Musikermedizin Rehabilitation der Hand eines Amateur
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Musikermedizin Rehabilitation der Hand eines Amateur
Musikphysiologie und Musikermedizin 2002, 9. Jg., Nr. 2 65 Musikermedizin Rehabilitation der Hand eines Amateur-Gitarristen nach Explosionsverletzung B. Rieck, Th. Giesler, Hildesheim Zusammenfassung Fallbericht Wir berichten über die klinische Behandlung eines 8jährigen Schülers, der eine Explosionsverletzung der linken Hand erlitt. Dabei wurde die Mittelhand knöchern und –im Bereich der ersten Zwischenfingerfalte – muskulär schwer verletzt. Die Primärversorgung bestand in Reposition und Osteosynthese sowie Weichteildeckung mit Spalthaut. In einem zweiten Schritt erfolgte die Oppositionsplastik mit der Sehne FDS IV. In einem dritten Schritt wurde die Adduktionskontraktur der ersten Zwischenfingerfalte gelöst. 19 Monate nach dem Unfall hat der Schüler seinen Gitarrenunterricht wieder aufgenommen. Ein 8jähriger Junge, Sohn eines Landwirtes, entdeckte beim Stöbern auf dem Dachboden eine Wühlmaus-Sprengfalle seines Großvaters. Beim Hantieren mit einer der Sprengpatronen detonierte diese in der linken Hand des Jungen. Bei der Aufnahme zeigte sich eine ausgedehnte zerfetzte schmauchverschmutzte Risswunde , die von beugeseits durch die gesamte erste Zwischenfingerfalte ging (Abb. 1). Schlüsselwörter Opponensplastik, Thenarverletzung, sionsverletzung, Musiker Explo- Summary We report on the clinical treatment of a 8-yearold pupil who suffered an explosion injury of his left hand. There was open fracture and luxation of two metacarpal bones and severe destruction of the first web space muscles. Primary therapy was performed with open reduction and osteosynthesis, and split thickness skin grafting. In a second operation, an opponens-plasty with the tendon of the superficial flexor IV was performed. In a third step, the adduction contracture of the first web space was released. 19 months after the accident, the boy resumed his guitar lessons. Keywords Opponens plasty, Thenar injury, Explosion injury, Musician Abb. 1: Unfallbild von palmar Die Mittelhandknochen II und III waren basisnah frakturiert und, distal noch im Gewebsverbund, durch den offenen Handrücken nach oben geklappt (Abb. 2). Ein großer Teil der Daumenballenmuskulatur war zerstört und avital sowie mit erheblichen Mengen Pulverschmauch durchsetzt. Über der Basis des 2. Mittelhandknochens fehlte ein Stück Haut. Die Durchblutung aller Finger war gut, die Sensibilität nicht zu prüfen, da der Junge unter starken Schmerzmitteln stand. 66 B. Rieck, Th. Giesler - Rehabilitation der Hand eines Amateur-Gitarristen von der Hand abzuspreizen. Danach wurde für weitere 3 Wochen eine C-förmige Schiene zwischen Daumen und Zeigefinger getragen. Abb. 2: Unfallbild von dorsal Intraoperativ zeigte sich eine Verletzung des oberflächlichen Hohlhandbogens, die mikrochirurgisch versorgt wurde. Der motorische Medianusast war gequetscht, die sensiblen Äste waren intakt. Die radialen Beuge- und Strecksehnen waren allesamt unverletzt, lagen aber frei. Die zerfetzten und verschmutzten Weichteile, große Anteile der Daumenballenmuskulatur, wurden entfernt. Die gebrochenen Mittelhandknochen II und III wurden mit Titanplatten übungsstabil rekonstruiert. Zur Druckentlastung wurde der Karpaltunnel gespalten. Durch Rotation des Hautlappens vom Handrücken wurde der II. Mittelhandknochen gedeckt, ein Restdefekt über dem Daumenballen mit einem Hauttransplantat aus der Leiste verschlossen. Unter antibiotischer Behandlung war der Heilungsverlauf unkompliziert. Da die Osteosynthese als übungsstabil anzusehen war, begannen wir am 3. Tag mit passiver Übungsbehandlung des Sattelgelenkes und aktiven Bewegungsübungen der Beuge- und Streckfunktion. Am 10. Tag wurde der Patient entlassen und die Übungsbehandlung ambulant fortgesetzt. Dennoch entwickelte sich eine Adduktionskontraktur des Daumens, und die Opposition war aktiv nicht durchzuführen (Abb. 3, 4). Daher wurde, 6 Monate nach der Verletzung, erneut operiert. Zwischen dem ersten und zweiten Mittelhandknochen fand sich ein ausgedehntes Narbenpaket, nach dessen Lösung ein Abspreizen bis 45° möglich war. Da hierdurch die Haut der 1. Zwischenfingerfalte unter Spannung geriet, wurde eine Fünf-LappenPlastik angelegt. Die Sehne des oberflächlichen Beugers des Ringfingers wurde nun vom Ringfinger gelöst, am Ausgang des Karpaltunnels zum Daumen hin umgelenkt und in der Methode nach Riordan auf Höhe des Grundgelenks am Daumen verankert. Um eine erneute Narbenschrumpfung so gering wie möglich zu halten, wurde für 3 Wochen eine KirschnerDraht-Fixation verwendet, um den Daumen Abb. 3, 4: Adduktionskontraktur Trotz aktiver und passiver Übungsbehandlung, physiotherapeutischer Narbenmobilisation und Ultraschallanwendung bildete sich im Laufe des folgenden Jahres erneut eine Narbenkontraktur. Allerdings konnte der Junge die Opposition gut ausführen und Gegenstände bis 3 cm Größe gut greifen. 18 Monate nach der Verletzung waren konservativ keine weiteren Fortschritte zu erreichen. Daher wurde eine erneute operative Narbenlösung durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass der M. adductor pollicis fibrosiert und verkürzt war. Daher wurde dieser durchtrennt. Danach war die Abspreizung passiv bis 70° möglich. Da keine sonstigen Veränderungen an den Sehnen oder Gelenken vorgenommen worden waren, konnte unverzüglich mit der Physiotherapie begonnen werden. Zwei Wochen später konnte der Junge schmerzfrei eine Mineralwasserflasche greifen, einen Monat später begann er wieder, Gitarre zu spielen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2002, 9. Jg., Nr. 2 67 Abb. 8: Griff mit Konzentration: Die Abduktionseinschränkung ist noch erkennbar. Ausgleichsbewegung im Handgelenk Abb. 5: Abduktion nach 2 Jahren Abb. 6: Opposition nach 2 Jahren Ein Jahr später kam der Junge wieder. Abduktion und Opposition des linken Daumens waren gut (Abb. 5, 6). Er hatte sich nun beim Skifahren den rechten Daumen gebrochen. Nach Abnahme dieses Gipses brachte er seine Gitarre mit und brachte uns ein Ständchen. Der Griff mit dem linken Daumen ist sicher (Abb. 7), allerdings nur mit Konzentration korrekt am Rücken des Halses. Dabei kompensiert der Junge die unvollständige Daumenabduktion durch eine Beugung des Handgelenks (Abb. 8). Er berichtet, sein Gitarrenlehrer arbeite mit ihm an diesem Bewegungsmuster. Abb. 7: Spontaner „lässiger“ Daumengriff, zu hoch am Hals Diskussion Bei schweren Verletzungen der Hand ist die Wahl des richtigen Verfahrens zum Erhalt und zur Wiederherstellung von Funktion und Ästhetik von großer Bedeutung. Oft sind einfache, bewährte Verfahren komplexen Prozeduren im Ergebnis ebenbürtig und daher hinsichtlich einer Risiko-Nutzen-Analyse vorzuziehen. Von ebenso entscheidender Bedeutung aber ist die richtige Strategie, also die Wahl der richtigen Reihenfolge der richtigen Verfahren. In der Nacht nach dem Unfall des hier dargestellten Kindes musste das Ziel in der Sicherung der Durchblutung und Sensibilität, im Entfernen zerstörter Gewebsanteile, in der Reposition und der Osteosynthese bestehen. Daher wurde nach gründlichem Debridement und Wiederherstellung verletzter Blutgefäße der Karpaltunnel gespalten, die Mittelhandfrakturen eingerichtet und mit Titanplatten versorgt. Weichteildefekte in der ersten Zwischenfingerfalte wurden durch einen Rotationslappen vom Handrücken und mit Transplantation dicker Spalthaut auf die restliche Thenarmuskulatur verschlossen. Ein großer Teil der Thenarmuskulatur war durch die Explosion und die Verschmauchung verloren gegangen. Dieser Teil der Verletzung erwies sich als bestimmender Faktor hinsichtlich der weiteren Behandlung und des Endergebnisses. Dass es in der Folge zu einer narbigen Adduktionskontraktur des Daumens kam, war zu erwarten und, trotz sofort einsetzender krankengymnastischer Übungsbehandlung, nicht zu umgehen. Durch die Unfähigkeit zu aktiver Opposition und Schwäche bei der Abduktion konnte der Junge diesen Prozess nicht aufhalten. Es musste damit gerechnet werden, dass eine alleinige Narbenlösung zu demselben Schicksal führen musste. Daher wurde beschlossen, in der 2. Sitzung zusätzlich eine 68 B. Rieck, Th. Giesler - Rehabilitation der Hand eines Amateur-Gitarristen Oppositionsplastik durchzuführen, auch wenn die dazu erforderliche Ruhigstellung einen Teil des Erfolges wieder zunichte machen würde. Alternativen zur Oppositionsplastik wurden diskutiert. Eine Transplantation des motorischen Astes, der bei der Erstoperation gequetscht vorgefunden worden war, war nicht sinnvoll, da ein großer Teil seines Erfolgsorganes fehlte. Die von anderer Seite erwogene freie Muskeltransplantation hätte den Kraftgrad einer üblichen Oppositionsplastik (Abb. 6) nicht erreicht. Für die Wahl des Verfahrens der Oppositionsplastik war entscheidend, dass die Streckseite der radialen Fingerstrahlen durch die Verletzung beeinträchtigt war. Somit schied die Verwendung des M. extensor indicis (8) aus. Da beugeseits ulnar des 1. Medianusastes keine Verletzungen mehr bestanden, gab es keine Kontraindikationen gegen ein bewährtes und einfaches Verfahren wie die Verwendung der Sehne FDS IV nach Bunnell (2, 3) und Riordan (7). Da der Spitzgriff des Daumens zum Ringfinger eine physiologische Oppositionsbewegung bedingt, ist das Erlernen dieser Bewegung für den Patienten besonders einfach. Das von mehreren Autoren (1, 4, 5, 6) geschilderte postoperative Problem einer Beugekontraktur des Ringfinger-Mittelgelenkes ist bei dem Jungen nicht aufgetreten. Ernsthaft erwogen wurde die stärkere Erweiterung der ersten Zwischenfingerfalte, z.B. durch einen Unterarm- oder Interossea-posteriorLappen. Bei der zweiten Operation stellte sich jedoch heraus, dass die Adduktionskontraktur nicht auf einem Hautdefizit beruhte, so dass eine Fünf-Lappen-Plastik ausreichte und dem Jungen die ausgedehnten Narben am Unterarm erspart werden konnten. Nach unkompliziertem Einheilen der Oppositionsplastik konnte der Junge bereits gut opponieren. Durch die Ruhigstellung jedoch, die zum Einheilen der Sehnenzügel nach der Oppositionsplastik erforderlich war, stellte sich erneut eine, wenn auch geringere, Adduktionskontraktur ein. Nun war es aber möglich, eine erneute Narbenlösung durchzuführen und die Hand sofort zur aktiven Übung freizugeben. Bei diesem Eingriff bestätigte sich erneut, dass die Kontraktur kein Hautproblem war, sondern auf narbiger Fibrose von Teilen der Reste der Thenarmuskulatur herrührte. Nach dieser dritten Operation machte der Junge rasche Fortschritte und hat nun eine sehr erfreuliche Handfunktion wieder erreicht. Seit der dritten Operation hat der Patient seinen Gitarrenunterricht wieder aufgenommen, den er bereits vor dem Unfall begonnen hatte. Zusammen mit seinem Lehrer arbeitet er an weiterer Verbesserung des Gegengriffes des linken Daumens, um einen kraftvolleren Griff und raschere Bewegungsabläufe zuzulassen. Ein professionelles Gitarrespiel ist mit der derzeitigen Grifftechnik nicht möglich, aber gemessen an seinem Alter und seiner Verletzungspause spielt der Junge recht akzeptabel und sicher. Da er glaubhaft schon vor dem Unfall keine Berufsmusikerkarriere geplant hatte, wird ihm das Gitarrespiel nun trotz des Unfalles eine schöne Freizeitbeschäftigung bleiben. Und es trägt in erkennbarem Maß zur weiteren Rehabilitation der verletzten Hand bei. Literaturverzeichnis 1. Buck-Gramcko, D.: Motorische Ersatzoperationen bei Medianuslähmungen. In: BuckGramcko, D. (Hrsg.): Motorische Ersatzoperationen der oberen Extremität, Band 2, Hippokrates Stuttgart 1991, S. 54 – 67 2. Bunnell, S.: Reconstructive Surgery of the Hand. Surg. Gynec. Obstet. 39 (1924) 259 274 3. Bunnell, S.: Surgery of the Hand. 4. Aufl. J.B. Lippincott Co., Philadelphia 1964 4. Goldner, J.L.: Replacement of the Function of the Paralyzed Adductor Pollicis with the Flexor Digitorum Sublimis. A Ten-Year Review. J. Bone Jt. Surg. 49-A (1967) 583 – 584 5. Jacobs, B., Thompson, T.C.: Opposition of the Thumb and its Restoration. J. Bone Jt. Surg. 42-A (1960) 1015 – 1026 6. North, E.R., J.W. Littler: Transferring the Fexor Superficialis Tendon: Technical Considerations in the Prevention of Proximal Interphalangeal Joint Disability. J. Hand Surg. 5 (1980) 498 – 591 7. Riordan, D.-C.: Surgery of the Paralytic Hand. Instructional Course Lectures. American Academy of Orthopaedic Surgeons, Vol. 16 Mosby, St. Louis 1959, p. 79 – 90 8. Vossmann, H., P.-R. Zellner: Opponensplastik unter Verwendung des M. extensor indicis. Handchirurgie 13 (1981) 52 – 55 Korrespondenzadresse: Priv. Doz. Dr. med. Bernd Rieck Dr. med. Thomas Giesler Klinik f. Plastische Chirurgie und Handchirurgie Städtisches Krankenhaus Hildesheim GmbH Weinberg 1 31134 Hildesheim b.rieck@stk-hildesheim.de