prof. dr. gernot h. g. sinnecker

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prof. dr. gernot h. g. sinnecker
KINDER- UND JUGENDARZT
FORTBILDUNGSSCHWERPUNKT
KINDER- UND JUGENDGYNÄKOLOGIE
MODERATION: PROF. DR. GERNOT H. G. SINNECKER
Kinder- und Jugendgynäkologie
in der Praxis
Gynäkologische Erkrankungen bei Mädchen sind vielfach abhängig vom aktuellen Entwicklungsstand, d.h. vom Fehlen (kindliche Ruhephase) oder der Anwesenheit (Neugeborenenperiode, Pubertät) von Östrogenen. Entwicklungsabhängige Normvarianten
mit meist passageren Charakter sind von echten Erkrankungen abzugrenzen.
Voraussetzung sind subtile Kenntnisse der anatomischen und funktionellen Besonderheiten des kindlichen und jugendlichen Genitale sowie geeignete Untersuchungsbedingungen und Untersuchungsinstrumentarien. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit
zwischen Pädiatern, Gynäkologen, Urologen, Endokrinologen, Genetikern und Psychologen ist Bedingung für optimale Diagnostik und Therapie gynäkologischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.
Die Kinder- und Jugendgynäkologie beschäftigt sich mit körperlichen und psychosomatischen
Symptomen, die infolge von
Störungen und Dysproportionen
der anatomischen und funktionellen Entwicklung des kindlichen
und jugendlichen weiblichen Genitale auftreten.
Wachstum und Differenzierung
als die Grundelemente der Entwicklung in den beiden ersten Lebensjahrzehnten müssen in ihrer
Vielfältigkeit in die jeweilige Beurteilung einbezogen werden, auch
dann, wenn im Einzelfall ein ganz
punktuelles Problem (z.B. Vulvitis) zu diskutieren ist.
Die Fragestellungen und damit
auch die Diagnosen sind entwicklungsbedingt verschieden. In der
niedergelassenen
gynäkologischen Praxis (Tab. 1a) ist die Häufigkeit der Diagnosen etwas anders gewichtet als in der Kliniksprechstunde (Tab. 1b)
In
der
Neugeborenenphase
führen Verdachtshinweise für
Fehlbildungen (z.B. Hymenalatresie, Mukokolpos, Vaginalaplasie,
intersexuelle Varianten) sowie
KINDER- UND JUGENDARZT
Fragen zur Windeldermatitis und
Fluor zur gynäkologischen Konsultation.
In der hormonellen Ruheperiode
(2–8 Jahre) sind es in der Regel
krankhafte Befunde im Bereich
der Vulva, Vagina oder Perianalregion (Vulvitis, Vulvovaginitis,
1. Antikonzeptionsberatung
2. Störungen der Pubertät;
Blutungsstörungen
3. Entzündliche Genitalveränderungen
4. Unklare Unterbauchbeschwerden
5. Störungen der Brustentwicklung
6. Verdacht auf genitale Fehlbildung
7. Verdacht auf endokrine
Störungen
8. Genitale Verletzungen /
Missbrauch
9. Andere
Tab. 1a: Konsultationsgründe in
der niedergelassenen kinderund
jugendgynäkologischen
Sprechstunde
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Fluor, Dermatosen) sowie Unterbauchschmerzen,
Wachstumsstörungen und vorzeitige Pubertätszeichen (prämature Adrenarche, isolierte oder einseitige Thelarche, Pubertas präcox), die es
abzuklären gilt.
Mädchen in der Pubertät suchen
Rat bei Störungen der Pubertätsentwicklung und Blutungsunregelmäßigkeiten (zu häufig, zu
stark, zu lang, zu schmerzhaft).
Sie sind verunsichert durch Veränderungen von Haut und Figur
(seitendifferente Brustgröße, Akne, Hirsutismus, Gewichtszu- und
-abnahme), sie stellen Fragen zur
Menstruationshygiene (Tampon,
Binden) und konsultieren den
Arzt/die Ärztin in den häufigsten
Fällen zu Fragen der Kontrazeption.
In allen Entwicklungsphasen ist
eine zunehmende Konfrontation
mit der Problematik von körperlicher und seelischer Misshandlung
sowie sexuellem Missbrauch zu
verzeichnen, so dass es unerlässlich ist, sich in dieser Thematik
weiterzubilden.
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FORTBILDUNG
Ingeborg Voß-Heine
Abb. 1: Erstgespräch mit dem Mädchen im Beisein
der Mutter
FORTBILDUNG
Besonderheiten der
kindergynäkologischen
Konsultation
Die Akzeleration der Geschlechtsentwicklung, eine vermehrte Aufklärung, die ins Bewusstsein gedrungene positive Einstellung zur
medizinischen Vorsorge, Aufgeschlossenheit und Informationsbedürftigkeit gegenüber Hygiene
und sexuellen Fragen sind Gründe dafür, dass immer mehr Mütter und Mädchen ihre Fragen
oder gar Beschwerden nicht ungeklärt lassen und Pädiater oder
Gynäkologen aufsuchen.
Abb. 2: Die Sonographie ist wichtiger Bestandteil
der Untersuchung
Viele Mütter kostet es auch heute
noch große Überwindung, ihre
Töchter „schon in so jungen Jahren“ gynäkologisch untersuchen
zu lassen.
Die eigene Angst, Scheu und Abneigung gegenüber der gynäkologischen Untersuchung lässt sich
nur schwer vor den Töchtern verbergen und wird auf sie übertragen, was die Mädchen dann voreingenommen und ängstlich
macht.
Anamnese
Es hat sich bewährt, schon bereits
bei der telefonischen Terminab-
Diagnosegruppen
Entzündungen und Infektionen
Störungen der Pubertät
Neubildungen (Tumore)
Mammaerkrankungen und -veränderungen
Chirurgische und urologische Erkrankungen
Genitalverletzungen
Sexualdelikte und Verdacht
Störungen der Geschlechtsentwicklung
Vaginale Blutung in der Kindheit
Schwangerschaftsverhütung
Intravaginale Fremdkörper
Masturbation
Schwangerschaft
Sonstiges
Gynäkologisch o.B. (ohne objekt. Befund)
n
6000
2826
549
543
461
391
313
233
181
180
71
70
51
176
1534
%
44,4
20,7
4,0
4,0
3,4
2,9
2,3
1,7
1,3
1,3
0,5
0,5
0,4
1,3
11,3
Tab. 1b: Häufigkeit von Diagnosegruppen in der kinder- und jugendgynäkologischen Sprechstunde bei 13.579 Erstkonsultationen
bis zum 16. Lebensjahr (Frauenklinik Oskar-Ziethen-Krankenhaus
Berlin) (Heinz, 1994)
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sprache die Beweggründe und
wichtige Details für die geplante
Konsultation zu erfragen.
So ist es möglich, während der
Anamneseerhebung,
im
Gespräch und erst recht später bei
der Untersuchung das Mädchen
selbst zu adressieren (Abb. 1) und
in die Fragestellung einzubeziehen. Einzelheiten z.B. zur Intimhygiene, zur täglichen Körperpflege, zum Miktionsverhalten
und Technik des Säuberns nach
dem Stuhlgang sind so gut zu erfragen. Es ist, egal in welcher Altersstufe, wichtig, mit dem
Mädchen selbst und nicht mit der
Begleitperson über das Kind zu
reden.
Untersuchungsgang
Zur klinische kindergynäkologische Untersuchung gehört immer
die Ganzkörperbetrachtung. Sie
beginnt mit der Größen- und Gewichtsmessung mit Eintrag in eine Percentilenkurve zur Diagnostik von Wachstumsstörungen,
Adipositas oder Untergewicht. Es
folgt die Ganzkörperinspektion
zur Beurteilung der Reifestadien
nach Tanner (äußere Entwicklung von Brust und Schambehaarung) und zum Ausschluss auffälliger äußerer Krankheitszeichen
und Ausschluss von Zeichen eventueller Gewalteinwirkung.
Die anschließende abdominale
Sonographie (Abb. 2) mit etwas
angewärmten Gel bei möglichst
voller Blase ist ein nicht invasives
KINDER- UND JUGENDARZT
34. Jg. (2003) Nr. 12
Abb. 3: Mit dem Handspiegel kann das Mädchen
die Untersuchung verfolgen
Abb. 4: Die Traktion der Labien ermöglicht eine
gute Beurteilung des Introitus und des Hymen
wichtiges diagnostisches Mittel,
das gut akzeptiert und von den
Mädchen bei entsprechender Erklärung interessiert verfolgt wird.
Die Ultraschalluntersuchung gibt
Auskunft über die Größe, die Morphologie und den Entwicklungsstand von Uterus und Ovarien und
hilft somit sowohl bei der Abklärung unklarer Abdominalbeschwerden als auch bei der Differentialdiagnose vorzeitiger oder
verzögerter Reifeentwicklung.
Ein für sie erstelltes Ultraschallphoto tragen die Mädchen immer
ganz stolz nach Hause.
Zur Inspektion des äußeren Genitale werden gute Lichtverhältnisse und eine Lupenvergrößerung
benötigt. Ein Mädchen kann in
der Regel in jedem Alter auf dem
gynäkologischen Stuhl in der
Steinschnittlage (Abb. 3) untersucht werden, wenn ihm diese
Position einfühlsam erklärt wird.
ßen Schamlippen) (Abb. 4) können Vulva, Introitus vaginae und
Hymen gut eingesehen werden.
Ein Kolposkop (Abb. 5) oder eine
Lupenbrille zur Vergrößerung des
Befundes ist in vielen Fällen unverzichtbar.
Bei den frühen pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen sollte immer eine Hymenalatresie ausgeschlossen werden, die Form und
Beschaffenheit des Hymens sollte
auch bei weiteren Untersuchungen dokumentiert werden.
Bei chronischem Fluor ist mit einem angefeuchteten Tupfer oder
einem dünnen Blasenkatheter
Material aus dem Scheideninneren, möglichst der oberen Hälfte
Ich erkläre den Mädchen die Untersuchungsposition, indem ich
sie ihnen vormache. Bei ganz
ängstlichen Mädchen ist in seltenen Fällen die Untersuchung auf
dem Schoß der Mutter sinnvoll.
Unverzichtbar ist aus meiner Erfahrung ein Handspiegel, mit dem
das Kind die Untersuchung verfolgen kann, das macht es neugierig
und erfahrungsgemäß sehr kooperativ.
Nach Separation und Traktion
(leichter seitlicher Zug an den groKINDER- UND JUGENDARZT
Abb. 5: Das Kolposkop (mit Kamera zur Dokumentation) ist
unverzichtbar zur Beurteilung
des äußeren Genitale
34. Jg. (2003) Nr. 12
zu gewinnen, ohne den Introitus
vaginae zu berühren. Das bedarf
einer gewissen Übung, denn bei
Mädchen in der hormonellen Ruhephase ist der scharfrandige
dünne Hymen sehr berührungsempfindlich. Hat ein Mädchen
dieses einmal als unangenehm erlebt, ist es kaum möglich, ein weiteres Mal einen aussagekräftigen
Abstrich zu gewinnen.
Eine Keimbestimmung vom Introitus, wie sie oft aus zurückhaltender Vorsicht erfolgt, ist nicht diagnostisch zu verwerten. Das richtig gewonnene Sekret ist zytologisch (zur Bestimmung des Östrogenisierungsgrads) und bakteriologisch zu untersuchen.
Eine weitergehende instrumentelle Untersuchung der Scheide
mit einem Vaginoskop (Abb. 6) ist
nur unter bestimmten Indikationen (Tab. 3) und nur von geübter
Hand durchzuführen. Das Vaginoskop besteht aus einem Schaft
mit einem Haltegriff und einem
an der Spitze abgerundeten
Führungsstab, der das schmerzlose Einführen in die Scheide ermöglicht. Nach Entfernung des
Führungsstabs wird eine Beleuchtungsvorrichtung
angeschlossen. So ist die Ausleuchtung
der Scheide gegeben und durch
den Schaft können Tupfer zu Abstrichentnahmen und auch Fasszangen zur Entfernung von
Fremdkörpern oder zu Gewebsprobeentnahmen eingeführt wer-
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FORTBILDUNG
(Abb. aus Wolf, Esser-Mittag, Literaturangabe 4; mit freundlicher Genehmigung von Fr. Dr. F. Navratil, Zürich)
Abb. 6: Die Durchführung der Vaginoskopie ist
nur in Einzelfällen nötig
Abb. 7: Instrumentarium für die kindergynäkologische Untersuchung
FORTBILDUNG
(Abb. aus Wolf, Esser-Mittag, Literaturangabe 4; mit freundlicher Genehmigung von Fr. Prof. I. Wachter, München)
den. Das in der Praxis notwendige
Instrumentarium zeigen Abb. 7
und Tab. 2.
Durch die diagnostischen Möglichkeiten der Sonographie ist ein
bimanuelle Untersuchung in vielen Fällen nicht nötig. Nur selten
(z.B. bei Verdacht auf einen intravaginalen Fremdkörper oder eine
Tumorbildung im kleinen Becken)
muss eine rektale Untersuchung
erfolgen.
Unabhängig vom Alter darf kein
Mädchen zur Untersuchung ge-
Ultraschallgerät
gutes Licht
Handspiegel
Kolposkop/Vergrößerungsbrille
Vaginoskope unterschiedlicher
Größe mit Beleuchtungsstab
Anschluss an Lichtquelle
gen seinen Willen gezwungen
werden. Bei entsprechender Ruhe
und altersgerechter Erklärung
und unter Einbeziehung eines
Handspiegels sind die Kinder sehr
kooperativ.
Bei dringender Indikation (z.B.
vaginale Blutung) und der Unmöglichkeit, eine Vaginoskopie
durchzuführen, sollte im Einzelfall eine Narkoseuntersuchung
überlegt werden.
Zusammenfassung
sind abnorme und krankhafte
Veränderungen des äußeren Genitale, Störungen der Reifeentwicklung, unklare Unterbauchbeschwerden,
Menstruationsstörungen und Antikonzeptionsfragen.
Es bedarf einer guten Ausbildung,
eines geeigneten Instrumentariums, viel Erfahrung und Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögens,
diese Untersuchung für das
Mädchen angenehm zu gestalten.
Schlüsselwörter:
Konsultationsgründe in der Kinder- und jugendgynäkologischen
Sprechstunde unterscheiden sich
je nach dem Entwicklungsstand
und hormonellen Reifegrad der
Mädchen. Die häufigsten abklärungsbedürftigen
Befunde
Kinder- und Jugendgynäkologie,
Erkrankungsspektrum, Untersuchung und Untersuchungsbedingungen
Literatur
(1) Heinz, Marlene (1994) Kinder- und
Jugendgynäkologie in Sprechstunde
und Klinik, Deutscher Ärzte Verlag
Phasenkontrastmikroskop
Unklarer rezidivierender fötider/
blutiger Fluor
Fasszange zur Extraktion von
Fremdkörpern (z.B. nach Terruhn)
Verdacht auf Vorliegen eines
Fremdkörpers
(3) Stolecke, H., Terruhn, V. (1987) Pädiatrische Gynäkologie, Springer Verlag
PE-Zange (fakultativ)
Blutungen in der hormonellen
Ruheperiode
(4) Wolf, A. S., Esser-Mittag, J. (2002),
Kinder- und Jugendgynäkologie, Atlas
und Leitfaden für die Praxis, Schattauer
Verlag
Utensilien zur Abstrichentnahme:
Tupfer/Objektträger/Fixationsspray
Kulturmedien
Verdacht auf Fehlbildungen, wenn
der Hymen passierbar ist
Einmalkatheter für Kinder (kurz) zur
Darstellung im Hymenalbereich
Verdacht auf Tumorbildung im
kleinen Becken
Lokal anästhesierende Creme
Diskrepanz zwischen Alter und
körperlichen Entwicklung
Tab. 2: Hilfsmittel/Instrumentarium für Kindergynäkologische
Untersuchung in Praxis
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Tab. 3: Indikationen zur Vaginoskopie
(2) Heinz, Marlene (1996) TW Gynäkologie 9, Heft 1 / 2, Januar/Februar
Dr. med. Ingeborg Voß-Heine
Ärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe
Schwerpunktpraxis für Kinder- und
Jugendgynäkologie
Walburgisstr. 52
59457 Werl
info@dr-voss-heine.de
www.dr-voss-heine.de
Red.: Riedel
KINDER- UND JUGENDARZT
34. Jg. (2003) Nr. 12