne ur7
20
Alles andere als verhalten fiel hingegen die Reaktion seitens der Politik aus. Während die Demokraten die Reform als Jahrhundertwerk begrüßten, erklärten die
Republikaner sie zur Katastrophe ungeheuren Ausmaßes.
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
Auswirkung auf das Staatsdefizit, 2010-2019
(Mrd. USD)
Brutto-Gesamtkosten
938
- Zuschüsse/sonstige Ausgaben
für Börsen
464
- Medicaid-/CHIP-Ausgaben
434
- Steuervergünstigungen für
Kleinunternehmen
40
Netto-Gesamtkosten
Haushaltsentlastung, unter Vorbehalt
788
- Strafgebühren für nichtversicherte Einzelpersonen
-17
- Strafgebühren für Arbeitgeber
-52
- Verbrauchssteuer auf
teure Policen
-32
- Sonstige Effekte
-49
Veränderung des Defizits durch
Ausgabenkürzungen
-441
- Einschnitte bei den MedicareEinzelvergütungen
-196
- Einschnitte bei der MedicareAdvantage-Vergütung
-136
- Einschnitte bei den DSHAusgleichszahlungen
-36
- Sonstige
-73
Veränderung des Defizits durch
Mehreinnahmen
-490
- Erhöhung des MedicareBeitragssatzes für
Besserverdienende
-210
- Abgaben für Hersteller
und Versicherer
-107
- Community Living Assistance
(CLASS)
-70
- Sonstige
-103
Nettoveränderung des Defizits
-143
Quelle: Congressional Budget Office
20
CBO bezieht einige Kostenelemente
nicht in seine Projektion ein, dafür
aber zweifelhafte Einsparungen
10. August 2010
sprünglich befürchtet hatten. Auch ihnen bringt das Gesetzespaket
neue Kunden. Ebenfalls profitieren werden sie von der Schließung
des „Donut Hole― bei Medicare, da viele ältere Amerikaner diese
Lücke einfach dadurch umgehen, dass sie weniger Medikamente
(resp. Generika) kaufen. Als Gegenleistung müssen die Pharmaunternehmen über zehn Jahre rund USD 85 Mrd. zur Reform beisteuern, sowohl über Abgaben als auch über die ungünstigere Ausgestaltung der Medicare-Erstattung für Medikamente. Neutral dürfte
die Bilanz für die Medizintechnikkonzerne ausfallen: Mehreinnahmen durch die Erweiterung des Krankenschutzes stehen Abgaben
in etwa gleicher Höhe gegenüber.
Schätzungen des Congressional Budget Office zufolge könnte das
Staatsdefizit dank der Gesundheitsreform in der ersten Dekade
(2010-2019) um USD 143 Mrd. sinken. Für diesen Zeitraum kalkuliert das Haushaltsbüro mit Gesamtkosten von brutto USD 938 Mrd.
Den Löwenanteil machen die im Zusammenhang mit der Einrichtung von Versicherungsbörsen anfallenden Zuschüsse und sonstigen Kosten (USD 464 Mrd.) sowie die Mehrausgaben für die Ausweitung von Medicaid und CHIP (USD 434 Mrd.) aus. Diesen Mehrausgaben stehen höhere Einnahmen und Einsparungen gegenüber.
Bei den staatlichen Versicherungsprogrammen, allen voran
Medicare, sollen die Kosten um USD 511 Mrd. gesenkt werden. Für
Mehreinnahmen sorgen ein höherer Medicare-Beitragssatz für Besserverdiener, Strafzahlungen für Unversicherte und Unternehmen,
die ihren Mitarbeitern keinen Krankenschutz anbieten sowie Abgaben für Versicherer und andere Gruppen. Ab 2018 wird zudem eine
Verbrauchssteuer auf teure Policen eingeführt, die aufgrund des
späten Starts im Zeitraum 2010-2019 aber lediglich USD 32 Mrd. in
die Kassen spülen dürften. Für den anschließenden Zehnjahreszeitraum 2020-2029 veranschlagt das CBO (2010) dann sogar noch
höhere defizitreduzierende Effekte von rund 0,5% des BIP. Die für
den Nachfolgezeitraum günstigere Schätzung ergibt sich auf Basis
des ab 2019 langsameren Anstiegs der Prämienzuschüsse sowie
des niedrigeren Grenzsteuersatzes für teure Versicherungspolicen.
Ab 2020 ist bei diesen der Anstieg der Freibeträge an die Inflationsrate gekoppelt (2019: Inflation plus 1 Prozentpunkt), wodurch jedes
Jahr mehr Versicherungspläne unter die neue Abgabe fallen. Die
Demokraten nahmen die CBO-Schätzung als willkommenen Anlass,
die auf lange Sicht positiven Effekte der Reform auf die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit hervorzuheben. Befürworter des
Vorhabens errechneten anhand der CBO-Schätzung von 0,5% des
BIP eine Defizitreduzierung von USD 1,2 Billionen, wobei sie für den
Zehnjahreszeitraum relativ kräftige Wachstumsraten unterstellten.
Das Congressional Budget Office selbst verwies hingegen darauf,
dass seine langfristigen Projektionen mit Unsicherheiten behaftet
sind.
Defizit-Falken und Gegner des Gesetzesvorhabens haben die CBOProjektionen wiederholt als zu optimistisch kritisiert. In der Tat sind
sie mit einiger Vorsicht zu genießen. So fließt ein Teil der mit der
Reform verbundenen Kosten nicht in die Schätzung ein, während
Einsparungen in anderen Bereichen der Gesundheitsreform zugerechnet werden. Unter anderem fehlen Annahmen über die reformbedingte Entwicklung diskretionärer Ausgaben; das CBO legte hierzu eine gesonderte Berechnung vor. Mindestens USD 50 Mrd. wird
der Kongress für die Bewilligung von Zuschüssen und sonstigen
Reform-Programmen bereitstellen müssen. Hinzu kommen weitere
diskretionäre Ausgaben in Höhe von USD 10-20 Mrd., die bei einer
21
Aktuelle Themen 490
Reihe von Ministerien (z.B. Bundessteuerbehörde, Gesundheitsamt)
im Rahmen der Umsetzung des Zuschussprogramms und der Änderungen bei Medicare, Medicaid und CHIP anfallen. Auf der Aktivseite
verbucht das CBO USD 70 Mrd. an „Einnahmen― aus einer neuen
freiwilligen Langzeitpflegeversicherung (Community Living Assistance Services and Supports bzw. CLASS), obwohl zwingend vorgeschrieben ist, dass die von den Versicherten anfänglich bezahlten
Beiträge im zweiten Zehnjahreszeitraum in Form von Leistungen an
sie zurückfließen müssen. Ebenfalls zweifelhaft sind USD 19 Mrd.
an Einnahmen aus dem staatlichen Student Loan Program, die zwar
im Reconciliation Act enthalten sind, jedoch in keinerlei Bezug zur
Gesundheitsreform stehen. Berücksichtigt man all diese zusätzlichen Kosten und problematischen Einnahmen, ergäbe sich im Jahr
2019 ein nahezu unverändertes bzw. leicht höheres Defizit und nicht
wie im Basisszenario des CBO eine Defizitreduzierung von USD
143 Mrd.
Formel für nachhaltiges Wachstum
der Arztkosten vom Kongress seit
Jahren ausgesetzt – woran sich auch
in Zukunft wenig ändern dürfte
Größere Gefahr droht von politischen Unwägbarkeiten in Zusammenhang mit diversen Einschnitten bei Medicare. Das CBO geht
davon aus, dass sich infolge der Kürzungen bei der MedicareVergütung der Kostenanstieg im US-Gesundheitswesen von jährlich
8% in den vergangenen zwei Dekaden auf 6% in den nächsten beiden Dekaden verlangsamen wird (CBO, 2009) Dies setzt jedoch
voraus, dass die Medicare-Vergütung von Ärzten und anderen Leistungserbringern gekürzt wird, was sich auf lange Sicht als schwierig
8
erweisen könnte. So ist die gemäß der SGR-Formel für nachhaltiges Kostenwachstum fällige 21%-ige Kürzung der MedicareÄrztehonorare, die seit 2003 noch jedes Jahr vom Kongress ausgesetzt wurde, nicht im endgültigen Gesetzespaket enthalten. Das
ursprüngliche Gesetz des Repräsentantenhauses sah hier noch
Einschnitte in Höhe von USD 228 Mrd. über zehn Jahre vor, die nun
in ein Sondergesetz einfließen sollen. In den Nachfolgejahren würden dann im Rahmen der Reform zusätzliche Kürzungen bei der
Medicare-Ärztevergütung anfallen. Für weitere Medicare-Leistungserbringer (Krankenhäuser etc.) sind Anpassungen unterhalb der
Inflationsrate vorgesehen. Angesichts der Lobbystärke von Ärzten
und Krankenhäusern dürfte sich dies als schwierig erweisen.
Effekt der Verbrauchssteuer auf teure
Policen ist ungewiss
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor für die langfristigen Kosten der
Reform ist die Reaktion der Unternehmen auf die für 2018 geplante
Steuer auf teure Policen. Es ist durchaus denkbar, dass die Arbeitgeber bereits im Vorfeld den Krankenschutz für ihre Mitarbeiter auf
günstigere Versicherungspläne umstellen. Selbstversicherer, die die
Rechnungen für ihre Angestellten direkt bezahlen, weil sie die Steuer umgehen wollen und alle anderen Unternehmen, weil die Versicherungsunternehmen die Kosten zwangsläufig in Form von höheren Prämien auf sie überwälzen werden. Wobei die Firmen, die sich
für die Umstellung auf einen kostengünstigeren Krankenschutz entscheiden, ihren Mitarbeitern möglicherweise zum Ausgleich Lohnerhöhungen gewähren (Gruber, 2009). Ob dies tatsächlich geschieht,
8
22
Die 1997 eingeführte Sustainable Growth Rate Formula für nachhaltiges Kostenwachstum setzt jedes Jahr eine Höchstgrenze für Arztkosten unter Medicare fest.
Liegen die Gesamtausgaben für die ärztliche Behandlung über dem Planziel, wird
die Vergütung gekürzt. Seit 2002 wurde die Höchstgrenze jedes Jahr überschritten. Um die Abwanderung von Ärzten aus dem Medicare-Programm zu verhindern, hat der Kongress die SGR-Formel 2003 außer Kraft gesetzt und in den Folgejahren geringe prozentuale Erhöhungen vorgenommen. Zuletzt billigte der Kongress am 16. April 2010 eine weitere befristete Aussetzung der Vergütungskürzungen. Durch das Aufschieben der unter der SGR-Formel fälligen Kürzungen wird
die Differenz zwischen Planziel und den tatsächlich für die ärztliche Behandlung
aufgewendeten Mittel immer größer. Von Jahr zu Jahr werden damit auch deutlichere Einschnitte bei der Vergütung notwendig.
10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
bleibt jedoch abzuwarten. Eine generelle Abkehr von Luxuspolicen
würde sich sicherlich positiv auf die Prämienhöhe von überteuerten
Versichertenplänen auswirken. Die Kehrseite sinkender Prämien
(und in vielen Fällen gekürzter Leistungskataloge) dürfte jedoch die
höhere Kostenbeteiligung der Versicherten sein. Hinzu kommt, dass
weniger Policen als angenommen von der Verbrauchssteuer betroffen wären, mit der Folge, dass die Einnahmen und damit der defizitreduzierende Effekt im zweiten Zehnjahreszeitraum geringer als
erwartet ausfallen würden.
In einigen Alternativszenarios ergeben sich statt einer Defizitreduzierung defiziterhöhende Effekte für die
zweite Dekade
Die projizierte längerfristige Entlastung des Haushalts könnte sich in
das Gegenteil verkehren, wenn diese oder andere politisch nur
schwer durchsetzbare Maßnahmen nicht oder lediglich teilweise
umgesetzt würden. Der republikanische Kongressabgeordnete Paul
Ryan aus Wisconsin, ein entschiedener Gegner der Reform, forderte vor diesem Hintergrund das CBO auf, eine Schätzung für das
folgende Alternativszenario zu erstellen: 1) Keine Verbrauchssteuer
auf teure Policen, 2) Keine Kopplung der VersicherungsbörsenZuschüsse an die Inflationsrate ab 2018 (d.h. kein effektiver Rückgang) 3) Keine Einschnitte bei der ärztlichen Medicare-Vergütung
durch Anwendung der SGR-Formel 4) Kein Independent Payment
Advisory Board. Auf Basis dieser Vorgaben kam das CBO zu dem
Ergebnis, dass die Gesundheitsreform das staatliche Defizit 20202029, verglichen mit der vor Verabschiedung des Gesetzespakets
gültigen Rechtslage, um rund 0,25% des BIP steigern könnte. Zum
Vergleich: Wird die Reform wie geplant umgesetzt, ergeben sich laut
CBO defizitreduzierende Effekte von rund 0,5% des BIP.
Gefahr droht auch noch von anderer Seite, nämlich von der potentiellen Mehrbelastung für die Haushalte von Bundesstaaten und Gemeinden, die in der Schätzung des CBO völlig unberücksichtigt
bleibt. Zwar übernimmt der Bund in den ersten Jahren die in Zusammenhang mit der Erweiterung von Medicaid und CHIP anfallenden Kosten zu 100%, danach verbleiben die Mehrkosten jedoch bei
den Einzelstaaten. Bereits jetzt ist in vielen Bundesstaaten die Sorge groß, Medicaid könne zu einer massiven Belastung werden, sobald der Bund seine großzügigen Zuschüsse streicht. Angesichts
der tiefen Löcher in ihren Haushalten plante daher eine Reihe von
Einzelstaaten bereits im Vorfeld der Reform, den Zugang zu
Medicaid zu erschweren und die Leistungskataloge zu kürzen (in
einigen Fällen wurden die Pläne schon umgesetzt). Zusätzliche
staatliche Unterstützung könnte erforderlich sein, um in ausreichendem Maße Leistungserbringer für Medicaid zu gewinnen und Verschlechterungen beim Zugang und Leistungsumfang zu verhindern.
Die Kosten würden in diesem Fall steigen.
Erste Versuche, die Kostenexplosion in den Griff zu bekommen
Einmalige Kürzungen vs. dauerhafte
Kostenkontrolle
Statt auf einen grundlegenden Umbau des Gesundheitswesens und
langfristig wirksame Kostenbremsen setzt die jetzige Reform auf
Einsparungen bei einzelnen Versicherungsprogrammen (z.B. Einschnitte bei der Medicare-Advantage-Vergütung und der MedicareVergütung für Krankenhäuser). Es steht daher nicht zu erwarten,
dass sich die Kostenkurve abflachen wird. Nichtsdestotrotz werden
einige wichtige Maßnahmen in Gang gesetzt, die für eine bessere
Kostenkontrolle sorgen könnten, wenn auch meist nur auf längere
Sicht:
Die Börsen helfen, Kosten zu senken,
aber nur in einem Teilbereich des
Systems
— Einen Beitrag zur Kostensenkung im US-Gesundheitswesen
werden sicherlich die Versicherungsbörsen leisten. Denn sie sorgen für mehr Wettbewerb unter den Anbietern und mehr Kostentransparenz. Für Policen, die an diesen Börsen angeboten wer-
10. August 2010
23
Aktuelle Themen 490
den, gelten gewisse Mindeststandards. So müssen 80-85% der
Prämien in Gesundheitsleistungen fließen, womit künftig deutlich
weniger Geld für Verwaltung, Werbung und Vertrieb zur Verfügung steht. Zudem werden die dort angebotenen Versicherungspläne hinsichtlich Preis und Qualität bewertet, was bei den Verbrauchern zu einem höheren Kostenbewusstsein führen dürfte.
Über all dem sollte aber nicht vergessen werden, dass weniger
als 9% der unter 65-Jährigen ihren Krankenschutz über die Börsen erwerben werden.
Verbrauchssteuer für teure Policen
tritt erst 2018 in Kraft
— Rein theoretisch könnte die („Cadillac―)-Steuer auf teure arbeitgebervermittelte Versicherungspläne dazu führen, dass Arbeitgeber künftig kostengünstigere Policen anbieten und Versicherer
ihre Leistungskataloge kürzen. Aber noch ist völlig offen, wie und
wann die Arbeitgeber reagieren werden. Der Council of
Economic Advisers (2010b) veranschlagt einen kostenreduzierenden Effekt von 0,5 Prozentpunkten pro Jahr. Allerdings ist
diese Schätzung mit Vorsicht zu genießen, zumal die Verbrauchssteuer auf teure Policen in der Endphase der Verhandlungen stark verwässert wurden und nun erst 2018 ab einem
deutlich höheren Freibetrag greifen (weshalb sie inzwischen als
„Maserati-Steuer― bezeichnet werden).
Medicare-Board im Verlauf der
Verhandlungen verwässert
— Ab 2014 soll das 15-köpfige „Independent Payment Advisory
Board― über die Kostenentwicklung bei Medicare berichten und
bei voraussichtlicher Überschreitung der Planziele Vorschläge
zur Kostendämpfung erarbeiten. Die Vorschläge des Boards
werden rechtskräftig, sofern nicht der Kongress kostenreduzierende Maßnahmen im gleichen Umfang verabschiedet. Allerdings ist es dem Board untersagt, Vorschläge zu unterbreiten,
die zu einer Rationierung im Gesundheitswesen führen. Ebenso
wenig darf es in den Leistungskatalog, die Zugangsberechtigung
und die Kostenbeteiligung bei Medicare eingreifen. Auch Steuerund Prämienerhöhungen sind ausgeschlossen. Was zu der Frage führt: Wie sonst kann man das öffentliche Gesundheitswesen
sanieren? Wohl aufgrund dieser Einschränkungen schätzt das
CBO die möglichen Einsparungen durch das Board im Zehnjahreszeitraum 2010-2019 auf lediglich USD 13 Mrd.
Medicare-Pilotprojekte für Vergütung
nach Qualität statt Quantität
— Der Ausbau von Preis-Leistungs-Pilotprojekten bei Medicare
dürfte dafür sorgen, dass Leistungserbringer in Zukunft nicht
mehr nach Quantität sondern nach Qualität entlohnt werden. An
Stelle der bisherigen Einzelleistungsvergütung soll die sogenannte „gebündelte Vergütung― rücken, die sich am Behandlungsergebnis orientiert. Zweifelsohne sind diese Pilotprojekte zur qualitätsorientierten Vergütung richtig und gut. Allerdings wird es lange dauern, bis sie erste Erfolge zeigen. Zudem ist keine systemweite Implementierung vorgesehen.
CER könnte kosteneffektive Therapieformen fördern – jedoch stehen nur
wenig Mittel bereit
— Für „Comparative Effectiveness Research― (CER) werden in
begrenztem Umfang weitere öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt (USD 20 Mio. für den Zeitraum 2010-2014, nach USD
1,1 Mrd. im Wachstumspaket 2009). Ziel von CER ist es, Nutzen
und Schaden verschiedener Therapieformen miteinander zu vergleichen, um die Behandlungsmethoden mit dem besten KostenNutzen-Verhältnis zu identifizieren und landesweit zur Anwendung zu bringen. Im Verlauf der Verhandlungen wurden die CERVorschläge jedoch stark verwässert, weshalb ihre kostendämpfende Wirkung im ersten Jahrzehnt vom CBO als vernachlässigbar eingestuft wird.
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10. August 2010
Obamas Gesundheitsreform
— Für ebenfalls vernachlässigbar hält das CBO die Einsparungen,
die aus den im Reformgesetz enthaltenen Maßnahmen zur Eindämmung von Betrug und Missbrauch bei Medicare und
Medicaid resultieren könnten.
Eine Reihe größerer kostendämpfender Maßnahmen wurde verworfen
Eine ganze Reihe von Plänen zur Kostenkontrolle wurde im Verlauf
der Verhandlungen verworfen, darunter die sogenannte „Public
Option―, eine über die Versicherungsbörsen verfügbare staatliche
Versicherung, die nach Expertenmeinung den Kostendruck auf die
privaten Versicherer verschärft und damit zu einer Senkung der
Beiträge geführt hätte. Ebenso wenig wurde die von den Republikanern geforderte Reform des Schadensersatzrechts bei ärztlichen
Kunstfehlern in Gang gesetzt. Dabei hätten durch die Begrenzung
von Schadensersatzforderungen und Defensivmedizin laut CBO im
Zehnjahreszeitraum USD 54 Mrd. eingespart werden können. Ebenfalls mehr oder weniger auf der Strecke geblieben sind Maßnahmen
zur Verbesserung der ungesunden Lebensweise der Amerikaner.
Manche Vorschläge, die in dieser Hinsicht viel hätten bewirken können, wurden sogar ganz fallen gelassen, unter anderem die zur
Bekämpfung der Fettleibigkeit geplante Besteuerung von Soft
Drinks.
Kostendämpfende Wirkung der
Reform ist umstritten
Ob die im endgültigen Gesetzespaket enthaltenen Stellschrauben
ausreichen, die Kostenexplosion im US-Gesundheitswesen zu
bremsen, ist unter Experten umstritten. Eine Reihe von Gesundheitsökonomen, unter anderem Uwe Reinhardt von der Princeton
University, zeigt sich enttäuscht, dass die Reform nicht mehr Elemente zur Kostenkontrolle enthält. So kommt Reinhardt zu dem
Schluss, dass die Reform nicht aus der Kostenfalle herausführen
wird, räumt aber immerhin ein, dass sie der Grundstock für mehr
Kostenkontrolle in der Zukunft sein könnte (Klein, 2010). Ein besseres Zeugnis stellt der frühere Obama-Berater David Cutler von der
Harvard University dem Gesundheitspaket aus. Er vertritt die Ansicht, dass das Reformgesetz alle wesentlichen Pläne zur Kostendämpfung enthalte. Nie zuvor sei in den USA ein derart umfassendes Paket zur Kostenkontrolle im Gesundheitswesen verabschiedet
worden (Cutler, 2010b).
Wie wird sich das Gesetz auf das
Verhalten von Verbrauchern und
Leistungserbringern auswirken?
Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch, inwieweit die Reform zu Verhaltensänderungen führt, was naturgemäß schwer zu beurteilen ist. Werden die Versicherungsbörsen zu
mehr Kostendruck und damit günstigeren Policen führen? Werden
die Verbraucher sie mit der Zeit verstärkt nutzen und werden Amerikaner in Zukunft den Kostenfaktor bei ihren Gesundheitsentscheidungen mit berücksichtigen? Wird der Staat bei weiter steigenden
Prämien die Zuschüsse zurückfahren oder das Defizit erhöhen?
Wird die Verbrauchssteuer auf teure Policen Versicherer und Arbeitgeber dazu veranlassen, günstigere Versicherungspläne anzubieten
oder werden sich die Unternehmen lieber aus dem Krankenschutz
für ihre Mitarbeiter zurückziehen und Strafgebühren in Kauf nehmen? Werden jedes Jahr mehr US-Bürger höhere MedicareBeitragssätze zahlen müssen, da die Einkommensgrenzen nicht an
die Inflationsrate gekoppelt sind, oder wird der Kongress hier mit
potentiell teuren Maßnahmen gegensteuern? Wie wirkt sich die
Kostenbefreiung bei Vorsorgeuntersuchungen aus? Führt sie unterm Strich zu einer höheren Nachfrage (und Preisen) oder mehr
Gesundheit (und Einsparungen)? Leider lässt sich keine dieser Fragen so früh im Reformprozess mit Sicherheit beantworten.
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Aktuelle Themen 490
Schlussfolgerung
Die von Präsident Obama im April unterzeichnete Gesundheitsreform ist ein großer Schritt zur Ausweitung des Krankenschutzes,
greift aber bei der Reform des Krankensystems und der Kostenkontrolle zu kurz. Der verstorbene demokratische Senator von Massachusetts, Edward Kennedy, der zeit seiner politischen Karriere für
eine universale Krankenversicherung eintrat, bezeichnete die
Gesundheitsreform einmal als „das große unvollendete Werk unserer Gesellschaft―. Auch nach der gerade beschlossenen Reform
bleibt noch viel zu tun, insbesondere in Hinblick auf die eindeutig
untragbare Kostenexplosion im US-Gesundheitswesen. Die kostendämpfenden Maßnahmen gehen zwar in die richtige Richtung, aber
eindeutig nicht weit genug. Weitere Reformschritte müssen folgen.
Kostenbremsen, deren Wirksamkeit durch Kosten-Nutzen-Analysen
und andere Methoden belegt ist, müssen systemweit implementiert
werden, mit dem Ziel Qualität und Kosteneffizienz statt Quantität zu
entlohnen. Die Reform ist ein erster Schritt zu mehr Kostenkontrolle,
aber eben nur ein Anfang. In seiner im September 2009 gehaltenen
Rede zur Gesundheitsreform versprach Präsident Obama, er sei
nicht der erste Präsident, der sich dieses Themas annähme, aber er
sei entschlossen, der letzte zu sein. Zweifelsohne hat er Großes
geleistet. Aber die untragbare Haushaltslage, die zu einem guten
Teil auf die Kostenentwicklung im US-Gesundheitswesen zurückzuführen ist, macht deutlich, dass er sein Versprechen nicht einlösen
können wird.
Amy Medearis (amy.medearis@comcast.net)
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