Pressemappe spielzeiteuropa
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MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Inhaltsverzeichnis Luc Bondy | Cruel and Tender Heiner Goebbels | Eraritjaritjaka – Musée des phrases (Museum der Sätze) Béla Pintér | Roncsolt Kópia (Zerkratztes Zelluloid) János Mohácsi | Csak egy szög (Nur ein Nagel) John Jesurun Shatterhand Massacree – Riderless Horse Chang in a Void Moon / Episode #58 Philoktetes Robert Lepage | The Busker’s Opera Wanda Golonka | An Antigone Ausstellungen Emilio García Wehbi Philoktet-Projekt: Lemnos in Berlin Licht! Ljus! Lumière! 10 Installationen – 6 Künstler/innen Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo CRUEL AND TENDER von Martin Crimp nach „Die Trachinierinnen“ von Sophokles Regie – Luc Bondy Bühne – Richard Peduzzi Kostüme – Rudy Sabounghi Mit Kerry Fox, Joe Dixon, Toby Fisher, Georgina Ackerman, Jessica Claire, Lourdes Faberes, Nicola Redmond, Michael Gould, David Sibley, Aleksandar Mikic u.a. Produktion Wiener Festwochen, Young Vic, London, und Chichester Festival Theatre In Koproduktion mit Théâtre des Bouffes du Nord, Paris, Ruhrfestspiele Recklinghausen, TNP, Villeurbanne und Festival d’Automne à Paris 6. – 9. Oktober | 20 Uhr Haus der Berliner Festspiele In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln | Dauer 120 Min (keine Pause) Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Luc Bondy | Cruel and Tender Fasziniert von Sophokles’ selten gespielter Tragödie „Die Trachinierinnen“ über den antiken Helden Herakles und seine Frau Deianeira, regte Luc Bondy den englischen Dramatiker Martin Crimp zu einem neuen Stück an, das den Stoff in eine unheimliche Gegenwart transponiert. An einem Verbannungsort im Niemandsland in der Nähe eines großen Flughafens (im Original: Trachis) wartet Amelia (Deianeira) auf die Heimkehr des heldenhaften Generals (Herakles). Isoliert im Kreis ihrer fürsorglichen Angestellten schwanken ihre Gefühle zwischen Erwartung, Hoffnung und Sorge. Nachrichten aus der Außenwelt bekommt sie nur von Besuchern aus der hohen Politik und den Medien. Die Rückkehr des Generals, der durch die Berichte als zentrale Gestalt immer gegenwärtig ist, obwohl er erst im letzten Drittel die Bühne betritt, scheint bevor zu stehen. Doch es gibt schlimme Gerüchte: Hat er bei seinem Anti-Terroreinsatz in Afrika Kriegsverbrechen begangen? Um dies zu entkräften, schickt der General zwei junge Menschen aus dem Krisengebiet zu Amelia, Laela und ihren kleinen Bruder, angeblich Überlebende eines Massakers. Sie soll ihnen ein neues Zuhause geben. Oder ist Laela seine neue Geliebte, wegen der er eine ganze Stadt in Brand gesetzt hat? Amelia schickt ihm ein Nessos-Hemd der eigenen Art: Wie in der antiken Vorlage entpuppt sich, was als Liebeszauber gemeint ist, als tödliches Gift. In der Hauptrolle von Luc Bondys Uraufführungsinszenierung – seiner ersten englischen Regiearbeit – spielt die neuseeländische Filmschauspielerin Kerry Fox, bekannt geworden u.a. durch Jane Campions Film „An Angel at My Table“ und hoch gelobt für ihre Rolle in Patrice Chéreaus „Intimacy“. Luc Bondy Biografie Geboren am 17.7.1948 in Zürich, Sohn des Publizisten François Bondy. Verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Frankreich. Nach dem Besuch der Pantomimenschule von Jacques Lecoq gab er sein Debüt am Théâtre Universitaire International in Paris, wo er mit Erfolg eine Novelle von Gombrowicz für das Theater adaptierte. 1969 Regieassistent am Hamburger Thalia Theater. 1971 erste Inszenierung in Deutschland: „Narr und Nonne“ von Stanislaw Witkiewicz am Jungen Theater Göttingen. Es folgten Arbeiten in Hamburg, Nürnberg, Düsseldorf, Wuppertal und Darmstadt. Durchbruch 1973 mit Edward Bonds „Die See“ am Münchner Residenztheater (Theatertreffen Berlin 1974). 1974– 76 Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt; in der Folge übernimmt er die Regie zahlreicher Stücke an der von Peter Stein geleiteten Berliner Schaubühne, 1981/82 auch am Schauspiel Köln. 1984 erste Regiearbeit in Frankreich mit Schnitzlers „Terre étrangère“ („Das weite Land“) am Théâtre des Amandiers, Paris-Nanterre (für diese Inszenierung wurde er mit dem Deutschen Kritikerpreis, Abteilung Theater, ausgezeichnet). 1976 Debüt als Opernregisseur mit Alban Bergs „Wozzeck“ an der Hamburgischen Staatsoper, 1978 folgt dort „Lulu“. Seit 1986 zahlreiche Operninszenierungen, die u. a. bei den Wiener Festwochen (1986 Mozarts „Così fan tutte“, 1990/91 „Don Giovanni“, 2000 Verdis „Macbeth“, 2002 Brittens „The Turn of the Screw“) und den Salzburger Festspielen (1992/ 93 Strauss’ „Salome“, Musikalische Leitung Christoph von Dohnányi; 1995/96 Mozarts „Le nozze di Figaro“, Musikalische Leitung Nikolaus Harnoncourt) zu sehen sind. Bondys letzte Opernarbeit, „Hercules“ von Georg Friedrich Händel (Musikalische Leitung William Christie), hatte im Juli 2004 beim Festival in Aix-en-Provence Premiere. Von 1985 bis 1987 war Bondy Mitglied in der neuen Dreier-Direktion an der Berliner Schaubühne nach dem Rücktritt von Peter Stein. Danach arbeitete er wieder als freier Regisseur, blieb der Schaubühne jedoch fest verbunden. Ab dem Sommersemester 1997 bis Juni 2001 hatte er eine Gastprofessur für Regie am Max-Reinhardt-Seminar inne. Vom September 1997 bis Juni 2001 war Luc Bondy Schauspieldirektor, seit 1. Juli 2001 ist er Intendant und alleiniger Künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen. Wichtige Theaterinszenierungen (Auswahl) 1973 „Die See“ von Edward Bond, Residenztheater München 1974 „Glaube, Liebe, Hoffnung“ von Ödön von Horvath, Schauspielhaus Hamburg 1982 „Kalldewey Farce“ von Botho Strauß (Adaption), Schaubühne Berlin, Uraufführung 1984 „Terre étrangère“ („Das weite Land“) von Arthur Schnitzler, Theatre des Amandiers, Paris-Nanterre 1985 „Triumph der Liebe“ von Marivaux, Schaubühne Berlin 1989 „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß, Schaubühne Berlin, Uraufführung 1990 „Das Wintermärchen“ von Shakespeare, Schaubühne Berlin 1992 „Schlußchor“ von Botho Strauß, Schaubühne Berlin („Inszenierung des Jahres“) 1993 „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß bei den Salzburger Festspielen, Uraufführung 1994 „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke, Schaubühne Berlin 1995 „Der Illusionist“ und „Träumen wir!“ von Sacha Guitry, Schaubühne Berlin 1996 „Jouer avec le feu“ von August Strindberg,Théâtre Vidy-Lausanne 1998 „Phèdre“ von Jean Racine, Théâtre Vidy-Lausanne (Wiener Festwochen 1998) 1998 „Figaro lässt sich scheiden“ von Ödön von Horváth für die Wiener Festwochen (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 1999) 1999 „En attendant Godot“ von Samuel Beckett, Théâtre Vidy-Lausanne/Wiener Festwochen 2000 „Die Möwe“ von Anton Tschechow, Wiener Festwochen / Burgtheater Wien (ausgezeichnet mit dem ersten Wiener Theaterpreis NESTROY und ausgewählt zur besten deutschsprachigen Aufführung) 2000 „Drei Mal Leben“ von Yasmina Reza, Burgtheater (Akademietheater) Wien, Uraufführung 2001 „Auf dem Land“ von Martin Crimp, Schauspielhaus Zürich 2002 „Unerwartete Rückkehr“ von Botho Strauß, Berliner Ensemble, Uraufführung 2004 „Cruel and Tender“ von Martin Crimp nach Sophokles’ „Die Trachinierinnen“, Young Vic, London, Uraufführung Spielfilme 1980 „Die Ortliebschen Frauen“ (Grand Prix du Jeune Cinéma, Festival d’Hyères 1981) 1987 „Das weite Land“ nach Arthur Schnitzler 2004 „Ne fais pas ça!“ (französisch-deutsche Koproduktion, Drehbuch Philippe Djian in Zusammenarbeit mit Luc Bondy) Publikationen Luc Bondy: Das Fest des Augenblicks, Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1997 Luc Bondy: Wo war ich? Einbildungen, Ammann Verlag, Zürich, 1998 C. Bernd Sucher: LUC BONDY Erfinder, Spieler, Liebhaber, Residenz Verlag, Edition Burgtheater, Salzburg und Wien 2002 Kerry Fox Biografie Geboren in Wellington, Neuseeland. Bekannt wurde Kerry Fox bei uns 1990 durch ihre Hauptrolle in dem Film „An Angel at My Table“ („Ein Engel an meiner Tafel“) von Jane Campion, eine Künstlerbiografie über die neuseeländische Schriftstellerin Janet Frame. Nach ihrer Mitwirkung in Danny Boyles „Shallow Grave“ („Kleine Morde unter Freunden“, 1994) spielte sie erneut eine Hauptrolle in dem hoch gelobten „Welcome to Sarajevo“ (1997) von Michael Winterbottom. 2001 schließlich folgte die Hauptrolle in „Intimacy“ von Patrice Chéreau, für die sie bei den Berliner Filmfestspielen 2001 den Silbernen Bären als beste Schauspielerin gewann. Weitere Filme mit Kerry Fox u.a.: Gillian Armstrongs Familiendrama „The Last Days of Chez Nous“ („Wege der Liebe“, 1991) mit Bruno Ganz, Michael Tuchners Drama „The Sinking of the Rainbow Warrior“ („Anschlag auf die ‚Rainbow Warrior’“, 1992) mit Jon Voight und Sam Neill, Elaine Proctors „Friends“ („Eine Freundschaft“, 1993), John Reids Thriller „Taking Liberties“ („Der unsichtbare Tod“, 1993), Moira Armstrongs Liebesfilm „A Village Affair“ („Eine unerhörte Affäre“, 1994) mit Jeremy Northam, Michael Blakemores Literaturverfilmung „Country Life“ („Der Besuch aus England“, 1994), Paul Seeds Liebesdrama „Verbotene Leidenschaft“ (1995), David Attwoods Ehedrama „Saigon Baby“ (1995). 1996 drehte sie mit Richard Harris einen Film in Kenia („To Walk With Lions“) und stand 1998 mit Stephen Dillane und Jude Law in Po-chih Leongs Horrordrama „The Wisdom of Crocodiles“ („Die Weisheit der Krokodile“) vor der Kamera. Als Theaterschauspielerin ist Kerry Fox neben Wellington und Sydney eng der Londoner Theaterszene verbunden, wo sie unter anderem am New Ambassadors Theatre („In Flame“), am Royal Court Theatre („I Am Yours“) und am Donmar Warehouse Theatre („The Maids“) auf der Bühne stand. „Cruel and Tender“ ist ihre erste Arbeit mit der Young Vic Theatre Company. Martin Crimp Biografie 1956 in Dartford/Kent geboren, studierte in Cambridge englische Literatur. Er ist einer der erfolgreichsten Vertreter der neuen britischen Dramatik („new writing“) und Autor zahlreicher Theaterstücke, die, in viele Sprachen übersetzt, weltweit aufgeführt werden. Seine ersten Werke wurden am Orange Tree Theatre in Richmond I London uraufgeführt: Auf sein Debüt Living Remains (1982) folgten dort 1984 Four Attempted Acts, 1987 Definitely the Bahamas, 1988 Der Handel mit Clair (Dealing With Clair), eine verstörende Satire auf das Maklergeschäft, und 1989 Spiel mit Wiederholungen (Play With Repeats). Mit No One Sees the Video, das in der unwirklichen Welt der Marktforschung angesiedelt ist, schrieb Crimp 1990 sein erstes Stück für das Londoner Royal Court Theatre, das auch die Uraufführungen seiner weiteren Stücke zeigte: 1991 Das stille Kind (Getting Attention), das bereits 1987 entstanden war und in dem Crimp anhand des Themas Kindesmisshandlung erstmals das heutige Großstadtleben untersucht, 1993 Der Dreh (The Treatment), für das er den John Whiting-Dramatikerpreis erhielt, und 1997 Angriffe auf Anne (Attempts on Her Life). Crimp hat außerdem eine Reihe von preisgekrönten Hörspielen geschrieben und Übersetzungen und Bearbeitungen veröffentlicht, darunter Le Misanthrope nach Molière, 1997 Bernard-Marie Koltès’ Roberto Zucco (Royal Shakespeare Company) und im selben Jahr für Simon McBurneys Complicite Eugene Ionescos Die Stühle (Royal Court Theatre), das 1998 auch am New Yorker Broadway lief. Martin Crimp lebt mit seiner Frau, einer Mathematikerin, und seinen drei Kindern in der Nähe von London. Theaterstücke CRUEL AND TENDER, nach Sophokles’ „Die Trachinierinnen“, Premiere: 13. Mai 2004, Young Vic Theatre, London, Regie Luc Bondy FACE TO THE WALL, Premiere: Royal Court Theatre, London, März 2002 THE COUNTRY („Auf dem Land“), Premiere: Royal Court Theatre, London, Juni 2000 ATTEMPTS ON HER LIFE („Angriffe auf Anne“), Premiere: Royal Court Theatre, London, März 1997 THE TREATMENT („Der Dreh“), Premiere: Royal Court Theatre, London, April 1993; im Public Theatre, New York, Oktober 1993 GETTING ATTENTION (geschrieben 1987), Premiere: West Yorks Playhouse und Royal Court Theatre Upstairs, 1991, Regie Jude Kelly NO ONE SEES THE VIDEO, Premiere: Royal Court Theatre Upstairs, 1990, Regie Lindsay Posner PLAY WITH REPEATS, Premiere: Orange Tree Theatre, London 1989, Regie Sam Walters DEALING WITH CLAIR, Premiere: Orange Tree Theatre, London 1988, Regie Sam Walters DEFINITELY THE BAHAMAS, Premiere: Orange Tree Theatre, London 1987, Regie Alec McCowen FOUR ATTEMPTED ACTS, Premiere: Orange Tree Theatre, London 1984 LIVING REMAINS, Premiere: Orange Tree Theatre, London 1982 Übersetzungen / Bearbeitungen THE FALSE SERVANT (Die falsche Zofe) von Marivaux, englische Fassung (Premiere 1. Juni 2004, Royal National Theatre, London) THE MERRY WIDOW (Die lustige Witwe), Neuübersetzung für die MET, Februar 2000 THE TRIUMPH OF LOVE (Triumph der Liebe) von Marivaux, englische Fassung (Almeida Theatre, September 1999) THE MAIDS (Die Zofen) von Jean Genet, Übersetzung (Young Vic, London, Juli 1999) ROBERTO ZUCCO von Bernard-Marie Koltès, englische Fassung (Royal Shakespeare Company, November 1997) THE CHAIRS (Die Stühle) von Eugene Ionesco, Übersetzung (Complicite / Royal Court, London, November 1997) THE MISANTHROPE (Der Misanthrop), eine Version (Young Vic, London, Februar 1996; CSC Theatre, New York, 1999, in den Hauptrollen Uma Thurman und Roger Rees) DIE ZEIT | 22/2004 Aiii! Papa ist ein Mörder „Cruel and Tender“: Luc Bondy und Martin Crimp aktualisieren Sophokles in London von Robin Detje In den Trachinierinnen, einer frühen und weniger beliebten Tragödie des Sophokles, entpuppt sich der große Held und Eroberer Herakles als Schwein. Nur um seine Frau mit einer Jüngeren betrügen zu können, vernichtet er eine Stadt und ihre Bewohner. Hinter politischen und militärischen Vorwänden verbergen sich die niedersten Motive: Gekränktheit und Geilheit von monströsen Ausmaßen. Mit keinem Stück könnte man dieser Tage eine genauere Punktlandung im Hier und Jetzt vollbringen und dem stolzen westlichen Kulturkreis, dessen Kreuzzug gegen den Terror sich als Terrorfeldzug zur Erschließung neuer Pornodrehorte entlarvt hat, besser Furcht und Schrecken vor sich selbst lehren. Sophokles’ Tragödie besteht aus einer Reihe eher steifer Verlautbarungen im öffentlichen Raum. Sie erzählt von der unglücklichen Verknüpfung des Barbarischen mit dem Edlen, von der Mühsal des Zivilisationsprozesses und seinen Rückschlägen, von der Fehlbarkeit, Sterblichkeit und sogar Schuldfähigkeit hoch verehrter Halbgötter. Dem Herakles, Befehlshaber eines Massakers aus Lust, der sich gewiss keinem internationalen Strafgerichtshof unterworfen hätte, wird durch seinen Gott Sophokles mit Hilfe eines vor langer Zeit ermordeten Kentauren ein gerechter Tod bereitet. Die Gattin operiert als Vollstreckerin, unwissentlich, weshalb sie sich das Leben nimmt. Vor dem Tod, der die Erfüllung eines Orakels bedeutet, verdonnert Herakles seinen Sohn dazu, die eroberte Geliebte zu heiraten und sichert so nach militärischen und privaten Blutbädern den Fortbestand der Vaterlinie. Schuld und Blut zum Trotz, die Sippe muss überleben – wozu die selbst nicht schuldlosen Götter weise nicken. Martin Crimps Neufassung mit dem Titel Cruel and Tender aktualisiert das Original, und Luc Bondy inszeniert sein Stück am kleinen Londoner Young Vic im klassischen Stil des bürgerlichen Trauerspiels mit ein paar grotesken Elementen. Aus Herakles wird ein General im Krieg gegen den Terror (zur Zeit Schwarzafrika), aus seinem Herold ein Minister, der pausenlos am Handy hängt. Herakles’ Sturz ist ein inszenierter Politskandal; er stirbt nicht, er wird abgeführt und droht mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher. Die Grundstruktur aus Botenberichten und Monologen bleibt bei allen Neuerungen erhalten, was zu einem Krieg zwischen antikem Pathos und modernen Sitzelementen führt. Er geht nicht gut für diesen Abend aus. Luc Bondy, der Intendant der Wiener Festwochen, die als Koproduzent fungieren, ist ein Spezialist für bürgerlich zartes Begehren und eine feine Theaterwelt, die man mit spitzen Fingern beklatschen muss. Nun sieht er sich plötzlich mit roher Gewalt konfrontiert. Er verlegt sie ins Private, in ein über Eck gestelltes grünliches Apartment, in die Welt von Wer hat Angst vor Virginia Woolf. Hier wird vor allem eine Ehekrise ausagiert, von nervösen und gebildeten Wesen, denen die altgriechisch-tragödische, von den Göttern bestimmte Verantwortung für das große Ganze fremd ist. Der moderne Mensch lässt sich nicht so leicht in Sippen-Erhaltungshaft nehmen. Weder der Bühnenbildner Richard Peduzzi noch der Regisseur, noch der Autor finden Bilder für den Raum des Öffentlichen. Erst im dritten Teil lauern die Medien vor der Tür auf den in seiner Schuld gefangenen General, und man muss seinen Abgang für sie inszenieren. So beginnt Kerry Fox als Generalsgattin Amelia den Abend in angemessener Weise im Allerprivatesten: im Bett. Intimacy hieß ihr Film, den sie mit Patrice Chereau gedreht hat. Sie ist eine Darstellerin von fleischlicher Wucht und beginnt mit ihrem ersten Satz einen großen Zornes- und Verzweiflungsgesang, der bis zu ihrem letzten Abgang nicht mehr nachlässt. Niemand kommt dagegen an. Ob sie nun hingerissen ist oder sich nicht traut, Luft zu holen – sie setzt kein einziges Mal ab und wirkt wild entschlossen, den Abend ganz allein zu schultern. Amelias Sohn James (Toby Fisher) ist ein Schnösel und Nichtsnutz; ihre Trainerin, Haushälterin und Kosmetikerin – Amme und Chor in weiblicher Dreifaltigkeit – belagern sie gutmütig und feindselig. In dieser stacheligen Welt hat ein General eigentlich nichts mehr zu melden. Und auch dass diese Frau später aus Versehen zur Mörderin ihres untreuen Gatten wird, glaubt man ihr nicht. Hier heult Medea! Diese Kraft kennt keinen Zufall. Diese Frau, die ganz zu Beginn erklärt, sie wolle kein Opfer sein, würde selbst zuschlagen. Der Selbstmord mit Autoabgasen ist kein angemessenes Ende für sie. Und die Entzauberung des vergifteten Kentaurenbluts zum chemischen Kampfstoff aus dem Labor gehört zu den platteren Einfällen des Autors. Wir mögen Generäle heute nicht mehr so. Es fiele uns schwer, sie uns als Sohn des Zeus und als Helden vorzustellen. Halbgöttergleich wäre eher ein Medienjongleur und spin doctor wie Alistair Campbell, Tony Blairs aus dem Amt geschiedener Medienberater. Einer, der sich die Macht nimmt und lacht, wenn er sie wieder verliert, unheimlich, bedrohlich und flirrend zugleich. So einer ist bei Martin Crimp Jonathan, ein Minister der Regierung, der erst versucht, die Untaten des Generals vor Amelia zu verheimlichen, und dann eiligst General und Skandal wieder loswerden muss. Aber obwohl er mehr zu sagen hat als Sophokles’ unehrlicher Herold Lichas, erlaubt Crimp ihm in seiner Griechentreue dennoch nicht, die Heldenrolle im Stück zu übernehmen und die eigentlichen Schlachten zu schlagen. Georgina Ackerman spielt Laela, das exotische Objekt der Begierde, und verrät ihre Rolle nicht an den Ethno-Kitsch. Sie ist die freundlichste und sachlichste Sexbombe, die man je gesehen hat. Der General tritt uns bei Bondy nackt entgegen, entblößt bis auf ein paar blutige Verbände und tropfende Schläuche. Es gibt keinen mythischen Glorienschein mehr, den wir ihm aus dem Publikum zuwerfen könnten und der die Erniedrigung wieder wettmachte. Joe Dixon spielt den General fauchend und mit vorgeschobener Unterlippe in einem ein-dimensionalen Kraftakt. Bondy stößt ihn in eine Heldenrichtung, für die wir weder Auge noch Verständnis mehr haben. Außerdem muss Dixon es mit der Stemmleistung seiner geradezu dämonisch übermächtigen Kollegin Fox aufnehmen, deren Figur sich bei seinem Auftritt leider schon umgebracht hat. So bleibt er im Kampf mit ihr allein. Crimps und Bondys Methode der Aktualisierung wirkt allzu oft wie ein Versuch, sich vor den Herausforderungen der Sophokles-Tragödie zu drücken. Die Regie weicht sogar der hohen Sprache aus, mit der Crimp sein Stück geschmückt hat: Manches große Wort, das Kerry Fox an die Wände des Bühnenbilds richtet, putzt ihr Personal gleich wieder naturalistisch auf. Martin Crimps Sprache aber ist das eigentliche Ereignis dieser Uraufführung, poetisch und schwül und tänzerisch und kalt. Jeder Anfall der Figuren ist wie abgezirkelt, und in ihrer höchsten Erregung fallen dann irgendwelche Worte aus der Alltagswelt über sie her, mit denen sie nichts anfangen können. Das sind große Brüche, die von der Inszenierung leider geschäftig und geschickt – auch feinfühlig und liebevoll – geglättet werden. Den Versuch war es wert, und der Schauwert der Veranstaltung ist bei allen Verlusten noch immer groß. Man kann das ganze Spektakel in seinem Aktualisierungsfuror kabarettistisch finden und gar nicht sehen wollen, weil man Anstand für Gutmenschentum hält. Aber da wir aus den Nachrichten wissen, dass wir so sind, wie wir uns hier über die Bühne lügen, werden wir uns so darstellen lassen müssen, was dem Stück und der Aufführung am Ende doch noch mit angemessener Gewalt, mit Blut, Schweiß und Tränen gelingt. Bei der Londoner Premiere saß der Halbgott im Publikum, von geradezu übermenschlichem Glanz und doch ganz nah, mitten unter den Theaterbürgern: Jude Law, der Hollywoodstar. Mächtig, aber nicht allmächtig, und immer vom Absturz bedroht. Sicher schuldbeladen. Eben aus dem Bild auf der griechischen Vase gestiegen. Eine schöne Projektionsfläche. Mensch und Sinnbild zugleich; diesmal für das, was an Sophokles nicht aktualisierbar war. Neue Zürcher Zeitung | 25. Mai 2004 Dunkle Kriegssouvenirs Luc Bondy mit Martin Crimps „Cruel and Tender“ von Barbara Villiger Heilig Falschmeldung. Der englische Dramatiker Martin Crimp liefere mit «Cruel and Tender» das erste Stück über den Irak-Krieg, stand in einem Begleittext. Das stimmt nicht nur nicht, weil Elfriede Jelinek mit ihrem «Bambiland» schneller war. Es stimmt vor allem deshalb nicht, weil es in Crimps Neufassung der sophokleischen «Trachinierinnen» zwar um Krieg geht, das Stück aber weder strategische Handlungen noch politische Fehlentscheide zum Thema hat. Sondern, genau wie bei Sophokles, die Schicksale zweier Menschen, deren Liebe der Krieg zerstört. Aus Deianira und Herakles, dem mythischen Paar, werden Amelia und «der General», Leute von heute mit Gefühlen von immer. Crimp hat den Mythos nicht «aktualisiert». Mythen, das ist ja ihre Kraft, sind ewig «aktuell». Sie erzählen Grundlegendes der menschlichen Erfahrung, das sich in jeder Zeit wiederholt. Wenn die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, dann folgt ihr die Liebe auf dem Fuss. «Love and truth» gehören zusammen, erklärt Amelia dem anpasserisch-karrieresüchtigen Regierungsfunktionär namens Jonathan, der ihr vorlügt, die mitgebrachte junge Schwarze sei ein vom siegreichen General gerettetes Opfer. In Wirklichkeit handelt es sich bei dieser Laela um des Generals Geliebte, für die er, so stellt sich heraus, eine Stadt dem Erdboden gleichmachte. Der Held - ein kriegsverbrecherischer Womanizer? In der Uraufführungsinszenierung von Luc Bondy, einer englischen Produktion (bzw. Koproduktion diverser internationaler Partner), die kurz nach London am Sonntag bei den Wiener Festwochen Premiere hatte, kommen weder Helden noch Sieger vor, nur Verlierer: Täter, die mehr oder weniger schuldhaft zu Opfern werden. Das Politische - der kriegerische Hintergrund - stellt den Rahmen von schicksalhafter Bedingung und Bedingtheit her, welcher hier Menschen zusammen- oder besser auseinander führt. Von action keine Rede. Die Geschichte läuft linear ab, der antiken Vorlage auch darin treu. Dramatisch in höchstem Mass ist sie dennoch. Das Drama ereignet sich, langsam und spannungsvoll, erst im Niedergang der überragenden Amelia von Kerry Fox; dann, ein Abspann mit Höhepunkt, im peinvoll-jämmerlichen Auftritt des grandiosen Generals von Joe Dixon. Zwei unglaubliche Schauspieler. Trägheit und Bedrohung Der Rest des Ensembles liefert ihnen freilich mehr als Stichworte. Die Nebenrollen sorgen für eine emotional verdichtete Atmosphäre zwischen Trägheit und Bedrohung, die sich unheimlich entfaltet im Übergangszuhause der wartenden Generalsgattin. Richard Peduzzis Mehrzweck- raum mit zusammengewürfelter Sitzgruppe, Fitnessmaschinen, einem Doppelbett und einem gut bestückten Bar-Rolltischchen fängt die unaufgeräumte Stimmung ein. Drei Angestellte (Sophokles‘ Chor), zuständig für Haus- und Körperpflege, kümmern sich lieber um eigene Belange. Sie schwatzen, rauchen, kichern - auf minimale komische Einlagen mag Bondy auch in der Tragödie nicht verzichten -, während Amelia redet. Trotz ihrer quasi professionellen Gefasstheit teilen sich Unbehagen, Überreiztheit, Vorahnungen mit. Welche Frau würde sich wohl einfach freuen auf das Wiedersehen mit einem Mann, der jahrelang als Krieger hauptamtlich verrohte? (Hier wird die Tagesaktualität, sprich Irak, tatsächlich relevant: für die Bebilderung unserer Vorstellungswelt.) Das Verhängnis naht in Gestalt zweier Boten. Richard (David Sibley), ein versoffener Journalist - der Krieg schont niemanden -, und besagter Jonathan (Michael Gould), geschniegelt und stets passend - d. h. unpassend - krawattiert, bringen neben widersprüchlichen Nachrichten auch die schwarze Laela (Georgina Ackermann) und ihren kleinen Bruder mit, der möglicherweise ihr Sohn ist - denn, so sagt die undurchdringliche junge Fremde ohne Umschweife, ein Mann kann mehrere Gemahlinnen haben. Kerry Fox wankt. Eine Frau in den - wie man sagt - besten Jahren, trotz Campingumständen nach Bedarf in der Lage, gepflegt zu erscheinen (die Kostüme, salopp oder elegant, stammen von Rudy Sabounghi); ein kluger Kopf, ein lebhaftes Wesen. Ein Gesicht, das die Maske der guten Erziehung und des richtigen Benehmens augenblicksweise und spontan ablegen kann, wenn es ums Ganze geht. Eine mutige Person. Jetzt beschliesst sie zu kämpfen. Nicht gegen die Nebenbuhlerin; sondern für die Liebe. Kerry Fox‘ Amelia erweckt einerseits den Eindruck, dies sich selbst und ihrem Mann zu schulden; fast gedankenlos mechanisch reagiert sie. Anderseits verrät ihr schneller Reflex eine Blindheit, die damit zu tun haben muss, dass man vor Illusionen gern die Augen schliesst. - Selten leitet uns ein Impuls allein. Bondys Meisterschaft, vielschichtige Handlungsmotivationen ins Spiel gleichsam einzuschleusen - das Werweissen genauso wie die kopfscheue Denkverweigerung und alle fein nuancierten Mischstadien -, bringt gerade diese Darstellerin unvergleichlich an die Oberfläche des Sichtbaren. Sie balanciert in hellwacher Trance. Oder sie fällt, gepackt von Hysterie, aus der Rolle - was aber nie den völligen Kontrollverlust bedeutet. Unmoral statt Katharsis Indessen: Das ominöse Zaubermittel, gesandt in der Absicht, den General für die zivile Normalität zurückzugewinnen, richtet ihn zugrunde. In flammend rotem Cocktailkleid sitzt Amelia da; sie sackt, während der halbwüchsige Sohn (Toby Fisher) den Hergang rapportiert, hinter ihrem erstarrenden Blick zusammen. Die Leere, welche in ihr und um sie aufplatzt, saugt sie zugleich weg von der Welt. Amelias Verzweiflung, ton- und bewegungslos, ist von heftigster Wucht. Aus. Ein Weinglas wird in den Händen zermalmt. Kerry Fox erhebt sich - es ist, als würde ihr Körper sie hochziehen -; dann schwankt sie geistesabwesend den Möbeln entlang, sie betastend, als ginge es um die greifbare Vergewisserung, dass solche Dinge zu einem Dasein zählen, in dem Amelia nichts mehr zu suchen braucht. Und nun der General. Als Krüppel an Leib und Seele schiebt sich Joe Dixon auf die Szene. Im zynischen Satyrspiel nach dem tragischen Schluss zieht ein Urinkatheter den ehemaligen Weiberhelden ins Grausam-Lächerliche. Nicht bloss das Gift, nein: der Krieg hockt ihm im Nacken. Er äfft den herkulischen Soldaten von einst nur mehr nach. Vom Rollstuhl aus erteilt der verstümmelte Feldherr Befehle und grabscht nach Frauenfleisch. Das Zerrbild der Macht, widerlich und erbärmlich, führt die Deformation des Menschen zur Marionette vor. Unerbittlich ätzt die Ironie. Auf eine Katharsis verzichtet Crimp. Die Moral oder Unmoral der Zeitläufte liegt ihm näher: Es gibt kein Heimkommen aus dem Krieg. Neu ist das nicht; wahr leider schon - und, dank dieser Aufführung, glasklar und messerscharf erörtert. Theater der Unausweichlichkeit. DIE ZEIT | 20/2004 Hass, Wut, Liebe, That‘s it In Martin Crimps Theaterstück „Cruel and Tender“ verbindet die Schauspielerin Kerry Fox Tragisches und Triviales. Ein Probenbesuch in London von Katja Nicodemus Sie war die Schriftstellerin Janet Frame in Jane Campions Film An Angel at My Table. Mit knallroter Perücke spielte sie eine junge Frau, die in der Psychiatrie zerrüttet und fast umgebracht wird. In Michael Winterbottoms Welcome to Sarajewo verzweifelte Kerry Fox als britische Journalistin an den Bürgerkriegsgräueln, und in Patrice Chéreaus Film Intimacy spielte sie eine Ehefrau, die sich in eine obsessive sexuelle Beziehung mit einem Fremden stürzt. In dieser Körperstudie zeigte sie eine brutale Nacktheit und schreckte auch vor pornografischen Szenen nicht zurück. „Manche Leute sagen, dass ich einen Hang zu schwierigen Rollen habe“, sagt Kerry Fox. Sie sitzt in der Kantine des Londoner Young Vic Theaters und rührt abwesend in einer undefinierbaren Fertigsuppe. „Aber das ist völliger Quatsch. Wenn man diesen Job so ernst nimmt wie jeden anderen, dann gibt es sowieso keine leichten Rollen.“ Unter der Regie von Luc Bondy probt sie gerade die Hauptrolle in Cruel and Tender. Das Stück des zeitgenössischen britischen Autors Martin Crimp ist eine freie Adaption von Sophokles’ Die Trachinierinnen und verschränkt die Tragödie der betrogenen Ehefrau mit dem kriegerischen Chaos der Weltpolitik. Kerry Fox spielt Amelia, die Frau eines Generals, der einen Terroreinsatz irgendwo in Afrika leitet. In der Ferne begeht dieser Mann Kriegsverbrechen und zerstört eine ganze Stadt, um sich seiner afrikanischen Geliebten zu bemächtigen. Wenn Fox auf der Bühne steht, im weißen Kleid, das ein wenig zu eng ist, wenn sie beim Warten in sich selbst hineinblickt, und um sie herum das übliche Gewusel eines Probenbeginns herrscht, dann könnte man sie leicht übersehen. Luc Bondy zeigt einem Darsteller, wie er sein Zuckerglas zerschlagen soll, der kleine Theaterraum riecht nach Farbe und heißen Scheinwerfern, und das verzogene Hündchen der Pressedame kläfft einen Bühnentechniker an. Als die Probe endlich beginnt, herrscht immer noch keine Ruhe, aber Fox spricht einfach los, leise und klar, als wolle sie sich die Stille erspielen. Die Bühne ist ihr Wohnzimmer, ein Raum, in dem schon die Gegenstände heimtückisch die Tragik eines Ehefrauenlebens erzählen. Hier Laufband, Hanteln und Gymnastikball. Dort ein Fernseher, die Bar, leere Weinflaschen, Erdnüsse. „Schönes Kleid“, sagt ihr Sohn im Stück, „aber etwas zu eng.“ Martin Crimp, der Autor, ist bei den Proben dabei. Mit langen grauen Haaren und einem bordeauxfarbenen Rollkragenpullover sieht er aus, wie sich ein Autor einen Autor vorstellt. In seinem Stück wird sich Amelia an ihrem Mann, dem treulosen Terrorbekämpfer, rächen, indem sie ihm ein chemisch vergiftetes Hemd schickt. Man kann sich fragen, ob der kriegerische Zeitgeist hier nicht ein wenig reißerisch in eine antike Tragödie hineingepresst wird. Andererseits stellt man sich solche Fragen nicht, wenn Kerry Fox auf der Bühne steht. Ihre Amelia ist ein verlorenes, verbittertes Wesen, einsam unter Dienstboten, unbehaglich in einem nicht mehr ganz jungen Körper. In der Figur schwingen Tragik und Triviales mit, die Geschichte der großen Verlotterten und Frustrierten, von Blanche Dubois über Sue Ellen bis zu den Rollen der späten Liz Taylor. Als sich Kerry Fox auf dem Gipfel der Verzweiflung mit Wein zuschüttet und dem Sohn die Wahrheit über den Vater und Betrüger ins Gesicht schleudert, ist es totenstill im Bühnenraum. Auch Luc Bondy wirkt nur mehr wie ein gebannter Zuschauer der eigenen Inszenierung. „Diese Frau hat 18 Jahre lang auf ihren Mann gewartet, der in der Ferne war“, sagt Fox in der Kantine. „Sie wurde verraten. Ihre Liebe und ihre Wut sind so bodenlos wie ihr Hass. That’s it.“ Sie spricht langsam und lächelt, als wolle sie sich für jede Festlegung der Figur entschuldigen. Tatsächlich scheint sie Amelias Gefühle auf der Bühne genauso wenig zu durchschauen wie der Zuschauer. In ihrem Gesicht bleibt etwas Rätselhaftes, Undefinierbares. Mysteriöse Abgründigkeit prägte auch ihre Rolle in Intimacy. Wie von Geisterhand geführt steht Kerry Fox in Patrice Chéreaus Film immer wieder vor der Haustür des einsamen Barkeepers. Der wortlose Sex wird in diesem Film zum Medium, zur Sprache zweier Verlorener, die sich über den Körper des anderen zunächst einmal selbst erkunden. „Intimacy“, sagt Kerry Fox, „war ein Schock. „Für die britische Presse war ich nur die Frau, die vor Patrice Chéreaus Kamera den Schwanz eines Typen in den Mund nahm. Menschen, die den Film nie gesehen hatten, nannten mich in der Zeitung eine Hure.“ Fox wuchs in Neuseeland auf und gelangte über Australien nach England. Seit zwölf Jahren lebt sie in London und staunt immer noch über die Sexfixiertheit der britischen Öffentlichkeit. „Schauen Sie sich an, wie jetzt die Affäre von David Beckham durchdekliniert wird. Ist es nicht erstaunlich, dass man einen so kontroversen und komplexen Film wie Intimacy hier letztlich auf die Frage reduziert hat, ob Mark Rylance und ich nun echten Sex hatten oder nicht? „ Kino und Theater, sagt Fox, seien Orte, an denen sich eine Gesellschaft letztlich über sich selbst verständige. „Warum sollte man sich da nicht auch als Schauspielerin ein bisschen Meinung leisten?“ Sie nimmt eher beiläufig Stellung, ruhig und entschieden. Versonnen blickt sie in die inzwischen kalte Kantinenbrühe, kritisiert den Rassismus der Australier und den Bellizismus der britischen Regierung. Sie lobt Cruel and Tender, weil Crimps Stück zeige, dass ein Krieg, egal in welch fernen Regionen man ihn führe, immer in das Land des Urhebers zurückkehre. „Amelia“, sagt sie „führt den Krieg an der Heimatfront weiter. Es gefällt mir, dass sie chemische Waffen, die im Irak nie gefunden wurden, verwendet, um sich an ihrem Mann zu rächen.“ Nach der Pause lässt Bondy eine Szene proben, in der Amelia von ihrem aufgebrachten Sohn angegriffen wird. Immer wieder bekommt Fox ein Kissen ins Gesicht geschlagen, wird auf den Boden geworfen, gewürgt. 10-, 15-mal. Einmal ist der Darsteller zu ungestüm und tut ihr weh. Bondy eilt herbei, der junge Mann entschuldigt sich, wird rot. Kerry Fox lacht. Beim nächsten Mal wandelt sie den Text ein wenig ab. „Pass auf!“, sagt sie, „deinen Vater hab ich schon vergiftet.“ MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Eraritjaritjaka – Musée des phrases (Museum der Sätze) von Heiner Goebbels nach Texten von Elias Canetti Konzeption, Regie und Musik – Heiner Goebbels Bühne und Lichtdesign – Klaus Grünberg Live-Video – Bruno Deville Kostüme – Florence von Gerkan Sounddesign – Willi Bopp Dramaturgie, Mitarbeit Regie – Stephan Buchberger mit André Wilms und dem Mondriaan-Quartett, Amsterdam Produktion Théâtre Vidy-Lausanne E.T.E. In Koproduktion mit schauspielfrankfurt, Migros Kulturprozent, T & M – Odéon Théâtre de l’Europe, Wiener Festwochen und spielzeiteuropa I Berliner Festspiele Mit Unterstützung der Stiftung Landis & Gyr Gefördert vom Programme Culture 2000 (UTE – Union des Théâtres de l’Europe, Réseau Varèse) 12. – 14. November | 20 Uhr | Haus der Berliner Festspiele In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln | Dauer 1 Std 30 Min Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Heiner Goebbels | Eraritjaritjaka – Museum der Sätze In seinem neuesten Stück fügt der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels virtuos Klänge und Bilder mit Texten Elias Canettis zu einem szenischen Gesamtkunstwerk zusammen. Das „Canetti-Projekt“ ist der letzte Teil einer Trilogie mit dem französischen Schauspieler André Wilms; wieder ist das Thema die Wahrnehmung und Weltaneignung des Einzelnen, wie sie sich in Tagebucheintragungen und Notizen äußert, in diesem Fall Canettis. In kurzen, scharf pointierten Sätzen nimmt der 1994 verstorbene Literaturnobelpreisträger die Menschen und ihr Verhältnis untereinander ins Visier, die Sprache, die Musik, die Tätigkeit des Dirigenten, die kleinen Gewohnheiten und Eitelkeiten, das lächerliche Diktat der Ordnung. Neben Textpassagen aus den mehrbändigen „Aufzeichnungen“ der 40er bis 90er Jahre („Die Provinz des Menschen“, Die Fliegenpein“ u.a.) und aus „Masse und Macht“ begegnet man auch der Hauptfigur aus Canettis einzigem Roman „Die Blendung“, dem pedantischen Einzelgänger Professor Kien. Den rätselhaften Titel „Eraritjaritjaka“ fand Goebbels ebenfalls bei Canetti. Er bezeichnet in Aranda, einer Sprache australischer Ureinwohner, einen Gemütszustand „voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist“. Das Amsterdamer Mondriaan-Quartett liefert die Musik zu diesem hochkonzentrierten Abend. Gespielt wird Streichquartett-Literatur hauptsächlich des 20. Jahrhunderts, u. a. von Schostakowitsch, Ravel, George Crumb, und von Heiner Goebbels selbst. Heiner Goebbels Biografie Heiner Goebbels, geboren am 17.08.1952, ist Komponist und Regisseur. Er studierte Soziologie und Musik und lebt in Frankfurt am Main. In den siebziger Jahren Aufnahmen und Konzerte mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester (76-81), dem Goebbels/Harth-Duo (76-88) und dem Art-Rock-Trio Cassiber (82-92). Zur selben Zeit komponierte er hauptsächlich Filmmusik sowie Musik für Theater- und Ballettproduktionen (für Hans Neuenfels, Claus Peymann, Matthias Langhoff, Ruth Berghaus, das Ballett Frankfurt und andere). In den 80er Jahren begann er eigene Hörstücke zu verfassen, die oft auf Texten von Heiner Müller basierten („Verkommenes Ufer“, „Die Befreiung des Prometheus“, „Wolokolamsker Chaussee“ u.a.) 1986 erarbeitete er zusammen mit Michael Simon die Musiktheater-Stücke „Newton‘s Casino“ (1990) und „Römische Hunde“ (1991) am TAT/Theater am Turm in Frankfurt. Seit 1988 komponiert Goebbels für das Ensemble Modern und das Ensemble Intercontemporain. 1994 entstand „Surrogate Cities“, eine 90minütige Komposition als Auftragswerk der Alten Oper Frankfurt (Uraufführung an der Jungen Deutschen Philharmonien, Dirigent: Peter Rundel. Im Auftrag der Donaueschinger Musiktage komponierte er 1996 „Industry & Idleness“ (Uraufführung: Radiokamerorkest Hilversum, Dirigent: Peter Eötvös). „Walden“ für ein erweitertes Orchester komponierte er 1998 für die erste Tournee des neu gegründeten Ensemble Modern Orchester (Dirigent: Peter Eötvös). 1993 schuf er das Musiktheater-Stück „Ou bien la débarquement désastreux“ , das er selber in Paris inszenierte. 1995 entstand ein weiteres Stück mit Musik und Texten, „Die Wiederholung / La Reprise“ basierend auf Motiven von Kierkegaard, Robbe-Grillet und Prince (Uraufführung in Frankfurt (Theater am Turm / Bockenheimer Depot). ein weiteres MusiktheaterStück, „Schwarz auf Weiss“ entstand am TAT in Frankfurt 1996, ein Stück für 18 Musiker des Ensemble Modern. Es wurde von Arte aufgezeichnet, aufgenommen für BMG und SWF und wird immer noch in Europa und in Übersee gezeigt. 1998 entstand ein zweites Solostück für den Schauspieler André Wilms: „Max Black“, das im selben Jahr in Lausanne am Théatre Vidy-ETE uraufgeführt wurde, und zusammen mit dem Ensemble Modern erarbeitete er zu Hanns Eislers 100. Geburtstag „Eislermaterial“ - ein Bühnenkonzert (Uraufführung 1998 in München). 2000 entstanden in Lausanne das Stück „Hashirigaki“ und in Straßburg das Bühnenkonzert „...même soir“ mit der Gruppe Les Percussions de Strasbourg. 2002 inszenierte Heiner Goebbels seine erste Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“, die im Haus der Berliner Festspiele im Februar 2003 zu sehen war (eine Koproduktion mit den Berliner Festwochen). Heiner Goebbels war 1997/98 Gastprofessor an der Musikhochschule Karlsruhe; seit 1999 hat er eine Professur am Institut für angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-LiebigUniversität Gießen inne. Er ist Mitglied der Akademie der darstellenden Künste in Frankfurt/Main und der Akademie der Künste in Berlin. Die Arbeit von Heiner Goebbels wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1985, 1992, 1995), dem Hessischen Kulturpreis (1993), dem Europäischen Theaterpreis (2001) und der Goethe-Plakette (2002). „Eraritjaritjaka – Museum der Sätze“, das mittlerweile dritte Solostück mit dem Schauspieler André Wilms und dem Mondriaan Quartet aus Amsterdam – eine Koproduktion mit spielzeiteuropa | Berliner Festspiele – hatte im Frühjahr 2004 im Théâtre Vidy-Lausanne Premiere. Neue Zürcher Zeitung | 23. April 2004 Schachtelsystem Ein Canetti-Stück von Heiner Goebbels in Lausanne von Sabine Haupt Rätsel können aufklären, auch wenn sie ungelöst bleiben. Denn es ist die Arbeit am Geheimnis, das Setzen, Ent- und Versetzen von Sprach- und Tonzeichen, wodurch Dynamik entsteht. Erkenntnisse erwachsen aus dem Zusammenspiel von Momenten, nicht aus einer wie auch immer gearteten Gesamtbedeutung. Das neue, im Lausanner Théâtre de Vidy uraufgeführte Musik- Theaterstück von Heiner Goebbels signalisiert diese Einsicht schon in seinem unaussprechlichen Titel: «Eraritjaritjaka». Kein Zauberwort, sondern eine Redewendung südaustralischer Aborigines, die - so Elias Canettis eigene, aus seinen Aufzeichnungen «Die Fliegenpein» (1992) stammende Definition - eine obsessive Sehnsucht nach dem Verlorenen bezeichnet. Es geht um Trauer, um Melancholie, in deren Sog man augenblicklich durch ein vom Amsterdamer Mondriaan Quartet mit äusserster Konzentration vorgetragenes Streichquartett von Schostakowitsch gerät. Eine schwarz gekleidete Figur betritt den Rand eines aus Licht geformten weissen Blattes - oder ist es die Oberfläche eines Spiegels, auf dem sich bald Schritte, Wörter und Töne abzeichnen? Wie ein Pendel wirft sie ihren Schatten in die Runde, schwingt im und gegen den Rhythmus der Musik. Licht, Körper und Stimme pendeln sich ein in den Klang der Streicher. Frappierend an dieser Szenerie (Bühnenbild: Klaus Grünberg) sind zunächst die streng geometrischen Linien, eine Topographie, in der Bewegung allein durch die Choreografie von Kontrasten entsteht; schwarz und weiss, positiv und negativ, oben und unten: Polaritäten, gehalten vom langen Atem der Töne. Auch diese jüngste Zusammenarbeit mit dem elsässischen Schauspieler André Wilms ist einem Verhängnis der Moderne auf der Spur: der alles bestimmenden, alles durchdringenden Ordnung. Während Wilms sich als Dirigent, Demagoge und Tierbändiger ins Spiel bringt, kommentieren Passagen aus Canettis «Masse und Macht» deren tyrannische, einem «Schachtelsystem der Geheimnisse» verpflichtete Gesetze und Partituren. Die Musiker und das Tier eine roboterhafte Mutation aus Kanone und Pavian - gehorchen, doch nur für kurze Zeit. Dann ist der Wort-Dirigent wieder allein vor leeren Stühlen und imaginären Klängen. Ihm bleiben «nur diese Striche auf dem gelblichen Papier». Und nun beginnt der erstaunlichste Teil der gesamten Dramaturgie: Goebbels reisst die Wände ein, zieht seinen Darsteller weg von der Bühne, hinein in einen Strudel sich gegenseitig kommentierender Ebenen. Wilms nimmt Hut und Mantel und verlässt das Theater. Medienwechsel: Ein Vorhang öffnet sich, und das zuvor im Miniaturformat auf die Bühne gestellte Haus erscheint in voller Grösse. Zunächst als zweidimensionale Leinwand mit aufgemalten Fenstern, auf die das weitere Geschehen projiziert wird, später als riesenhafter Adventskalender, dessen Türchen sich allmählich öffnen und dabei den Blick in die Zimmer und auf den im Haus umherstreifenden Kameramann (Live-Video: Bruno Deville) freigeben. Dessen Beobachtungen führen uns hinter die Fassade. Wir betreten ein Geisterhaus, eine spleenige Parallelwelt, konkret: die Wohnung einer dem Sinologen Kien, jenem pedantischen Büchernarr aus Canettis Roman «Die Blendung», nachempfundenen Figur. Deren Alltag, in all seiner akkurat orchestrierten Kleinlichkeit, mit all seinen intimen Verrichtungen und Bewegungen, verrückt und verzerrt die Kamera nun zu monströser Überdeutlichkeit. Am Schreibtisch durchmessen die Bleistifte ihren abgezirkelten Spielraum, eine Schreibmaschine klimpert ein paar Takte, und in der Küche steigern sich Schneebesen und Pfeffermühle zum Crescendo. Der einsame Esser verschlingt seine eigenen Spuren, sauber, appetit- und rückstandslos. Fenster öffnen sich und verdoppeln das Bild, Frauen- und Kinderstimmen aus dem Off geistern durchs Haus: Wir sind mitten im Film, umgeben von Bild- und Wortassoziationen, geblendet von kontrapunktisch angeordneten Textund Musikcollagen. Doch wo genau sind wir? Befinden wir uns in einer von Jean Cocteau halluzinierten Unterwelt, oder ist es die groteske Pedanterie eines Jacques Tati, die jede Bewegung in unheimliche Ferne rückt? Von der Bühne in den Film, vom Film zurück auf die Bühne: Figuren, Stimmen und Töne wechseln den Ort und das Medium, als sei die Grenzüberschreitung ihr eigentliches Ziel. Und alles geschieht mit wahrhaft somnambuler Leichtigkeit und Virtuosität, nichts ist vorhersehbar, doch alles völlig einleuchtend. Hätte das Wort «Genie» nicht einen so pompösen Unterton, hier wäre es durchaus mal am Platz. Frankfurter Allgemeine Zeitung | 22. April 2004 Unaufgeräumte Memoiren eines Dachbodens-Klangmuseum der Sätze „Eraritjaritjaka“ von Heiner Goebbels nach Elias Canettis Aufzeichnungen am Théâtre Vidy in Lausanne uraufgeführt von Wolfgang Sandner Was ist ein Komponist? Wer der Etymologie vertraut, wird ihn als Zusammenfüger charakterisieren. Fragt sich nur, was er zusammenfügt. Für Thomas Manns Adrian Leverkühn war - auch wenn das die konservativen Musikfreunde ganz anders sehen - die Welt noch in Ordnung. Ein Komponist setzt eigene Werke aus den zwölf Tönen des temperierten Systems zusammen. John Cage war das zuwenig. Für ihn machte der Komponist das ganze klingende Universum hörbar. Aber seitdem La Monte Young einen Holzsplitter aus einem Bösendorfer-Flügel als „Klavierstück“ ausgab, ist kompositorisch nichts mehr, wie es einmal war. Jetzt können Richard Wagner und Herr Bösendorfer zu Komponisten, der „Ring“ und ein Konzertflügel gleichermaßen zu Gesamtkunstwerken erklärt werden. Aber vielleicht ist das ja gut so. Was ist ein Musiktheaterstück? Wenn man es historisch betrachtet, ist es ein Werk für die Bühne, in dem gesungen, gesprochen, gespielt und vielleicht auch getanzt wird. Für den Erfinder des musikalischen Dramas war das zuviel. Gesprochene Dialoge? Das gab es im vorrevolutionären Singspiel. Tanz? Das war nur welscher Tand. Die totale musikalische Dramatisierung mußte her. Aber da war noch zuviel überkommene Hierarchie vorhanden: Die Musiker unten im Orchestergraben spielten Instrumente, die Sänger oben sangen, der Dirigent auf erhöhtem Podest achtete darauf, daß nur das erklang, was der Komponist zuvor zusammengefügt hatte. Seit es das Instrumentale Theater und die antiautoritäre Bewegung auch in der Musik gibt, hat das ein Ende. Jetzt spielen die Sänger Instrumente, das Orchester sitzt auf der Bühne, der Dirigent greift trällernd ins Geschehen ein, und alle können nicht nur, sie müssen ihren kompositorischen Beitrag leisten. Was ist ein Künstler? Machen wir‘s kurz: nicht mehr nur der Erfinder schöner Dinge. Eklektizismus und Objet trouvé, Siebdruck und Playback, Zitat und die Theorie der offenen Form haben den Wert des Originals in Frage gestellt. Der Künstler unter der Kuppel des einundzwanzigsten Jahrhunderts ratlos? Durchaus nicht, sondern findig. Man kann Heiner Goebbels als einen Komponisten von Musiktheaterstücken bezeichnen. Auch als Künstler im Sinne des erweiterten Komponisten-Musiktheater-Künstler-Begriffs: Er setzt Töne und Wörter, Bilder, Bewegung und Licht zusammen, die nicht unbedingt von ihm stammen müssen. Er verbindet alles in einer von ihm ausgehenden, aber nicht auf ihn beschränkten Inszenierung. Er ist der moderne Zusammenfüger schlechthin. Und einer der anregendsten obendrein. Jetzt hat er für das Théâtre Vidy- Lausanne, an dem zuvor schon zwei andere Musiktheaterstücke von ihm - „Max Black“ und „Hashirigaki“ - herausgekommen waren, ein neues Werk geschrieben: „Eraritjaritjaka“, ein „Museum für Sätze“. Wer Werke von Heiner Goebbels kennt, wird auch dieses unschwer als von ihm stammend identifizieren können, auch wenn die Töne vorwiegend von Schostakowitsch und Ravel, von Gavin Bryars und George Crumb, von Johann Sebastian Bach, Giacinto Scelsi und Alexeij Mossolov stammen und die Texte bis hin zum kryptischen Titel aus der Sprache der Aborigines ausschließlich den Schriften von Elias Canetti entnommen wurden. Aber wie er das alles mit Hilfe seines Lieblingsschauspielers, des sprachvirtuosen Elsässers André Wilms, in Gesten umsetzt, wie er zwischen umfassender Optik und akustischen Zeichen sinnfällige Verbindungen schafft, das kennt man eigentlich nur von ihm, und es weist ihn eben wirklich als originellen Komponisten mit dem Material anderer aus. Und das geht so: Die vier Mitglieder des holländischen „Mondriaan Quartet“ betreten in dunkler Kleidung die leere Bühne des Theaters und beginnen zu spielen, als sei man in einem Kammermusikabend. Nichts deutet auf ein kommendes Musiktheaterstück hin, alles auf ein ausgedehntes Streichquartettprogramm. Aber weil man auf Theater konditioniert ist, beginnt man die Bewegungen der vier Musiker auf ihre Dramaturgie hin zu beobachten. Man spürt, wie die musikalischen Phrasen sich in Armbewegungen fortsetzen, man sieht, wie die Kopfbewegung des ersten Geigers das melodische Thema an den zweiten Geiger weitergibt. Und plötzlich, im gleichschwingenden Rhythmus aller vier Instrumentalisten erkennt man auch den musikalischen Höhepunkt des Stückes. Wie Goebbels hier die Erwartungshaltung des Publikums nutzt, um etwas von der Struktur der Musik zu vermitteln, das erinnert an die unorthodoxen Ausstellungskonzepte von John Cage: Wenn eine griechische Vase mit Krieger-Darstellungen in eine Vitrine mit polynesischen Schrumpfköpfen gestellt wird, beginnt das Objekt ganz andere Geschichten zu erzählen als in einer Sammlung ausschließlich antiker Kunstgegenstände. Unvermittelt erheben sich die Musiker, nehmen ihre Stühle und treten in den Bühnenhintergrund. Aber die Musik, die sie gespielt haben, setzt sich als Tonbandzuspielung fort, wird geräuschhafter, immer heftiger, als würde Papier oder Stoff zerrissen. Mit dem Geräusch taucht eine erleuchtete Linie wie jene zur Markierung von Notausgängen in Flugzeugen auf, wird mit zunehmendem Geräusch allmählich breiter, als würde jemand gewaltsam die Dunkelheit auf dem Bühnenboden zerreißen, um sie in eine quadratische Lichtfläche zu verwandeln. Solche Wechselspiele zwischen optischen und akustischen Zeichen charakterisieren das ganze Stück. André Wilms beginnt französische Texte von Canetti zu sprechen und mit Bewegungen zu dramatisieren: Texte aus seinen umfangreichen Aufzeichnungen, aus dem Roman „Die Blendung“ und aus dem Essay-Band „Masse und Macht“; Beobachtungen menschlichen Verhaltens, Canettis „minima corporalia“, die auf groteske und zugleich unmittelbar einleuchtende Weise in Bilder verwandelt werden. Wenn etwa aus Canettis „Provinz des Menschen“ jener eindrucksvolle Passus über das Verhältnis zu Tieren rezitiert wird, fährt ein kleiner, ferngesteuerter Roboter auf die Bühne, ein „elektrisches Insekt“, wie es geradewegs aus George Crumbs Komposition „Black Angels“ stammen könnte: „Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig.“ Heiner Goebbels, sein Lichtdesigner Klaus Grünberg, die für Kostüme verantwortliche Florence von Gerkan und Bruno Deville, für das Live-Video verantwortlich, gehen sparsam mit Requisiten und Zeichen um. Aber jede Aktion ist mit anderen Momenten der Darstellung so verknüpft, daß das Geschehen einen sogähnlichen Komplexitätsgrad bis zum Schwindel annimmt. André Wilms zieht etwa in der Mitte des eineinhalbstündigen, pausenlosen Stückes (nur mit Streichquartettbegleitung) seinen Mantel an und verläßt das Theater, gefolgt von der Video-Kamera, die seinen Gang durch den Vorraum des Theaters, die Fahrt mit dem Taxi durch Lausanne, schließlich seine Wohnung bis zum unaufgeräumten Dachboden filmt und auf ein auf der Bühne als Kulisse dienendes Haus projiziert. Das Theaterstück ist unvermutet zum Film geworden. Aber die Handlung scheint in „real time“ abzulaufen, das Fernsehen in der Wohnung bringt die Nachrichten vom Dutroux-Prozeß, die Uhr zeigt dieselbe Stunde wie jene im Theater, Wilms reißt das Kalenderblatt des Tages ab. Da öffnet sich das Fenster des Hauses auf der Bühne, man sieht den leibhaftigen André Wilms, wie er Schreibmaschine schreibt, während das Video dieselbe Szene projiziert. Wo sind wir? Im Theater? Im Film? Was ist Wirklichkeit, was Fiktion? Bachs „Kunst der Fuge“ als Begleitmusik zur Lichtspielszene macht das Verwirrspiel komplett. Goebbels versucht, das Geheimnis unserer Realität zu enziffern, ohne es zu lüften. Es ist ihm gelungen. Deutschlandfunk | 21. April 2004 Eraritjaritjaka von Joachim Johannsen Der Frankfurter Musiker und Regisseur Heiner Goebbels, der immer für eine Überraschung gut ist, macht es diesmal schon vor dem Eintritt in sein magisches Universum spannend. Was sagt man an der Kasse, wenn ein Werk «Eraritjaritjaka» heisst? Das ist leichter zu sagen als zu schreiben, aber vor dem Aussprechen muss man es erst einmal korrekt gelesen haben. Das Adjektiv aus Aranda, der Sprache der australischen Ureinwohner, ist der Titel der neuesten Komposition von Heiner Goebbels. Das 6-minütige Stück für Streichquartett bezeichnet einen Zustand «voller Verlangen nach etwas, das verloren gegangen ist». In der anderthalbstündigen Produktion des Théâtre Vidy Lausanne werden dem Zuschauer allerdings alle Wünsche erfüllt. Die unermüdliche Brutstätte zeitgenössischen Theaters direkt am Ufer des Genfer Sees gibt unter der Ägide von Direktor René Gonzalez wieder einmal den Startschuss für eine Welttournee. Die geheimnisvolle Chemie des Ortes setzt offenbar die Naturschönheit der Alpenlandschaft direkt in raffinierte Kunstschönheit um. Das Setting der Veranstaltung ist die strenge, konventionelle Atmosphäre eines Quartettabends. Was Schostakovitsch, Ravel und anderen für vier Streicher schrieben, wird aber schnell aufgebrochen. Ein Monsieur im grauen Dreiteiler tut Dinge, die man nicht tun sollte, er redet dazwischen, er redet drauf auf die Musik. Was er sagt, hat Niveau, er wirft philosophische Brocken in die Pausen und auf die Noten, er ringt um Weltverständnis und Selbstverständnis. Beide Tätigkeiten sind legitim, das Spiel aus der Partitur wie das Nachdenken über den Lauf der Welt, nur: müssen sie denn gleichzeitig stattfinden? Aber kein Ordnungsruf erschallt, denn der Widerstreit der Disziplinen ist gewollt, das ist der Kampf der Künste um neues Zusammenwirken - Streichkultur gegen Sprechkultur. Der Tarif des Abends ist ausgegeben. Den Streithähnen wird der schwarze Boden unter den Füssen weggezogen, das weisse Nichts tut sich auf, das weisse Rauschen des leeren Bandes. Der sprechende Mann hält einen bissigen Vortrag über die Allmacht des Dirigenten, das Quartett hat Tacet, eine weisse Hausfassade fährt herunter. Vorne links an der Rampe holt ein Kameramann den Schauspieler ab, wir sind ihn los, den Störenfried, aber da taucht er schon wieder auf, überlebensgross. Die Bilder der verschwundenen Kamera werden auf die Hauswand projiziert. Wir sehen, wie der Schauspieler André Wilms durch das Theaterfoyer stürmt, im Taxi durch Lausanne fährt, eine Zeitung kauft, seine enge Wohnung betritt. Dort wird der grosse Teilhaber am Weltgeist zum kleinen Normalbürger, der Zwiebeln schneidet, ein Omelett kocht und Tagesschau guckt. Heiner Goebbels drängt die locker gesammelten Texte von Elias Canetti, dem Literaturnobelpreisträger 1981, zusammen zu einer Momentaufnahme, dem Porträt des Künstlers als alternder Mann. Der einsame Wolf macht seine Einsamkeit noch grösser, indem er sie minutiös beschreibt. Dann plötzlich sitzt das bekannte Streichquartett in seiner Bibliothek. Das kann nicht sein. Denn die drei Herren und die eine Dame des Amsterdamer Mondriaan-Quartetts sind doch bei uns im Theater geblieben und haben den Echtzeitausflug des Philosophen mit ihrem Ritt durch die Quartettliteratur des 20. Jahrhunderts begleitet. Wir sind dem Illusionskünstler Heiner Goebbels und seinem langjährigen Bühnen- und Lichtdesigner Klaus Grünberg voll auf den Leim gegangen. Was uns weit entfernt erschien, war ganz naheliegend. Das Kino war doch nur Theater auf der Leinwand. Verblüffung macht sich breit, befreiendes Gelächter. Verblüffung über die Fallgruben in der glatten Oberfläche, über soviel Musik im Sprechtheater, über soviel Frechheit im Seriösen, über das Erhabene im Banalen, über das Einfache, das kompliziert erzählt wird, über das Komplizierte, das genial einfach zu entschlüsseln ist. Heiner Goebbels hat sich diesmal als Komponist zurückgenommen, umso glänzender sehen wir ihn als theatralischen Gesamtkunstwerker bestätigt. MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Roncsolt Kópia (Zerkratztes Zelluloid) Béla Pintér and Company / Ungarisches Nationaltheater Budapest Musikdrama von Benedek Darvas und Béla Pintér Regie – Béla Pintér Musik – Benedek Darvas Bühne – Péter Horgas Kostüme – Mari Benedek mit Éva Csatári, Éva Enyedi, Sarolta Nagy-Abonyi, Tünde Szalontay, Sándor Bencze, Tamás Deák, Béla Pintér, László Quitt, József Szarvas, Szabolcs Thuróczy, József Tóth Musiker Antal Kéménczy, Bertalan Veér, Gábor Pelva, László Nyíri, István Kerti, Géza Román, Mátyás Veér, György Póta, Leitung Pál Bencsik Mit Unterstützung des Ungarischen Kulturministeriums, NKA – Nationaler Kulturfonds, Stadt Budapest und Budapester Herbstfestival 20. + 21. November | 20 Uhr Haus der Berliner Festspiele Deutsche Erstaufführung In ungarischer Sprache mit deutschen Übertiteln | Dauer 80 Min (keine Pause) Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Béla Pintér | Roncsolt Kópia (Zerkratztes Zelluloid) Der Abend des 20. April 1942, eine Gruppe ungarischer Soldaten kurz vor dem Einrücken an die Front. Mit einem Ball werden sie Abschied von ihren Frauen feiern. Ihr Blick ist vertrauensvoll in die Zukunft gerichtet. Sie sind überzeugt, dass der Krieg bald zu Ende ist und ein neues Europa, eine neue Welt entstehen wird. Rivalitäten untereinander, mörderischer Fanatismus und das Auftauchen des jüdischen Zwangsarbeiters Heincz werfen düstere Schatten auf die Szenerie. „Roncsolt Kópia“ (wörtlich übersetzt „Beschädigte Kopie“) evoziert die Atmosphäre eines Schwarz-Weiß-Films aus der Vorkriegszeit. Die emotional aufgeladene Musik, die Filmschnulzen aus diesen Jahren mit Marschmusik und spätromantischen Klängen à la Puccini kombiniert, steht im starken Kontrast zu den streng choreografierten, reduzierten Bewegungen der Akteure auf der Bühne. Das Thema dieser „Soldatenoper“ rührt an eine dunkele Saite der ungarischen Geschichte: den Pakt mit Nazi-Deutschland vor dem Hintergrund des eigenen Nationalismus und Antisemitismus und die Beteiligung an der Russlandoffensive 1942, die mit dem Tod Hunderttausender ungarischer Soldaten im russischen Winter endete. Anhand einiger Einzelschicksale und deren persönlicher Tragödien, Liebes- und Eifersuchtsdramen, entwickelte der 34-jährige Autor und Regisseur Béla Pintér in enger Zusammenarbeit mit seiner Truppe und dem Komponisten Benedek Darvas dieses Stück über eine Ära und die Menschen, die in ihr lebten. Béla Pintér and Company ist eine der kreativsten und erfolgreichsten unabhängigen Gruppen Ungarns. Ihre Produktion „Bauernoper“ wurde mit dem Ungarischen Kritikerpreis 2003 als „beste Musiktheaterproduktion des Jahres“ ausgezeichnet. Seither arbeiten sie als Gast am Nationaltheater Budapest, wo auch dieses Stück entstand. Béla Pintér Biografie geboren am 21.9.1970 in Budapest Schauspieler, Regisseur, Dramatiker 1987 beginnt Pintér seine Karriere als Schauspieler in der freien Theatergruppe ARVISURA 1987–1998 arbeitet er als Schauspieler mit verschiedenen freien Theatergruppen 1998 Gründung seiner eigenen Kompanie am SZKÉNÉ THEATER. Er beginnt zu schreiben und bei seinen eigenen Theaterstücken Regie zu führen, arbeitet jedoch weiterhin gleichzeitig als Schauspieler, sowohl bei anderen Gruppen als auch in seinen eigenen Produktionen. 1998–2000: In den ersten drei Jahren ihres Bestehens gewinnt Béla Pintér and Company (Pintér Béla és Társulata) dreimal den Ungarischen Kritikerpreis für „die beste freie Theaterproduktion des Jahres“. 2000 erhält Pintér ein Stipendium für Dramatik und einen Preis der Ungarischen Tageszeitung Népszabadság als „talentiertester junger Theatermacher des Jahres“. 2000–2003: Eine feste, dauerhafte Kompanie mit stetigen Mitgliedern bildet sich heraus. 2003 erhält Pintér für seine Arbeit einen Preis vom Präsidenten der Ungarischen Republik. Das Stück „Parasztopera“ („Bauernoper”) gewinnt den Ungarischen Kritikerpreis als „beste Musiktheaterproduktion des Jahres”. 2004 gelingt der Gruppe mit den Produktionen „Parasztopera“ („Bauernoper”) und „Roncsolt Kópia“ („Zerkratztes Zelluloid“) der internationale Durchbruch. Béla Pintérs Stücke und Inszenierungen „Népi Rablét“ (Allgemeine Knechtschaft), 1998 „Kóház-Bakony“, 1999 „A Sehova Kapuja“ (The Gate to Nowhere or Jeff Howe is Witless), 2000 „Öl, butít!“ (Trink und stirb!), 2001 „Parasztopera“ (Bauernoper), 2002 „Roncsolt Kópia“ (Zerkratztes Zelluloid), 2003 „The Queen of the Cookies», 2004 Alle diese Stücke produziert und gespielt von Béla Pintér and Company. Niemandsland: Béla Pintér and Company von Krisztina Kovács, Dramaturgin Béla Pintér and Company versetzen ihrem Publikum Tiefschläge, es liegt ihnen halb k. o. zu Füßen. Die meisten kommen wieder, sehen sich dieselbe Produktion immer und immer wieder an, sind nach der zehnten Vorstellung noch hell begeistert und verlieben sich in die Spieler und ihr Theater. Die Company, gegründet 1998, spielt regelmäßig vor ausverkauftem Haus. Obwohl es jedes Jahr eine neue Produktion in ihrem Repertoire gibt, ist ihr erstes Stück „Népi Rablét“ („Allgemeine Knechtschaft“ – der ungarische Titel ist ein Anagramm von Béla Pintérs Name) so populär wie am Tag der Uraufführung. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Company ein eigenes Publikum herangezogen, aber vielleicht ist auch das Gegenteil richtig: Ein Publikum hat geholfen, ein neues Theater zur Welt zu bringen. Auch wenn einige Theaterkritiker ihre liebe Not mit den Aufführungen haben und ihre Reaktionen manchmal harsch ausfallen, sprechen die Auszeichnungen, die der Company bisher verliehen wurden, eine andere Sprache. Schon dreimal wurden Stücke mit dem Preis der ungarischen Theaterkritik als „beste unabhängige Produktion“ bedacht; 2003 bekam „Parasztopera“ („Bauernoper“) diesen Preis als die „beste Musiktheater-Produktion des Jahres“. Dies zeigt, dass auch professionelle Betrachter Béla Pintér & Co. für eine der wichtigsten und innovativsten Gruppen im freien Theater halten. Die jungen Mitglieder der Company konnten oder wollten nicht an der Budapester Akademie für Theater und Film studieren. Ihre Theatererfahrungen stammen aus ihrer Zeit in unterschiedlichen freien Gruppen wie Arvisura, Utolsó Vonal und Artus in den 80er und 90er Jahren. Nach ein paar zufälligen (oder unvermeidlichen) Begegnungen auf der Bühne und einigen gemeinsamen Produktionen entschieden sich rund zwölf Menschen zur Gründung einer freien Gruppe. Das Szkéné Theater, eine Gastspielbühne in der Technischen Universität Budapest, und sein Leiter János Regős boten ihnen ihren Raum zur Realisierung ihrer künstlerischen Absichten an. Heute haben sie im Szkéné Theater eine „ständige Residenz“, eigentlich ein Widerspruch in sich, und liefern sozusagen das Rückgrat des Haus-Spielplanes. Béla Pintér and Company proben hier vom Frühling bis zum Herbst und bringen ihre Uraufführungen heraus. Jeden Monat gibt es hier 10 bis 15 Aufführungen von alten oder neuen Produktionen. So hat die Gruppe zwar kein eigenes Haus und ist auch nicht für das Gesamtprogramm des Szkéné Theaters verantwortlich, aber sie findet sich in einer sicheren Arbeitsumgebung, wo sich niemand in ihre künstlerische Freiheit einmischt. Radikale Experimente, hartnäckige Kämpfe und rigide Arbeitsdisziplin haben Früchte getragen. Dank ständig wachsenden Erfolgs und Anerkennung kommt die Company in den Genuss von höherer öffentlicher Förderung. Der Leiter der Gruppe, Béla Pintér, ist der Regisseur der Stücke, die er selbst schreibt und in denen er auch als Schauspieler mitwirkt. Pintér fügt der Palette des ungarischen Theaters eine neue Farbe hinzu. Als Autodidakt lässt er sich von seinen Intuitionen leiten und ist inzwischen ein Theaterprofi geworden. Seine Herkunft und Bildung haben nichts mit dem Theater zu tun, und doch ist er ein unendlich kreativer, sensibler, überlegter und äußerst kritischer Autor, Regisseur, Schauspieler, gesegnet mit einer guten Portion Humor. Ein seltenes Talent. Pintérs Theaterpraxis war von Anfang an weit entfernt von der stark politisierten, in sich widersprüchlichen realistischen Theatertradition Ungarns vor dem Regimewechsel. Er begann in der Szkéné, welche zur Zeit der achtziger Jahre das einzige Theater in Budapest war, an dem wichtige Off-Theaterarbeiten aus West- und Mitteleuropa zu sehen waren. Tanz- und Bewegungstheater und experimentelle Gruppen zeigten dort ihre Produktionen und veranstalteten Workshops. Sie zielten nicht auf realistische Authentizität. Sie benutzten theatralische Ausdrucksformen, die sich radikal von den Codes des ungarischen Theaters der damaligen Zeit unterschieden: beispielsweise durch ihre Betonung der schieren Körperlichkeit, durch ihre Bewegungs- und Tanzsprache, durch die Stilisierung oder durch eine Art reflektierendes, sich selbst wahrnehmendes Spiel, das immer eine gewisse Distanz beinhaltet. Zu diesem Zeitpunkt, Pintér war noch Schauspieler, lernte er viel aus diesen Begegnungen; genauso wurde er damals von einigen wenigen ungarischen Regisseuren beeinflusst (wie zum Beispiel Sándor Zsótér), die sich vom Fluch des Realismus und den ständigen politischen Anspielungen – und dem augenzwinkernden heimlichen Einverständnis mit dem Zuschauer – befreiten und auf der Suche waren nach einer anderen Form des Theatermachens, nach einer anderen Form von Kommunikation. […] In den sechs Produktionen der Béla Pintér Company, die in der Zeit von 1998 bis 2003 entstanden, begann sich eine klare Linie abzuzeichnen. Ein spezifischer Stil, ein einheitlicher Kanon der Form und die immer wiederkehrenden kulturellen Querbezüge verbinden diese Arbeiten. Außer in ihrer neusten Produktion „Roncsolt Kópia“ („Zerkratztes Zelluloid“)1 spielen immer wieder Elemente aus der Volksmusik und ungarische Volkstänze eine große Rolle, allerdings treten sie auf neue, unübliche, kritische und ironische Weise in Erscheinung. In den Aufführungen entthronen Musik und Tanz die Vorherrschaft der Sprache, sie übernehmen statt ihrer die Funktion der Erzählung. Aber keine der Folklore-Elemente wirken als sinnentleerte Reproduktion: Jede Geste, jedes Lied, jede Melodie, jedes Motiv, sogar der kleinste Teil eines Kostüms definiert sich über eine neue Bedeutung, da der Kontext, in dem sie erscheinen, sich verändert hat. Obwohl der Regisseur und die Schauspieler sich mit diesem Hintergrund identifizieren, bauen sie keine eindeutig traditionellen Elemente in ihre Vorstellungen ein. Sie bedienen sich einer dekonstruktivistischen Methode und kombinieren Tradition mit fremden oder alltäglichen Ausdrucksformen. Dasselbe tun sie mit der Sprache, so dass sich der volltönende Text, gesprochen mit heftigem Akzent, fast unmerklich mit modernen Ausdrücken und Redewendungen vermischt. Das Vokabular ihrer Zitate und Anspielungen bezieht sich nicht allein auf die Folklore; es mischt sich mit Motiven aus fremden soziokulturellen Codes, und das Ganze hüllt sich in die alles überschwemmenden Restfetzen einer Massenkultur. So schaffen sie eine surreale Bühnenwelt, eine Mischung aus Authentizität und Kitsch, und bewegen sich immer entlang der Grenzlinie zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Gruppe ist nicht nur im Besitz einer eigenen Theatersprache, sie beherrscht auch die Tricks der theatralischen Postmoderne. Die traditionelle lineare Form der Erzählung wird aufgebrochen durch eine Kombination verschiedener Zeitdimensionen mit fiktiven Welten sowie durch eine filmische Schnitttechnik und die fragmentarische Form der Stücke. […] „Roncsolt Kópia“ (wörtlich übersetzt: „beschädigte Filmkopie“) ist wie das vorangegangene Stück „Parasztopera» („Bauernoper“)2 eine Art Musiktheater. Dieses Mal allerdings mischen Regisseur und Komponist die Klänge der spätromantischen Oper mit den Melodien von ungarischen Filmschlagern der 40er Jahre. Zu diesem Zweck musste das Orchester vergrößert werden. In der „Bauernoper» kamen hauptsächlich Saiteninstrumente aus Transsylvanien zum Einsatz, wie Geige, Cello, Kontrabass und Spinett. In „Zerkratztes Zelluloid» erfordern die Filmmelodien der damaligen Zeit ein Arrangement von Klavier, Klarinette, Trompete und Posaune zusätzlich zu Geige und Bass. Im Lichte von Pintérs früheren Arbeiten erscheint „Zerkratztes Zelluloid» als Wagnis. Zum ersten Mal verzichtet die Gruppe auf folkloristische Elemente. Sie meiden ihr familiäres Milieu aus Tänzen, Liedern und Text, fast als hätten sie ihre Muttersprache verlernt. Mittels des dramaturgischen Einsatzes von Filmmontage-Techniken haben sie, mehr noch als in den Arbeiten zuvor, zu einer streng-formalen, stilisierten und stark visuellen Theatersprache gefunden, die an die Schwarzweiss-Filme aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert. […] Thema und Aufführungsstil von „Roncsolt Kópia“ haben in Ungarn heftige Diskussionen ausgelöst. Obwohl die Gruppe immer mit sensibler Treffsicherheit sich selbst und der Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten hat, haben Béla Pintér and Company noch nie den Finger auf eine solche, noch immer aktuelle Wunde gelegt. […] Fußnoten 1 In Ungarn ist die Aufführung auch unter dem Titel „Gyévuska“ gespielt worden (nach dem russischen Wort „Djewuschka“: Mädchen), dem Titel eines bekannten ungarischen Vorkriegs-Chansons. 2 „Parasztopera“ von Béla Pintér and Company wird in diesem Herbst auf verschiedenen Festivals in Tschechien, England und Holland gezeigt; im Juni 2005 wird die Aufführung voraussichtlich auch beim Festival Theater der Welt in Stuttgart zu sehen sein. MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Csak egy szög (Nur ein Nagel) von Márton Kovács, István Mohácsi und János Mohácsi Regie – János Mohácsi Musik – Márton Kovács Dramaturgie – István Eörsi Bühne – Zsolt Khell Kostüme – Edit Szűcs Choreografie – Richárd Tóth Licht – Tamás Bányai Mit Schauspielern und Musikern des Csiky Gergely Theaters, Kaposvár Produktion Csiky Gergely Theater, Kaposvár 26. + 27. November | 19 Uhr Haus der Berliner Festspiele Deutsche Erstaufführung In ungarischer Sprache mit deutscher Simultanübersetzung | Dauer 4 Std. Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de János Mohácsi | Csak egy szög (Nur ein Nagel) „Nichts haben wir gestohlen, nur einen Nagel / Aus der blutenden Handfläche Jesus’“, heißt es in dem ungarischen Roma-Volkslied, das der Titel zitiert. In acht teils realistischen, teils absurden Einzelepisoden spannt das Stück einen Bogen über 2000 Jahre Geschichte der Zigeuner, vom Auszug aus Indien über Auschwitz bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Rollen der fast 40 Darsteller wechseln von Szene zu Szene, nur drei Figuren tauchen immer wieder auf: „Onkel Karl“ (Karcsi bácsi; ein typischer Zigeunername in Ungarn), seine Frau und Gott. Zusammengehalten wird die aktionsreiche Revue durch hochexplosive Live-Musik und die dichte Choreografie. Auch diese zweite ungarische Produktion, beide sind bei spielzeiteuropa zum ersten Mal außerhalb Ungarns zu sehen, wird von einem starken Ensemble getragen. Wiederum geht es um ein – nicht nur – in Ungarn höchst brisantes Thema: die so genannte „Roma-Frage“ bzw. um die Vorurteile und Abwertungen, unter denen diese Minderheit seit Jahrhunderten zu leiden hat. Entstanden ist das Stück in der kollektiven Arbeitsweise, für die das Kaposvárer Csiky Gergely Theater mittlerweile auch über die Grenzen Ungarns hinaus bekannt geworden ist. Die erste Text- und Spielfassung des Regisseurs János Mohácsi, einem der wichtigsten Erneuerer des heutigen ungarischen Theaters, und seines Bruders István erlebte während des Probenprozesses zahlreiche Änderungen. Am Ende hat jeder Darsteller die Konflikte, die er auf der Bühne zeigt, selbst mitformuliert. Dieses Ensemble-Bewusstsein zeichnet die Arbeiten des Regisseurs János Mohácsi in besonderem Maße aus. János Mohácsi Biografie János Mohácsi, geb. 1959, ist einer der wichtigsten Erneuerer des heutigen ungarischen Theaters. Seit fast 20 Jahren ist er an dem in Ungarn sehr bekannten Csiky Gergely Theater in Kaposvár engagiert, zunächst arbeitete er dort als Schauspieler und Regieassistent. Seine Inszenierungen gehen nie unbemerkt an Publikum und Kritik vorbei, da er einer der wenigen ungarischen Theatermacher ist, der die Stoffe so bearbeitet, dass sie in einem aktuellen Gegenwartsbezug stehen. Mohácsi hat ein starkes Gespür für die Dinge, mit denen sich die Menschen in seiner Umgebung herumschlagen, und er regt sein Ensemble immer dazu an, Ko-Autoren und Ko-Regisseure der Inszenierungen zu werden. In einem Land, das auf eine starke Tradition des Regietheaters zurückblickt, ist das alles andere als selbstverständlich. János Mohácsi ist in den letzten Jahren für seine Inszenierungen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, so für Feydeaus Ein Floh im Ohr, Kálmáns Die Csárdásfürstin oder Millers Hexenjagd – um jeweils ein Beispiel aus den verschiedenen Genres zu nennen. Es gelingt ihm immer, auch bei den altbekannten Klassikern einen neuen Blickwinkel, eine neue Wahrheit zu entdecken. Eines seiner letzten Stücke, inspiriert von Joseph Hellers We Bombed in New Haven, hatte allerdings eine traurige Aktualität: In der Nähe Kaposvárs waren einige Jahre die IFOR/SFOR Truppen stationiert, und man konnte manchmal Flugzeuge starten sehen, die Belgrad ansteuerten. Diese Bombardierung hatte in breiten Bevölkerungskreisen in Ungarn leidenschaftliche Reaktionen ausgelöst, vielleicht mehr als jede andere politische Debatte der letzten zehn Jahre. In Nur ein Nagel reflektieren János Mohácsi und sein Bruder István ein weiteres akutes Problem innerhalb der EU. Sie schufen ein beinahe vierstündiges Stück mit verrückter, hochexplosiver Live-Musik und einer großartigen Choreografie. Über János Mohásci und seine Bühnenvision „Nur ein Nagel“ von István Eörsi János Mohácsi, geboren 1959, wurde wie viele andere bedeutende Persönlichkeiten des heutigen ungarischen Theaters nie an die ungarische Schauspielakademie aufgenommen – wahrscheinlich weil er bereits als junger Mensch unerträglich originell war. So sollte er einmal für eine Aufnahmeprüfung eine Verfolgungsszene erfinden und inszenieren, und er löste diese Aufgabe durch einander jagende, verfolgende und voreinander flüchtende Lichtstrahlen. Die Professoren der Jury waren der Meinung, er eigne sich nicht für die Akademie, weil er sich als Regisseur zu sehr für technische Vorgänge und nicht für Menschen interessiere. 1983 wurde Mohácsi als Schauspieler und Regieassistent ans Kaposvárer Csiky Gergely Theater engagiert. Kaposvár, eine Stadt mit rund achtzigtausend Einwohnern im Südwesten Ungarns, war der Ort, wo junge, begabte Regisseure und Schauspieler, fern der Kontrolle von Kulturbehörden und Zensur, in den siebziger und achtziger Jahren ein altmodisches Landestheater in ein wichtiges, vielschichtiges, gesellschaftskritisches Theater umgestalteten. Dieses Theater war modern, aber nicht avantgardistisch, und legte großen Wert auf eine kollektive Spielweise, auf Massenszenen mit Musik und Tanz, auf Aufführungen, in denen starke Schauspieler und hervorragend ausgebildete Laien einander ergänzten. Als Regisseur hat János Mohácsi diese Tradition radikal weitergeführt. Er erarbeitete natürlich auch „normale“ Inszenierungen – zum Beispiel Dürrenmatts Romulus der Große, Arthur Millers Hexenjagd oder Goldonis Kaffeehaus –, die er mehr oder weniger unverändert auf die Bühne brachte. Nicht selten benutzte er aber die Stoffe, um die ihnen innewohnenden verlogenen Konventionen bloßzustellen. Seine Csárdásfürstin zum Beispiel entlarvte die national-ungarische, zur Mythologie hochstilisierte Attitüde des Landadels als ekelhafte und lächerliche Lüge. Am Ende der Aufführung stehen alle Figuren, mitten unter ihnen der Konteradmiral und Reichsverweser von 1920 bis 1945, Miklós Horthy, sowie der kommunistische Herrscher Ungarns von 1956 bis 1989, János Kádár, auf einem Kriegsschiff, mit dem sie allesamt untergehen. In einer späteren Arbeit, die, inspiriert von Joseph Hellers We Bombed in New Haven, den Titel Wir bombardierten Kaposvár trägt, schlägt – nachdem die Zuschauer die Bombenwerfer über der Stadt vorher im Film verfolgen konnten – zum Schluss der Aufführung eine letzte Bombe ins Theater ein, und in der totalen Finsternis verbreitet sich beißender Rauchgeruch. Die letzte Inszenierung Mohácsis mit dem Titel Nur ein Nagel – ein Zitat aus einem ungarischen Roma-Volkslied („Nichts haben wir gestohlen, nur einen Nagel / Aus der blutenden Handfläche Jesus’“) – führt die mittlerweile vertraute kollektive Spielweise von Kaposvár noch einen Schritt weiter. Auch hier steht das Ensemble im Mittelpunkt, auch hier könnten sich die großartigen Leistungen der Protagonisten ohne die aktive Präsenz des Ensembles nicht entfalten. Aber diesmal ist nicht nur das Spiel, sondern auch der Text Ergebnis einer kollektiven Vergnügung und Anstrengung. Das Stück besteht aus realistischen und halb-absurden Szenen über wirkliche und fiktive Roma. Die Szenen werden durch den eigenartigen Stil des Spiels aneinander geknüpft. Hinter diesem Stil verbirgt sich die Empörung der Künstler: In Ungarn ist die „Roma-Frage“ politisch und sozial eine blutende Wunde, die allgemein verbreitete Anti-Roma-Stimmung und rassistische Verhaltungsweisen treten seit der Wende offen und aggressiv zutage. Deshalb ist die Aufführung – auch ohne aktuelle Anspielungen – so unheimlich aktuell. János Mohácsi und sein Bruder István lieferten zu jeder Szene einen Text, der sich im Laufe des Probenprozesses gründlich veränderte. Aber nicht nur einzelne Sätze, auch die Handlung bekam manchmal eine andere Wendung. Die Schauspieler haben also zu Recht das Gefühl, dass sie auf der Bühne Konflikte darstellen, die sie selbst mitformuliert haben. Dieses Ensemblebewusstsein ist ein Teil der künstlerischen Wirkung der Aufführung, auch wenn sich die szenischen Einfälle der Mitwirkenden erst durch die starke Hand des Regisseurs zu einer Welt mit scharfen Konturen fügen. Jenseits von Optimismus und Pessimismus, und ohne didaktische Vereinfachung, stehen am Ende ein komplexes Bild und eine schwere Aufgabe vor uns. MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo John Jesurun SHATTERHAND MASSACREE – RIDERLESS HORSE 1.+ 3. Dezember | 20 Uhr Haus der Berliner Festspiele | Seitenbühne CHANG IN A VOID MOON / EPISODE #58 2. + 4. Dezember | 20 Uhr 3. Dezember | 22 Uhr Haus der Berliner Festspiele Uraufführung PHILOKTETES 10. + 11. Dezember | 19 Uhr Haus der Berliner Festspiele | Seitenbühne Uraufführung Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Shatterhand Massacree – Riderless Horse von John Jesurun Regie – John Jesurun Lichtdesign – Jeff Nash Mit Valerie Charles, Sanghi Choi, Jason Lew u.a. 1. + 3. Dezember | 20 Uhr Haus der Berliner Festspiele | Seitenbühne In englischer Sprache | Dauer 60 Min Dank an Ellen Stewart, La Mama, Kiki Martins, Carmen Mehnert, Irene Young, Kirk Winslow, Kaiitheater, Danspace Eine Familie im mythischen Westen Amerikas. Der Sohn wurde als Kind verstoßen, er soll alle Tiere und Pflanzen der Farm vernichtet haben. Vermutlich lebte er danach mit Wölfen zusammen. Seine Heimkehr löst unterschiedliche Reaktionen aus. Während die Schwester den verlorenen Bruder freudig begrüßt, fürchten die Eltern weitere Katastrophen. Was einst geschah provoziert durch die einander widersprechenden Erinnerungen schwerste Familienkonflikte, die noch dazu von einer sich ankündigenden Wolfsattacke überschattet werden (in Anlehnung an Hitchcocks „Die Vögel”). Jesuruns Stück behandelt unter dem Western-Titel einen zentralen Topos des amerikanischen Dramas: die Familie als Kernbild der Gesellschaft. Doch im Gegensatz zur psychologisch realistischen Tradition, die von Eugene O’Neill über Arthur Miller zu Sam Shepard führt, liefert das Familiendrama „Shatterhand Massacree“ eine surrealistische Sicht auf den alten amerikanischen Traum vom unabhängigen Leben auf der Farm. Jesurun bedient sich sowohl bei Überlieferungen von in der Pionierzeit verstoßenen Kindern als auch bei François Truffauts „L’enfant sauvage“ (Der Wolfsjunge), der die Legende vom Wolfskind in der Gegenwart lebendig gehalten hat. Das 1987 im New Yorker Theater The Kitchen uraufgeführte Stück wird bei spielzeiteuropa nach 17 Jahren wieder gezeigt. Es ist eine der wichtigsten Inszenierungen Jesuruns und demonstriert die typische Bildsprache des Video-Theaterpioniers auf herausragende Weise. CHANG IN A VOID MOON / EPISODE #58 von John Jesurun | Uraufführung Regie – John Jesurun Lichtdesign – Jeff Nash Technische Leitung – Richard Connors Mit Valerie Charles, Sanghi Choi, John Hagan, Donna Herman, Anna Köhler, Annie Labois, Jason Lew, Rebecca Moore, Susanne Strenger, Helena White u.a. 2. + 4. Dezember | 20 Uhr 3. Dezember | 22 Uhr Haus der Berliner Festspiele In englischer und deutscher Sprache | Dauer 80 Min Dank an Ellen Stewart, La Mama, Kiki Martins, Carmen Mehnert, Irene Young, Kirk Winslow, Kaiitheater, Danspace Die „Chang”-Serie ist die längste Theater-Soap der Welt. Sie begann 1979 als Kurzfilm, bald darauf ging ihrem Schöpfer John Jesurun das Geld für Filmproduktionen aus, und er brachte die Geschichte auf die Bühne. Im New Yorker Pyramid Club, eigentlich ein Ort für Punk-Konzerte, liefen von Juni 1982 bis April 1983 die ersten 36 Folgen. Der Rhythmus der einzelnen Produktionen war unerbittlich – am ersten Tag: Schreiben, am zweiten, vierten und sechsten Tag: Proben, am siebten Tag: Premiere – und gleich wieder alles von vorn. Schauspieler, die wegen anderer Verpflichtungen dem Wochendienst nicht nachkommen konnten, wurden gefilmt und per Monitor in die Aufführung eingefügt. So entstand das interaktive Video-Theater, das zwanzig Jahre später zu einem Markenzeichen des Zeitgenössischen auf der Bühne wurde. Die vielfach verästelte und ziemlich surreale Geschichte um Chang – in 25 Jahren Laufzeit längst zu einem mächtigen Parallel-Universum gewuchert – entzieht sich einem Versuch der Zusammenfassung. Chang ist Geschäftsmann, genießt in 52 Ländern der Erde diplomatische Immunität und steht unter dem titelgebenden astrologischen Zeichen des „leeren Monds“. Er war einmal mit Contessa Isabella verheiratet, hat Kinder und Kindeskinder – die Genealogie ist ungefähr so übersichtlich wie der griechische Götterhimmel. Die Handlung, die sich über die ganze Erde spannt, rast durch alle Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Für Berlin wird eigens Folge 58 entstehen: Changs alte Bekannte Mrs. Fangitu hat einmal für eine Berliner Bank gearbeitet. Außerdem war sie Modedesignerin und mit Dr. Ibanez liiert, und mit dem rätselhaften Geschäftsmann Chang hat sie bereits in den vierziger Jahren schwerkriminelle Deals abgewickelt... PHILOKTETES von John Jesurun Regie – John Jesurun Lichtdesign – Jeff Nash Technische Leitung – Richard Connors Mit Jason Lew u.a. 10. + 11. Dezember | 19 Uhr Haus der Berliner Festspiele | Seitenbühne Uraufführung In englischer Sprache | Dauer 60 Min Dank an Ellen Stewart, La Mama, Kiki Martins, Carmen Mehnert, Irene Young, Kirk Winslow, Kaiitheater, Danspace Philoktet wurde vom Griechenheer auf dem Weg nach Troja wegen einer stinkenden Wunde am Fuß auf der Insel Lemnos zurückgelassen. Fast zehn Jahre lebt er dort in elender Einsamkeit – bis Odysseus und sein Begleiter Neoptolemos ihn wieder für den Krieg gewinnen wollen. Denn Philoktet besitzt den Bogen des Herakles und dessen nie fehlende Pfeile, ohne die Troja, einem Seherspruch zufolge, nicht besiegt werden kann. Wie in der gleichnamigen Tragödie von Sophokles setzt Jesuruns „Philoktetes“ mit dem Besuch der beiden Krieger auf Lemnos ein. Ist es nur die Wunderwaffe des Ausgestoßenen, die sie zu ihm führt? Philoktetes gibt vor, ein anderer zu sein – der, den sie suchten, sei tot. Drei ausgebrannte Militärs belagern sich gegenseitig, mit Täuschungsmanövern, aggressiven Sprüchen von Tod und Unterwelt, in einem Nebel aus Drogen und Alkohol. Die Sprache flimmert zwischen Antike und Gegenwart: Dieser „Philoktetes“ kennt alle Zeiten, in denen Krieger an ihrem Handwerk degenerieren, anstatt im hellen Licht des Heldentums zu stehen. Jesurun schrieb das Stück 1993 für Ron Vawter, einem der wichtigsten Schauspieler der Wooster Group. Wegen Vawters frühem Tod kam die mit ihm als Philoktet geplante Uraufführung nicht mehr zustande. „Philoktetes“ ist ein weiteres wichtiges Beispiel für Jesuruns bühnengestaltenden Einsatz von Videomonitoren. PHILOKTETES von John Jesurun (1983) Auszug aus dem Originaltext [Eine deutsche Übersetzung des Stücktextes von „Philoktetes“ (übersetzt von Anna Köhler) wird von den Berliner Festspielen für die Aufführungen im Dezember herausgegeben.] LISTEN TO ME PHILOKTETES: Listen to me, I‘m telling you something. So that you‘ll learn the value of suffering, The joy of sacrifice and patience, murder and manslaughter. So that you‘ll learn to speak the language of the dead. Once again its time for you to shut up. Belly up to the buzzsaw. Gravitational collapse, Blackleg, Yankee pot roast. Stop crying. You should be happy. Listen to me, I‘m telling you something. You tell someone else and they‘ll tell someone else. This is what Philoktetes told me. This is his suicide note, his poison-pen letter. First, I‘ll give the clue, then the story, then the real story. First what they saw, then what was seen, Then what was. The cadaver will direct the autopsy, A talking corpse narrating, A dead horse talking, a dead foot walking. Philoktetes is dead. I was looking at him outside. He had one fly on him. But that fly was tiny, triumphant. ODYSSEUS: You have been found neither guilty nor innocent but you have been found. PHILOKTETES: Stop crying. NEOPTOLEMUS: What‘s that dripping ? PHILOKTETES: Blood, urine, pieces of marijuana, Carbon monoxide. I‘m sorry that he‘s dead, all right ? Once again it‘s time for you to shut up. NEOPTOLEMUS: What‘s that moving ? PHILOKTETES: A salamander come to eat the turnips. I had wanted to tell you about my deep and unrelenting and unequivocal disbelief and unbelief in everything. But now I have changed my mind. Do you understand that ? NEOPTOLEMUS: What‘s that dripping ? PHILOKTETES: Crocodile tears. I‘d like to read a nice book now and then with a story in the middle that goes nowhere. Don‘t you understand ? He‘s been murdered, killed. His head hit a bullet. Habeas corpus, a talking corpse. […] John Jesurun Biografie John Jesurun lebt als Dramatiker, Regisseur und Bühnenbildner in New York. Seine Werke kombinieren sprachliche Aspekte mit Elementen aus Film, Architektur und Medienkunst. Seine exlodierenden Erzählungen verhandeln eine große Spannbreite von Themen und erforschen das Verhältnis von Form und Inhalt. Sie hinterfragen das traditionelle Verständnis von verbaler, visueller und nicht-materieller Wahrnehmung. Jesurun wurde 1951 in Battle Creek, Michigan, geboren. Er machte seinen BA am Philadelphia College of Art 1972, seinen Masters-Abschluss in Bildhauerei in Yale 1974. Von 1976 bis 1979 arbeitete er für den Fernsehsender CBS, für den er den Inhalt von TV-Programmen analysierte. Von 1979 bis 1982 war er als Assistant Producer der Dick Cabett Show tätig, er produzierte in dieser Zeit Shows über John und Mackenzie Phillips, John Hammond Sr., Odetta und Tito Puente. Zwischen 1975 und 1981 schrieb und produzierte er vier Kurzfilme, die bei Festivals und in alternativen Kulturzentren gezeigt wurden. Seine Theaterlaufbahn begann Jesurun im Pyramid Club (Lower East Side, New York) mit seinem bahnbrechenden Fortsetzungs-Stück CHANG IN A VOID MOON, das mittlerweile 56 Episoden umfasst. 1985 gewann es einen Bessie Award. Seit 1984 hat er mehr als 20 weitere Stücke geschrieben, aufgeführt und entworfen, darunter die Medien-Trilogie DEEP SLEEP (1986 mit einem Obie Award als bestes Stück ausgezeichnet), WHITE WATER, BLACK MARIA, DOG‘S EYE VIEW, NUMBER MINUS ONE, RED HOUSE, SHATTERHAND MASSACREE, SUNSPOT, EVERYTHING THAT RISES MUST CONVERGE, BLUE HEAT, IRON LUNG, POINT OF DEBARKATION, SLIGHT RETURN, PHILOKTETES, LUMIERE, OJO CALIENTE, JOAN D‘ARK, PEARLY IRIDESCENT FAUST/HOW I ROSE, BARDO und SNOW. Mit seiner eigenen Theatergruppe hat er ausgedehnte Tourneen durch Europa und die Vereinigten Staaten absolviert. Namhafte Bühnen haben seine Stücke aufgeführt, u. a. das La Mama, The Kitchen, das Walker Arts Center, das Wexner Center, INTAR, das Mickery Theater und das Theater am Turm, Frankfurt/Main. Jesurun wurde zu zahlreichen wichtigen Festivals eingeladen, u. a. den Wiener Festwochen, dem Granada Festival, dem Festival Printemps du Théâtre in Paris, Eurokaz Zagreb, dem Bogota International Theater Festival und dem Spoleto-Festival USA. Jesurun wurde für seine Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und erhielt bedeutende Stipendien, u. a. mehrmals vom National Endowment for the Arts (NEA), zudem das Playwright‘s Fellowship der Rockefeller Foundation, das Guggenheim Fellowship, das New York Foundation for the Arts Fellowship, das Foundation for Contemporary Performance Arts Fellowship und eine U.S.-Mexico Creative Artist‘s Residency. 1996 wurde er mit einem der prestigeträchtigsten Förderungen in den USA überhaupt, dem MacArthur Fellowship, ausgezeichnet. Jesurun hat seine Werke selbst in Italienisch, Deutsch, Spanisch und Japanisch aufgeführt. Er hat an der Goethe Universität in Frankfurt/Main unterrichtet, wie auch an der Justus Liebig Universität in Gießen, an DASARTS in Amsterdam, der New York University, der Tokio University und der Kyoto University of Art and Design. Er hat mit vielen verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet, u. a. mit Molissa Fenley, Christian Marclay, Frank Maya, Ron Vawter und Jeff Buckley. FAUST/HOW I ROSE (National Company of Mexico) und WHITE WATER wurden von dem gefeierten mexikanischen Regisseur Martin Acosta in Mexico City aufgeführt. Außerdem hat Jesurun das Bühnenbild und die Filminstallationen für die konzertante Aufführung von Roy Nathansons Jazz Suite „Fire at Keaton’s Bar and Grill“ mit Debby Harry und Elvis Costello entworfen, die im St. Ann’s in Brooklyn und der Royal Festival Hall in London gezeigt wurde. Zur Zeit arbeitet er an einer japanischen Version von Philoktetes mit der Noh-Theater Legende Hideo Kanze, die im Mai 2005 in Kyoto erstaufgeführt wird. ArtForum | October 1999 John Hagan on John Jesurun von John Hagan Chang in a Void Moon, John Jesurun‘s „living film serial,“ played at the Pyramid Club, at 101 Avenue A, every Monday night at nine-thirty and eleven for a year, starting in June 1982. It was perhaps the first of many „episodic plays“ to appear in New York downtown theater, and it came about when Jesurun, lacking funds to produce his film scripts, decided to stage them instead. The decision to offer me the role of Chang, a nefarious businessman with international connections and „diplomatic immunity in 52 countries,“ resulted from Jesurun‘s desire to double-cast the part in order to relieve the actress playing it from the weekly responsibility. The production formula rarely varied: We performed on Monday; Jesurun wrote a new script on Tuesday; we met at his apartment to read it on Wednesday and Friday. Basic staging was done at the Pyramid on Sunday, often to be modified up until the moments before the show began. The next day, the process would start again. Each episode consisted of many short scenes (and the occasional marathon one), with repartee sometimes beginning or ending midsentence in filmlike jump cuts. Rich in description and allusions (history, geography, rock bands), Chang‘s demented dialogue was also highly structured, in almost musical fashion, with constant repetitions and variations - making the language as difficult to pin down as the elusive Chang himself. The scripts outrageously traversed time and space, and sheets were posted backstage during the show, reminding us not only what scene was next, but what country and century it took place in. If the scripts brooked no spatiotemporal restraints, the real-life practicalities of space, time, and budget necessitated, and may even have fostered, a simple and rather ingenious stagecraft, based on the use of large white foamcore boards. Each episode contained a number of „cinematic“ effects, the most famous of which were „aerial shots“ created by placing actors on their sides, stomachs, and backs atop specially built platforms, so that the audience felt as if they were watching the action from a bird‘s-eye view. Between scenes, actors scrambled to new positions. „Fast and flat“ was Jesurun‘s preferred acting style, which went well with the minimalist staging, and while there were exceptions to this method, a minimum of emotion at maximum speed could be helpful in getting through a typical script. As I recall it from a distance, we performed amid a buzz of drink orders and conversations, in a haze of cigarette smoke from offstage and on, and with spectators cramming the entrance that separated us from the front room where drag queens danced on the bar to pulsating music. After a year, Jesurun moved on to stage longer works in larger spaces. But sporadically since then (most recently, but not finally, in 1997), he has produced new episodes of Chang at other clubs and performance spaces around town, lending a slightly nomadic quality to a show that many will forever associate with the „cocktail lounge“ on Avenue A. John Hagan ist Schauspieler und Autor und lebt in New York. MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo The Busker’s Opera frei nach The Beggar’s Opera von John Gay und Christoper Pepusch Regie und Bühne – Robert Lepage Adaptation des Originaltexts – Kevin McCoy, Robert Lepage Musikalische Leitung – Martin Bélanger Dramaturgie – Kevin McCoy Kostüme – Yasmina Giguère Komponiert, arrangiert und gespielt von Frédérike Bédard, Martin Bélanger, Julie Fainer, Claire Gignac, Frédéric Lebrasseur, Véronika Makdissi-Warren, Kevin McCoy, Steve Normandin, Marco Poulin, Jean René Produktion Ex Machina, Quebec City In Koproduktion mit Festival Montréal en Lumière, La Filature – Scène Nationale de Mulhouse, Maison des Arts, Créteil, Robert and Margrit Mondavi Center for Performing Arts, UC Davis Théâtre de Caen, Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel, Change Performing Arts, Mailand, und spielzeiteuropa I Berliner Festspiele Mit freundlicher Unterstützung der Kanadischen Botschaft in Berlin 8. + 9. Dezember | 20 Uhr 10. + 11. Dezember | 21 Uhr Haus der Berliner Festspiele Deutsche Erstaufführung | In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln | Dauer 2 Std 15 Min Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Robert Lepage | The Busker’s Opera Im London des Jahres 1728 trafen John Gay und Christopher Pepusch mit ihrer Satire auf die korrupte Gesellschaft, die zugleich eine Parodie auf die damals hochmoderne Italienische Oper war, den Nerv ihrer Zeit. „The Beggar’s Opera“ wurde zur Sensation – und dient nun seit fast 300 Jahren immer wieder neu als Vorlage, so Brecht/Weill für ihre „Dreigroschenoper“. Robert Lepage und seine zehn Darsteller – Schauspieler, Musiker, Sänger und ein DJ – interpretieren die Geschichte für ein heutiges Publikum. Man begegnet den bekannten Charakteren, Macheath und seinen Geliebten Polly und Lucy, der Nutte Jenny, genauso Mr. and Mrs. Peachum, aber sie gehören nicht zur kriminellen Unterwelt sondern zur Unterwelt des Musikbusiness: Es sind Musiker, aufstrebende Stars, Groupies, Agenten, Plattenbosse und andere Repräsentanten der Unterhaltungsindustrie – und Prostituierte. Wie ihr Vorbild beginnt die „Busker’s Opera“ (engl. „busker“: Straßenmusikant) in London, wechselt aber schnell über den Atlantik nach New York, reist dann von Atlantic City gegen Süden, nach New Orleans, bevor sie den Ort ihrer letzten Bestimmung erreicht: Huntsville, Texas. Auf dieser Reise streift sie die unterschiedlichsten Musikstile: Ska, Reggae, Jazz, den Broadway Showstil, Rock, Blues, Country, Tango, Disco, Rap und auch klassische Melodien des Originals von 1728. Die „Busker’s Opera“ erzählt vom Straßenmusiker und den Haien, die versuchen, alle Macht über Aufstieg und Erfolg in den Händen zu halten, und von der künstlerischen Freiheit, die dann entsteht, wenn die Dampfwalze der Musikindustrie vorübergerollt ist. Robert Lepage Biografie Robert Lepage, frankokanadischer Visionär und kultureller Botschafter seines Landes, gilt inzwischen weltweit als bedeutender Theater- und Filmregisseur, Bühnenbildner, Autor und Performer. Seine vielfältige und originelle Herangehensweise hat die Grenzen des Theaters erweitert, auch dank seines souveränen Umgangs mit neuen Technologien. Seine Werke, die meist vom alltäglichen Leben inspiriert sind, haben eine ganze Generation von Künstlern und Theaterschaffenden beeinflusst. Geboren 1957 in Québec, hatte sich Robert Lepage schon sehr früh für Geographie interessiert, er träumte sogar davon, Professor zu werden. Doch seine Interessen für die Kunst führten ihn zu seiner größten Leidenschaft, zum Theater. 1975, im Alter von 17 Jahren, begann er ein Studium am Conservatoire d‘Art Dramatique de Québec. Nach einem Aufenthalt in Paris (1978) war er die folgenden zwei Jahre als Schauspieler, Autor und Theaterregisseur bei verschiedenen Produktionen tätig, bevor er seine eigene Gruppe gründete, das Théâtre Repère. 1984 schuf er mit „Ciculations“ ein erstes größeres Werk, mit dem er in ganz Kanada gastierte und das die Auszeichnung „beste kanadische Produktion“ der Quinzaine Internationale de Théâtre de Québec erhielt. Im folgenden Jahr wurde er mit „The Dragon‘s Trilogy“ (das die Berliner Festspiele als Remake im Rahmen der letztjährigen Festwochen präsentierten) auch im Ausland bekannt. Danach entstanden „Vinci“ (1986), „Polygraph“ (1987-1990) und „Tectonic Plates (1988-1990). Von 1989 bis 1993 war Lepage künstlerischer Leiter des Französischen Theaters des National Arts Center in Ottawa. Zur selben Zeit entstand sein erstes Solostück („Needles and Opium“, 1991-1993/1994-1996). Lepages Arbeiten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie nach der Uraufführung über einen längeren Zeitraum hinweg weiterentwickelt und zum Teil auch umbesetzt werden. Es folgten die Shakespeare-Trilogie „Coriolan“, „Macbeth“ und „La Tempête“ (19921994) und „A Midsummer Night‘s Dream (1992). Lepage war der erste nordamerikanische Regisseur, der ein Shakespeare-Stück am Londoner Royal National Theatre inszenierte. 1994 machte er einen wichtigen Schritt, indem er seine eigene multidisziplinäre Produktionscompany „Ex Machina“ gründete. Als künstlerischer Leiter führte er sein neues Team in einen längeren kreativen Prozess, aus dem das international hochgelobte mehrstündige Theaterepos „Seven Streams of the River Ota“ (1994), „La songe d‘une nuit d‘étè“ (1995) und sein drittes Solostück „Elsinore“ (1995-1997) hervorgingen. 1994 realisierte er seinen ersten Spielfilm „Le Confessionnal“, der beim am Filmfestival von Cannes 1995 die „Director‘s Fortnight“ eröffnete. Es folgten die Filme „Le Polygraphe“ (1996), „Nō“ (1998) und sein erster englischer Spielfilm „Possible Worlds“ (2000). Im Juni 1997 eröffnete unter seiner Leitung das spartenübergreifende Produktionszentrum „La Caserne Dalhousie“. Dort entstanden „Geometry of Miracles“ (1998), „Zulu Time“ (1999) und sein bislang letztes Solostück „The Far Side of the Moon“, mit dem Lepage ebenfalls in Berlin gastierte. Für diese Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. vier Preise bei der Gala des Masques, einen Time Out Award sowie den renommierten Evening Standard Award in London. Auf Grund der wachsenden Anerkennung erhielt Robert Lepage verschiedenste Angebote, die sein künstlerisches Feld erweiterten. An der Canadian Opera Company gab er sein Operndebüt mit dem Doppel-Abend „Bluebeards Castle“ und „Erwartung“. Es folgten eine Inszenierung von Berlioz‘ „La damnation de Faust“ (1999) in Japan, die 2001 in Paris gezeigt wurde. Außerdem konzipierte und inszenierte er Peter Gabriels „Secret World Tour“ (1992), die von der Kritik begeistert aufgenommen wurde, und leitete die Ausstellung „Métissage“ (1999) im „Musée de la Civilisation du Québec“. Er tat sich ein zweites Mal mit Peter Gabriel zusammen und übernahm die Regie von „Growing Up Live“, der Tournee von 2002. Zur Zeit erarbeitet Robert Lepage für den kanadischen Cirque du Soleil dessen neue Show für Las Vegas, die vermutlich noch vor Ablauf dieses Jahres Premiere hat. Gleichzeitig arbeitet er an einer nächsten Soloproduktion, basierend auf Texten des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. „The Busker‘s Opera“ – eine Koproduktion mit spielzeiteuropa | Berliner Festspiele – wurde erstmals im Februar 2004 beim Montreal High Lights Festival gezeigt und wird als Deutsche Erstaufführung im Dezember 2004 im Haus der Berliner Festspiele präsentiert. Biographies Frédérike Bédard After graduating from the National Theatre School of Canada in 1980, Frédérike Bédard also studied classical singing and the harpsichord at Quebec City’s Music Conservatory. She works as an actor, singer and musician, both on stage and on television. Martin Bélanger Multi-instrumentalist and music lover Martin Bélanger loves to use his guitars, banjos, double bass and other to stringamajigs cross every possible musical line. Recently, he has been working regularly on theatre productions, both as a composer and musician, and often side by side with Frédéric Lebrasseur (the other half of the Ranch-O-Banjo duet). Claire Gignac Contralto, flutist, composer and musical director Claire Gignac is the cofounder and artistic director of the New Music section of the Compagnie musicale La Nef. Over the last 25 years, she has touched everything from ancient to contemporary music. Julie Fainer A Montreal artist with a wide range of interests, Julie Fainer (aka DJ Killa Jewel) first studied classical music, and then began working as a hip hop DJ, in various locations in Canada and the United States. She has a particular interest for merging hip hop and theatre. Frédéric Lebrasseur This natural improviser and self-taught musician plays with a whole number of musical groups (including Les Batinses) and regularly works with puppet theatre companies. He also composes film soundtracks and directs animation and fiction shorts produced by the National Film Board. Véronika Makdissi-Warren After studying the violin at Quebec City’s Music Conservatory and graduating from the city’s Theatre Conservatory, Véronika Makdissi-Warren began working as an actor in 1996, collaborating on several new works created by local theatre companies. She recently played the part of Jeanne in the restaging of The Dragons’ Trilogy, which was shown in Quebec and abroad. Kevin McCoy Since 1985, Kevin McCoy has been very active as an actor, author and director, first in the United States (particularly in Chicago) and then in Quebec City and Montreal. His first collaboration on a collective project by Ex Machina, Geometry of Miracles, allowed him to tour several continents. Steve Normandin A self-taught accordionist and pianist, Steve Normandin won the public’s award and the stage performance award at Petite-Vallée’s 2001 Festival en chanson. His encyclopedic knowledge of French songwriting of all times and styles has brought him to perform in many different parts of the French-speaking world. Marco Poulin Since 1978, actor and self-taught musician Marco Poulin has worked with most of Quebec City’s theatre companies. He has been part of several Ex Machina productions, including Tempest, Geometry of Miracles, Zulu Time and far side of the moon. Jean René After a long period of time working in Italy, and after returning to school to study composition and conducting, Jean René became, from 1991 to 2002, the associate solo violist with the Montreal Metropolitan Orchestra. He works with various chamber music ensembles and is particularly interested in written and improvisational new music. MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo AN ANTIGONE Ein Stück von Wanda Golonka Regie, Raum, Kostüme – Wanda Golonka Dramaturgie – Susanne Traub Licht – Michael Bischoff, Nicol Hungsberg, Frank Kaster, Stefan Döhler Live-Video – Véronique Dubin Video – Philip Bußmann Mit Hilke Altefrohne, Oliver Kraushaar, Abak Safaei-Rad, Jennifer Minetti, Véronique Dubin, Samuel Zach, Nicola Gründel u.a. Produktion schauspielfrankfurt 17. + 18. Dezember | 20 Uhr Haus der Berliner Festspiele | Haupt-, Seiten- und Hinterbühne Dauer ca. 2 Std 30 Min Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Wanda Golonka | An Antigone Antigone widersetzt sich der staatlichen Anordnung, dem Edikt Kreons. Sie folgt ihrer eigenen Überzeugung – und bestattet ihren toten Bruder. Für ihre kompromisslose Unbedingtheit bezahlt sie am Ende mit dem Leben. Die Figur der Antigone wirft die zeitlose Frage nach der Übereinstimmung des individuellen Handelns und seiner gesellschaftlichen Bedeutung auf. „An Antigone“ von Wanda Golonka ist keine herkömmliche Inszenierung der SophoklesTragödie, sondern eine Annäherung, eine Einkreisung des Stoffes in acht Solo-Performances, deren Ausgangspunkt der klassische Text in der Hölderlin’schen Fassung ist. Im Versuch, den Widersprüchen und Rissen der Existenz in der Auseinandersetzung mit dem Antigone-Thema auf den Grund zu gehen, lotet das Stück die Möglichkeiten der Kommunikation und Wahrnehmung im Theater aus. Es transformiert den Stoff in eine zeitgenössische Raum-/Körper-/ Bild-Sprache, die sich letztlich einer eindeutigen Zuordnung entzieht und ungewöhnliche Spiel-Räume zur Folge hat: Hinter- und Seitenbühne, Zuschauerraum und Foyers. Wanda Golonka, geboren 1958 in Lyon, entwickelte sich mit dem von ihr mitbegründeten Ensemble Neuer Tanz (1986; Düsseldorf) zu einer der interessantesten Choreografinnen in Deutschland. Seit 2001 arbeitet sie als Regisseurin und Choreografin am Schauspiel Frankfurt. Hier entstand auch das Projekt „An Antigone“ als eine Folge von acht Einzelpremieren, verteilt über die Spielzeit 2002/03. Wanda Golonka Biografie Geboren am 13.11.1958 in Lyon, Frankreich 1986 Gründung des Ensembles NEUER TANZ in Düsseldorf 1986-1995 Gesamtleitung von NEUER TANZ 1996 Geburt der Tochter Salomé 1997 Geburt der Tochter Saphir 1999-2000 Artist in residence im Marstall/Bayerisches Staatsschauspiel München 2001-2002 Regisseurin, Choreographin im schauspielfrankfurt Auszeichnungen 1995 1. Mouson-Award der Stadt Frankfurt 1. Deutscher Produzentenpreis für Choreographie Förderpreis der Stadt Düsseldorf für darstellende Kunst Werkverzeichnis 1980 Trio in Opus 1 1985 calligraphie 1986 Engel Call 1987 DIE BOESE MINUTE DIE SCHIEFE 1988 VERNE MILOVANI LEITZ, dem Nachlaß verfallen 1989 RÄUMEN. Ein Stück von Wanda Golonka und VA Wölfl SIEBEN MINIATUREN GELAGE. Eine Choreographie von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: NEUER TANZ, Stadt Düsseldorf 1990 BALLET No.5...to dance by the nose... Ein Stück von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: THEATER ERLANGEN, NEUER TANZ, Stadt Düsseldorf 1991 RCA / going to work. Eine Choreographie von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: MOUSONTURM / Frankfurt, NEUER TANZ, Stadt Düsseldorf, Kultusministerium NRW 1994 ELEPSIE... Die Künstler sind anwesend. Eine Choreographie von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: MOUSONTURM / Frankfurt, NEUER TANZ, Stadt Düsseldorf Kultusministerium NRW, SIEMENS Kulturprogramm / München 1995 MATALE. Eine Choreographie von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: MOUSONTURM / Frankfurt, NEUER TANZ, Stadt Düsseldorf, Kultusministerium NRW High fidelity. Eine Choreographie von Wanda Golonka und VA Wölfl. Produktion: Bayerisches Staatsballett / München, DANCE 95 1997 GEGNUNG. Produktion: Theater im Pumpenhaus 1998 objet inquiétant. Produktion: Festival d´Avignon 1999 Feld. Produktion: MARSTALL, Bayerisches Staatsschauspiel FRAKTALE. Produktion: MARSTALL, Bayerisches Staatsschauspiel 2000 India song. Produktion: MARSTALL, Bayerisches Staatsschauspiel 2001 MIT VOLLEM MUNDE. Ein literarisches Bankett. Produktion: schauspielfrankfurt Die blauen den Kleinen, Die gelben den Schweinen, Der Liebsten die roten, die weißen den Toten. Ein Stück von Wanda Golonka. Titel + Text + Material: Heiner Müller. Produktion: schauspielfrankfurt 2002 A very long silence. 4.48 Psychosis / Sara Kane (Premiere März 2002). Produktion: schauspielfrankfurt Frankfurter Allgemeine Zeitung | 3. Juni 2003 Main-Echo | 25. Oktober 2002 MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Philoktet-Projekt: Lemnos in Berlin Ausstellung 12. bis 21. November Haus der Berliner Festspiele | Seitenbühne Eröffnung 12. November | 17 Uhr Eine urbane Intervention von Emilio García Wehbi In Zusammenarbeit mit Maricel Alvarez, Norberto Laino und Julieta María Potenze Unter Mitwirkung von Teilnehmern eines Workshops in Berlin Koproduktion Emilio García Wehbi, Buenos Aires und spielzeiteuropa | Berliner Festspiele Mit freundlicher Unterstützung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Emilio García Wehbi Philoktet-Projekt: Lemnos in Berlin Der Name dieses ungewöhnlichen Projektes führt zurück zur Geschichte von Philoktet, der seines stinkenden, verfaulenden Fußes wegen auf der Insel Lemnos ausgesetzt wurde, um die griechische Gesellschaft nicht weiter zu belästigen. In den Augen von Emilio García Wehbi, Gründungsmitglied der argentinischen Aktionstheatergruppe El Periférico de Objetos, steht Lemnos als Chiffre für die anonymen Kernzonen heutiger Großstädte. Das Projekt dieser „Intervención Urbana“ besteht aus zwei Phasen. An einem Tag X, der ungenannt bleibt, werden 25 hyperrealistische, anthropomorphe Figuren auf verschiedenen Plätzen und Straßen einer Stadt ausgesetzt. Die Aktion wird begleitet von einem Team von Beobachtern, welche die Reaktionen der Passanten verfolgen und aufzeichnen. Im Anschluss an diese Intervention werden sämtliche Informationen (Fotos, Video- und Tonaufzeichnungen, Interviews und Gespräche) zu einer Ausstellung zusammengetragen, die während zehn Tagen auf der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele zu sehen sein wird. „Am Tag unserer Intervention in Buenos Aires berichteten mehrere Zeitungen über den Tod eines Kleinkindes, das wegen Unterernährung gestorben ist. Ich komme mir blöd vor, weil wir lediglich mit Puppen spielen. Ich sehe mich in den Medien und fühle mich beschämt in meiner Rolle als kunstrhetorischer Parasit. Man stellt mir die Frage, ob wir Kunst machen oder nicht. Mir ist das egal. Ich befrage mich selbst und stelle uns alle in Frage. Kunst, die sich tarnt als Realität, hat eine subversive Kraft, sie wirkt korrosiv, weil sie das Objekt selbst in Frage stellt.“ Emilio García Wehbi, Buenos Aires, November 2002 Emilio García Wehbi Biografie Geboren 1964 in Buenos Aires. Schauspieler, Regisseur und bildender Künstler. Gründer und Direktor von El Periférico de Objetos – eine der innovativsten und polarisierendsten Theatergruppen Argentiniens. Schauspieler und Regisseur bei folgenden Produktionen von El Periférico de Objetos LA ÚLTIMA NOCHE DE LA HUMANIDAD (2002), MONTEVERDI MÉTODO BÉLICO (2000), ZOOEDIPOUS (1998), CIRCONEGRO (1996), MÁQUINA HAMLET (1995), CÁMARA GESELL (1994), EL HOMBRE DE ARENA (1993), VARIACIONES SOBRE B… (1991) and UBÚ REY (1990). Weitere Regiearbeiten HAMLET DE WILLIAM SHAKESPEARE (2004), ANNA O. (2004), MOBY DICK (2003), LOS MURMULLOS (2002), SIN VOCES (1999), CUERPOS VILES (1999), LA BALADA DEL GRAN MACABRO (1995) Einzelausstellungen als bildender Künstler LA ULTIMA ESCENA (Fotografien), 2003 ENSAYO SOBRE LA TRISTEZA (Foto-Installation), 2002 AQUEL QUE OCULTA SU SANGRE MUERE SIN VOZ (Malerei), 2000 DIOS ES LO MÁS TERRIBLE QUE HAY EN EL MUNDO (Malerei und Objekte), 1999 ARBEIT MACHT FREI (Malerei), 1999 MARTIRIOS DEL CRISTIANISMO (Malerei), 1998. Gruppenausstellungen LAS CAMITAS (Objekte), 2003 NEO-OBJETO (Objekte), 2002 PERFORMING OBJECTS IN THE 20TH CENTURY (Objekte), 1996 Das PHILOCTETES PROJECT fand im Mai 2002 in Wien als Teil der Wiener Festwochen statt sowie im November 2002 in Buenos Aires (mit Unterstützung der Universität von Buenos Aires). Das Projekt soll 2005 in Kyoto fortgesetzt werden. García Wehbis internationale Projekte führten ihn zu vielen großen Festivals in Belgien (Kunsten Festival des Arts), Deutschland (Theater der Welt, Hebbel-Theater, Theaterformen Hannover, Sommertheaterfestival Hamburgr) , Portugal (Culturgest), Schweiz (Theater Festival Basel), Österreich (Wiener Festwochen), Australien (Melbourne International Festival), Niederlande (Holland Festival), Frankreich (Festival d’Avignon, Theatre du Caen), Spanien (Festival Internacional de Cádiz), Italy (Festival de Otoño de Roma), Brasilien (SESC Pompéia, Sao Paulo), Colombia (Festival Iberoamericano de Bogotá), Mexico (Festival Internacional Cervantino), Kanada (Festival des Ameriques), Irland (Dublin International Festival), Schottland (Edinburgh International Festival) und USA (Brooklyn Academy of Music New York, Performing Arts Chicago, Walker Arts Centre). Emilio García Wehbi hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen für seine experimentelle Theaterarbeit erhalten (Konex 1991-2001; ACE 1999, 1996 and 1995; Teatro del Mundo Award 1998, 2000). MaerzMusik Theatertreffen Konzerte | Oper JazzFest Berlin spielzeiteuropa Jugendwettbewerbe Martin-Gropius-Bau Ausstellungen Berliner Lektionen presseinfo Licht! Ljus! Lumière! 10 Installationen – 6 Künstler/innen Ausstellung 1. Dezember – 31. Januar In den Räumen des Hauses der Berliner Festspiele Eröffnung 1. Dezember | 18 Uhr Künstler/innen Bas Bossinade, Du Zhenjun, Holger Förterer, Gabriele Heidecker, Christian Partos, Erwin Redl Eine Ausstellung der Berliner Festspiele In Zusammenarbeit mit Maison des Arts et de la Culture André Malraux, Paris-Créteil, Lille 2004 – Capitale Européenne de la Culture und dem schwedischen Kulturzentrum, Stockholm Dank an Richard Castelli (Kurator) Berliner Festspiele | Schaperstraße 24 | 10719 Berlin Telefon + 49 - 30 - 254 89 - 223 | Telefax +49 - 30 - 254 89 - 155 | presse@berlinerfestspiele.de | www.berlinerfestspiele.de Licht! Ljus! Lumière! In den dunkelsten Monaten des Jahres, Dezember und Januar, widmet spielzeiteuropa dem Element eine Ausstellung, ohne das Theater nicht denk- und wahrnehmbar wäre: dem Licht. In den Arbeiten von sechs bildenden Künstlern wird es in den Räumen des Hauses der Berliner Festspiele sowie in einer Einzelinstallation im Palast der Republik als eigenständig agierendes Phänomen in Szene gesetzt. Der 1952 geborene Niederländer Bas Bossinade realisierte bereits eine Reihe von kinetischen Skulpturen, erzeugt durch Laserlicht und elektrisierte Gase. Du Zhenjun, geboren 1961 in Shanghai, beschäftigt sich in erster Linie mit dem Phänomen der manipulativen Kraft von Licht, das den Besucher in seine Versuchsanlage mit einbezieht und ihn in eine Falle lockt. Holger Förterer, geboren 1972 in Bochum, bezeichnet sich selbst als Video-Bildhauer und arbeitete unter anderem an dem Projekt „Helikopter“ mit, in der Choreografie von Angelin Preljocaj (2001), nach einer Komposition von Karlheinz Stockhausen (Helikopter-Quartett). Beteiligt ist er auch an der neuen Bühnenshow des kanadischen Regisseurs Robert Lepage für den Cirque du Soleil in Las Vegas. „Virtual Place“, eine Installation mit semitransparenten Spiegeln und Leuchtstoffröhren der seit 1974 in Berlin lebenden Künstlerin Gabriele Heidecker ist eine Reflexion über die pure Paradoxie: Wege führen über Schwellen, Stufen aus Licht. Fünf Arbeiten des schwedischen Künstlers Christian Partos (geboren 1958) zeigen die Breite seines Schaffens. In der im Jahr 2000 auf der Expo Hannover erstmals in Deutschland präsentierten Lichtskulptur „Visp“ werden fünf Fäden von zehn Meter Länge, jeweils bestückt mit 1000 weißen LEDs (Leuchtdioden), in eine rotierende Bewegung versetzt und erzeugen halluzinogene Leuchtspuren in Form eines Rosenkranzes. Für den 1963 in Österreich geborenen Erwin Redl, der in New York lebt und arbeitet, ist die immaterielle Natur des Lichtes Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit: „Ich halte sie für das perfekte Medium, um unsere körperliche Präsenz im Raum darzustellen.“ Biografien Bas Bossinade Geboren 1952. 1995 Mitarbeit (Skulpturen) bei „Floating Identities“, kuratiert von Frank den Oudsten, ZKM Karlsruhe. 1995 Mitarbeit (Hardware) an „Place - a user‘s manual“ (Computergrafik/Foto Installation) von Jeffrey Shaw, ein Auftragswerk der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, in Kooperation mit dem Hauptstadtulturfonds Berlin und dem ZKM Karlsruhe. 1997 Mitarbeit (Hardware) an „Memory Theater VR“, kuratiert von Agnes Hegedüs, ZKM Karlsruhe. Du Zhenjun Geboren am 12. März 1961 in Schanghai. Erhielt sein Diplom an der Kunst-Fachhochschule in Schanghai (1978) sowie an der Hochschule für bildende Kunst (Universität von Schanghai, 1986), wo er von 1986–1999 eine Professur ausübte. Von 1998–1999 Master-Studium an der Ecole régionale des beaux-arts de Rennes / Espaces Plastiques, Espaces Numériques. 2001 präsentierte er beim Festival für neue Theaterformen EXIT in Paris-Créteil seine Arbeit „J‘efface votre trace“ (Ich verwische eure Spur). Holger Förterer Geboren 1972 in Bochum Gruppenausstellungen (Auswahl): 2003–2004 Cinémas du Futur, Lille 2004 2003 Lange Kunstnacht Moritzsaal Augsburg, Transmediale Santiago de Chile 2002 IT Portal Karlsruhe 2000 EXIT 2000 Créteil, VIA 2000 Maubeuge, Zeitreise Akademie der Künste Berlin, Zeitreise ZOOM Kindermuseum Wien, Art in Output, Technische Universiteit Eindhoven. 1999 Step 1 ZKM Karlsruhe Christian Partos Geboren 1958 Gruppenausstellungen (Auswahl): 2004 „Exit“/ „Borderline“, Mauberge / Créteil (F) 2003 Cinémas du future“ Lille (F), „=h/mv“ Skulpturens hus, Stockholm 2002 Dunkers Kulturhus Helsingborg, Schweden, 2002 2000 Enkehuset, Stockholm / Schwedischer Pavillon Expo 2000, Hannover Gabriele Heidecker 1945 in Konstanz geboren Studium an der Staatlichen Akademie für Bildende Kunst und Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart, Staatsexamen. Studium an der FU Berlin: Kunst- und Architekturgeschichte, Indische und Ostasiatische Kunstgeschichte. Seit 1986 gemeinsames Kunstprojekt „Kaserne“ mit Marosch Schröder. 2002/03 Arbeitsstipendien der Konrad-AdenauerStiftung. Ausstellungen und Beteiligungen (Auswahl) 1995/96 „Begreifungskräfte“, Badischer Kunstverein Karlsruhe und Stadthaus Ulm 1996 „Blaubart Räume“, Fotoarbeiten, Galerie Andreas Weiss, Berlin 1997 „The Never Ending Dinner“, Installation, Fotoarbeiten, Zeichnungen, Rosgartenmuseum Konstanz 2000 „Gabriele Münter Preis Ausstellung“, Frauen Museum Bonn 2002 „Reservoir V – Pyrotektura“, Installation im Wasserspeicher Berlin, „Reflections on the Art Forum Berlin 2001“, Fotoserie, Adenauer-Stiftung Berlin Erwin Redl Geboren 1963 in Österreich. Lebt in New York. 1995 MFA Computer Art, School of Visual Arts, New York. 1991 Diplom für elektronische Musik, Musikakademie Wien. 1990 BA in Komposition, Musikakademie Wien Auszeichnungen (Auswahl): 2002 New York Foundation for the Arts, Award for Architecture & Environmental Structures, New York 1999 WNET / Channel 13 Reel New York. Web Award, New York 1996 Ars electronica 96, Ehrennennung in der Kategorie “Interactive Art”, Linz Zu den Künstlern Licht ist meine größte Faszination, im speziellen Licht, das durch elektrisierte Gase erzeugt wird. Ich arbeite damit wie mit einem Werkzeug, das meine visuellen Fantasien in Realität umzusetzen vermag. Ich lasse mich von existierenden Objekten inspirieren, Objekten mit einer genauen Zweckbestimmung, deren Formen ich verändere und somit ganz neue Dinge erschaffe. Bas Bossinade Gabriele Heidecker simuliert Räume in Endlos–Perspektiven. Die weiten Gänge der „KunstKaserne“, in der sie mit Marosch Schröder seit 1986 ihre eigenen Ausstellungen inszeniert, fordern zu dieser extremen Auseinandersetzung mit dem manieristischen Raum heraus. Doch die Künstlerin verfällt hier nicht dem Sog der Perspektive, sondern bricht sie, fordert Blickwechsel und Spiegelungen heraus und überläßt keine mögliche Sichtachse dem Zufall. Sie spielt, wie in der Installation „Virtual Way“ in ihren semitransparenten gläsernen Spiegeln mit der Suggestion des Augenzeugen und der scheinbaren Identifikation des Ich im Raum. Oft betritt der Betrachter unvorbereitet das Bild, sucht verwirrt Orientierungsmöglichkeiten bis er sich „verortet“ hat und nimmt den „Zerfall des Bildes“ durch seine von Neugier stimulierte Bewegung oft erst zeitversetzt zur Kenntnis. Scheinbar Unsichtbares wird sichtbar und für Momente überblendet, gespiegelt, bevor es sich im Fluß der Bewegung auflöst. Christina Wendenburg Seit 1997 untersuche ich den Begriff „Reverse Engineering“* durch (Rück-) Übersetzung der abstrakten ästhetischen Sprache von Virtual Reality und 3-D Computergrafik in den architektonischen Raum mittels großangelegter Lichtinstallationen. In diesen Arbeiten wird Raum als zweite Haut, unsere soziale Haut, wahrgenommen, welche durch die künstlerische Intervention transformiert wird. Durch die primär architektonische Dimension ist eine An-Teilnahme mittels bewußtem „Da-Sein“ integraler Bestandteil der Installation. Visuelle Wahrnehmung kann nur in Verbindung mit einer Bewegung des Betrachters im Raum zur vollen Entfaltung kommen. Erwin Redl * „Reverse Engineering“ bezeichnet den Vorgang des Nachprogrammierens einer Software durch einen Geschäftskonkurrenten ohne den Originalcode der Software zu kennen.