Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen. Ein
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Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen. Ein
RENATE HAAS, BERLIN Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen. Ein kulturanalytischer Befund* Übersicht: Ausgehend von einer schulischen Fallgeschichte untersucht die Autorin die Richtlinien der Berliner Schulverwaltung sowie zwei Reformansätze aus der Lehrerbildung in bezug auf den Umgang mit (inter-)kulturellen Konflikten. Sie zeigt, daß die zugrundeliegenden Konzepte auf binären und linearen Klassifikationsschemata beruhen, mit denen die durch die »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem« verursachten »Spannungen« nicht wahrgenommen und die wahrgenommenen nicht gehalten werden können. Dieser Mangel wird unter anderem als Folge von Geschichtsverdrängung interpretiert, welche (nicht nur) die Pädagogik bis heute daran hindert, angesichts der von Traumen geprägten Gesellschaften Methoden zu verwenden, die dieser Realitätserfahrung Rechnung tragen. Schlüsselwörter: Intergenerative Traumen, Exotismus, Assimilation, Migration, Verdrängung von Realitätserfahrung Prolog Ahmeds Schulversagen oder Die Utopie einer Schule als » Übergangsraum«1 Als Ahmed im Sommer 1991 in Berlin-Charlottenburg eingeschult wurde, zählte er zu jener Gruppe von Kindern ausländischer Herkunft, die von ihrer Lehrerin an der Wandseite des Klassenzimmers placiert wurden. Dort seien sie, die über kurz oder lang »auffällig« würden, besser »ins Visier« zu nehmen. Johannes setzte sich ebenfalls dorthin. Der Irrtum war schnell berichtigt: Bayern, die Heimat seiner Eltern, gehört zu Deutschland. Wenig später erlebte Ahmed, wie einem Mitschüler, der aus dem Kosovo stammte, keine Lesefibel ausgehändigt wurde. Als Flüchtling ohne Aufenthaltsberechtigung könne er jederzeit abgeschoben werden, und dann, meinte die Lehrerin, ginge der Schule das Buch verloren. Zu den Mitschülern stand Ahmed in gutem Kontakt. Schon in der Kindertagesstätte, die er seit seinem zweiten Lebensjahr besuchte, habe * Erweiterte Fassung des Vortrags am Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin vom 1. November 2002, zugleich Eröffnung der dort vom Institut für Kulturanalyse veranstalteten Vortragsreihe »(Inter-)Kulturelle Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft - tabu für die Bildungsreform?« (1. November bis 6. Dezember 2002). Bei der Redaktion eingegangen am 26. 10. 2005. 1 Dieser Begriff ist abgeleitet von Winnicotts (1953) »Übergangsobjekt«. 132 Renate Haas er viele Freunde gehabt. Er wurde des öfteren in deutsche Familien eingeladen und genoß es, dort auch übernachten zu dürfen. Nach und nach fiel ihm auf, daß er, obwohl in Berlin geboren, oft anders behandelt wurde als die deutschen Schüler. Als seine Lehrerin vor der ganzen Klasse sagte, sie verstehe nicht, warum seine Eltern trotz langjährigem Aufenthalt in Deutschland noch immer kein vernünftiges Deutsch sprächen, warum sie kein Interesse an der Bildung ihres Sohnes hätten, schämte er sich. Seine Eltern hätten nicht genau gewußt, wie sie ihn in der Schule unterstützen sollten. Sie selbst hatten in der Türkei nur wenige Jahre die Schule besucht. Außerdem arbeiteten sie hart, sein Vater als Schichtarbeiter in einer Fabrik, seine Mutter als Küchenhilfe beim Roten Kreuz. Ahmed traf aber auch auf Lehrer, die ihm wohlgesonnen waren, einige waren geradezu türkophil. Seine Mathematiklehrerin etwa verbrachte seit Jahren ihren Urlaub in der Türkei. Ihre Begeisterung über die Gastfreundschaft, die ihr dort entgegengebracht wurde, zeigte sie offen. Ahmed freute sich über die freundlichen Worte, obwohl er die Faszination nicht teilen konnte, wußte er doch intuitiv, daß Gastfreundschaft mit Zwängen verbunden ist (es handelt sich selbst dann um ein »Rechts- und Vertragsverhältnis«, wenn sie mit »spontaner Zuneigung identisch« ist [Kramer 1980, S. 19]). Andere Lehrer kümmerten sich um sogenannte Problemkinder. Als Ahmed die 7. Klasse besuchte, starb die Mutter seines Freundes Cemil. Da die Familie hohe finanzielle Ausgaben hatte, rief die Klassenlehrerin auf einem Elternabend zu einer Spendensammlung auf. Die Lehrerin hatte es gut gemeint, doch für türkisches Empfinden war das ein bißchen zu direkt. Cemils Tante habe sich sehr unwohl gefühlt. Überhaupt sei die Direktheit der Deutschen mitunter peinlich. Wenn zum Beispiel eine Lehrerin den Eltern seiner Cousine versichert, sie brauchten während der Klassenfahrt »keine Angst um die Jungfräulichkeit ihrer Tochter zu haben, wir passen auf sie auf«. Noch heute ist Ahmed darüber erbost, daß die Direktorin seiner Schule zu Beginn des Ramadan ein Informationsblatt in der Klasse verteilte, auf dem stand, Fasten sei schädlich für die Gesundheit, ebenso der übermäßige Verzehr von Süßigkeiten beim Opferfest. Er wunderte sich darüber, daß dem religiösen Brauch so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, die Abmagerungskuren seiner Mitschülerinnen hingegen, die oftmals über Wochen dauern, von den Lehrern kaum bemerkt würden. Kritik übte Ahmed aber auch an seinen Eltern. Ihr größter Fehler: zu lange hätten sie an ihrem Wunsch nach einer Rückkehr in die Türkei fest- Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 133 gehalten. Sie hätten ihren Kindern früher sagen müssen, daß ihre Zukunft in Deutschland läge. Traurig stimme ihn, wie wenig er über die Türkei wisse. Lange Zeit habe er nur den Namen Mustafa Kemal Atatürk gekannt. Durch Zufall sei er auf ein Buch von Nazim Hikmet gestoßen. Erst viel später erfuhr er von seiner Mutter, daß sein Großvater den Dichter persönlich gekannt habe. Als Wärter hatte er damals einige Gedichte Hikmets aus dem Gefängnis von Bursa geschmuggelt. In einer Deutschstunde in der 9. Klasse schlug Ahmed seiner Lehrerin vor, doch auch Literatur türkischer Autoren zu behandeln. Sie lehnte ab, in Deutschland habe er sich mit deutscher Literatur auseinanderzusetzen. Kommentar seines Mitschülers Thomas: »Wenn ihr Türken euch nicht anpassen wollt, dann haut doch gefälligst ab.« Dieses Gefühl, nicht akzeptiert zu werden - daß türkische Literatur im Lehrplan schlichtweg nicht vorgesehen ist, mache das nicht gerade besser. Im Berliner Lehrplan für die Klassenstufen 9 und 10 finden sich ganze zehn fremdsprachige Autoren, einen türkischsprachigen sucht man vergeblich. Als in Geschichte die Zeit des NS behandelt wurde und Herr Stein danach fragte, wann die Vernichtung der Juden begonnen habe, erwiderte Ahmed prompt: »Was geht mich der Nationalsozialismus an, das ist doch das Problem der Deutschen.« Darauf Andreas: »Das ist sehr wohl auch Dein Problem; hast Du vergessen, was die Türken mit den Armeniern gemacht haben?« Ahmed habe das nicht ertragen. B eim Verlassen des Klassenzimmers mußte er loswerden, es sei doch »auffällig«, daß die Türkei immer nur ins Spiel gebracht werde, um Kritik an ihr zu üben: »Mal geht es um die Unterdrückung der Frau im Islam, mal um Menschenrechtsverletzungen, und jetzt die Vernichtung der Armenier.« Stefan meinte, er sehe nicht ein, warum sich die Deutschen ständig für ihre Vergangenheit rechtfertigen müßten, wenn doch auch die Türken Schweinereien gemacht hätten. Außerdem wisse er von seinem Großvater, daß in Deutschland manches anders war, als hier im Geschichtsunterricht erzählt werde. Im weiteren wurde die Frage gestellt, ob denn die Vernichtung der Armenier mit der Vernichtung der Juden zu vergleichen sei (das Kernproblem des Historikerstreits von 1986). Herr Stein wurde unsicher, bislang war die Frage noch nicht aufgetaucht. Für ihn galt: Der Holocaust ist unvergleichbar. Was Herr Stein nicht wußte: Ahmed war aufgrund seines durch Nazim Hikmet geweckten Interesses für die Türkei bereits auf den türkisch-armenischen Konflikt gestoßen. Er hatte seine Eltern befragt. Der Vater bestritt, daß es eine systematische Vernichtung der Armenier gegeben habe, außerdem liege dies hundert Jahre zurück. Ganz anders seine Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 134 135 Renate Haas Mutter: Ihr Vater hätte ihr, als sie noch Kind war, von diesem »großen Unrecht«, wie er es damals nannte, erzählt. Warum die Vernichtung der Armenier noch immer eine so große Rolle spielen soll, jetzt sogar in Deutschland in den Schulklassen, verstand auch sie nicht. Darauf recherchierte Ahmed im Internet. Unter den Stichwörtern »Genozid, Armenier« fand er unzählige Einträge. Er hat sie aber nicht werten können. Unterdessen traf Ahmed auf dem Flur den Direktor, der ihn seit längerem >auf dem Kieker< hatte. Zu oft hatte er schon die Schule geschwänzt. Was er nun wieder ausgefressen habe, warum er nicht in seiner Klasse sei. Er wisse doch, »noch ein Tadel und der Verweis ist fällig«. »Fick dich!« Ahmed trat mit dem Fuß gegen die Wand. Nach seinem Verweis besuchte er die Schule noch unregelmäßiger. - Heute zählt Ahmed zu den 30 % von Jugendlichen ausländischer Herkunft, die 2001 in Berlin keinen Abschluß erreichten. Warum nur wurden in der Schulkonferenz allein die Beleidigung des Direktors und die beschädigte Flurwand verhandelt, warum befragte man Ahmed nicht zu diesem Konflikt? Dann hätte sichtbar werden können, daß sein Verhalten am Ende einer Kette von Erfahrungen der Mißachtung und wechselseitiger Mißverständnisse steht. Auf Nachfrage erfuhren wir, die Mehrheit der Lehrer sei enttäuscht, sie habe resigniert. »Die erste Generation der Gastarbeiterkinder« sei »noch fleißig und anpassungswillig« gewesen. »Ganz anders« die heutigen Kinder und Jugendlichen türkischer Herkunft: »frech und integrationsunwillig«, ihre Rückbesinnung auf den Islam stelle eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Als geradezu abstoßend wird das »Männlichkeitsgebaren« der türkischen oder arabischen Jungen empfunden. Am schlimmsten sei die fortlaufende »Rekrutierung« der Ehepartner aus der Türkei, sie verhindere die Integration der jungen Berliner Türken in unsere Gesellschaft. Diese Klassifizierungen - auch wenn sie mittlerweile von vielen Menschen in unserer Gesellschaft geteilt werden - sind erklärungsbedürftig. Sie lassen sich kaum verstehen ohne Berücksichtigung der traumatisierenden Erfahrungen, welche die heutige Lehrer- und Elterngeneration in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gemacht hat. Erfahrungen, die nach wie vor tabu sind, aber das Verhältnis (nicht nur) zu den Kindern von Migranten in den Schulklassen erheblich beeinträchtigen. Traumatisch für die Deutschen nach 1945 war unter anderem »der Verlust des Rahmens für die Phantasie der arischen Volksgemeinschaft« (Erdle 2000, S. 274). Damit wurde ihnen die Rechtfertigung für millionenfachen Mord entzogen. In Ludwig Leonhards Ausführungen von 1934 findet diese Ideologie ihren Ausdruck: »Was wir sind, was wir leisten, ist nicht unser Verdienst, wir verdanken es letztlich unseren Eltern und Großeltern, unserer ganzen Ahnenreihe, deren Erbgut wir in uns tragen. Das also, was durch sie an geistigen Gütern auf uns übergekommen ist und was wir an unsere Kinder und Kindeskinder weitergeben sollen, das alles gehört zur Familie, deren Bedeutung für das Volksleben erst der neue Staat voll anzuerkennen bereit ist. [...] An dieser Zielsetzung aber erkennen wir, welch ungeheure Verantwortung jeder von uns trägt. Denn, wie wir kostbares Erbgut nicht untergehen lassen dürfen, so müssen wir danach streben, schlechtes und minderwertiges auszumerzen, zu verbessern oder zu vernichten« (zit. n. Mosse 1966, S.61). Was noch sechzig Jahre danach im geschützten Raum der Supervision oder der Psychoanalyse zur Sprache gebracht wird, zeigt, wie wenig die Verachtung aller, die nicht in das faschistische Ordnungsschema paßten, schon überwunden ist. Eine Pädagogin aus dem Saarland berichtet, daß sie für Bettnässen im Alter von fünf Jahren über Stunden in einem Gatter eingesperrt war - in ihm brachte ihr Vater für gewöhnlich die Schweine zum Markt. Ihre ältere Schwester wurde mit vierzehn an einen Obstbaum im Vorgarten gebunden, weil sie sich mit einem Mitschüler am nahegelegenen Badesee getroffen hatte. Eine sechzig)ährige Lehrerin, aufgewachsen in einem kleinen Dorf bei Hamburg, erzählt, sie habe als Siebenjährige ihre Schulmappe im Park neben der Schule vergessen. Ihr Vater sei darüber so wütend geworden, daß er sie den ganzen Weg zurück im Auto vor sich hertrieb. Lief sie in seinen Augen zu langsam, stieg er aus und schlug mit seinen Fäusten auf sie ein. Nachbarn und Bekannte waren auf der Straße, doch keiner stellte den Vater zur Rede. Auch dann nicht, als sie sich einmal über Stunden, mit dem Gesicht zur Wand, vor das Elternhaus stellen mußte, weil sie mit ihrer Freundin spazieren gegangen war, anstatt an der Messe für Schulkinder teilzunehmen. Zahlreiche Passanten waren Zeuge und griffen nicht ein. Selbst die Mutter hatte sich nicht schützend vor ihre Kinder gestellt. Ein Lehrer schildert, wie sein Vater ihn unmittelbar vor der ersten Kommunion mit einem Stock so heftig geschlagen hatte, daß er an seinem Festtag noch immer nicht aufrecht gehen konnte. - Die Reihe dieser Schilderungen ließe sich beliebig fortsetzen. Die Väter waren Fabrikanten, Lehrer, Bauern, Richter oder Pfarrer. Zur Zeit des NS waren sie Soldaten und Offiziere. Bei den Kindern führte diese Gewalt und Mißachtung oft zu unerträglichen Schamgefühlen. Doch auch auf Kinder, die nicht mit solchen »Erziehungsmaßnahmen« traktiert wurden, wirkte sich die nicht verarbeitete Vergangenheit der Eltern aus. Werner Bohleber legt beispielsweise eindringlich dar, warum die Tabuierung der »Verwicklung der Eltern in die NS-Zeit« dazu geführt hat, Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 136 137 Renate Haas »daß die Kinder nicht offen fragen und sich nicht mit den Eltern auseinandersetzen konnten. Ihre Bindung an die Eltern ließ sie, auch wenn sie mehr oder weniger heftige Angriffe führten, die Tabus der Eltern respektieren. [...] Eine wirkliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern konnte kaum stattfinden. Einfühlung in die Nöte der Kinder galt vielfach als Zeichen von Schwäche. [...] Viele Nazi-Eltern erwarteten ein gesteigertes Ausmaß an Loyalität von ihren Kindern und mißbrauchten sie zur Bestätigung ihrer alten Ideale. Täter-Eltern wehrten Trauer, Scham und Schuld durch Rechtfertigung der Ideale und der nationalsozialistischen Identifizierungen ab. Die Kinder wurden benutzt, um sich der Gültigkeit der alten Ideale und Identifizierungen zu versichern. Unerträglicher Zweifel an sich selbst und an den eigenen Idealen hätte zum Zusammenbruch, zu depressiver Entleerung und Selbstanklage geführt, wenn sie zugelassen worden wären. Indem das Kind zur Bestätigung von NS-Idealen, Weltanschauungen und Handlungen herhalten mußte, wurde es zurechtgestutzt. Eigene Schwäche und Versagen, nagender Zweifel und Schuldgefühle wurden projektiv in das Kind transponiert, dort deponiert und verachtet und damit der seelischen Aneignung entzogen. [...] Dem Kind blieb meist nichts anderes übrig, als sich mit diesen Zuschreibungen zu identifizieren, weil es auf die Liebe und Zuwendung der Eltern angewiesen war. Die Kinder erlebten nun verschoben die fremde Schuld als die eigene. So drang die nicht verantwortete Vergangenheit der Eltern in das Leben der Kinder ein und versperrte den psychischen Raum, in dem das Kind seine Identität frei von der entfremdenden Macht des Narzißmus der Eltern hätte entfalten können. Die emotional responsive und die Person des Kindes fördernde Haltung blieb auf der Strecke. Auf diese Weise erwiesen sich die eigene, nicht eingestandene und damit auch nicht ausgesprochene und verantwortete Beteiligung an den Verbrechen und die dabei aufgehäufte Schuld für die nachfolgende Generation als durchaus von traumatischer Qualität« (Bohleber 1998, S. 259ff.). Bohleber greift hier mit seiner Diagnose »transgenerationeller Traumatisierungen« der Nachkommen von Tätern, wie Weigel zeigt, den von Freud (1920g) in Jenseits des Lustprinzips am Beispiel von Tassos Held Tankred diskutierten Traumabegriff auf, der »in der Rezeption seines Trauma-Konzepts bisher kaum beachtet wurde« (Weigel 1999, S. 58). Wie gingen die Töchter und Söhne damit um? Ihre Berufs-, sogar ihre Partnerwahl stand im Zeichen der Selbstheilung und der »Wiedergutmachung« (vgl. Buchholz 1998). Sie wurden Lehrer, Sozialarbeiter oder Erzieher. Zugleich galt ihr politisches und soziales Engagement den Unterdrückten und Entrechteten dieser Welt. Nicht selten befürworteten die Eltern das Interesse an Völkerfreundschaft. Mit solchem Euphemismus glaubten sie sich der Erinnerung an den verbrecherischen Umgang mit den Juden entledigen zu können. Am drastischsten ein Vater, der sich mit achtzehn Jahren freiwillig für den »Feldzug gegen Polen« gemeldet hatte. »Heiratet Neger, Russen oder Chinesen, auf keinen Fall aber Deutsche«, so der Rat an seine vier Töchter. Im Beruf konnte sich das Trauma darin äußern, daß etwa Pädagogen sich bereits zu einer Zeit um Migrantenkinder kümmerten, da »Gastarbeiter« von der Schulpolitik noch nicht zur Kenntnis genommen wurden. Und zwar nicht nur weil Parteien aller Couleur damals von einem nur vor- übergehenden Aufenthalt in Deutschland ausgingen, sondern weil man sie, mit Cohn-Bendit zu sprechen, noch immer als Menschen zweiter Klasse behandelt hat. Nicht selten besuchten sie die Familien der Kinder und bemühten sich, sie von der Notwendigkeit schulischer Bildung zu überzeugen. Was die offizielle Bildungspolitik heute als Novum verkündet, wird seit Jahrzehnten von Einzelnen praktiziert. Fasziniert »vom Leben in der Gemeinschaft«, aber auch von der »Freundlichkeit« und »Wärme«, die diese Lehrer in den türkischen Familien wahrzunehmen meinten, entwickelten sie interkulturelle Unterrichtsprojekte, veranstalteten Lesungen türkischer Märchen oder feierten türkische Feste. Diese Haltung erinnert an eine bestimmte Charakteristik des Ethnologen: »Der Wert, den er der fremden Gesellschaft beimißt und der um so höher zu sein scheint, je exotischer die betreffende Gesellschaft ist, besitzt keine objektive Grundlage; er stellt vielmehr eine Funktion der Geringschätzung, manchmal sogar der Feindseligkeit dar, die der Ethnograph für Sitten und Gebräuche seiner eigenen Umgebung empfindet. Während er zu Hause die traditionellen Einrichtungen zu untergraben, wenn nicht zu stürzen versucht, benimmt er sich respektvoll, ja konservativ, sobald er sich einer fremden Gesellschaft gegenübersieht« (Levi-Strauss 1960, zit. n. Erdheim 1988, S. 23f.). Erdheim zufolge handelt es sich hier um Exotismus, der in der Adoleszenz seine besondere Ausprägung erhält. So wie einst entwicklungsgemäß die Eltern idealisiert wurden, werden nun die Fremden idealisiert, der Jugendliche versieht sie mit Qualitäten, die er zu Hause, in der eignen Kultur vermißt. »Exotismus zieht zwar den Jugendlichen in die Fremde, fördert in diesem Sinn die Trennung von der Familie und ihren Werten, konserviert aber im Untergrund die alten Bindungen. [...] >Exotisch< ist das, was einen nicht an die eigene Familie erinnert und trotzdem deren Werte und Gewohnheiten bestätigt« (Erdheim 1987, S. 261 u. 260f.). Daß das Alte j ederzeit wieder aktiviert werden kann, darauf deutet heute der Ruf nicht weniger dieser Pädagogen nach »Anpassung«.2 Wie ist diese Wende zu verstehen? Solange der Exotismus zur Abwehr von Schuld- und Schamgefühlen eingesetzt werden konnte, wa2 Doch ist der Exotismus nicht gänzlich verschwunden. Jüngst konfrontierte uns Ludger Vollmer mit solch exotisierender Vermeidungsstrategie. Er rechtfertigte das von ihm angeordnete Verfahren der Vergabe von Visa mit der Begründung, vor seinem Erlaß hätte es »Willkür und Schikane« gegeben, danach seien »Sicherheit und Freiheit« eingekehrt (Wehner 2004, S. 50). Hier herrscht noch immer eine bestimmte Vision einer multikulturellen Gesellschaft. Sie speist sich aus dem Wunsch, das Fremde sei das Bessere. Deshalb könne multikulturelles Zusammenleben quasi naturwüchsig gelingen, bedürfe keiner politischen, sozialen oder juristischen Gestaltung. 138 Renate Haas ren die Gastarbeiterfamilien, doch auch die Befreiungskampf er in der sogenannten Dritten Welt unverzichtbar. Die hier aufgewachsenen Jugendlichen wehren sich aber zunehmend gegen die Rolle der »bedürftigen und unterentwickelten Türken«. Sie lassen sich nicht länger als »arme Gastarbeiter« behandeln wie noch die erste Generation von Migranten, die überwiegend mit Rückkehrabsicht nach Deutschland gekommen waren und als >manövrierbare Arbeitsmasse<, ausgeschlossen von allen Bürgerrechten, die ihnen zugewiesenen Arbeits- und Lebensbedingungen akzeptiert hatten. Auch konfrontieren sie ihre Lehrer mit ihren eigenen Bedürfnissen, ihrem eigenen Begehren. Wenn etwa Berliner Türken Mädchen aus der Türkei als Ehefrauen bevorzugen, und zwar nicht, wie unterstellt, weil sie »unterwürfige« Frauen erwarten, sondern weil sie das Verhältnis, das sich hierzulande zwischen den Geschlechtern eingestellt hat, nicht als Nonplusultra empfinden; auch hier ist die »Geschlechterspannung« (Heinrich 1962) nicht in Balance gebracht. Vor allem aber konfrontieren sie uns mit einem Problem, das Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit (1935) als »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem« entfaltet hat. Bloch differenzierte sie als Ungleichzeitigkeit von Bewußtseinslagen, von sozialen Klassen, Produktionsweisen zwischen Stadt und Land, verschiedenen Regionen, Nationen, von politisch-rechtlichen Strukturen. Im Zuge der Globalisierung gewinnt sie auf andere Weise an Brisanz als zu Beginn des NS: Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem in einer Gesellschaft tritt in Konstellation zu der anderer Gesellschaften; durch Migration ist das Zusammentreffen vieler Ungleichzeitigkeiten eher der Normalfall. In der eingangs erwähnten Geschichtsstunde wurden Lehrer wie Schüler mit Genoziden aus ganz unterschiedlichen Regionen und Zeiten konfrontiert, mit Formen ihrer »Aufarbeitung« und zumeist wohl ihrer Verdrängung (Adorno 1966, S. 35). In Ermangelung eines hermeneutischen und analytischen Rüstzeugs, mit dem den vielschichtigen, widersprüchlichen Realitätserfahrungen begegnet werden könnte, versagen hier viele Pädagogen: auch weil sie die Beschämung und Mißachtung, die sie selbst als Kinder erfuhren, bis heute nicht verarbeitet haben. Wenn Kinder in der Schule unbewältigte Konflikte aus der Familie in Szene setzen oder Schüler mit kulturell anderem Hintergrund nach Anerkennung heischen, reagieren Lehrer oftmals wie einst ihre Väter und Mütter: beleidigend und diskriminierend. Oder sie bestrafen schlechte schulische Leistungen mit Liebes- und Aufmerksamkeitsentzug, anstatt sachlich Kritik zu üben. Schule schrumpft dann Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 139 zum familiären Erfahrungsraum (vgl. Erdheim 1982, S. 349). Daß Beschädigungen dergestalt Motiv für Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen sind, hat die Psychoanalyse ausführlich untersucht (Fonagy u. Target 2002, S. 4). Ebenfalls längst nachgewiesen wurde der erhebliche Anteil von Kommunikations- und Beziehungsstörungen am Unvermögen, Texte zu lesen und zu verstehen, ein selbst in der PISA-Studie festgestelltes Phänomen. Weniger erforscht ist der Zusammenhang zwischen Schulversagen, der Neigung zu Gewalt und wiederholter Beschämung in der Öffentlichkeit; wenn etwa die soziale oder kulturelle Herkunft der Kinder und Jugendlichen im Unterricht oder in Schulbüchern als minderwertig dargestellt wird. Ahmeds Ausschluß allein den Lehrern anzulasten, wäre jedoch kurzschlüssig. Geradezu legitimiert wird er nämlich, wie wir im weiteren sehen, durch schulische Richtlinien und deren Auslegung sowie durch pädagogische Programme. Drei Arten, Konflikte zu ignorieren 1. Von der Provinzialität der Schulverwaltung Die Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport publizierte im Juli 2001 eine »Handreichung« zur »Interkulturelle[n] Bildung und Erziehung«. Sie gilt als ein erster Schritt, der von der Kultusministerkonferenz 1996 ausgesprochenen Empfehlung nachzukommen, die Lehrpläne und Rahmenrichtlinien für alle Schulfächer im Zeichen eines neuen Verständnisses von Interkulturalität zu überprüfen. Die Autoren bemängeln dann, »[d]ie praktische Umsetzung interkultureller Erziehung kollidiert noch immer mit Schulbüchern, Schulgesetzen und Rahmenplänen, die sich einem eher national orientierten antiquierten Kulturbegriff verpflichtet fühlen und ethnozentristisches Denken fördern« (Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport 2001a, S. 31). Sie bestätigen also, was Schulbuchanalysen seit langem monieren (u. a. Schissler 2003). Als Fazit der »Handreichung« sieht sich die Berliner Lehrerschaft aufgefordert, »Lehrpläne kritisch zu lesen«und sich das »Lehrmaterial mit interkulturellen Inhalten« selbst zu besorgen, damit der überfällige Paradigmenwechsel im Unterricht vollzogen werden könne. Warum die Umsetzung der Empfehlung von 1996 den Lehrkräften überlassen wird, dürfte daran liegen, daß man sich in der Senatsschul- 140 Renate Haas Verwaltung über den Stellenwert einer interkulturellen Erziehung nicht einig ist. Die für die Entwicklung der Rahmenlehrpläne Zuständigen neben der betreffenden Stelle in der Administration z.B. der Verband deutscher Geschichtslehrer - hielten noch im Mai 2002 die Empfehlung für nicht sinnvoll oder gar für obsolet. Im Geschichtsunterricht den Veränderungen unserer Gesellschaft zu entsprechen, etwa durch den Vergleich kultureller und nationaler Entwicklungen, oder indem man den Transfer zwischen den Kulturen thematisiert, führe vor allem bei jüngeren Schülern nur zu Verwirrung. Statt dessen werden Programme geboten wie Eine Welt der Vielfalt, es beruht auf dem in den USA entwickelten World ofDifference, das dort zwar von führenden Erziehungswissenschaftlern und Schulpädagogen wie James Banks längst kritisiert worden ist, doch hierzulande gilt es als Dernier cri. In diesem Programm findet sich die eingangs beschriebene »exotisierende Haltung« der Lehrer wieder. So taucht in ihm kein einziger Konflikt auf, der nicht zur Zufriedenheit aller gelöst werden könnte. Was nur deshalb gelingt, weil zentrale Realitätserfahrungen ausgeblendet werden. »[IJrrationale Angst vor Schlangen und vor Fremden« beispielshalber bekämen Kinder, die nicht zwischen »harmlosen und gefährlichen Schlangen unterscheiden« könnten, weil ihnen ein differenziertes Wissen über Schlangen, aber auch über Fremde fehle {Eine Welt der Vielfalt, 1998, S. 114f.). Abgesehen von der dubiosen Konnotation von Menschen bzw. Fremden mit Schlangen oder auch Insekten und ungeachtet dessen, daß konträr zu dieser Mischung aus positivistischer Beschränktheit und Ideologie die Kulturgeschichte >wimmelt< von solch hochbesetzten Metaphern, die es zu interpretieren gilt, wird hier ebensowenig bedacht, daß Stereotype Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 141 die deutsche Sprache so, daß sie ihre intergenerativen Migrationserfahrungen bei der Interpretation historischer oder literarischer Stoffe einzubringen vermögen, dann werden die Lehrer in den westlichen Metropolen nicht mehr umhinkönnen, »ihrer postkolonialen Geschichte, die von den in sie hineinströmenden Nachkriegsmigranten und Flüchtlingen erzählt wird, als einer einheimischen Narrative zu begegnen, die ihrer nationalen Identität inhärent ist; und der Grund hierfür wird in den gestammelten, trunkenen Worten von Mr. >Whisky< Sisodia aus den Satanischen Versen deutlich: >Das Problem mit den Engländern ist, daß sich ihre Gesch Gesch Geschichte im Ausland abgespielt hat, drum wiss wissen sie nicht, was sie bedeutet.«* (Bhabha 1997, S. 130). Hier versagt Bildungspolitik. Schüler mit Migrationshintergrund haben längst damit begonnen, sich mit ihren Herkunftskulturen auseinanderzusetzen. Sie beziehen sich dabei auf lokale wie globale Diskurse. Sie wehren sich dagegen, daß ihre Herkunftsgesellschaften und Religionen allein im Spiegel der europäischen Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibungen dargestellt werden: verzerrt, diskriminierend, rassistisch, oder aber, daß man sie einfach vergißt. Vorbilder finden sie unter Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern. In seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche berichtete der aus Nigeria stammende Chinua Achebe, er sei Schriftsteller geworden, weil er Ryder Haggards »unmöglichen Figuren« oder Joseph Conrads »Romanzen« Menschen entgegensetzen wollte. »Und ich wollte sie weder besser noch schlechter darstellen, als sie wirklich waren. Es schien mir einfach eine Sache der Gerechtigkeit, daß ich versuchte, ihnen in meinen Erzählungen eine Heimat zu geben« (Achebe 2002). Zu Vorbildern können aber auch politische Bewegungen werden, »aus der Hilflosigkeit [entstehen], in die eine Person dann gerät, wenn der Zusammenhang zwischen ihrem Handeln und den dahinterliegenden Motiven zerrissen ist. [...] Falsches Bewußtsein [...] kann aufgehoben werden, wenn die Aufklärung die ökonomischen und sozialen Interessen des Individuums berücksichtigt. Stereotype erweisen sich als hartnäkkiger, denn sie aufzuarbeiten bedeutet für das Individuum, Gefühlen und Phantasien innezuwerden, die die innere Sicherheit des Individuums bedrohen, wenn sie bewußt werden« (Bosse o.J., S. 17f.). Neuerdings wird nun in DAZ (Deutsch als Zweitsprache) das Wundermittel gesehen. Sprachförderung ist überfällig. Doch zu glauben, »Deutschförderunterricht« führe zu gesellschaftlicher Integration, gar zu Homogenität oder beflügle die Fähigkeit, mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Erfahrungen umzugehen, wird sich bald als Trugschluß erweisen. Beherrschen die kulturell mehrfach Sozialisierten erst »Welche die seitens der Industrieländer proklamierte, sog. Neue politis ehe und wirtschaftliche Weltordnung nicht mehr blind und hörig akzeptieren und die pauschal mit dem Fundamentalismus mehr inkriminiert als identifiziert werden« (Mirmehdi 2003, S. 8). Dabei verhält es sich keineswegs so, wie uns eine Berliner Schulrätin angesichts der Gewaltandrohung eines palästinensischen Jugendlichen gegenüber einer Lehrerin im Tagesspiegel glauben machen wollte, daß der »internationale, politisch oder religiös motivierte Extremismus« naturwüchsig seinen Niederschlag in unseren Schulen finde. Dem Extremismus oder Nationalismus, bis hin zur mörderischen Selbstzerstörung, gehen oftmals körperliche und seelische Gewalt, wiederholte Diskriminierung und Mißachtung voraus. Letztlich hängt alles davon ab, ob Jugendliche einen Weg finden, solche Erfahrungen - als Gegenstand ihres Interesses, womöglich als »Lebensthema« (Bohleber 2002) 142 Renate Haas - zu verarbeiten, oder ob sie in den »Sog« der »Katastrophenfaszination«3 geraten. Die psychosexuelle Reifung der Jugendlichen und der Prozeß ihrer Ablösung von den Eltern lassen sie in ein Selbstverhältnis treten, »Vergangenes symbolisierten]« und machen es »dem Prinzip der Nachträglichkeit zugänglich« (Erdheim 1998, S. 178). Die »frühkindliche Entwicklung des Menschen mit ihrer oralen, analen und phallischen Phase« ist die »Voraussetzung für den Erwerb von >Kultur<, insbesondere von Sprache, Verhaltens- und Anpassungsweisen, [...] wohingegen die Fähigkeit, das so Erworbene als etwas Veränderbares und Umzugestaltendes zu betrachten, ein Ergebnis adoleszentärer Prozesse ist. Es ist das Prinzip der Nachträglichkeit, das in der Adoleszenz dem Determinismus der frühen Kindheit Schranken setzt und dem historischen Bewußtsein seine Grundstruktur verleiht« (S. 176; Hervorheb. R.H.). Demzufolge werden »Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren [...] später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit« (Laplanche u. Pontalis 1967, S. 313). Die Adoleszenz bietet - was die Institution Schule bislang kaum berücksichtigt hat - nicht nur die Chance, Störungen, die aus der Kindheit herrühren, zu korrigieren, vielmehr kann sich in dieser Zeit, mit Robert Musil zu sprechen, so etwas wie ein »Möglichkeitssinn« (Musil 1930-1952, Kap. 4) entwickeln. Aber kennt die Lehrerschaft das >Objekt< ihrer pädagogischen Begierde? 2. Modell »Demokratie lernen und leben« - Assimilationsgebot und das moralische Individuum als Erkenntnissubjekt? Das bildungspolitische Reformprojekt Demokratie lernen und leben versteht sich als »Antwort« auf »gegenwärtige Krisenerscheinungen« wie die »Zunahme von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeind3 »Sog« (hier bezogen auf das Problem der »Katastrophenfaszination«), ein von dem Religionsphilosophen Klaus Heinrich geprägter Begriff, meint ein »Rücktauchen in einen Zustand [...], wo nicht einmal mehr die Mühe des Saugens erforderlich ist, sondern das Gesogen-Werden sie sozusagen als ihre Umkehrung ersetzt« (Heinrich 1987, S. 91). Daß eine solche »Totalregression« nicht nur bei den »Sogopfern in den öffentlichen Anstalten« stattfindet, »die dort mit einem Schuß zuviel aufgefunden werden« (S. 92), sondern ebenso in »sich jenseits der eigenen Subjektivität ansiedelnden Philosophien«, »die mich als Subjekt in sich aufgehen [lassen]« und die einem die »Subjektlast« (S. 89; ders. 1993a) abnehmen, hierauf hat Heinrich im weiteren aufmerksam gemacht. Denn »um dieser Sogfaszination willen wird unendlich viel in Kauf genommen, unter Umständen« sogar »das Einverständnis mit Massenzerstörung, Massenmord, Massenselbstmord« (1987, S. 91). Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 143 lichkeit« (Edelstein u. Fauser 2001, S. 8). Ziel ist die »Entwicklung kognitiver wie sozialer Fähigkeiten und kommunikativer Kompetenzen sowie der Aufbau von Haltungen, die sich an moralischen Werten orientieren«. Dazu gehören die »Achtung der Grund- und Menschenrechte, die Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Menschen als Basis eines demokratischen Zusammenlebens« (Senatsverwaltung für Schule, Jugend u. Sport 2001b, S. 1). Daß dieses von Wolfgang Edelstein und Peter Fauser entwickelte Modell seit April 2002 in zwölf Bundesländern eingesetzt wird, hängt auch mit dem Terrorangriff vom 11. September 2001 in New York zusammen. Interkulturelle Erziehung habe versagt, sie habe zu Toleranz und Respekt gegenüber kulturell Anderen geführt, nicht aber zu demokratischen Werten und Menschenrechten angehalten, so damals die Diagnose von Christian Petry (Freudenberg Stiftung). Die Autoren berufen sich in ihrer Analyse auf Emil Durkheims (religions-) soziologische Untersuchungen Über die Teilung der sozialen Arbeit (1893) und Der Selbstmord (1897). Durkheim zufolge entwickelten sich im Zuge der »Teilung der sozialen Arbeit« segmentäre Gesellschaften zu organischen. In ersteren herrsche eine moralische Ordnung oder Solidarität, die als »mechanisch« bezeichnet wird; die meisten Individuen hätten sich in ihrer gesellschaftlichen Position prinzipiell wenig voneinander unterschieden, rituell verankerte Wertgewohnheiten ließen kaum Gelegenheit zu individuell verantwortetem Handeln mit individualisierten Leistungsanforderungen und spezifischen Kompetenzzumutungen. Ganz anders hingegen in einer organischen, vielfältig arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen. Hier bedürfe es der funktionalen Koordination unterschiedlich aktivierter Individuen in unterschiedlichen Struktursegmenten. »Einheit« werde in einem »übergreifenden sozialen und moralischen< Organismus gefunden, dessen Träger indessen nicht mehr die überlieferten korporativen Glieder der traditionellen Gesellschaft sind, etwa Stamm, Dorf oder Hierarchie, sondern das zu sich selbst und seiner je eigenen Leistung und Verantwortung freigesetzte Individuum. [...] Enttraditionalisierung und Säkularisierung [sind erst heute] auf die Bildungsprozesse der Individuen, auf die psychologischen Verhältnisse, die die Institution Schule charakterisieren, voll durchgeschlagen« (Edelstein 2001, S. 16-18). Damit »ausländischen und vor allem [...] fremd-kulturelleQ Bevölkerungsgruppen« integriert würden, müßten sie rechtlich und politisch gleichgestellt werden (Edelstein u. Fauser 2001, S. 50). Auch sollte ihnen ein besserer Zugang zu den »sozialen Subsystemen« wie Vereinen, Gleichaltrigengruppen usw. gewährt werden, basale und bis heute nicht eingelöste Voraussetzungen also. Seltsam mutet deshalb die Forderung 144 Renate Haas einer »Verhaltensassimilation« an, worunter »Kulturation und Akkulturation in das gesellschaftliche Normensystem, in Rollenerwartungen [...] Werte und Sprache der Aufnahmegesellschaft«, ja selbst die Übernahme der »Lebensgewohnheiten« verstanden wird (ebd.; Hervorheb. R.H.). Spätestens mit einem solchen Postulat wird der Begriff der Integration aufgegeben. Integration nämlich verstanden als eine Option, die sich laut Dieter Grimm, einem der führenden Verfassungsjuristen in Deutschland, von Assimilation dadurch unterscheidet, daß von Migranten gerade »keine völlige Angleichung an Werthaltungen und Lebensformen der Aufnahmegesellschaft erwartet wird«.4 Abgesehen davon stellte sich rasch die Frage, »an genau welche Kultur oder Gesellschaft [...] sich denn ein (vorübergehend?) in die Bundesrepublik Deutschland migrierter irischer Elektroingenieur oder ein asylsuchender anglo-indischer Intellektueller anpassen [sollte] ? An das französisch beeinflußte Großbürgertum Hamburgs oder besser an die Kanakken-Rap-Kultur der Frankfurter Kinder türkischer Gastarbeiter?« (Bronfenu. Marius 1997, S. 19.) Entscheidend jedoch ist, daß Migranten sich mit dem Rückgriff auf die Durkheimsche >Moralsoziologie< nicht als Subjekte begreifen lassen, die auch eine Geschichte haben. Um Anomie entgegenzuwirken und »Einheit« der Gesellschaft zu fördern, sollen alle Fächer in den Dienst einer Moralerziehung gestellt, die Unterrichtsstoffe so aufbereitet werden, daß sich Kinder und Jugendliche mit »moralrelevanten Konflikten«, und zwar anhand sogenannter Dilemma-Diskussionen, auseinandersetzen müssen.5 Selbst die interkulturelle Erziehung soll dergestalt fundiert werden, daß sie mit ei4 Grimm 2002. Mit ihrem Assimilationsgebot knüpfen Edelstein u. Fauser an ein politischideologisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts an, das u.a., wie Hans Liebeschütz zeigt, zum NS geführt hat. Trotz aller Differenzen waren sich damals liberale wie ultrakonservative Historiker einig in der »Ablehnung eines pluralistischen Elements im Aufbau des Nationalstaates« (Liebeschütz 1967, S. 199). Theodor Mommsens Empfehlung, »daß diejenigen, für die das Judentum nur eine Konvention bedeutete, die ernste Gefahr in Betracht ziehen sollten, die ein Leben in zwei Gemeinschaften in sich schließt«, »läßt keinen Zweifel daran, daß eine Massenbekehrung der Juden aus diesem rein weltlichen Gesichtspunkt heraus die beste Lösung der strittigen Frage sei« (S. 194). 5 Dazu greifen sie auf Kohlbergs sechsstufiges Modell der Moralentwicklung zurück: Es ist »aus Piagets Psychologie der kognitiven Entwicklung hervorgegangen und hat dessen Theorie des moralischen Urteils beim Kinde über Piaget hinausgeführt (Piaget 1973). Dabei weist die Theorie alle wesentlichen Elemente der Entwicklungstheorie kognitiver Strukturen im Sinne Piagets auf: Stufen der Entwicklung als qualitativ unterschiedliche Organisationsformen des Denkens und Argumentierens (ganzheitliche Organisation der Entwicklungsstufen, >kognitive Weltbilden); deren qualitative Transformation zu höherstufigen Formen, die invariante Abfolge der Stufen und die zentrale Bedeutung der Struktur im Verhältnis zu den Inhalten« (Edelstein 2001, S. 26). Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 145 nem »alters- und schulstufenübergreifende[n] Curriculum« zur Bildung eines »[kulturjübergreif enden, normativen Horizonts« führt (Edelstein u. Fauser 2001, S.64f.). Jeden Eigensinn einer Kultur, ihrer Geschichte und Geschichtsschreibung, ihrer Künste, Religion(en) oder Literatur, über das Deklinieren von Wertekonflikten, den Maßstab einer Kultur zu balb ieren - welch eine Barbarei! »Literatur«, sagt Chinua Achebe (2003), »gibt uns einen zweiten Zugriff auf die Wirklichkeit.« »Nur Erzählungen übertönen den Lärm der Kriegstrommeln. Nur Erzählungen retten unsere Nachfahren davor, wie blinde Bettler in die Dornen eines Stacheldrahtzaunes zu stolpern.« Ein Bewußtsein von der »eigene[n] Partikularität« ist Bedingung dafür, daß sich »die gemeinsamen Diskursvoraussetzungen, Interpretationen und Wertorientierungen herausschälen können«, darauf weist Habermas beharrlich hin (so z. B. 2001, S. 182f.). Wenn also eine vergleichende Literatur-, Geschichts- und Religionswissenschaft Einblick in die Besonderheit von Gesellschaften gäbe, in deren Konflikte und Konfliktlösungsversuche -Demokratie lernen und leben vermittelt nicht den Hauch einer Vorstellung davon. Statt dessen wird Migranten eine »überdurchschnittliche Anomie« attestiert, sie wiesen ein »durch die Wanderung destabilisierte[s] Persönlichkeitssystem« auf (Edelstein u. Fauser 2001, S. 50). Folglich gäbe es »[m]it ihnen [...] keine Gemeinsamkeiten mehr, nichts, woraus man lernen könnte, um das Eigene zu verändern. Das Verhältnis zum Fremden ist in erster Linie ein Macht- und VerteidigungsverhÄhnis. Vom Fremden her droht nur Zerstörung; es gilt, das Eigene davor zu bewahren. Freud spricht in diesem Zusammenhang von der latenten (Kultur-)Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten<, die man >übersehen< hat. Vielleicht wäre es besser, den Ausdruck >Kulturf eindschaft< durch >Geschichtsf eindschaf t der besser beteilten Gesellschaftsschichten< zu ersetzen. Es würde deutlicher werden, daß es die Verwandlung von Kultur ist, wogegen sie sich wehren. Für sie bleibt das fremd, was sie nicht in ihre Geschichte aufnehmen können, abspalten und, wenn möglich, vernichten müssen« (Erdheim 1988b, S.250f.). Zugegeben, es gibt nicht wenige »destabilisierte« Migranten in unserer Gesellschaft; aber nicht weil Migration zwangsläufig solch eine »Persönlichkeitsstruktur« hervorbringt, sondern weil Flüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten bereits in ihren Herkunftsländern unter extremen Bedingungen leben. Auch wenn Deutschland, wie Schiffauer feststellt, »keine koloniale Vergangenheit mit einem der Herkunftsländer seiner Migranten hat«, »kein geschichtliches Trauma von kolonialer Unterdrückung oder antikolonialer Gewalt das Verhältnis zu unseren Muslimen belastet« (Schiffauer 2004, S. 31), sind doch nicht wenige Migranten zu uns als Flüchtlinge gekommen. Sie stammen aus Ländern, unter deren 146 Renate Haas Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen (Militär-)Diktaturen sie gelitten haben. Die Erfahrung von Vertreibung, Folter, von Demütigungen und Vergewaltigung hinterläßt bei ihnen unübersehbare Spuren. Werden sie in hiesigen Behörden, Schulen oder Krankenhäusern erneut mißachtet oder diskriminiert, droht Retraumatisierung (Wirtgen 1997). Wird ihnen weder in der Schule noch in den »Integrationskursen« die Möglichkeit gewährt, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen, sie zu verarbeiten, dann besteht die Gefahr des Rückzugs in ethnische Gruppierungen, die vermeintlich Sicherheit bieten. In Demokratie lernen und leben werden indessen nicht nur die Erfahrungen der Migranten nicht wahrgenommen, ebensowenig interessiert die Genese der deutschen »Modernisierungsverlierer«, von denen ein nicht unerheblicher Teil zu Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit neigt. Dies erstaunt um so mehr, als in der Adoleszenz das Verhältnis zu (kulturell) Anderen seine entscheidende Ausprägung erfährt. In dieser Zeit bilden sich Xenophobie oder Exotismus aus (Erdheim 1988b, S. 237), und obgleich seit geraumer Zeit die mangelnde Reichweite soziologischer Forschungen zur Erklärung dieser Phänomene bekannt ist, finden sich in der Bibliographie des Gutachtens weder sozialpsychologische Studien noch (ethno-)psychoanalytische Forschungen. Viele Faktoren - so die These der Kritiker -, die als Ursachen für Rechtsradikalismus angeführt wurden, gälten auch für größere gesellschaftliche Gruppen, die nicht in toto rechtsradikal würden. Erst die »subjektive Verarbeitung« dieser Einflußfaktoren entscheide darüber, ob ein Individuum rechtsextrem werde oder nicht: »[A]us nicht bewältigten (d. h. letztlich: abgewehrten) lebensgeschichtlichen Konflikten resultieren autoritative Unterwürfigkeit und Aggression, bzw. Verschmelzungs- und Idealisierungstendenzen (im Hinblick auf Personen, Gruppen, symbolische Einheiten). Opfer der damit verbundenen Projektions- und Spaltungsmechanismen sind in der Regel diejenigen, die aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit oder anderen gesellschaftlichen Klassifikationen als >Feinde<, >Außenseiten, >Fremde< oder auch nur einfach als Schwächere gelten« (Clemenz 1998, S. 161). Eine Moralerziehung, die weiterhin intrapsychische Dimensionen der Konflikterfahrung ausblendet, wird gegen zivilisationsfeindliche Tendenzen wenig ausrichten können. Obschon ihre Theoretiker mittlerweile erkennen, »Moralentwicklung häng[e] von Stimulierung ab«6, dürfte 6 »>Rein kognitive Anregung« sei ein »notwendiger Hintergrund der Moralentwicklung, bringt diese jedoch nicht unmittelbar hervor. [....] Von größerer Bedeutung als die Faktoren, die die rein kognitive Entwicklung fördern, sind [...] Rollenübernahme-Gelegenheiten [...]. Die soziale Erfahrung unterscheidet sich vom Umgang mit Dingen dadurch, daß 147 ihr Ansatz scheitern, wenn bei Jugendlichen das Vermögen zu Empathie oder Perspektivenwechsel blockiert oder unausgebildet bleibt, sei es, weil den Heranwachsenden ungelöste frühkindliche Konflikte oder familiäre Probleme derart in Anspruch genommen haben, daß er sich von der Familie nicht hat lösen, sich dem Außen nicht hat zuwenden können. Oder sei es in Ermangelung eines >Übergangsraumes Schule<, der zur Erprobung des Umgangs mit Migration und Globalisierung verhelfen würde. Anstatt Ängste und Regressionen der Jugendlichen aufzunehmen, wird pathologisiert oder kriminalisiert. Beispielshalber von jenem Jugendforscher und Mitverfasser einer Shellstudie, der sich für die Erklärung des Massakers in einem Erfurter Gymnasium wortreich für unzuständig erklärte, um dann desto bestimmter auf Pathologie zu plädieren und Einweisung in die Psychiatrie - Thema war das Warum. Es geht, wohlgemerkt, nicht um die Rechtfertigung krimineller Handlungen; die derzeit praktizierte Pädagogik, auch die politische Bildung schöpfen ihre Handlungsspielräume aber nicht aus. Sie bieten kein Konzept, wodurch »Spannungen«, die im Individuum, in der Gesellschaft, innerhalb einer jeden Kultur, nicht allein zwischen den Kulturen bestehen, sich wahrnehmen und halten ließen (Heinrich 1987, S. 93). Daß »das Modell aller Spannungen« die »Geschlechterspannung« ist—»[k]eine Zivilisation wäre denkbar ohne [sie]« -, darauf deutet Klaus Heinrich hin. »Sie ist das, was die Gattung erinnerungsfähig macht, das, was die Gattung handlungsfähig macht, [...] und dient als Schubkraft in allen Spannungen. Sie ist sozusagen der Stoff, aus dem das bewegte Leben der Gattung gemacht ist« (S. 91).7 Im Anschluß an Freud eine »Kunst des Zuhörens« zu entwickeln, die das Verständnis von Symptomen im Klassenzimmer förderte und dadurch vielleicht die oft bequeme Scheidung in »pathologisch und normal« zu überwinden erlaubte, wäre freilich nur eine Voraussetzung. Eine weitere bestünde darin, europäische wie außereuropäische Literaturen und Geschichtsschreibungen, nicht anders die verschiedenen Religionen als »kollektive Formen der Selbstverständigung« (Heinrich 1993b) zu besie Rollenübernahme einschließt: Man vollzieht die Haltung anderer nach, vergegenwärtigt sich ihre Gedanken und Gefühle, versetzt sich in ihre Lage« (Kohlberg 1976, S. 52f.). Dieser Rollenbegriff berücksichtigt nicht, was Parin in seiner Schrift Der Widerspruch im Subjekt (1978) mit dem Konzept der »Anpassungsmechanismen« analysiert: wie sich gesellschaftliche Machtverhältnisse in der sozialen Organisationsform einer Institution niederschlagen und sich über die institutionelle Zuweisung von Rollen im Handeln der einzelnen durchsetzen. 7 Daß es »bis heute nicht gelungen« ist, »die Geschlechterspannung in Balance zu bringen«, legt Heinrich in seinen religionswissenschaftlichen Schriften dar. 148 Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen Renate Haas greifen. Oder auch die Kosten gewisser Lösungsversuche: Fixierungen und Erstarrungen. Mit ihnen als dem, was wir hinter uns lassen müssen, »ein Bündnis zu schließen«, wäre eine weitere Voraussetzung, um »gegen die Katastrophenfaszination, die uns mit Subjektlosigkeit ködern will, wieder ein realistisches Verhältnis zu uns selbst« zu gewinnen (Heinrich 1987, S. 93; 1993a). Und warum gewinnt Moralerziehung an Bedeutung? »Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Gewalt in der Schule, Politikverdrossenheit« gefährde den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Als »wesentliche Ursachen für den Verlust an Orientierung und Integration ins politische System« wird der »zeithistorischeQ Umbruch der Industriegesellschaft und des lebenslauforganisierenden Arbeitsund Berufssystems« angeführt (Edelstein u. Fauser 2001, S. 14). Bei denjenigen, die aus diesem Prozeß als »Modernisierungsverlierer« herausfallen, lasse sich »Anomie als Pathologie« (S. 15) feststellen. - Mit dem Begriff der Anomie hatte Emile Durkheim, auf den Edelstein sich bezieht, 1897 den »Dauerzustand der Welt des Handels und der Industrie« gekennzeichnet. Während Edelstein in einer Schrift von 2001 damit noch den normativ ungezügelten Individualismus der Jungen charakterisiert hat, verwendet er »Anomie« in Demokratie lernen und leben zur Stigmatisierung der »Modernisierungsverlierer«, ebenso der »destabilisierten« Migranten. Was aber, wenn das Programm, das dergestalt pauschal über Migranten urteilt, in Zeiten des Umbruchs und knapper werdender Ressourcen zumindest auch diejenigen meint, die gerade durch Migration (inter-) kulturelle Kompetenzen erworben haben, sich in ganz unterschiedlichen Deutungs- und Bezugssystemen bewegen und durch solche Geschmeidigkeit die Einheimischen zu überflügeln drohen: also Konkurrenz? Junge türkische Erzieher sprengten, Untersuchungen unseres Instituts zufolge, durch ihre zweifache Sozialisation die Rollenfixierungen, da sie mit den Mentalitäten beider Kulturen vertraut waren und daraus neue Ideen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln suchten. Sie verkörpern Kulturvermischung, die sie in der Institution ein Stück weit verwirklichen wollten. Diese Provokation ihrer überwiegend monokulturell orientierten Kollegen - der deutschen wie der türkischen - führte zum Ausschluß derer, die das interkulturelle Programm der Institution nur wörtlich genommen hatten (Haas 1998, S. 126ff.). Wird Migranten per se eine »überdurchschnittliche Anomie« attestiert, wird in Bausch und Bogen behauptet, sie wiesen ein »durch die 149 Wanderung destabilisierte[s] Persönlichkeitssystem« auf, dann liegt der Verdacht nahe, daß Pathologisierung dazu dient, sich der Konflikte zu entledigen, die durch die »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem« entstehen. Das hier zugrundegelegte Modell von Gesellschaft, deren »Einheit« in einem »übergreifenden sozialen und moralischen< Organismus« gefunden werden soll (Edelstein 2001, S. 16), sieht antagonistische Interessen nicht vor. Nach Durkheims Auffassung eines linearen Geschichtsverlaufs hätten beispielshalber Religionen ihre Funktion längst eingebüßt, im Zuge der »Teilung der sozialen Arbeit« sei an ihre Stelle Gerechtigkeit bzw. Solidarität getreten. Diese Logik ignoriert, daß Religionen, hier oder anderswo, selbst in säkularisierter Form, noch immer Wirkungsmacht haben (Geertz 1999; vgl. Habermas 2001).8 Wenn es sich so verhält, dann hätten die durch den Kampf um materielle Ressourcen, nicht minder um »symbolisches Kapital« (Pierre Bourdieu) und soziale Anerkennung verursachten Konflikte im Zentrum einer Bildungsreform zu stehen. Die Entwicklung von Konfliktfähigkeit und einem für den Umgang mit Interessen- und Wertekollisionen notwendigen Wissen ist aber nicht allein zugunsten unserer Gesellschaft dringend geboten. Denn Programme wie »Erziehung zu Demokratie und Achtung der Menschenrechte« werden seit 1998 im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes in europäische und außereuropäische Krisengebiete exportiert. 3. »Interkulturelles Geschichtslernen« - Rollenspiel zur Eliminierung von Geschichte Zur avanciertesten Position der Geschichtsdidaktik zählt momentan Bettina Alavis Ansatz Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft, der bereits Eingang in die Lehrerbildung gefunden hat (Alavi 1998). Unter ihren Vorschlägen zur »Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen«findet sich als Beispiel der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich der Jahre 1915/16. Gleich zu Beginn ihrer Ausführungen weist Alavi auf die Schwierigkeit bei der Behandlung dieser Ereignisse hin, daß »die verschiedenen türkischen Regierungen bis zum heutigen Tag die Pogrome, Todesmärsche und Massaker nicht als Völkermord anerkannt haben«. 8 Was nicht heißt, daß es heute keinen Sinn mehr machte, sich auf Durkheim zu beziehen, hat er doch in Über einige primitive Formen von Klassifikation das Bewußtsein dafür geschärft, daß kulturell Andere nicht anders sind, sondern die Welt räumlich und zeitlich mit anderen Kategorien ordnen (Durkheim u. Mauss 1903). 150 Renate Haas Diese Haltung teile »ein Großteil der türkischen Minderheit in Deutschland«. Auch im Unterricht komme es zu »[e]motionale[n] Reaktionen und nationalgeprägte[n] Aussprüche[n] wie >Kümmert euch um euren eigenen Völkermord!<«, zu »gegenseitige[m] Aufrechnen von Schuld« (S. 334f.). Um das zu vermeiden, greift die Autorin - entgegen ihrem Programm, Konflikte gerade nicht zugunsten einer »harmonistischen Veranstaltung« auszusparen -, willentlich oder nicht, zu einem Trick: Sie verlagert ihre Thematik von der Behandlung des Genozids an den Armeniern zum Nachvollzug eines »authentischen historischen Falles«, des Prozesses gegen einen armenischen Attentäter. Im Berliner Strafprozeß von 1921 wurde das tödliche Attentat verhandelt, das Soghomon Teilirian auf den ehemaligen Innenminister Talaat Pascha verübt hatte. Talaat, einer der für den Genozid Hauptverantwortlichen, der schon in Istanbul 1919 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, lebte inkognito in Berlin (das Deutsche Reich war im 1. Weltkrieg mit der Türkei verbündet). Der Prozeß gegen Teilirian endete mit Freispruch. Psychiatrische Gutachten hatten bestätigt, daß er sich aufgrund seiner Traumatisierung als Opfer des Genozids in einer Ausnahmesituation befunden habe. Alavis »didaktisch-methodisches« Modell sieht nun vor, daß die Schüler in die Rolle der Geschworenen »schlüpfen« und in einem »klar umrissenen« Fall auf »schuldig« oder »nicht schuldig« erkennen: Anstatt zunächst die Ausschlußlogiken, die zu dem Genozid geführt hatten, und auch Motive zu untersuchen, warum er solange in Vergessenheit geraten konnte, wird er zu einer Art Hintergrundwissen marginalisiert. Per Identifikation mit der Rolle der Geschworenen werden die Schüler allein auf diese eine Perspektive vereidigt. Sie werden didaktisch vom Geschichtsstoff Genozid, seiner Genese wie seiner aktuellen Virulenz (den von der Autorin gefürchteten »Emotionen«), abgelenkt. Mein Augenmerk dagegen gilt einem Verfahren, das gerade von Identifikationen, Störungen und Irritationen seinen Ausgang nimmt, denn sie zeigen an, was dringend der Aufklärung bedarf, andernfalls weitere (Selbst-)Zerstörung bewirkt. Warum es so schwer fällt, sich Rechenschaft abzulegen über das Begehen eines »Zivilisationsbruches« (Dan Diner), meinen wir von unserem Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte zu wissen: Es sind nicht allein Aggressionen, es sind Ängste und Regressionen, welche die dünne Schicht der Zivilisation stets aufs neue bedrohen. Wenn deutsche Jugendliche nunmehr in der dritten Generation und Berliner Türken in der sechsten derart betroffen reagieren bei der Behandlung von Völkermorden wie in unserem Fallbeispiel und der Unterricht nicht mehr möglich Die Unfähigkeit, mit (inter-)kulturellen Konflikten umzugehen 151 ist, dann dürften nicht allein Schuldgefühle im Spiel sein, sondern ebensosehr unbewältigte, den Beteiligten nicht bewußte Gefühle der Scham (vgl. Wurmser 1981). Die Frage der Schuld hinsichtlich des von Alavi nur exponierten, aber nicht behandelten Themas Genozid würde sich also keineswegs in der Feststellung erschöpfen, die Türkei habe eben noch nicht die sechste der Kohlbergschen Stufen moralischen Urteilens erreicht (vgl. Kohlberg 1976, S. 52). Schuld zu behandeln, ist fraglos prekär. Doch wen gilt es zu schützen? Wie vermittle ich Schülern ein nicht selbst verdrängendes Geschichtsbewußtsein; ein Reflexionsverhältnis zu historischen Prozessen, das begangenes Unrecht nicht historiographisch gleichsam wiederholt durch Rechtfertigung oder Verschweigen oder eben durch Marginalisierung? Daß dieses Verhältnis eine Innenseite hat, darauf deuten schon die von Alavi befürchteten »Emotionen«: Wann immer ein Geschichtsstoff seine Konfliktqualität unter Beweis stellt, hätte er nichts zu suchen im Geschichtsunterricht ? Was Alavi sich nicht vergegenwärtigt, ist, daß »[e]ine von so zahlreichen und weitreichenden Traumata gebrochene Geschichte [...] nicht mehr in einem tradierten Begriff, sei es dem einer Ereignis-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte« oder dem des Interkulturellen Geschichtslernens »gefaßt werden [kann]. Insofern das Trauma, wo es von einem rein somatischen Phänomen in einen sprachlich-kulturellen Bereich übergeht, zuerst von der Psychoanalyse beschrieben "wurde, folgt dem Einbruch traumatischer Ereignisse in die kollektiven Erfahrungen norwendig der Einbruch psychoanalytischer Bedeutungsfiguren und Untersuchungskategorien in die Geschichtstheorie« (Weigel 1999, S. 52). Wenn es sich so verhält, dann bestünde die Aufgabe einer interkulturellen Geschichtsdidaktik zunächst einmal darin, die Geschichtsschreibungen und Erzählungen aus unterschiedlichen Ländern daraufhin zu untersuchen, wie in ihnen Gewalterfahrung oder Völkermord dargestellt wird. Zum Verständnis kollektiver Traumen bedarf es der Untersuchung des »komplizierte[n] Verhältnis[ses] von Erzählungen und dem, was in ihnen Verschwiegenes zum Ausdruck kommt, um die sprechenden Zeichen und Bilder, die auf die Lücken, auf das Verschlossene und Vergrabene verweisen und es fremdkörperartig erinnern«.9 Mit einem solchen Verfahren lassen sich Exotismus und Assimilation nicht nur, wie Erdheim betont, als »Vermeidungsstrategien« im Umgang mit Migration begreifen. Vielmehr werden sie als »Phantom« für das »Phänomen transgenerationeller Traumatisierung« verstehbar, Weigel 1999, S. 69. Hier auch Weigels Hinweis auf D. Bar-On 1996. 152 Renate Haas »als eine Urphantasie zweiten Grades gleichsam, die sich nicht auf Lücken in der eigenen Erinnerung, sondern auf Krypten und Vergessenes der vorausgegangenen Generation(en) bezieht« (Weigel 1999, S. 70). Woran aber konnte oder wollte sich die große Mehrheit der vorausgegangenen Generation nicht erinnern? War es die »Faszination«, welche die »genealogisierende Beschwörung der Mächte des Ursprungs im Mythos von den Autochthonen oder den Angehörigen einer edlen Rasse« damals auf sie ausgeübt hatte, die als »mächtige[s] politische[s] Werkzeug« zur Legitimierung sozialer und politischer Ungleichheiten eingesetzt worden war (Heinrich 1983, S. 23)? Anschrift der Verf.: Dr. Renate Haas, Institut für Kulturanalyse e.V., Wintersteinstr. 16, D10587 Berlin. E-Mail: info@kulturanalyse.org BIBLIOGRAPHIE Achebe, C. (2002): Menschen in Erzählungen eine Heimat geben. FAZ, 14. 10. 2002. - (2003): SWR2,18.12.2003. Adorno, Th. W. (1966): Über Tradition. In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1969,29-41. Alavi, B. (1998): Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt/M. (IKO-Verl. f. Interkulturelle Kommunikation). Bar-On, D. 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Conclusions from cultural analysis. - Basing her remarks on a case history from a school environment, the author discusses the guidelines for dealing with (inter)cultural conflicts laid down by the Berlin School Authority and two reformatory approaches taken from the sphere of teacher-training. She demonstrates that the concepts underlying these documents are based on binary and linear classification principles. The recourse to such principles makes it impossible to perceive tensions caused by the simultaneity of the non-simultaneous; and where such tensions are perceived, these principles cannot help in dealing with them. The author interprets this deficiency partly as a consequence of the repression of history. To this day, such repression has prevented (not only) educationists from applying methods of dealing with (inter)cultural conflicts that take account of the experience of reality characteristic of youngsters from societies heavily marked by traumas. Keywords: intergenerational traumas, exoticism, assimilation, migration, repression of reality experience Resume L'incapacite ä gerer les conflits(inter)culturels. Un diagnostic culturel-analytique. — En partant d'une histoire de cas scolaire, l'auteure etudie les directives de l'administration scolaire de Berlin ainsi que deux esquisses de reforme dans la formation des enseignants, portant sur le comportement ä adopter devant les conflits (inter)culturels. L'article montre que les concepts qui les sous-tendent reposent sur des schemes de classification binaires et lineaires qui ne permettent ni de percevoir les tensions provoquees par la simultaneite des choses non simultanees, ni de maintenir les tensions perc,ues. Ce manque est, entre autres, interprete comme consequence d'un refoulement de l'histoire, qui empeche jusqu'ä aujourd'hui (non seulement) la pedagogie, de recourir, face aux societes marquees par des traumas, ä des methodes tenant compte de cette experience de la realite. Mots des: traumas intergenerationnels, exotisme, assimilation, migration, refoulement des experiences de la realite