filmmagazin - Margarete Wach
Transcription
filmmagazin - Margarete Wach
€ 5,00 Österreich; € 6,50 Deutschland & EU; SFr 10,50 Schweiz SSN 1993-811X substance media ltd. Mariahilfer Straße 76/3/31, A-1070 Wien P.b.b. Plus.Zeitung 06Z036817P F I L M M A G A Z I N 02/15 FOXCATCHER Regisseur Bennett Miller im Gespräch BIRDMAN Interview mit Oscar-Favorit Michael Keaton AKI KAUSRISMÄKI Eine Fotostrecke zum neuen Buch BLACKHAT Michael Manns krachender Action-Thriller INHERENT VICE Anderson verfilmt Pynchon THE MOUNTAIN EAGLE Auf der Suche nach Hitchcocks verschollenem Tirol-Film FRANCIS FORD COPPOLA Eine DVD-/Blu-ray-Box Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at „DAVID OYELOWO IST ÜBERWÄLTIGEND ALS MARTIN LUTHER KING“ DAILY MAIL „DER BESTE FILM DES JAHRES“ THE HUFFINGTON POST DAVID OYELOWO TOM CARMEN WILKINSON EJOGO MIT TIM ROTH UND OPRAH WINFREY AB 20. FEBRUAR NUR IM KINO! www.constantinfilm.at Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at „I believe in the power of laughter and tears as an antidote to hatred and terror.“ Charlie Chaplin „The Great Dictator“ (1940) ray 3 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at i n h a l t THEMEN FOXCATCHER Ausgezählt – Ein Drama, das Amerika erschütterte ........................................................................................ 10 Die Suche nach der Wahrheit – Bennett Miller im Gespräch ....................................................................... 14 FRANCIS FORD COPPOLA – Der Capo von New Hollywood Eine umfangreiche DVD- bzw. Blu-ray-Kollektion mit allen gloriosen Meisterwerken ............................. 18 BIRDMAN – Flying High Alejandro González Iñarritus wunderbare Tragikomödie. Plus: Michael Keaton im Interview ........... 26 AKI KAURISMÄKI – Mr. Kaurismäki, wie haben Sie das gemacht? Ein Interview- und Fotoband würdigt den charismatischen finnischen Filmemacher. .......................... 34 INHERENT VICE Schwergewichtschampions – Paul Thomas Anderson verfilmt Thomas Pynchon. .............................. 42 Von Anderson zu Anderson – Ein Gespräch mit Owen Wilson ................................................................... 48 OLIVE KITTERIDGE Vier mal eins ist fünf – Eine fabelhafte HBO-Serie in vier Teilen, von vier Frauen ............................... 74 Neues Baby statt echtem Baby – Frances McDormand im Interview ........................................................ 78 BLACKHAT – Nullen und Einsen und volles Rohr Radau Michael Manns sehenswert daneben gehender Thriller über Cyberkriminalität ..................................... 82 FILMMUSEUM – Der Zauber der Straße Eine Retrospektive zu urbanen Filmen aus der Weimarer Republik ............................................................ 88 THE MOUNTAIN EAGLE – Austrian Psycho Ein Mysterium: Alfred Hitchcocks in Tirol gedrehter Stummfilm gilt als verschollen. .......................... 94 4 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at UND ALS DER WOLF ©2014 Disney Im Verleih der Walt Disney Company (Austria) AB 19. FEBRUAR IM KINO Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at i n h a l t EDITORIAL FILMSTARTS .................................................................................. 53 20,000 DAYS ON EARTH ............................................................. 54 CASANOVA VARIATIONS ............................................................ 55 CHINA REVERSE .............................................................................. 56 DIE FRAU IN SCHWARZ 2 / THE WOMAN IN BLACK 2 .... 58 GRUBER GEHT ................................................................................. 59 THE IMITATION GAME ................................................................. 60 THE INTERVIEW .............................................................................. 61 INTO THE WOODS ......................................................................... 62 JOHN WICK ....................................................................................... 64 THE LOFT .......................................................................................... 65 PRIVATE REVOLUTIONS – JUNG, WEIBLICH, ÄGYPTISCH ................................................................. 66 RED ARMY ......................................................................................... 68 WHIPLASH ......................................................................................... 69 WINTERSCHLAF / KIŞ UYKUSU ................................................. 70 UND AUSSERDEM ........................................................................... 72 STANDARDS ORTE DES KINOS ............................................................................ 08 MAGISCHE MOMENTE .................................................................. 51 KOLUMNE: BUTTGEREIT .............................................................. 73 DR. Z .................................................................................................... 93 URBANERS LEGENDEN ............................................................... 113 TIPPS .................................................................................................. 96 DVD ..................................................................................................... 98 LITERATUR ..................................................................................... 104 SOUND ............................................................................................. 106 VERANSTALTUNGEN .................................................................. 108 D Oscar-Zeit! Das heißt, wie jedes Jahr im Februar: prächtige Filme, von denen bei uns diesmal drei im Fokus stehen: Alejandro González Iñárritus Birdman und Bennett Millers Foxcatcher, die trotz der Tiere im Titel relativ wenig mit Tieren zu tun haben. Auch Paul Thomas Andersons Inherent Vice (nach dem Roman von Thomas Pynchon) macht sich prima in diesem Heft, während Michael Manns Action-Kracher Blackhat auf mögliche Academy Awards noch ein Jahr lang warten muss. Ein Mann, der schon längst nicht weniger als fünf Oscars (plus einen EhrenAward) sein Eigen nennt, steht aus Anlass einer kürzlich erschienen großartigen Box-Edition im Mittelpunkt unserer großen DVD-/Blu-ray-Geschichte: Francis Ford Coppola. Dazu kommen ein Bericht zur Filmmuseums-Retrospektive über Stadtfilme der Weimarer Republik, eine Würdigung der HBO-Miniserie Olive Kitteridge (inklusive Interview mit Frances McDormand) und – passend zu den Bond-Dreharbeiten in Osttirol – eine packende Geschichte zu einem verschollenen Film, den der große Alfred Hitchock einst im tirolerischen Obergurgl gedreht hat. Und – last not least – kann man sich an einer illustren Fotostrecke aus dem schönen Aki-Kaurismäki-Buch des kürzlich verstorbenen Peter von Bagh erfreuen. Das alles gibt es, wie immer, auch auf ePaper, zu finden unter www.kiosk.at. Viel Vergnügen mit dem neuen „ray“. Andreas Ungerböck Herausgeber office@ray-magazin.at *** IMPRESSUM *** Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz: Medieninhaber und Verlag: substance media ltd., Mariahilfer Straße 76/3/31, 1070 Wien, T +43 (0)1 920 20 08-0, F +43 (0)1 920 20 08 13, office@ray-magazin.at, www.ray-magazin.at ~ FIRMENBUCH: FN 286877 d, Handelsgericht Wien, UID-Nummer ATU62405819 ~ GESCHÄFTSFÜHRER UND HERAUSGEBER: Andreas Ungerböck, Mitko Javritchev ~ UNTERNEHMENSGEGENSTAND: Verlag und Veranstaltungen ~ ray informiert in kompetenter und unabhängiger Berichterstattung über das aktuelle Angebot an Kinofilmen, über Neuerscheinungen auf Video, DVD und CD und über aktuelle Entwicklungen im Fernsehen, im Internet und auf dem Büchermarkt. Darüber hinaus berichtet ray über Film, Kino und verwandte Bereiche als Felder künstlerischen Schaffens und wirtschaftlicher Produktion. ray versteht sich als Teil der österreichischen Filmkultur ~ CHEFREDAKTION: Roman Scheiber, Jörg Schiffauer ~ TEXTCHEF: Oliver Stangl; redaktion@ray-magazin.at ~ ASSISTENZ DER GESCHÄFTSFÜHRUNG: Nils Schröder; n.schroeder@ray-magazin. at ~ LEKTORAT: Oliver Stangl ~ MITARBEIT AN DIESER AUSGABE: Thomas Abeltshauser, Brit Andres, Jörg Becker, Jennifer Borrmann, Jörg Buttgereit, Stephan Eicke, Pamela Jahn, Heinz Kampel, Klaus Kreimeier, Benjamin Moldenhauer, Harald Mühlbeyer, Paul Poet, Günter Pscheider, Daniela Sannwald, Alexandra Seitz, David Serong, Marietta Steinhart, Verena Teissl, Ralph Umard, Roman Urbaner, Peter Zawrel ~ GRAFISCHES KONZEPT: Mitko Javritchev ~ LAYOUT: substance media ~ GRAFIK-ASSISTENZ UND WEBSITE: Nina Frgic ~ ILLUSTRATIONEN: Franz Suess ~ FOTOS IN DIESER AUSGABE: Jörg Buttgereit, Carlo Hofmann; Archiv ray, Filmarchiv Austria / Filmdokumentationszentrum, Fernsehanstalten, Festivals, Kinos, Verlage, Verleiher und Produktionsfirmen ~ ERSCHEINUNGSWEISE: monatlich (10x pro Jahr, zwei Doppelnummern) ~ EINZELPREIS: € 5,00 (AT), € 6,50 (EU), SFr 10,50 ~ JAHRESABO: Österreich € 32,-, Deutschland / EU € 50,-, Schweiz SFr 77,-, Studierenden-Abo Österreich € 25,-, Zweijahres-Abo Österreich € 50,- ~ ANZEIGEN UND MARKETING: Jennifer Schmid: jennifer. schmid@ray-magazin.at; Andreas Ungerböck: office@ray-magazin.at ~ ABOSERVICE UND BÜRO: Angela Sirch; abo@ray-magazin.at ~ DRUCK: Wograndl Druck GmbH, Druckweg 1, 7210 Mattersburg ~ VERTRIEB: Morawa Pressevertriebs Ges.m.b.H., Hackinger Straße 52, 1140 Wien ~ ERSCHEINUNGSORT: P.b.b. 1072 Wien ~ VERTRIEB IN DEUTSCHLAND: Schüren Verlag GmbH, Universitätsstraße 55, 35037 Marburg, T +49 (0)6421 630 84, ahnemann@schueren-verlag.de COVER: Steve Carell in Bennett Millers Foxcatcher © Polyfilm Verleih *** 6 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at AWARD WINNING COLLECTION 20 preisgekrönte Meisterwerke auf DVD und Blu-ray 12 Uhr mittags – High Noon · Apocalypse Now · Aviator · Chicago · Citizen Kane · Der englische Patient · Der ewige Gärtner Good Will Hunting · Gottes Werk und Teufels Beitrag · Leaving Las Vegas · Das Leben ist schön · Der letzte Kaiser Million Dollar Baby · Das Piano · Pulp Fiction · Die Reifeprüfung · Die Reise der Pinguine · La Strada · There Will Be Blood Tiger & Dragon – Der Beginn einer Legende · Zimmer mit Aussicht STUDIOCANAL GmbH · Neue Promenade 4 · 10178 Berlin · www.studiocanal.de · www.arthaus.de Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at o r t e d e s k i n o s ZOO PALAST Berlin, Deutschland Text ~ Ralph Umard Fotos ~ Carlo Hofmann (oben) Jan Bitter / Zoopalast Berlin E s ist schon ein grandioser Anblick, der einen beim Betreten des großen Saales im traditionsreichen Zoo Palast erwartet. Die Raumgestaltung orientiert sich an der FilmtheaterÄsthetik der fünfziger Jahre, LED-Leuchten in der Decke lassen an einen Sternenhimmel denken. Lässt man sich in einem der 800 komfortablen Ledersessel mit variabler Rückenlehne nieder, bekommt man vor Beginn des Hauptfilms auf der 21 mal 8,80 Meter großen Leinwand eine Bilderrevue mit Highlights aus der bewegten Geschichte des 1957 nach Plänen des Architekten Gerhard Fritsche fertiggestellen Zoo Palastes zu sehen. Die Komödie Die Züricher Verlobung von Helmut Käutner mit Liselotte Pulver eröffnete das Programm. In den folgenden Jahren schritten während der Berliner Filmfestspiele Kinostars aus aller Welt über den Roten Teppich ins Theater, und seit 2014 werden hier wieder Berlinale-Filme und Premieren gezeigt. Dabei gab es schon Pläne, das Kino abzureißen. Das wurde verhindert, als das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wurde. In fast dreijähriger Bauzeit wurde das Innere für 5,5 Millionen Euro aufwändig renoviert und mit neuester Technik ausgestattet. Am 27. November 2013 fand die feierliche Neueröffnung des Zoo Palastes mit nunmehr sieben Sälen statt, mit Lilo Pulver als Ehrengast. Im Saal 1 sorgt ein Dolby7.1-Atmos-Soundsystem mit 89 Lautsprechern und 115.000 Watt Leistung für ein überwältigendes Klangerlebnis, und es gibt auch noch einen 70mm-Projektor, um Monumentalfilme im ursprünglichen Format präsentieren zu können. Saal 2 mit historischer Holzverkleidung bietet 273 Zuschauern Platz, im Saal 5 mit 157 Sitzen wird vor Beginn der Vorstellung eine Lightshow an Decke und Wänden geboten, so ist der Saal ein Lichtspieltheater im doppelten Sinn. Zudem gibt es noch zwei kleine Klubkinos mit je 50 Plätzen. Auf den Logenplätzen der größeren Säle kann man sich Getränke und Finger Food servieren lassen. www.zoopalast-berlin.de 8 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 9 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 10 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at AUSGEZÄHLT Bennett Miller begibt sich mit „Foxcatcher“ auf die Spuren eines Dramas, das Amerika erschütterte. Text ~ Jörg Schiffauer R uhm ist nur allzu vergänglich. Eine Binsenweisheit, doch Mark Schultz (Channing Tatum) wird auf geradezu brutale Weise darauf gestoßen. Kaum drei Jahre ist es her, dass er 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles die Goldmedaille im Ringen gewonnen hat, doch der größte Erfolg, den man in diesem Sport erreichen kann, hat ihm außerhalb von Fachkreisen kaum Anerkennung eingetragen. Um sich ein paar Dollar zu verdienen, muss Mark an irgendeiner Highschool als Motivationsredner fungieren, doch er blickt im halbleeren Saal nur in die gelangweilten Gesichter von Jugendlichen, die herzlich wenig daran interessiert sind, was Mr. Schultz zu erzählen hat. Und dann wird er von der Sekretärin, die ihm den lächerlich gering dotierten Honorarscheck ausschreibt, auch noch mit seinem älteren Bruder Dave (Mark Ruffalo) verwechselt, ebenfalls Olympiasieger, der es zu etwas größerer Bekanntheit – und vor allem zu einer ökonomisch soliden Basis – gebracht hat. Mark hingegen muss, vorsichtig formuliert, unter äußerst spartanischen Bedingungen leben und trainieren, um seinem Traum von weiteren sportlichen Erfolgen verfolgen zu können. Doch sein kärgliches Dasein, das so viele Entbehrungen mit sich bringt, erfährt eine unerwartete Wendung: John Eleuthère du Pont (Steve Carell), Spross einer der reichsten und angesehensten Familien der Vereinigten Staaten, unterbreitet Mark ein Angebot, dass geradezu phantastisch erscheint. Auf dem Anwesen der du Ponts in Pennsylvania mit dem klingenden Namen Foxcatcher Farm beabsichtigt der Milliardär, ein Trainingszentrum einzurichten und sein eigenes Ringerteam zu trainieren, dem auch Mark angehören soll. Als dieser das erste Mal auf dem Landsitz der du Ponts eintrifft und das wahre Ausmaß des Reichtums dieser Dynastie erlebt, erscheint das ein wenig so, als hätte Mark eine andere Welt betreten, die mit jenem Amerika, dass er bislang kannte, nur wenig zu tun hat. John du Ponts Bereitschaft als Mäzen, Trainer und Mentor zu agieren, erscheint wie das sprichwörtliche Geschenk des Himmels. Dass der Milliardär zuweilen ein wenig exzentrische Verhaltensweisen an den Tag legt, darüber sehen Mark und seine Teamkollegen geflissentlich hinweg, zu verlockend sind die Möglichkeiten, die sich ihnen auf Foxcatcher Farm eröffnen. Doch im Lauf der Zeit entwickelt sich in diesem ein wenig seltsam anmutenden Mikrokosmos ein Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten, in das sich die Protagonisten immer mehr verstricken, zudem nimmt das Verhalten John du Ponts geradezu bizarre Züge an. Als Dave Schultz, der zunächst du Ponts Angebot abgelehnt hatte, schließlich doch zum Team stößt, setzt sich ein unheilvoller Verlauf in Gang, der unaufhaltsam auf ein tragisches Finale zusteuert. BRUCHSTELLEN Mit Foxcatcher hat Bennett Miller seinen erst dritten Spielfilm inszeniert, doch trotz dieser numerisch kleinen Zahl nimmt sein Oeuvre bereits eine herausragende Position im gegenwärtigen US-amerikanischen Kino ein. Sein neuer Film ist eine Arbeit von eindringlicher Präzision, wie man sie nur selten findet. Dass Foxcatcher bei der bevorstehenden Oscar-Verleihung in der Kategorie „Bester Film“ nicht einmal nominiert wurde, kann man wohl nur als Irrtum (oder schlichtweg Ignoranz) von monumentalem Ausmaß bezeichnen. Wie bei Capote (2005) und Moneyball (2011) dient auch bei Foxcatcher eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt, um ein ganz besonders Stück Americana zu ray 11 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at zeichnen und damit gesellschaftliche Bruchlinien auf ungemein präzise Art freizulegen. Im Mittelpunkt von Capote steht die Entstehung von „In Cold Blood“, jenem bahnbrechenden Tatsachenroman, mit dem Truman Capote einen Vierfachmord und die psychologischen Hintergründe so meisterhaft analysiert. Im Verlauf seiner Recherchen für das Buch taucht Capote nicht nur in das ländliche Amerika von Kansas, dem die Opfer entstammen, ein, sondern setzt sich auch intensiv mit den beiden Tätern auf eine höchst persönliche Art auseinander. „Two worlds exist in this country: the quiet conservative life, and the life of those two men – the underbelly, the criminally violent. Those two worlds converged that bloody night“, meint der von Philip Seymour Hoffman gespielte Truman Capote – ein Satz, mit dem sich nicht nur Capote, sondern in bestimmten Teilen auch Foxcatcher trefflich charakterisieren lässt. Auch hier treffen Menschen aufeinander, deren soziale Hintergründe so stark differieren, dass man beinahe glauben könnte, die Protagonisten stammen nicht aus demselben Land, sondern aus verschiedenen Universen. Der Kontrast zwischen dem exzentrischen John du Pont, dessen Familie mit ihrem unermesslichem materiellen Reichtum wie entrückt vom alltäglichen Leben scheint, und den Brüdern Schultz, die schon von ihrem Sport her ein eher rustikal-erdiges Umfeld gewöhnt sind, könnte nicht deutlicher sein. Die Parallelen zu Capote, wo der intellektuelle Schöngeist Truman Capote, Liebling der kulturellen High-Society, im Zuge seiner Nachforschungen für sein Buch ein ungewöhnlich nahes Verhältnis zu den beiden Mördern, die er selbst als „Bodensatz der Gesellschaft“ bezeichnet, entwickelt, sind augenscheinlich. Bennett Miller betreibt jedoch keine vordergründige Sozialkritik, seine Filme sind weitaus komplexer konzipiert. Sie sind zunächst einmal psychologische Studien, bei denen mit chirurgischer Präzision nach und nach die inneren Verfasstheiten der Protagonisten bloßlegt werden. Denn auf den ersten Blick scheinen die sozialen Unterschiede kein unüberwindbares Hindernis, vielmehr vermeinen die jeweiligen Charaktere, in ihren so unterschiedlichen Gegenübern genau das zu finden, was in ihrem bisherigen Umfeld ausgespart geblieben ist – und das auf mehreren Ebenen. Bei Foxcatcher scheint das Ringerteam für John du Pont die Möglichkeit, um als Coach und Mentor endlich jene Anerkennung auf zwischenmenschlicher Ebene zu finden, die ihm bislang trotz seines Reichtums versagt geblieben ist. Insbesondere in Mark Schultz glaubt du Pont auch einen Freund gefunden zu haben, während Mark wiederum in dem schrulligen Milliardär die lange vermisste Vaterfigur zu finden hofft. Doch dass diese Beziehungen nicht funktionieren, macht Bennett Miller in Foxcatcher schon frühzeitig deutlich. Denn zu stark sind die Protagonisten durch ihr bisheriges Leben – hier spielen die so unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen wiederum stark hinein – geprägt, und das nicht unbedingt auf positive Weise. John du Pont etwa ist durch die privilegierte Stellung seiner Familie in eine Art seelischer Isolation gedrängt worden – der einzige Freund, so erzählt er Mark, den er in seiner Jugend hatte, wurde von seiner Mutter dafür bezahlt –, die deutliche 12 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Spuren hinterlassen hat. Natürlich muss jedermann merken, dass sein Verhalten nicht bloß ein wenig exzentrisch ist, sondern schon reichlich ungesunde Züge angenommen hat, was das seelische Gleichgewicht angeht. Bloß – aussprechen mag das niemand, weil schlussendlich jeder von du Ponts Reichtum profitieren möchte, was wiederum zur Folge hat, dass alle Beziehungen John du Ponts asymmetrisch verlaufen. Zudem ist er ungeachtet all seiner Beteuerungen schon längst nicht mehr in der Lage, Kontakte emotionaler Natur auf Augenhöhe zu führen – vielmehr läuft es immer wieder darauf hinaus, dass Beziehungen mehr nach dem Muster von Herr und Knecht verlaufen, in denen der Milliardär etwa Widerspruch von Mark mit einer saftigen Ohrfeige begegnet. Wie in Capote sind auch in Foxcatcher die Versuche, Beziehungen einzugehen, von einem Gewirr von Projektionen, verdrängten Sehnsüchten und Machtansprüchen dominiert, die fast zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen müssen. Doch solange alle, die von John du Pont materiell abhängig sind, krampfhaft über sein groteskes Verhalten, das immer mehr ins Pathologische abgleitet, hinwegsehen, hält sogar dieses bizarre Beziehungsgeflecht eine gewisse Stabilität, so fragil diese auch sein mag. Doch als jemand wie Dave Schultz dazukommt, der eine einigermaßen solide emotionale Basis hat, kommt es bei der von Truman Capote angesprochenen Konvergenz zwischen höchst unterschiedlichen Welten zu Reibungen, die unkontrollierbare Energien freisetzen und eine Katastrophe im Stil einer griechischen Tragödie heraufbeschwören. In Bennett Millers Arbeiten ist das Aufeinandertreffen von Charakteren aus unterschiedlicher Welten samt den dabei unver- meidlichen Friktionen ein zentrales Motiv. In Capote und Foxcatcher sind diese Unterschiede, was die soziale Ebene angeht, ganz klar definiert. Im Fall von Moneyball, wo der von Brad Pitt gespielte Billy Beane in seiner Funktion als Manager eines Baseballteams seine Mannschaft nach strikt mathematischen Regeln aufstellt und damit die Traditionalisten von „America’s Game“ gewaltig vor den Kopf stößt, sind die Auswirkungen nicht ganz so dramatisch, das Konfliktpotenzial jedoch kaum geringer. EISIGE KÄLTE Das Aufeinandertreffen von Menschen mit gegensätzlichen sozialen und kulturellen Hintergründen ist ein tragendes Element in Bennett Millers Filmen, doch darin allein sind die Reibungsflächen nicht begründet. Die liegen zu zumindest gleichen Teilen bei den psychischen und emotionalen Verformtheiten der Protagonisten. Die wiederum haben ihre Ursachen sehr wohl – und hier tritt neben der erzählerischen und dramaturgischen Virtuosität, die Millers Inszenierungen auszeichnet, ein gesellschaftskritisches Element zu Tage – im sozialen Umfeld. Es ist jene Mischung aus gesellschaftlich auferlegten Zwängen und emotionalen Verletzungen, die ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen und die Protagonisten schlussendlich gefangen hält. John du Pont personifiziert dies auf exemplarische Weise: Steve Carells brillante Darstellung, die aus einem großartigen Ensemble noch herausragt, macht vom ersten Auftritt an die Ambivalenz zwischen bemitleidenswerter Kreatur und lauerndem Wahnsinn, die John du Ponts Charakter innewohnt, auf beeindruckende Art und Weise deutlich. So bizarr du Ponts ray 13 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Verhalten zweifellos ist, nach und nach macht Bennett Millers Inszenierung deutlich, dass der Verlauf seines bisherigen Lebens ungeachtet alle materiellen Privilegien entscheidend zur emotionalen Vergletscherung beigetragen hat. Die geradezu verzweifelte und doch vergebliche Suche nach Anerkennung, die in jener Szene, in der du Ponts gefühlskalte Mutter in der Trainingshalle vorbeischaut, um ihren Sohn wieder einmal nur snobistische Geringschätzigkeit spüren zu lassen, kulminiert, treibt ihn immer mehr in eine falsche und schlussendlich gefährliche Richtung. Die konsequente Unfähigkeit seiner Umgebung, damit umzugehen, verschärft die Lage noch. Als John du Pont auf Dave Schultz trifft, der gefestigt genug ist, um dem Milliardär auf Augenhöhe zu begegnen – was ironischerweise genau der richtige Weg wäre, um du Pont vielleicht aus seiner Isolation zu befreien – ist die Katastrophe schon vorprogrammiert. Für den emotionalen Frost, der die Protagonisten umgibt, findet Bennett Miller mit in kaltes, kristallklares Licht getauchten Bildern eine kongeniale visuelle Entsprechung, eine ganze Reihe von Totaleinstellungen macht zudem die Einsamkeit der Charaktere deutlich. Bennett Millers Filme präsentieren jedoch kein deterministisches Weltbild. Auch wenn die Protagonisten durch soziale und psychologische Lebensbedingungen geprägt sind, werden sie keineswegs allein durch diese Umstände exkulpiert. Truman Capote bezeichnete zwar die spezifischen Ereignisse, die zu den brutalen Morden führten, als „psychologischen Unfall“, doch das Bild, das er von ihnen in „In Cold Blood“ zeichnet, bleibt ebenso wie sein Verhältnis zu den beiden differenziert und ambivalent. Zwar ist der Schriftsteller bei weitem nicht so instabil wie der Milliardär in Foxcatcher, doch auch er – auch hier lassen sich deutliche Parallelen zwischen Capote und Foxcatcher ziehen – bleibt schlussendlich Gefangener einer Verfasstheit, die er sich selbst kaum eingestehen will. Zwar baut er zu den beiden Mördern eine freundschaftliche Beziehung auf – insbesondere mit Perry Smith entsteht dabei ein beinahe intimes Verhältnis –, doch Capotes Selbstbild als genialer Schriftsteller – was er zweifellos ist, das er jedoch genauso kräftig hochhält – bringt ein Dilemma mit sich. Auf der emotionalen Ebene möchte Truman Capote zwar, dass den beiden Mördern die Vollstreckung der Todesstrafe erspart bleibt, doch für sein Buch wäre die Exekution das perfekte Ende – und das Gelingen seines künstlerischen Schaffens, das macht Capote deutlich, geht ihm über alle emotionalen Bindungen. Es ist ein Widerspruch, dem sich Truman Capote lange Zeit lieber nicht stellt und den er schließlich so zusammenfasst. „More tears are shed over answered prayers than unanswered ones.“ Eine Erkenntnis, die sich schließlich auch für John du Pont und die Brüder Schultz auf dramatische Weise erfüllen soll. FOXCATCHER Drama, USA 2014 ~ Regie Bennett Miller Drehbuch E. Max Frye, Dan Futterman Kamera Greig Fraser Schnitt Stuart Levy, Conor O’Neill, Jay Cassidy Musik Rob Simonsen Production Design Jess Gonchor Kostüm Kasia Walicka-Maimone Mit Steve Carell, Channing Tatum, Mark Ruffalo, Vanessa Redgrave, Sienna Miller, Anthony Michael Hall, Guy Boyd, Brett Rice Verleih Polyfilm, 129 Minuten DIE SUCHE NACH DER WAHRHEIT Bennett Miller über die Entstehung von „Foxcatcher“, den richtigen Umgang mit Schauspielern und die Kunst des Improvisierens www.foxcatcher.de Kinostart 5. Februar Interview ~ Thomas Abeltshauser 14 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Es war kurz nach dem Kinostart von Capote, ich war gerade in einem Videoladen bei einer Signierstunde für die DVD meines Dokumentarfilms The Cruise, ein wirklich sehr kleines Event mit vielleicht einem Dutzend Leuten. Und dort tauchte ein wildfremder Mann mit einem dicken Umschlag auf. Er sagte, er habe eine Geschichte, die mich interessieren könnte, alles wäre in diesem Umschlag, den er mir nun übergeben werde. Ich wollte den eigentlich nicht annehmen, aber er ließ nicht locker. Der Umschlag lag dann lange ungeöffnet bei mir herum. Erst ein paar Monate später schaute ich rein und las den ersten Artikel. Da wusste ich sofort: Das muss ich machen. Was stand denn in diesem Artikel? Darin stand die ganze tragische Geschichte um einen Ringer und Olympiasieger und um einen der reichsten Männer Amerikas, und dass der Ringer mit einem Team auf dem Anwesen des Multimilliardärs gelebt und sich dort in einem Trainingslager für Wettkämpfe vorbereitet hatte, das dieser Milliardär nur für sie hatte bauen lassen. Und ich dachte: Wie bitte? Was zum Teufel ist das?! Ohne mehr darüber zu wissen, war mir sofort klar, dass in diesem Aufeinanderprallen zweier Welten und diesem merkwürdigen Mann, der ganz offensichtlich nicht ganz richtig tickte, eine faszinierende Geschichte steckte. Meine Neugierde war nicht nur geweckt, sondern hellwach. Ich begann weiter zu recherchieren und entdeckte dabei Stück für Stück immer neue Details. Ich traf viele Menschen in allen Teilen der Vereinigten Staaten, und mit jedem Puzzleteil war ich mehr und mehr angezogen. Ich konnte nicht mehr aufhören, auch wenn es am Ende ein Prozess wurde, der sich über viele Jahre hinzog. Foxcatcher beruht auf wahren Begebenheiten. Wie treu sind die dabei den Tatsachen geblieben? Zu 87,5 Prozent, würde ich sagen. Wobei es meiner Ansicht nach einen Unterschied zwischen Wahrheitstreue und Faktentreue gibt. Der Film ist aber auch, was die Fakten angeht, sehr genau. Natürlich haben wir aus dramatischen Gründen Konzessionen gemacht, wie es im Grunde jeder Film muss, egal ob Spiel- oder Dokumentarfilm. Die Parameter waren alle, zumindest soweit ich das beurteilen kann, innerhalb der Grenzen des Wahrhaftigen und kommen den tatsächlichen Ereignissen, den Personen und ihrem Verhalten so nah wie möglich. Ich glaube nicht, dass es in diesem Film fiktionale Elemente gibt, die den Zuschauer zu fundamental anderen Schlussfolgerungen bringen würden als die simple Chronologie der Fakten. Fast alle, die damals die Ereignisse aus nächster Nähe miterlebt haben und den Film gesehen haben, sind sehr beeindruckt. Wie kamen Sie auf diese Geschichte? Hatten Sie etwas über den Fall gelesen? Was genau haben Sie bei Ihren Recherchen entdeckt? Zum einen ist es eine dieser Geschichten, die, obwohl sie auf Fakten beruht, viele Elemente enthält, die wie Allegorien anmuten. Ich will diese metaphorische Ebene gar nicht im Detail erklären, genauso wie der Film ja auch keinen moralischen Standpunkt einnimmt oder Schlüsse zieht. Ich hatte nur den Eindruck, dass man gar nichts erzwingen muss, sondern sich die großen Themen in dieser kleinen Geschichte wie von selbst anbieten. Es schwingen permanent Fragen zu gesellschaftlichen Themen wie Rasse, Reichtum, Macht, Korruption, Niedergang, Arroganz mit ... und all das steckt in dieser kleinen, exzentrischen und komischen Geschichte mit ihrem letztlich tragischen und schrecklichen Ausgang. Hatten Sie vorher schon ein Interesse an der Sportart Ringen gehabt? Nein, gar keines. Ich hatte es lange für einen eher unbedeutenden, minderwertigen Sport gehalten. Ich fand es sonderbar, wie sich da zwei Männer in enganliegenden Trikots auf einer Matte wälzen. Ich wollte mir das nicht anschauen. Was ist denn mit den Typen los? Haben wir uns als Männer nicht weiterentwickelt? Aber ich habe Respekt für den Sport gelernt und verstehe jetzt, warum Männer ihn betreiben und welchen Wert es für sie hat, gut darin zu sein. Es bedeutet eine fast schon masochistische Selbstausopferung und damit kann ich mich als Filmemacher auch ein bisschen identifizieren. Wie war die Zusammenarbeit mit Mark Schultz, dem realen Vorbild des von Channing Tatum gespielten Protagonisten? Ich habe bei der Recherche die Erfahrung gemacht, dass jeder gewillt war zu reden. Aber jeder einzelne fühlte sich mit einem ray 15 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Teil der Geschichte auch extrem unwohl. Jeder redete um einen heißen Brei herum, aber nicht notwendigerweise um denselben. Als ich Mark kennenlernte, wollte er unbedingt seine Version der Geschichte publik machen. Und die war extrem einseitig und revisionistisch. Ich traf mit ihm eine Vereinbarung, dass ich die Rechte an seiner Geschichte erwerbe und er mir dabei hilft, sie zu verstehen, ich aber auch mit allen anderen reden würde. Und immer wenn mir jemand ein neues Detail erzählte, das er mir verschwiegen hatte, habe ich ihn damit konfrontiert. Ab einem gewissen Punkt hörte er auf, sich zu verweigern und begann zu erzählen. Ich fragte ihn etwa nach den Drogen und er sagte, du Pont habe gekokst, aber er selbst nie. Dann sagte ich: „Mark, jede einzelne Person, mit der ich gesprochen habe, hat von deinem Kokainkonsum mit du Pont berichtet.“ Erst dann gab er zu: „Ja, okay, stimmt. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht will, dass es im Film vorkommt. Er ist doch der Bad Guy!“ Bevor er den Film gesehen hatte, war er wohl sehr nervös, wie sehr all das ans Licht gezerrt würde, was er nicht zeigen wollte. Aber er kam zur Weltpremiere nach Cannes, trug einen Smoking und genoss die stehenden Ovationen. Hatten Sie auch Kontakt zur du Pont-Familie? Familie ist ein kleines Wort, denn die du Ponts sind ein riesiger und weit verzweigter Clan. Es gibt einige tausend von ihnen. Ich traf ein paar, aber es gibt nur sehr wenige, die direkt mit John und dieser Sache zu tun hatten. Und keiner versuchte mich daran zu hindern, diesen Film zu drehen. Können Sie Ihre Art der Schauspielführung beschreiben? Schwierige Frage. Ich glaube, wir versuchen vor allem, wahrhaftig zu sein und den Figuren gerecht zu werden. Jeder Schauspieler ist anders und braucht eine andere Art der Zuwendung oder Zusammenarbeit. Grundsätzlich ist es hilfreich, wenn man klare Ansagen darüber macht, welche Qualität der Darstellung man erreichen will. Und mit Qualität meine ich nicht hohe oder mindere, sondern Dinge wie Wahrhaftigkeit, Unmittelbarkeit, Spontaneität. Dabei benötigt der eine Schauspieler Liebe und Zuspruch, der nächste braucht eher ein bisschen die Peitsche. Das ist alles sehr individuell, aber grundsätzlich ist es wichtig, ein Gespür dafür zu haben und das Spielerische und Entdeckerische zuzulassen. Ich arbeite sehr viel mit Improvisation, es gibt kaum eine Szene in dem Film, die nicht in großen Teilen improvisiert wurde. Im Vorfeld haben wir sehr viel recherchiert, wir konnten den Hauptdarstellern ausführlich Videomaterial zur Verfügung stellen, damit sie die realen Vorbilder ihrer Charaktere studieren konnten, ihre Stimmen, ihre Gesten. Wir hatten auch viel Material von Leuten, die über sie geredet haben. Und Channing Tatum konnte lange Zeit mit Mark Schultz persönlich verbringen, der ihn sogar für die Wrestlingszenen trainiert hat. Wenn wir eine Szene schließlich drehten, gab es nicht die eine schriftliche Version davon, sondern oft fünf oder sechs, und manchmal schrieb ich sogar morgens noch mal um. Meistens aber erklärte ich nur, an welcher Stelle der Geschichte wir gerade sind, was die jeweiligen Figuren gerade wollen und was jetzt in der Szene passiert. Und dann: lasst uns ausprobieren, 16 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at wie es funktionieren könnte! Die Szene im Helikopter mit John du Ponts Zungenbrecher „Ornithologist, Philatelist, Philanthropist“ – das ist komplett improvisiert! Nichts davon stand so im Drehbuch. Aber es ist perfekt. Ich brauchte keine Minute, um die Szene zu schneiden. Und sie ist jetzt eine der besten des Films. An anderen habe ich monatelang immer wieder herumgedoktert, weil ich nicht zufrieden war. Das Verhältnis zwischen John du Pont und Mark Schultz lässt sich psychologisch auf sehr vielen Ebenen sehen, wie Vater und Sohn, reich und arm, es gibt auch eine homoerotische Komponente. Hatten Sie überlegt, letztere eindeutiger zu machen? Nach dem Stand meiner Recherchen ist die Art, wie es im Film dargestellt ist, das, wie es sich auch tatsächlich anfühlte. Da knistert etwas, es gibt eine Anziehung, aber sie ist nur ein weiteres Element, das verdrängt wird. So vieles in dieser Geschichte passiert, worüber die Protagonisten einfach schweigen, du Pont eingeschlossen. Bei denen Angehörigen und Angestellten, mit denen wir sprachen, reichten die Reaktionen von: „Nein, glaube ich nicht“ bis „Ziemlich sicher lief da was, aber gesehen hat man nie etwas“. Und aus du Ponts Perspektive ist es eine Gefühlsregung, die er sich noch nicht einmal eingestehen geschweige denn ausleben darf. Genauso wenig wie er sich eingestehen darf, dass er ein Dilettant ist. Aber die Sexualität ist nur ein Element, es ist kein Film über die homoerotische Beziehung zwischen den beiden, so wenig wie es ein Film über Drogenmissbrauch oder psychische Krankheiten ist. Es hätte sehr leicht so etwas werden können, aber dann wäre es plötzlich zu einem Nichts zusammengeschrumpft. Mich interessierten die großen Themen, diese Nebenschauplätze fügen dem Mix aus Verdrängen und Schweigen nur weitere Aspekte hinzu. Steve Carell wird für seine darstellerische Leistung in dieser Rolle zu Recht gefeiert und wurde unter anderem für einen Oscar nominiert. Dabei war es sicher ein gewisses Risiko, den aus Komödien und der Sitcom The Office bekannten Carell in dieser Charakterrolle zu besetzen. Mussten Sie ihn manchmal bremsen? Im Gegenteil. Steve ist von Natur aus ein sehr ernster Mensch. Als ich ihn zum ersten Mal traf und wir über den Film redeten, war ihm von Anfang an klar, dass es keine Komödie ist. Es ist ein Drama, auch wenn es darin humoristische Elemente gibt. Ich finde sogar sehr vieles davon rasend komisch. Und wenn es nicht mit Mord enden würde, wäre die Geschichte eine phantastische Grundlage für eine Komödie. Es ist wirklich sehr, sehr komisch. Eine absurde Farce über Klasse und Macht. Ich glaube, was Steve und viele andere mit ihm sehr ernüchtert hat, war das Treffen mit der Familie des Mordopfers. Sie besuchten mehrmals das Set, und das hatte auch Einfluss auf die Atmosphäre. Niemand versuchte, mit blöden Sprüchen oder Witzen aufzutrumpfen, weil jeder die Verpflichtung spürte, diesen Menschen und ihrer Geschichte gerecht zu werden. Ihr Film erinnert immer wieder an Paul Thomas Andersons The Master ... Den Vergleich höre ich öfter. Aber mein Projekt ist das ältere, ich habe mit der Entwicklung schon vor The Master begonnen. Das zog sich hin und wir waren schließlich in der Vorproduktion, als Andersons Film Premiere hatte. Aber Sie haben Recht, es gibt bemerkenswert viele Parallelen. Schon merkwürdig, wie unabhängig voneinander Projekte mit sehr ähnlichen Themen entstehen. Aber es ist purer Zufall. ray 17 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at DER CAPO VON NEW HOLLYWOOD Francis Ford Coppola trug ganz entscheidend zu einem der größten Umbrüche im US-amerikanischen Kino bei. Eine neue DVD-/Blu-ray-Kollektion bietet eine exzellente Gelegenheit, Einblick in seine Meisterwerke zu nehmen. Text ~ Jörg Schiffauer 18 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 19 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Coppolas beste Arbeiten bilden jene Mischung aus Vision und Wahnsinn, die wirklich große Meisterwerke von einfach nur sehr guten Filmen unterscheidet I n einer Szene des großartigen Dokumentarfilms Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse, der hinter die Kulissen der Dreharbeiten von Apocalypse Now blickt, ist Francis Ford Coppola zu sehen, wie er sich einen Revolver an den Kopf hält – eine Geste, mit der er in ein wenig makabrer, ironischer Weise seine Verzweiflung über das anwachsende Chaos, das im Verlauf der Produktion um sich griff, demonstrieren wollte. Nun muss man den Legendenbildungen, die viele filmische Großprojekte umranken, nicht unbedingt Vorschub leisten, doch betrachtet man das von Coppolas Frau Eleanor während der Produktion von Apocalypse Now gedrehte Material und ruft sich den Film selbst wieder in Erinnerung, ist man durchaus geneigt zu glauben, dass Francis Coppola tatsächlich an seine physischen und psychischen Grenzen gelangte und die Arbeit an diesem Film wirklich so etwas wie eine Reise ins Herz der Finsternis wurde. Das Resultat spiegelt auf jeden Fall alle Anstrengungen wider. Apocalypse Now ist Coppolas Opus magnum, einer der absoluten Höhepunkte des Schaffens der Generation New Hollywood und schlichtweg einer der überwältigendsten Filme, die man im Kino erleben kann. ZEITEN DES AUFRUHRS Der am 7. April 1939 in Detroit geborene Francis Ford Coppola zählte schon früh zu den führenden Köpfen von New Hollywood, jener Bewegung junger Filmemacher, die sich ab Mitte der sechziger Jahre anschickten, dem in jeder Hinsicht darniederliegenden US-amerikanischen Kino einen gewaltigen kreativen Schub zu verleihen. Wie die meisten seiner New-HollywoodKollegen absolvierte auch Coppola eine Filmschule – jene an der UCLA –, daneben arbeitete er für den legendären Roger Corman, ein idealer Ausbildungsplatz in Sachen filmischer Praxis, der es Coppola 1963 ermöglichte, mit einem Minibudget den Horrorfilm Dementia 13 zu drehen. Bereits frühzeitig gelang es Coppola auch als Drehbuchautor in Hollywood Fuß zu fassen. So zeichnete er als Ko-Autor für die Skripts von großen Produktionen wie This Property Is Condemned, Is Paris Burning? und Patton verantwortlich. Unzufrieden mit den Produktionsbedingungen traditionellen Zuschnitts, die bei den HollywoodMajors vorherrschten, gründete Coppola bereits 1969 mit American Zoetrope sein eigenes Studio, mit dem er nicht nur seine Regiearbeit The Rain People produzierte, sondern auch den ersten Spielfilm seines Freundes George Lucas, THX 1138. Es war jedoch ausgerechnet eine Zusammenarbeit mit einem großen Studio, die New Hollywood zum großen Durchbruch verhelfen sollte. Paramount, das die Rechte an Mario Puzos Roman „The Godfather“ erworben hatte, trat, nachdem einige renommierte Regisseure abgesagt hatten, an Francis Coppola heran, der schließlich zusagte, die Regie zu übernehmen – the rest is history, wie das im Englischen so knapp wie treffend formuliert wird. The Godfather (1972) wurde nicht nur zu jenem finanziellen Erfolg, den Hollywood so dringend brauchte – bei Produktionskosten von sechs Millionen Dollar betrugen die Einspielergebnisse schlussendlich 245 Millionen –, der Film trat auch eine gewaltige Veränderung innerhalb der Branche los. Denn Coppola hatte gegen alle Widerstände des Studios hinsichtlich Budget oder Besetzung mit Zähigkeit an seiner Vorstellung von der filmischen Umsetzung des Romans festgehalten. Das Resultat war abseits des ökonomischen Erfolgs auch in künstlerischer Hinsicht überwältigend und trug nicht unwesentlich dazu bei, den Regisseur als Auteur zu etablieren – eine der Kernforderungen New Hollywoods. Zudem erfüllte The Godfather einen weiteren Anspruch des neuen US-Kinos auf kongeniale 20 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at The Godfather The Godfather: Part II ray 21 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Marlon Brando und Coppola am Set von Apocalypse Now und geradezu exemplarische Weise, nämlich traditionelle Genres Hollywoods aufzufrischen, ohne dabei auf völlig auf die klassischen Wurzeln zu vergessen. Coppola, George Lucas, Steven Spielberg und Martin Scorsese waren dabei federführende Meister ihres Fachs, ihr Einfluss auf das US-amerikanische Kino war nachhaltiger als der vieler anderer Protagonisten New Hollywoods, deren Arbeiten über den Status punktueller Leistungen nicht hinauskamen. Doch The Godfather ist natürlich weit mehr als ein neuer, gehaltvoller Beitrag im Genre des Gangsterfilms. Dieses ist bloß das Fundament, auf dem Coppola eine epische Familiensaga erzählt und dabei aus einer zunächst ungewöhnlichen Perspektive auch die Geschichte der Vereinigten Staaten widerspiegelt. Die im Zentrum des Geschehens stehende Familie Corleone repräsentiert zwar das organisierte Verbrechen, doch ebenso steht sie für die Geschichte vieler Immigranten, die die Historie Amerikas bekanntermaßen entscheidend geprägt haben. Im Gegensatz zum Gangsterfilm klassischer Prägung sind die Protagonisten hier keine Stereotypen, sondern nuancierte Charaktere mit dem gesamten Spektrum menschlicher Stärken und Schwächen. Vor allem aber verzichtet The Godfather auf jedwedes vordergründiges Moralisieren, vielmehr werden die Corleones als Charaktere gezeigt, die die Prinzipien eines Systems, in dem wirtschaftlicher Erfolg absolute Priorität genießt, gründlich verinnerlicht haben. „It’s not personal. It’s strictly business“ heißt es immer wieder. Dass anstelle eines gefestigten Protestantismus – ursprünglich ein notwendiges Korrektiv im Kapitalismus amerikanischer Prägung – klandestine Strukturen treten, führt jedoch letztendlich zu jener mörderischen Verschmelzung von Verbrechen und Business, die die Cosa Nostra so berüchtigt gemacht hat. Im Fall der Corleones ist dies eine Entwicklung, die deutliche Spuren hinterlässt und schlussendlich zu einer Verrohung führt, die der von Marlon Brando gespielte Vito Corleone zu Anfang wohl selbst nicht für möglich gehalten hätte. Mit The Godfather zeigt Francis Coppola aber auch seine unnachahmliche Fähigkeit, in epischer Breite zu erzählen, ohne dabei in aufgesetztes Pathos oder gar ins Prätentiöse abzurutschen. Vor allem in Verbindung mit dem zwei Jahre später gedrehten The Godfather: Part II entfaltet sich die Saga der Familie Corleone in ihrer ganzen erzählerischen Dynamik, die Coppola mittels einer ungemein komplexen und vielschichtigen narrativen Struktur zu entwickeln verstand. Die Godfather-Filme sind zudem auch Schauspieler-Kino allererster Güte. Marlon Brandos etwas ins Stocken geratene Karriere erfuhr mit der Rolle des Patriarchen Vito Corleone ein grandioses Comeback, für eine ganze Reihe an Darstellern der Generation New Hollywood – Al Pacino, Robert De Niro, James Caan, Robert Duvall, Diane Keaton oder den viel zu früh verstorbenene John Cazale – war dies ein erster Meilenstein auf dem Weg in die oberste Liga Hollywoods. Dass in The Godfather: Part II sogar der legendäre Lee Strasberg einen seiner raren Film-Auftritte hinlegte, darf auch nicht unerwähnt bleiben. Zwischen den beiden Godfather-Filmen drehte Francis Coppola mit The Conversation einen kleinen Thriller, der jedoch in vielerlei Hinsicht zu seinen bemerkenswertesten Arbeiten zählt. Protagonist ist dabei Harry Caul (Gene Hackman), ein 22 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Apocalypse Now Apocalypse Now ray 23 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at The Conversation Abhörspezialist, der seine Kenntnisse sowohl staatlichen als auch privaten Auftraggebern zur Verfügung stellt. Als er eine junge Frau, die ihren Mann, eine einflussreiche Persönlichkeit, betrügt, und ihren Liebhaber abhören soll, denkt Harry, dass es sich um einen Routineauftrag handelt. Als er vermeint, unfreiwilliger Teil eines Mordkomplotts zu sein, kommen ihm aber Bedenken. Doch Harry Caul ist schon tief in ein Verwirrspiel verstrickt, das er immer weniger durchblicken und aus dem er sich auch nicht mehr lösen kann. The Conversation ist ein fiebriger Verschwörungsthriller, der kongenial die paranoide, von Misstrauen geprägte Atmosphäre, die im Amerika der NixonÄra nach Watergate vorherrschte, widerspiegelt. Die Furcht vor im Hintergrund agierenden, allmächtigen Apparaten, die abseits aller demokratischen Kontrollen ungehemmt agieren und vor denen niemand sicher sein kann, legt sich wie ein Schatten über The Conversation, der angesichts der Ereignisse um Edward Snowden und die Praktiken der NSA aktueller den je erscheint. DSCHUNGELKRIEG Nach dem Erfolg der Godfather-Filme war Francis Coppola in der Position, sich einem Projekt zuzuwenden, dessen Dimensionen von Anfang an gewaltig erschienen: Apocalypse Now, ein Film über den Krieg in Vietnam, basierend auf Joseph Conrads 1899 erschiener Erzählung „Heart of Darkness“. Ursprünglich hätte das von John Milius verfasste Drehbuch von George Lucas verfilmt werden sollen. Es erscheint ein durchaus spannendes Gedankenexperiment, sich vorzustellen, welcher Film daraus geworden wäre. Im Mittelpunkt von Apocalypse Now steht der von Martin Sheen gespielte Captain Willard, der den Auftrag erhält, einen geheimnisumwitterten Oberst namens Kurtz, der sich in den Wirren des Krieges abgesetzt und mitten im Dschungel mit einer Art Privatarmee herrscht, aufzuspüren und zu liquidieren. Auf einem kleinen Patrouillenboot fährt Willard einen Fluss hinauf, mitten durch Kampfzonen, wobei ihm nach und nach die ganze Absurdität dieses Krieges immer deutlicher vor Augen geführt wird. Im März 1976 begann Coppola mit den Dreharbeiten auf den Philippinen. Die eingangs erwähnte Dokumentation macht deutlich, mit welchen Widrigkeiten Coppola zu kämpfen hatte. Ein Taifun zerstörte große Teile des Filmsets, Martin Sheen erlitt einen Herzinfarkt, der ihn einige Wochen zum Pausieren zwang, Marlon Brando erwies sich in der so wichtigen Rolle des Colonel Kurtz als recht unkooperativ, Coppola musste für Budgetüberschreitungen sogar mit seinem Vermögen bürgen. An einem Punkt der sich über Monate dahinziehenden Produktion meinte ein sichtlich an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangter Coppola, es sei ihm mittlerweile egal, ob der Film gut oder schlecht werde, er wolle ihn vor allem zu Ende bringen. Die Qualen und die Risikobereitschaft haben sich letztendlich gelohnt, mit Apocalypse Now hat sich Coppola endgültig als Filmemacher von grandioser Qualität für alle Zeiten etabliert. Kein anderer Film hat die Widersprüchlichkeiten, mit denen sich Amerika im Vietnam-Krieg konfrontiert sah, so deutlich gemacht wie Apocalypse Now. Und kaum ein anderer Film versteht es, so kongenial auf die Ambivalenz zwischen der Faszination und dem Grauen, die von Schlachtenszenen ausgehen und dem Kriegsfilm so inhärent sind, zu verweisen und sie gleichzeitig dramaturgisch auszunützen. Wobei die Kategorisierung als Kriegsfilm in diesem Fall zu kurz greift. Wie auch bei The Godfather hat man bei speziell bei Apocalypse Now den Eindruck, man betrachte etwas ganz Großes. Coppolas beste Arbeiten – Apocalypse Now bildet da den Höhepunkt – bilden jene Mischung aus Vision 24 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ANZEIGE The Outsiders © 2014 Universal Studios and Legendary Pictures, LLC. Alle Rechte vorbehalten. © 2015 Universal Studios. Alle Rechte vorbehalten. und Wahnsinn im Stil von David Lean und Stanley Kubrick, die wirklich große Meisterwerke von einfach nur sehr guten Filmen unterscheidet. Die Auswahl der Filme für die vorliegende Kollektion erscheint gut getroffen. Sie umfasst mit The Godfather, The Godfather: Part II, Apocalypse Now und dem kleinen Juwel The Conversation den Nukleus von Coppolas umfangreichem Oeuvre. Bei Apocalypse Now liegt die im Jahr 2001 veröffentlichte Redux-Fassung vor, die von Coppola um eine lange Sequenz, in der Willard auf französische Plantagenbesitzer trifft, erweitert wurde – die Kinofassung, die diese Sequenz ausspart, ist allerdings immer noch beeindruckender, jede Ergänzung kann die Wucht, die von diesem Film ausgeht, nur abmindern. Die bereits angesprochene Dokumentation Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse ist dagegen eine perfekte Ergänzung, die großartige Einblicke vermittelt. The Godfather: Part III (1990) ist ein später Abschluss der Corleone-Saga, dem jedoch ein wenig die epische Größe der Teile I und II abgeht. Interessanter erscheint da The Outsiders (1983), Coppolas Adaption eines vor allem in den Vereinigten Staaten populären Romans. Am sozialkritischen Aspekt der Vorlage ist Coppola weniger interessiert, The Outsiders ist vielmehr eine Reflexion über die Repräsentation der Jugendkultur. Die vor allem formal spannende Inszenierung versammelt eine neue Generation vielversprechender Schauspieltalente wie Matt Dillon, Patrick Swayze, Emilio Estevez, Ralph Macchio, Diane Lane und Tom Cruise. The Outsiders nimmt aber auch schon ein wenig vorweg, wie Coppolas Karriere nach Apocalypse Now verlaufen sollte: Ambitionierte Projekte mischten sich mit reichlich konventionellen, neben durchaus respektablen Filmen schlichen sich auch bittere Fehlschläge ein, die visionäre Größe der siebziger Jahre sollte er als Filmemacher nie mehr erreichen. Seinen Platz im Olymp der Filmgeschichte hatte sich Francis Ford Coppola da allerdings längst und völlig zu Recht gesichert. DRACULA UNTOLD USA 2014 Regie: Gary Shore Mit: Luke Evans, Sarah Gadon, Dominic Cooper, Art Parkinson, Charles Dance Transsylvanien 1462: Das Reich von Prinz Vlad III. (Luke Evans) steht kurz vor der Eroberung durch die kriegerischen Osmanen. Um Familie und Volk zu schützen, schließt Vlad einen Pakt mit einem uralten Dämon, der ihn zu einem unsterblichen Monster macht. Dracula Untold ist ein spektakuläres Action-Abenteuer. Bildgewaltig und mit atemberaubenden Special Effects werden Mythos und Wahrheit miteinander verbunden und eine völlig unbekannte Seite des Vampirs enthüllt. DVD Laufzeit ca. 88 Minuten Bild 2,40:1 AnamorphWidescreen Ton Dolby Digital 5.1 (Deutsch, Englisch, Türkisch, Hindi) Untertitel Deutsch, Englisch, Türkisch, Hindi, u.a.h Blu-ray Laufzeit ca. 92 Minuten Bild 2,40:1 Widescreen in HD Ton DTS-HD Master Audio 5.1 (Englisch), DTS Digital Surround 5.1 (Deutsch und alle anderen Sprachen) Untertitel Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, u.a. Bonusmaterial in High Definition Alternative Eröffnungsszene; Unveröffentlichte Szenen; Ein Tag im Leben von Luke Evans; Dracula neu erzählt; Töten 1000; Das Land von Dracula; Luke Evans: Eine Legende erschaffen; Audiokommentar von Regisseur Gary Shore und Produktionsdesigner François Audouy FSK freigegeben ab 12 FRANCIS FORD COPPOLA COLLECTION The Godfather (1972) The Conversation (1974) The Godfather: Part II (1974) Apocalypse Now Redux (1979/2001) The Outsiders (1983) The Godfather: Part III (1990) Hearts of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse (1991) Auf DVD/Blu-ray bei Arthaus/Studiocanal „Dracula Untoldy“ erscheint am 5. Februar 2015 als DVD und als Blu-ray mit Digital UltraViolet. ray 25 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 26 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at FLYING HIGH Unterm Strich zähl’ ich: Alejandro González Iñárritus wunderbar kluge, Oscar-favorisierte Tragikomödie „Birdman“. Titelheld Michael Keaton im Gespräch. Text und Interview ~ Pamela Jahn ray 27 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at E s gibt Filme, die sieht man am liebsten gleich zweimal. Manchmal, weil man angesichts der Komplexität und des Ideenreichtums, der in ihnen steckt, fürchtet, einige wichtige Details verpasst zu haben. Oder aber, weil sie einem beim ersten Sichten mit einer Virtuosität an den Kopf fahren, die so bezwingend ist wie famos. Wenn es sich um Filme handelt, die wesentlich sind und klug, visuell raffiniert und emotional einnehmend, absurd und spektakulär. Alejandro González Iñárritus Birdman, der es durchaus verdient, beim vollen Titel Birdman (or The Unexpected Virtue of Ignorance) genannt zu werden, ist von all dem alles und immer noch ein bisschen mehr. Denn ein Film, in so fragile wie Klischee-egomane Künstler und Könner zwei Stunden lang miteinander reden und streiten, einander gegenseitig trösten und verletzen, sich entblößen und nicht entblöden, der geht, gelinde gesagt, ein gewisses Risiko ein. Eigentlich kann er nur bodenlos scheitern. Oder grandios gelingen. So wie Iñárritus bewundernswerter Film, der obendrein die schöne Gelegenheit bietet, den großen Komödianten Michael Keaton in lange vermisster Höchstform auf der Leinwand zu erleben. Fünfundzwanzig Jahre nach seinem immensen Erfolg als Batman spielt Keaton hier einen abgehalfterten Hollywoodstar und Comic-Kino-Helden namens Riggan Thomson, der sich in einer ungesunden Mischung aus Verzweiflung und Größenwahn in den Kopf gesetzt hat, ein Theaterstück auf der Grundlage einer selbstadaptierten und -inszenierten Raymond-Carver-Vorlage am Broadway zu stemmen. Dabei zur Seite steht ihm ein Ensemble angeknackster Charaktere, die insgeheim hoffen, auf den gerupften Federn des ehemaligen Birdman-Superhelden zu neuen Höhen aufzuschwingen, oder zumindest den letzten Funken Selbstachtung zu wahren, den ihnen die Kunst wie das Leben zu rauben sucht: Allen voran Zach Galifianakis als Riggans rechte (und linke) Hand Jake und Edward Nortons besserwisserischer Method-Acting-Chauvi Mike Shiner, der es sich im Lauf des Films mit der zart besaiteten Broadway-Debütantin Lesley (Naomi Watts) verscherzt, die allein bei Riggans Freundin Laura (Andrea Riseborough) Trost findet. Bleibt Emma Stone als Riggans leibliche Tochter und – zwangsweise – persönliche Assistentin, die von allen noch den größten Durchblick hat, aber nichts von allem wissen will, am wenigsten von ihrem selbstmitleidigen Vater. Die Probleme, die Spannungen und die Zweifel, die Riggans Vorhaben mit sich bringt, sind programmiert. Was den Film so beeindruckend macht, sind die brillanten Schauspielduelle, und die wendige, sich raffiniert und hartnäckig durch die engen Korridore, Bühnen- und Proberäume schlängelnde Kamera von Emmanuel Lubezki, die im Einklang mit dem unentwegt trommelnden Rhythmus des derben Jazz-Soundtracks (Antonio Sanchez) die Fiebrigkeit der ruhelosen Protagonisten bildlich greifbar macht. Birdman ist eine irre, ausgeklügelt inszenierte Tragödie, ein bitterer Abgesang auf das Showbiz, welcher sich über weite Strecken als Komödie ausgibt. Doch immer wieder kippt der Spaß ins Panische, ins Tieftraurige sogar, bis es unvermeidlich tragisch wird, weil es eben keine Alternative gibt zum komischen Ernst des Lebens. Aber wenn Birdman am Ende abhebt, kommt er dem Versuch zumindest verdammt nah. 28 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 29 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Sie spielen in Birdman einen Ex-Hollywoodstar, der ein Comeback als Bühnenkünstler probiert. Das klingt zunächst wenig originell, aber wer den Film sieht, ist schnell begeistert. Wie ging es Ihnen, als Sie das Drehbuch zum ersten Mal gelesen hatten? Wer Alejandros Filme kennt, hat als Schauspieler ja schon eine gewisse Vorstellung davon, worauf er sich einlässt. Bei ihm hat man es mit einem wahren Künstler zu tun, obwohl solche Begriffe wie Künstler oder Genie heutzutage ziemlich überbeansprucht werden. Aber machen wir uns nichts vor, alle Schauspieler, zumindest die, die ich kenne, wollen gern mit großartigen Regisseuren arbeiten. Und da ich Alejandros frühere Filme bereits kannte, hätte das Drehbuch wirklich grauenhaft sein müssen, dass ich abgelehnt hätte. Aber es war großartig. Als Alejandro mir das Skript in die Hand gab, erklärte er mir ziemlich ausführlich, wie er sich das Ganze vorstellte, wie er drehen wollte, was der Film für ihn bedeutet. Damals dachte ich nur: Wow, okay! Dann bin ich nach Hause und habe das Drehbuch in einem Stück durchgelesen, wobei mir gleichzeitig all die Dinge durch den Kopf gingen, die mir Alejandro kurz zuvor gesagt hatte. Am Ende stand für mich fest: Das ist was Besonderes – und das wird ganz sicher kein Kinderspiel. Hatten Sie Bedenken, wie das praktisch funktionieren sollte, dass der Film am Ende aussieht, als sei er in einem einzigen Take gedreht? Ja und nein. Wenn etwas kompliziert ist, bedeutet es ja nicht, dass es schlecht ist, sondern spannend. Ich mag es selbst, wenn etwas schwierig ist und mehr als nur herausfordernd. Dass Riggan Thomson eine meiner bislang schwierigsten Rollen ist, hat mich nicht davon abgehalten, sie zu spielen. Das ist vielleicht so ähnlich wie bei Hochleistungssportlern, für die wird es ja auch nie leichter. Viele fangen schon als Kinder an, kämpfen sich schnell nach oben, und dann wird‘s mühsam. Denn je höher man aufsteigt und je älter man wird, umso schwieriger wird es mitzuhalten. Aber ich hatte keine Angst vor der Aufgabe. Mich hat das gereizt, die Kompliziertheit, die darin steckt. Es gibt eine Szene im Film, das laufen Sie nur in Unterhosen abends über den Time Square … Zugegeben, das war wirklich nicht einfach. Vor allem, wenn man es wie bei Iñárritu mit jemandem zu tun hat, der gern alles bis ins kleinste Detail kontrolliert. Oh ja! Das mag ja alles ganz ungestellt aussehen, aber selbst diese Szene war komplett durchgeplant und choreographiert, so wie alles andere. Natürlich kann man bei solchen Außenaufnahmen nicht verhindern, dass Passanten ins Bild laufen, dass Leute stehenbleiben und zuschauen und so weiter. Wir haben das Ganze also auch ein paar Mal drehen müssen. So spontan und zufällig wie es wirkt, war es jedenfalls nicht. 30 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Hatten Sie Spielraum für eigene Ideen und Improvisationen, um die Rolle für sich zu entwickeln? Um genau zu sein: gar keinen. Null. Im Gegenteil. Angesichts der Art, wie der Film gedreht werden sollte, mussten wir unseren Text schon sehr früh ganz genau kennen. Denn die Kameras waren auch bei den Proben schon mit dabei und deshalb war es wichtig, dass jeder auf Anhieb wusste, wo er einsetzen muss, für den Fall, dass die Kamera plötzlich auf einen umschwenkt. Und man kann sich das kaum vorstellen, aber Emmanuel Lubezki, der Kameramann, ist vielleicht sogar noch ein Stück perfektionistischer als Alejandro. Die beiden zusammen können einen schon zum Wahnsinn treiben – aber im besten Sinn des Wortes, weil sie einfach so gut sind. Es gibt zum Beispiel auch Szenen im Film, darin finde mich persönlich nicht gut, weil ich weiß, es gab andere Aufnahmen, da war ich besser. Aber alles in allem war das eben die Version, die an der Stelle und im Zusammenspiel mit dem, was davor und danach kommt, am besten passte. Also, um auf ihre Frage zurückzukommen: Es gab für uns Darsteller eigentlich keinen Raum zum Improvisieren, bis auf ein, zwei kleine Momente, in denen Zach Galifianakis und ich notgedrungen erfinderisch seien mussten, weil wir sonst die Szene verpatzt hätten. ray 31 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Welche Szene war das? Die Szene, in der Zach und ich uns auf dem Flur unterhalten. Oder besser gesagt, er brüllt mich an und dabei kommen ihm fast die Tränen, weil er so unter Stress steht. Das ist einerseits berührend, aber auch ziemlich komisch. Und in einem der Takes sagt er plötzlich im Weggehen: „Dein Hosenstall ist offen.“ Darauf war ich nicht vorbereitet, aber ich konnte ja auch nicht lachen, weil das die ganze Szene ruiniert hätte. Also habe ich einfach die Realität gespielt und nach unten geschaut, um zu kontrollieren, ob mein Reißverschluss tatsächlich offen stand, weil Riggan, so unsicher wie er ist, das in dem Moment auch getan hätte. Alejandro fand die Idee gut, aber das hieß natürlich auch, dass wir die Szene in jeder weiteren Aufnahme wieder genauso beenden mussten. Sie haben in Interviews mehrfach betont, dass Ihre Figur, Riggan Thomson, und Michael Keaton, der Schauspieler, sich im Grunde nicht mehr voneinander unterscheiden könnten. Wie gehen Sie persönlich mit Niederlagen um? Wie man sieht, hat Riggan damit seine Schwierigkeiten. Das kann man wohl sagen. Was konkret die Parallelen oder Unterschiede zwischen Riggan und mir angeht, das meine ich auch so, wie ich es gesagt habe. Aber ganz ehrlich: Ich denke darüber nicht so viel nach, wie alle denken. Ich glaube, andere Leute denken mehr darüber nach, wie viel ich darüber nachdenke, als ich selbst. Klar geht’s mir auch mal schlecht. Klar habe ich auch Fehler gemacht und Niederlagen einstecken müssen. Aber das ist doch menschlich. Deshalb haben Riggan und ich noch lange nicht die gleiche Persönlichkeit. Und darum geht es ja auch gar nicht. Das Spannende ist doch, dass der Film – wie Alejandros Filme immer – auf ein größeres Ganzes zielt. Da geht es um universelle Themen und Fragen: Wie geht man mit dem eigenen Ego um? Mit den Lügen, die es uns erzählt? Und mit den Wahrheiten? Die Antworten darauf kenne ich auch nicht. Aber ich verschwende nicht halb so viel Zeit und Energie wie Riggan damit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was die Leute von mir denken. Ein wenig narzisstisch sind wir alle und das ist auch gut so. Aber derart ichbezogen zu sein, wäre mir definitiv zu anstrengend. Dafür bin ich viel zu faul. Außerdem bin ich von Natur aus sehr unabhängig und will mich nicht darauf verlassen müssen, wie andere Leute darüber urteilen, ob ich gut oder schlecht bin. Das kann ich auch ganz gut selbst einschätzen. Wo steckt ihr Ego, wenn Sie vor der Kamera stehen? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich stolz sein will auf meine Arbeit, dass ich einen guten Job machen will. Das Einzige, was ich mir zugute halte, ist, dass ich mutig bin. Dass muss man auch sein, sonst blickt man irgendwann auf sein Leben zurück und ärgert sich, dass man dieses oder jenes nicht ausprobiert hat. Ich weiß natürlich auch, dass ich ziemliches Glück hatte, schon früh in meiner Karriere großartige Chancen zu bekommen, wenn auch nicht ohne Risiko. Der erste Batman zum Beispiel, das war 32 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at IM FEBRUAR IN DEN KINOS eine halsbrecherische Angelegenheit. Wenn das schief gegangen wäre, wäre ich baden gegangen. Aber nicht nur ich: Tim Burton, Jack Nicholson, wir alle hätten verdammt blöd dagestanden. Tatsache ist aber, dass es funktioniert hat, ziemlich gut sogar. Deshalb habe mich mir immer gesagt: Sei kein Feigling, trau dich! Und damit bin ich eigentlich immer ganz gut gefahren. Sie haben allerdings recht früh in Ihrer Karriere auch einige Rollen in Filmen abgelehnt, die dann zu Kassenschlagern wurden. Nicht wirklich. MY NAME IS SALT FARIDA PACHA , INDIEN Splash zum Beispiel? Ja gut, da haben Sie recht. Stakeout? Okay! Man muss aber auch dazu sagen, dass ich damals gerade Vater geworden war und mich auf meine Familie konzentrieren wollte. Ich habe das sehr genossen. Nichtsdestoweniger war es wahrscheinlich ein Stück weit auch meine eigene Dummheit, die Rollen nicht anzunehmen. Haben Sie selbst auch mal am Theater gespielt? Ganz wenig, während des Studiums. Theater hat mich interessiert, aber es war nie meine Leidenschaft. Ich hatte bei ein paar Stücken mitgespielt und bin dann eine Zeit lang mit einer kleinen Theatergruppe aufgetreten. Dann wollte ich nach New York, um dort als Schauspieler zu arbeiten, aber mich haben auch das Schreiben und Comedy immer begeistert. Am Ende bin ich ziemlich spontan nach Los Angeles gezogen, weil mir ein guter Freund dazu geraten hatte. Aber wäre ich tatsächlich nach New York gegangen, hätte ich sicher auch mehr Theater gespielt. Sie sind mehrfach als Stand-Up-Comedian aufgetreten. Ja, und ich glaube, das war mit das Klügste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich bin unheimlich fasziniert von der Kunst, die dahinter steckt. Die Leute glauben ja gar nicht, wie schwer es ist, als Stand-Up richtig gut zu sein, und zwar jeden Abend aufs Neue. Aber das ist ein Thema für sich. EDITION FÜR LIEBHABERINNEN In Birdman kriegen unter anderem auch die Kritiker ihr Fett weg. Aber es scheint, als scheren Sie sich wenig darum, was im Nachhinein über Ihre Arbeit geschrieben wird. Richtig. Ich bin da ganz praktisch. Wenn jemand mich anruft und sagt: „Ich habe gerade eine super Kritik gelesen. Willst du sie sehen?“, da sage ich natürlich nicht nein. Aber davon abgesehen lese ich kaum Kritiken, wenn ich es vermeiden kann. Damit bin ich bislang immer ganz gut gefahren. BIRDMAN (ODER DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT) / BIRDMAN (OR THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) Tragikomödie, USA 2014 ~ Regie Alejandro González Iñárritu Drehbuch Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Armando Bo Kamera Emmanuel Lubezki Schnitt Douglas Crise, Stephen Mirrione Musik Antonio Sanchez Production Design Kevin Thompson Kostüm Albert Wolsky Mit Michael Keaton, Emma Stone, Edward Norton, Naomi Watts, Andrea Riseborough, Zach Galifianakis, Amy Ryan, Damian Young, Merritt Wever Verleih 20th Century Fox, 119 Minuten Kinostart 30. Jänner www.fox.de/birdman Herausragende Filme aus Süd und Ost auf DVD/Blu-ray und online www.trigon-film.org Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at MR. KAURISMÄKI, WIE HABEN SIE DAS GEMACHT? Peter von Baghs Buch über Aki Kaurismäki hat neben aufschlussreich-humorvollen Interviews mit dem Regisseur eine Vielzahl seltener Fotos zu bieten. Text und Redaktion ~ Oliver Stangl D ass Trauer und Freude oft nah beieinander liegen, mag ein Gemeinplatz sein, doch wenn ein Filmemacher wie Aki Kaurismäki am Werk ist, werden Gemeinplätze zur Kunst. Seinen Figuren weht stets ein rauer Wind entgegen, sie wappnen sich gegen die Unbill des Lebens mit Alkohol, Zigaretten und Schweigsamkeit. Und wenn sie schon glauben, dass es nicht mehr weitergeht – wie der frustrierte Angestellte Henri Boulanger (Jean-Pierre Léaud), der in I Hired a Contract Killer einen Mörder auf sich selbst ansetzt – dann tun sich unverhofft Glücksmomente auf, tritt die Liebe ins Leben. Trauer und Freude, sie liegen auch im Fall des eben auf deutsch erschienenen Buches über den Finnen mit der unverwechselbaren, lakonischprägnanten Bildsprache nah beieinander. Freude, weil „Kaurismäki über Kaurismäki“ ein exzellentes Buch ist, in dem der Schöpfer von Werken wie Leningrad Cowboys Go America oder Wolken ziehen vorüber viel über sich, seine Arbeitsweise und seine Weltsicht preisgibt. Zum Beispiel: „Mit Farben kann man eine Figur kommentieren, eine Szene definieren und den Gemütszustand einer Figur andeuten. Mit Farben kann man alles mögliche tun, zum Beispiel den Film kaputt machen, wie Peter Greenaway es gezeigt hat. Aber auf der anderen Seite bringt erst das Licht die Farben zum Strahlen und erzeugt die Schatten, die – wie wir von Rembrandt gelernt haben – der Spiegel der Seele sind. FBI-Männer werfen keine Schatten.“ Oder: „Hollywood ist von den großen Regisseuren gemacht worden. Deswegen ist es dort heute so leer, weil sie weggegangen sind und nur die Geldmach-Maschinerie übrig geblieben ist, und auch die ist ins Stottern geraten.“ Trauer, weil der Autor des Buches, Peter von Bagh, am 17. September 2014 im Alter von 71 Jahren in seiner Heimatstadt Helsinki verstorben ist. Der Vielseitige war selbst als Regisseur tätig (er dreht über 50 Essayfilme), stand mehreren Filmfestivals vor und war ein international gefragter Filmhistoriker, der mehr als 30 Bücher schrieb. Für das Österreichische Filmmuseum hat Peter von Bagh noch gemeinsam mit Olaf Möller die Schau „Finnland – Der Film“ zusammengestellt. Doch die Eröffnung der Schau hat er, ebenso wenig wie die Präsentation der deutschsprachigen Ausgabe seines Kaurismäki-Buches, nicht mehr erlebt. So ist das beim verdienstvollen Alexander Verlag erschienene Buch mehr als nur eine Feier des großen Regisseurs Kaurismäki. Es ist in gleichem Maß ein würdiges Andenken an den großen Cineasten Peter von Bagh. Auf den folgenden Seiten finden Sie einige Bilder aus dem Band. 34 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Peter von Bagh: Kaurismäki über Kaurismäki. Alexander Verlag, Berlin 2014. Zahlreiche Abbildungen. 288 Seiten, € 39,10 Beruflic unterwegs in Jyväskylä, 1985 ray 35 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Markku Peltola in Der Mann ohne Vergangenheit (Mies vailla menneisyyttä, 2002) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland Kati Outinen und Matti Pellonpää in Schatten im Paradies (Varjoja paratiisissa, 1986) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland 36 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Kaurismäki und seine Frau Paula Oinonen, fotografiert von Jim Jarmusch (1987) Matti Pellonpää und Laika in La Vie de Bohème (1992) © Moune Jamet ray 37 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at André Wilms, Jean-Pierre Léaud, Kari Väänänen und Matti Pellonpää in La Vie de Bohème (1992) © Moune Jamet In Leningrad Cowboys Go America (1989) hat Regisseur Jim Jarmusch (mit Kappe, neben ihm Kaurismäki) einen Auftritt als Autohändler. Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland 38 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Kati Outinen, Kari Väänänen und Pietari in Wolken ziehen vorüber (1996) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland Kaurismäki beim Inszenieren des Stummfilms Juha (1999) Foto: Marja-Leena Hukkanen © Sputnik, Finnland ray 39 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Kaurismäki und Jean-Pierre Léaud in I Hired a Contract Killer (1990) Maria Järvenhelmi, Janne Hyytiäinen und Ilkka Koivula in Lichter der Vorstadt (Laitakaupungin, 2006) Cinéma du Panthéon, 5. Arrondissement 40 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at DIE ARBEITERKLASSE KENNT KEIN VATERLAND Aki Kaurismäki – Bolschewist des Herzens Text ~ Jörg Becker E r war noch keine fünfzig, da hatte man ihm bereits große Retrospektiven gewidmet. Sein Werk, das eine Handvoll Schwarzweißfilme und sogar einen Stummfilm – Juha (1999) – enthält, stellt eine Hommage dar an die Reinheit eines früheren Kinos. In der Kritik taucht seitdem immer wieder das Wort „Paralleluniversum“ auf, das Kaurismäkis Filmwelt ausstaffiere, eine zauberhafte Gegenversion der Wirklichkeit, eine künstliche, dabei zur Gänze aus Realien bestehende Welt, deren Tristesse auf unverkennbare Weise mit Notwendigkeit einem oft märchenhaften Ausgang zugeführt wird. Und alles im Element beispielloser Lakonie, reduziertester Gestik, eines langsam schwelenden Humors und entschieden gesetzter Filmeinstellungen, die ihre Schauplätze oft etwas länger im Bild zeigen als die an ihnen stattfindende Handlung und damit den Objekten am Ort, die etwas Museales aus dem späten Industriezeitalter bzw. der Moderne ausstrahlen, Geltung verschaffen. Ein Auto mit Plastikstoßstange wird man jedenfalls in keinem Kaurismäki-Film sehen, stattdessen Cadillacs, Wolgas und Traktoren – Objekte mit Gesicht und Charakter. Das Mädchen aus der Streichholzfabrik (1989) am Ende seiner „Proletarischen Trilogie“ brachte Kaurismäki den Durchbruch: ein Arbeitermädchen, von den Eltern ausgebeutet, von Fabrikarbeit und enttäuschter Liebe entfremdet, revanchiert sich mit Rattengift für all die Zumutungen ihres Lebens, ein befreiender Akt von Selbstbestimmung. Kaurismäkis Hauptfiguren, Müllfahrer oder Kassiererinnen, Straßenbahnschaffner oder Fließbandarbeiterinnen, Metzger oder Kellnerinnen, prekärste Künstlerexistenzen (André Wilms in La Vie de Bohème) – im jüngsten Film Le Havre Schuhputzer, mit allen Härten der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert, widerfährt doch immer wieder eine liebevolle Wendung ins Happy End. I Hired a Contract Killer, der der Nouvelle-Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud einen beträchtlichen zweiten Schub gab, und La Vie de Bohème entstanden nicht mehr in Finnland, sondern in London bzw. Paris, in den Farben bzw. dem schwarzweißen Chiaroscuro der jeweiligen Filmtradition, die Kaurismäki am Herzen gelegen haben mochte, Powell/Pressburger und der Poetische Realismus, überhaupt das französische Kino der dreißiger Jahre, Marcel Carné, René Clair, Jean Renoir. Tatjana entstand in Tallinn und Leningrad Cowboys Go America in der US-Provinz, die Heimatlosigkeit scheint ihre gemeinsame Wurzel, doch, so sagt die Blumenverkäuferin Margaret in Contract Killer zu Henri/Léaud, den Alkohol und Liebe urplötzlich von seiner Suizidfixierung abgebracht haben: „Die Arbeiterklasse kennt kein Vaterland.“ Mit fürs Kino weichem Herzen Verlierer zu besingen, darum ging es nie, auch wenn man meinen könnte, Kaurismäki würde Filme aus übler Gegenwart in der Ausstattung einer euphemistischen Vergangenheit drehen, in sparsamem Dekor und reduzierten Dialogen, unter einem schauspielerischen Ausdrucksminimalismus, der die Andeutung eines Lächelns zum emotionalen Höhepunkt werden lässt. Der „Chef-Melancholiker des Autorenkinos“ (Rainer Gansera), der die Tristesse seiner Filme mit Blues und Tango, Punk, russischen Volksweisen und Tschaikowskys „Pathétique“ grundiert, steht in der Nachfolge der Kunst großer Melodramen. In Anlehnung an sein großes Vorbild Bresson gelten ihm, der sich einmal als „Bolschewist des Herzens“ bezeichnet hat, seine aufrechten Akteure als Modelle; deren Leidensweg läuft auf eine Rettung hinaus, die er als Regisseur anordnen kann, weil er der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lassen will. So gelangt das arbeitslose Paar in Wolken ziehen vorüber schließlich an das Geld, um ein Restaurant eröffnen zu können, und der Mann ohne Vergangenheit findet die Liebe seines Lebens in den Armen des Engels der Heilsarmee in Gestalt von Kati Outinen, die in neun Filmen unsere Vorstellung davon geprägt hat, was einen Kaurismäki-Film ausmacht. Da ist jene soziale Insel solidarischer Menschen, die – zuletzt in Le Havre (2011), der auch aus Kaurismäkis Zorn über die demütigende Behandlung der Afrika-Flüchtlinge durch die EU entstand („Ich bin zu alt, um unpolitische Filme zu machen“) – das „paradis social“ des französischen Films wachruft. Gleich zwei Wunder geschehen: Der Mensch ist edel, hilfreich und gut, und die Frau ist von tödlicher Krankheit genesen. Am Schluss sieht man die Kirschblüten blühen. AKI KAURISMÄKI COLLECTION Crime and Punishment, 1983; Calamari Union, 1985; Schatten im Paradies, 1986; Hamlet goes Business, 1987; Ariel, 1988; Leningrad Cowboys Go America / Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, 1989; I Hired a Contract Killer, 1990; Das Leben der Bohème, 1992; Total Balalaika Show, 1993; Leningrad Cowboys Meet Moses / Tatjana, 1994; Wolken ziehen vorüber, 1996; Juha, 1998; Der Mann ohne Vergangenheit, 2002; Lichter der Vorstadt, 2006; Le Havre 2011. Sowie die Musik-Kurzfilme: Rocky VI; Thru the Wire; Those were the Days; These Boots. Gesamtlänge 1358 Minuten auf zehn DVDs Pandora Film, ab ca. € 51,- ray 41 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 42 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at SCHWERGEWICHTSCHAMPIONS Ein Gipfeltreffen: Paul Thomas Anderson verfilmte Thomas Pynchons Roman „Inherent Vice“ mit gewohnt großer Besetzung. Text ~ Andreas Ungerböck ray 43 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Als Kassenschlager eignen sich Andersons Werke nur bedingt, dazu sind sie einfach zu fordernd. „There Will Be Blood“ spielte aber immerhin 40 Millionen Dollar ein I m Oktober 2013 zählte „Entertainment Weekly“ die „25 Greatest Working Directors“ auf – eine Aufstellung, über die man, wie über alle Best-of-Listen, trefflich streiten kann: Spielberg Erster, Tarantino Zweiter. Soweit okay. Scorsese Dritter? Naja. Woody Allen Neunter, weit vor Roman Polanski? Hhhmm. Ben Affleck Elfter, drei Plätze vor Michael Haneke? Wie bitte? Ang Lee 18., einige Plätze hinter Darren Aronofsky? Im Ernst? Wie auch immer: Es gibt vermutlich nur wenige der hier Gelisteten, die sowohl in der Branche, als auch bei der Kritik, in der strengen „ray“-Redaktion und bei jenem verschwindend geringen Teil des Publikums, der Regisseurinnen und Regisseure überhaupt namentlich wahrnimmt, unumstritten sind. Dazu gehören ohne Zweifel Kathryn Bigelow (Vierte) und Paul Thomas Anderson (Achter). Das ehemalige „Wunderkind“ Anderson, geboren 1970 mitten im Herzen der Filmindustrie, in Studio City, fiel schon 1996 mit seinem Debütfilm Hard Eight (aka Sydney, aka Last Exit Reno) auf, einer lakonischen Tragödie im Spielermilieu. Philip Baker Hall, John C. Reilly, Gwyneth Paltrow, Samuel L. Jackson und Philip Seymour Hoffman: Das war ein illustrer Cast für den ersten, eher sparsam budgetierten Film eines 26-Jährigen. Und schon im folgenden Jahr gelang dem jungen Mann mit Boogie Nights ein Werk, das man getrost zu den Highlights der jüngeren Filmgeschichte zählen darf und das wohl noch einige Jahrzehnte Bestand haben wird. Wie es Anderson gelang, ein Ensemble von gut einem Dutzend glänzend charakterisierter Figuren zweieinhalb Stunden lang zu dirigieren, eine zutiefst bewegende Geschichte über Aufstieg und Fall eines jungen Mannes (Mark Wahlberg) zu schreiben, der in die „Goldene Ära“ des Pornofilms hineinschlittert, und zugleich ein fulminantes Zeitbild der siebziger und frühen achtziger Jahre zu entwerfen, das war schon mehr als beeindruckend. In dieser Tonart ging es mit Magnolia (1999) weiter, den manche noch über Boogie Nights stellen. Die Szene, in der es Frösche vom Himmel regnet, wird wohl vielen unvergesslich geblieben sein. Es folgte die sehr schräge Komödie Punch-Drunk Love (2002), in der Anderson u.a. bewies, dass er nicht nur Tom Cruise (Magnolia), sondern auch Adam Sandler in den Griff bekommen kann – keine leichte Übung, wie man in der Branche weiß. There Will Be Blood (2007) wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet (Daniel Day-Lewis, needless to say, als bester Hauptdarsteller und Robert Elswit als bester Kameramann); The Master (2012), das nur wenig verschlüsselte Porträt des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, bleibt vor allem wegen der grandiosen Performance des 2014 tragisch aus dem Leben geschiedenen Philip Seymour Hoffman, einem engen Vertrauten des Filmemachers, in Erinnerung. Alle Filme Paul Thomas Andersons tragen eine Handschrift: Sie sind komplex, um nicht zu sagen: labyrinthisch angelegt, versammeln vielschichtige und reichhaltige Figurenensembles, verfügen über äußerst einprägsame Scores und Soundtracks, dauern in der Regel zweieinhalb Stunden und mehr, und werden von der Kritik nahezu einhellig geschätzt. Kein Wunder, wenn die Hollywood-Schauspielelite sich nicht lange bitten lässt, wenn es darum geht, in seinen Filmen mitzuwirken (siehe auch das nachfolgende Interview mit Owen Wilson). Als Kassenschlager eignen sich seine Werke hingegen nur bedingt, dazu sind sie einfach zu fordernd. There Will Be Blood, satte 158 Minuten lang, spielte aber immerhin 40 Millionen Dollar ein. Was der erst 44-jährige Anderson für die Filmbranche ist, ist in gewisser Weise der 77-jährige Thomas Pynchon für den US-amerikanischen Literaturbetrieb: eine Instanz, deren Charisma man sich schwer entziehen kann. Dass der enigmatische, öffentlich- 44 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 45 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 46 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at keitsscheue Schriftsteller von der Ostküste, dessen Familie bis zu den Gründervätern zurückverfolgt werden kann, und der Regie-Hot-Shot mitten aus L.A., Bruder von acht Geschwistern und Sohn eines Fernsehschauspielers der sechziger Jahre, nun anlässlich von Inherent Vice aufeinandertreffen, kann man nur als künstlerischen Glücksfall bezeichnen. Was Paul Thomas Anderson, einen erklärten Fan des Autors, zu Pynchons 2009 erschienenem, vergleichsweise zugänglichem und mit knapp 500 Seiten eher schmalem Roman (deutscher Titel: „Natürliche Mängel“) hingezogen haben mag, lässt sich leicht nachvollziehen: Da ist zum einen Pynchons hinreißende Fabulierkunst, seine unnachahmliche Fähigkeit, in vergangene Epochen einzutauchen (man denke nur an „V.“) und, wahrscheinlich am wichtigsten, sein Genie, was das Entwerfen bunt schillernder Charaktere betrifft. Noch dazu ist der Roman eine Hommage an Los Angeles (nahezu alle Filme Andersons spielen in Kalifornien), an Raymond Chandlers Philip-Marlowe-Romane und an all die großartigen L.A.-Gangster-, Polizei- und Detektivfilme, notabene Roman Polanskis Chinatown und Curtis Hansons L.A. Confidential. Hier also „ermittelt“ der Privatdetektiv Larry „Doc“ Sportello (Joaquin Phoenix, der schon in The Master brillierte), oder besser gesagt: Er stolpert durch eine Story, gegen die die legendär undurchschaubare Geschichte von Chandlers „The Big Sleep“ geradezu linear erscheint. Da wir uns aber nicht in den vierziger Jahren, sondern im Jahr 1970 befinden, wird hier nicht (nur) viel getrunken, sondern es werden Drogen aller Art konsumiert. Der stets ein wenig benebelte „Doc“ sieht sich einer Vielzahl bizarrer Männer, darunter ein sexsüchtiger Zahnarzt und ein heroinsüchtiger Saxofonspieler, und bisweilen recht undurchschaubarer Frauen gegenüber, die seine Suche nach einem verschwundenen Immobilienmakler nicht einfacher machen. Und natürlich, das muss einfach so sein, hat der Privatschnüffler so seine Probleme mit der Polizei, hier in Gestalt von Lieutenant Detective Christian F. „Bigfoot“ Bjornsen, der im Film von Josh Brolin dargestellt wird. Diesen Dschungel filmgerecht zu lichten, war, wie Paul Thomas Anderson in einem „New York Times“-Interview im Vorfeld der Dreharbeiten eingestand, keine Kleinigkeit. Dass Pynchon dabei kooperierte, kann allein schon als Sensation gelten, auch wenn Anderson anmerkte: „Statt Drehbuchautor sollte der Credit ,Sekretär des Autors‘ lauten. Aber das heißt nicht, dass es keinen Spaß macht.“ Immerhin handelt es sich bei Inherent Vice um die erste offizielle Leinwandadaption eines Pynchon-Romans, wenn man von einem deutschen Film, der lose auf „Gravity’s Rainbow“ (1973) basiert, einmal absieht. Anderson hat das alles in dem Bestreben, „zumindest so lustig zu sein wie Pynchon“, noch angereichert mit „the best fart and poop jokes I could find“, wie er selbst sagt, ganz im Geiste seiner Lieblings-Underground-Comicsserie „The Fabulous Furry Freak Brothers“, die ihren Ausgangspunkt in der Hippie-Szene im San Francisco der späten sechziger Jahre hatte. Alle Zutaten zu einem großen Film sind jedenfalls vorhanden, auch Andersons Langzeit-Kameramann Robert Elswit, mit dem er seit Boogie Nights alle seine Filme gedreht hat, ist wieder dabei. Und über allem schwebt die grandiose Musik von Neil Youngs zeitlosem Album „Harvest“. ray 47 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at VON ANDERSON ZU ANDERSON Owen Wilson über Lampenfieber, die netten Nachrichten eines anerkannten Regisseurs und über seine Liebe zu Wettbewerbsspielen. Interview ~ Brit Andres Übersetzung ~ Andreas Ungerböck O wen Wilson, geboren 1968 in Dallas, Texas, gehört zu den wohl beliebtesten Schauspielern des zeitgenössischen Hollywood. Seit seinem Debüt in Bottle Rocket (1996), das gleichzeitig die fulminante Regiekarriere seines Philosophie-Studienkollegen Wes Anderson einleitete, dem Wilson bis heute die Treue gehalten hat, entwickelte sich der blonde Schauspieler mit dem markant attraktiven Gesicht zu einem herausragenden Komödianten (Shanghai Noon, Zoolander, The Wedding Crashers, Midnight in Paris), der aber auch die eine oder andere ernstere Rolle nicht verschmäht. In Paul Thomas Andersons Inherent Vice spielt er Coy Harlingen, den durchgeknallten Saxofonisten einer Surf-Rockband. „Inherent Vice“ ist eine Story, die sehr viel mit Los Angeles zu tun hat. Wo in L.A. leben Sie? In Malibu. (Lacht.) Wie hat der Film Ihre Erfahrungen mit der Stadt geprägt? Reflektiert er Ihre eigenen Erfahrungen mit Los Angeles? Gibt es einen Ort, den Sie besonders mögen oder an den Sie sich gerne erinnern? Und haben Sie so etwas wie LieblingsL.A.-Filme? Nun, Chinatown ist großartig und schwer zu übertreffen. Und Blade Runner, der steht für mich auch ganz oben. Wenn man in Downtown L.A. ist und sich die Gebäude anschaut, dann sehen manche von ihnen aus, als stammten sie aus Blade Runner. Shampoo ist auch ein wichtiger Film. Und natürlich Inherent Vice, dieser Film ist sooo Kalifornien. Was macht Paul Thomas Anderson zu einem solch anerkannten Regisseur? Was ist das Besondere an ihm? Zu allererst sind es die Filme, die er gemacht hat, die machen ihn zu etwas Besonderem. Er hat diese Filme gemacht, die jeder großartig findet. Und es gibt nicht viele Regisseure, die eine so starke Vision haben wie er. Hatten Sie das Gefühl, dass er eine andere Art hat an Dinge heranzugehen als andere Leute, mit denen Sie schon gearbeitet haben? Ja, es war sicher eine andere Art zu arbeiten als üblich. Was mich überrascht hat, war, wie locker es da zuging. Ich wüsste gerne, ob er einfach so ist oder ob es nur dieses eine Mal war, dass er beschloss, das so hingerotzt zu machen, quasi wie bekifft, also ob er das so unorganisiert und zwanglos haben wollte, oder ob er das immer so macht. Ich würde meinen, es war nur dieses Mal so. Es war alles so locker, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei Boogie Nights oder Hard Eight so gearbeitet hat. Ich würde das wirklich gerne wissen. Wenn man die Chance bekommt, mit Anderson zu arbeiten, wie wichtig sind da noch das Drehbuch und die Figur? Wahrscheinlich spielt das dann nicht so eine große Rolle. Man ist schon ziemlich geschmeichelt, dass er daran denkt, einen da mitzunehmen und dass man einen Film machen wird, der gut wird und den die Leute mögen. Es scheint so, als hätte man, wenn man einen Film mit so jemandem macht, eine reelle Chance, dass es ein wirklich guter Film wird. Und darum, glaube ich, sind Schauspieler so scharf darauf mit ihm zu arbeiten. 48 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 49 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Er hat Sie also angesprochen, ob Sie die Rolle übernehmen wollen? Ja. Ich bekam eine nette Nachricht von ihm, dass er an der Story arbeite, und dann, glaube ich, schickte er gleich das Drehbuch. Und, ja, noch eine nette Nachricht. Wie wählen Sie Ihre Rollen aus? Sie arbeiten ja öfter mit Regisseuren, die eher intellektuell und „arty“ sind, ganz besonders mit Wes Anderson. Ja. Aber egal, mit wem arbeitet, ist es letztlich doch so, dass man, wenn man eine Szene dreht, versucht, es echt oder interessant oder lustig oder lebendig werden zu lassen. Ich glaube, was mit Schauspielern oft passiert, ist, dass sie den Regisseur als eine Art Patriarch ansehen, oder auch wenn es eine Regisseurin ist, dann kann man gar nicht anders, als zu schauen, was sie denken, wenn sie einen Take für beendet erklären. Man ist da ein bisschen wie ein Kind, das fragt: „Wie war das? Habe ich es gut gemacht?“ Fühlen Sie sich glücklich, dass Sie beim Publikum so gut ankommen, sowohl in Komödien als auch in intellktuellen Filmen? Ja, das hat sich so ergeben. Man kann ja die Reaktionen der Leute nicht kontrollieren. Ich schätze, da ist auch viel Glück dabei. Haben Sie jemals die Bücher von Thomas Pynchon gelesen? Nein, kein einziges. Wie haben Sie reagiert, als Sie das Drehbuch bekamen? Es war sehr dicht, und das sind wohl auch Pynchons Bücher. Er ist sehr bekannt und populär, aber ich glaube, dass nicht allzu viele Leute seine Bücher gelesen haben. Paul schon, und er liebt sie. Darum sitzen wir jetzt hier. Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass das eine Komödie ist, und ich habe das Drehbuch nicht so gelesen. Als ich den fertigen Film sah, war ich ich sehr bewegt, von den Bildern und von allem möglichen. Manche Szenen zwischen Joaquin Phoenix und Katherine Waterston mit dem Neil-Young-Song dazu sind unglaublich schön. Ich dachte: Das ist genau das, was ich liebe. Sowohl der Regisseur als auch der Autor und die Geschichte haben einen sehr speziellen Stil. Schränkt Sie das als Schauspieler ein oder ist es befreiend? Absolut nichts auf dem Set vermittelte einem das Gefühl, eingeschränkt zu sein. Im Gegenteil: Ich wusste, ich würde eine Million Chancen bekommen, etwas zu machen und so viele Takes wie nötig, und man konnte immer etwas anderes ausprobieren, wenn man eine entsprechende Idee hatte. Sie arbeiten jetzt schon lang als Schauspieler. Gibt es auch Momente, wo Sie Langeweile verspüren? Ich glaube, ich habe bei fast allen Filmen, an denen ich mitgearbeitet habe, großes Glück gehabt. Normalerweise habe ich dabei eine ziemlich gute Zeit und ein gutes Gefühl. Ich kann mich nur an ganz wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen ich dachte: „Das macht mir jetzt aber gar keinen Spaß“, weil ich das Gefühl hatte, das würde nicht richtig laufen. Aber selbst dann kann es passieren, dass man denkt: „Es läuft zwar nicht so richtig, aber vielleicht wird doch etwas ziemlich Gutes daraus.“ Es wäre auch zu deprimierend, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und zu denken, dass man etwas Lausiges macht. Also denkt man schon mal, es könne immer noch etwas Gutes daraus entstehen. Und es gibt nur ganz wenige Dinge, bei denen ich mir nicht einmal das einreden konnte. Dass Sie nun bald auf die Fünfzig zugehen, macht Ihnen das zu schaffen? Für manche Schauspieler ist das ja ein großes Thema. Für mich nicht. Das kümmert mich gar nicht. Das Alter ist nur eine Zahl. Was wollten Sie werden, als Sie ein Kind waren? Nun, ich dachte jedenfalls nicht daran, Filme machen zu können. Ich sah Filme und liebte Filme, aber der Wunsch, Schauspieler zu werden und in Hollywood zu arbeiten, hätte lächerlich geklungen.Die Leute hätten mich ausgelacht. Es hätte so lächerlich geklungen, dass ich mich wahrscheinlich dafür entschieden hätte, das zu tun, was mein Vater tat, in die Werbung zu gehen oder ähnliches, oder vielleicht etwas zu schreiben. Ich wuchs in Dallas auf, also erschien es fast unmöglich, an so etwas wie Schauspielerei zu denken. Sie bringen sehr viele Leute zum Lachen. Was machen Sie denn gern in Ihrer Freizeit? Danke. Ich bin gern am Meer und surfe, und ich liebe Wettbewerbe, Tischtennis oder Tennis, oder „Hey, lass uns mal sehen, wer einen Stein werfen und diesen Baum dort treffen kann.“ Vielleicht kommt das daher, dass ich mit zwei Brüdern aufgewachsen bin. Ich liebe Backgammon und Domino, eigentlich alle Arten von Spielen. Und ich freue mich schon darauf, wenn meine Söhne, der eine ist jetzt vier, der andere knapp ein Jahr alt, so weit sind, dass man mit ihnen so etwas spielen kann. Diese Fragen sind für mich immer so wie die Centerfold-Fragen im „Playboy“: „Was turnt sie an?“ Ich mag das Meer, Sonnenuntergänge und Dinner bei Kerzenschein. Sind Sie manchmal noch nervös, wenn Sie anfangen, an einem Film zu arbeiten? Ja, bin ich! Jedes Mal, wenn man anfängt, gibt es diesen ersten Tag, an dem man ein bisschen nervös ist. Man sollte meinen, dass das verschwindet, wenn man so viele Filme gemacht hat. Am dritten Tag ist es ja auch weg, aber am ersten fühle ich mich schon immer ein bisschen gehemmt. © 2014 Brit Andres / The Interview People INHERENT VICE – NATÜRLICHE MÄNGEL / INHERENT VICE Literaturverfilmung/Komödie, USA 2014 ~ Regie Paul Thomas Anderson Drehbuch Paul Thomas Anderson nach dem Roman (2009) von Thomas Pynchon Kamera Robert Elswit Schnitt Leslie Jones Musik Jonny Greenwood Production Design David Crank Kostüm Mark Bridges Mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston, Reese Witherspoon, Benicio del Toro, Joanna Newsom, Martin Short Verleih Warner Bros., 148 Minuten inherentvicemovie.com Kinostart 13. Februar 50 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at M a g i s c h e M o m e n t e Suspicion Text ~ Klaus Kreimeier Ein breiter Lichtstreifen springt ins Dunkel, auf seiner grell weißen Fläche zeichnet sich ein Schatten ab. Steil von oben zeigt die Kamera den Menschen, dem er gehört. Er geht durch eine Halle, balanciert dabei ein Glas auf einem Tablett. Englisches Landhaus, englische Schauerromantik plus deutscher Expressionismus – Fensterstreben und Balustraden werfen Gitternetze auf die Wände. Eine Treppe führt in elegantem Bogen auf den Kamerastandpunkt zu. Stufe um Stufe nähert sich der Mann mit dem Tablett, sein Schatten wandert mit. Sein Gesicht bleibt unkenntlich. Das Glas enthält, bis an den Rand, eine sehr weiße, seltsam leuchtende Flüssigkeit. Hitchcock, das wird er später Truffaut verraten, hat eine Lampe ins Glas stecken lassen. „Weil es wirklich strahlend erscheinen musste. Cary Grant geht die Treppe hinauf, und man muss wirklich nur auf das Glas schauen.“ Das funktioniert. Der Mann, den Cary Grant spielt, erreicht die oberste Stufe. Knisternder Thrill, die Düsternis des Film noir, eine Kette zwingender Verdachtsmomente und die siedende Erwartung, nein, die Gewissheit: Hier ist ein Mörder unterwegs. Alles an ihm und um ihn herum bleibt dunkel, ganz weiß aber und am Ende ganz groß im Bild: das Glas. Schnitt. In ihrem Schlafzimmer liegt Joan Fontaine im Bett, starrt auf die Tür. Marternde Frage: Naht irgendeine Rettung, kann sie dem Anschlag auf ihr Leben noch entgehen? Die Tür öffnet sich, der Raum ist hell, der Mann, den Cary Grant spielt, tritt ein. Sein Anzug ist so schwarz wie seine Gedanken; die Milch im Glas so weiß wie Joan Fontaines Negligé. Ginge es nach der Romanvorlage, „Before the Fact“ von Francis Iles, wüsste sie, dass die Milch vergiftet und ihr Ehemann ein Mörder ist. Aus Verzweiflung darüber, aber auch aus lauter Liebe zu ihm würde sie sich umbringen lassen. In Alfred Hitchcocks Suspicion (1941) nimmt die Sache einen anderen Verlauf. Cary Grant nähert sich sehr langsam und stocksteif seiner Frau, stellt das Glas behutsam auf den Nachttisch, setzt sich auf den Bettrand, gibt seiner Frau einen Kuss und sagt: „Gute Nacht, mein Schatz.“ Er steht auf und geht stocksteif aus dem Raum. Joan Fontaine blickt ihm wie versteinert nach. Schnitt: Es ist heller Morgen, die Kamera zeigt groß das unberührte Glas. Jetzt muss nur noch eine Szene her, die plausibel erklärt, dass Cary Grant in diesem Film zwar ein von seiner Wettleidenschaft geplagter, reichlich verlogener, im übrigen jedoch liebenswerter Dandy namens Johnny ist – ein netter Hochstapler, der ob seiner bedenklichen finanziellen Lage eher sich selbst vergiften würde als seine Frau. Hitchcock hat diese Lösung, wie er Truffaut gesteht, nie gemocht. Nach seinen Vorstellungen sollte Johnny wirklich seine Frau umbringen. Verhindert hat das die Produktionsfirma RKO: Das Starsystem Hollywoods, vermutlich auch der Hays Code mit seinen rigiden Zensurbestimmungen, hätten es nicht zugelassen, aus Grant einen Mörder zu machen. Damit hatte sich Hitch ein schier unlöbares Problem eingehandelt. Sein Film sieht so aus, als hätte er ihn chronologisch gedreht, dabei Zug um Zug ein immer dichteres Netz eindeutiger Indizien und Hinweise um seine Hauptfigur zusammengeschnürt, den Handlungsbogen zuletzt auf eine nervenstrapazierende Klimax getrieben – und kurz vor dem letzten Dreh, nein, vor der letzten Klappe hätte ihm RKO mitgeteilt, Cary Grant dürfe alles, nur unter gar keinen Umständen ein Mörder sein. ray 51 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at r a y - A b o Wer ray jetzt zum Vollpreis abonniert, erhält zusätzlich zum Abo die brandneue DVD von Nicolas Roegs in Wien angesiedeltem Erotik-Thriller Blackout – Anatomie einer Leidenschaft mit Harvey Keitel als Inspektor Netusil (!), Theresa Russell und Art Garfunkel. Zur Verfügung gestellt von Koch Media Home Entertainment. Wien, Ende der Siebziger: Die junge Amerikanerin Milena Flaherty wird nach einer Überdosis in die Notaufnahme gebracht, ihr Zustand scheint hoffnungslos. An ihrer Seite der Psychoanalytiker Dr. Alex Linden, zu dem sie offensichtlich eine obsessive Beziehung unterhielt. In Rückblenden erfahren wir, dass er offenbar nicht der einzige Mann in ihrem Leben war. Zwischen Glück und Verzweiflung tun sich seelische Abgründe auf, die ihren Spiegel in den Fin-de-siècle-Dekors von Wien finden. „Ein kranker Film von kranken Menschen für kranke Menschen“ – so lautete noch 1980 das Urteil der produzierenden Rank Organisation über Nicolas Roegs längst zum Kultfilm avancierten Neo-Noir-Albtraum. Tatsächlich wurde Blackout mit seiner nichtlinearen Szenenmontage erst spät zum Triumph für Roeg. Heute gilt diese „Amour fou“ zu Recht als Meilenstein des Autorenkinos. Als Bonusmaterial gibt es den Trailer, geschnittene Szenen (ca. 17 Minuten) und eine Bildergalerie mit seltenem Werbematerial. Bestellen Sie bei ray Aboservice abo@ray-magazin.at T +43 (0)1 920 20 08-14 ray-Jahresabo (zehn Ausgaben, davon zwei Doppelnummern): Österreich € 32,EU € 50,- / Schweiz SFr 77,- inklusive Versandkosten ray-Abo für Studentinnen und Studenten: € 25,- für ein ganzes Jahr ray. Einfach Studierendenausweis kopieren oder einscannen und an ray schicken. Name, Adresse, Geburtsdatum und Mail-Adresse nicht vergessen. ray Filmmagazin, Mariahilfer Straße 76/3/31, 1070 Wien ray-Zweijahres-Abo (nur Österreich): € 50,- für zwei ganze Jahre ray www.ray-magazin.at www.ray-magazin.at JETZT AUCH ONLINE BEZAHLEN! ray-Jahresabo Deutschland: € 50,bzw. € 33,- für Studentinnen und Studenten Schüren Verlag GmbH, Universitätsstraße 55, 35037 Marburg T +49 (0)6421 63084, F +49 (0)6421 681190 ahnemann@schueren-verlag.de Bitte beachten Sie: Abo-Geschenke sind aus rechtlichen Gründen NUR für österreichische Neuabonnentinnen und -abonnenten erhältlich. 52 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s Benedict Cumberbatch hat sich als eine der herausragenden schauspielerischen Begabungen seiner Generation etabliert. Sein darstellerisches Spektrum umfasst so unterschiedliche Charaktere wie den legendären Detektiv Sherlock Holmes oder den umstrittenen WikiLeaks-Aktivisten Julian Assange. In „The Imitation Game“, der Verfilmung der tragischen Lebensgeschichte des genialen Mathematikers Alan Turing, hat Cumberbatch die Hauptrolle übernommen, was ihm nun seine erste Oscar-Nominierung eingetragen hat. ray 53 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s 20,000 DAYS ON EARTH Das Gesamtkunstwerk zum dunklen Barden D üster und grausam geht es zu in der musikalischliterarischen Welt des Nick Cave: Gott kennt kein Erbarmen und die Liebe führt eher zu Tod und Verderben als dass sie Vergnügen brächte. Seit über drei Jahrzehnten ist der gebürtige Australier, Jahrgang 1957, nun schon ein fixer Bestandteil der Popkultur. Nach Anfängen mit Bands wie The Birthday Party wurde Cave spätestens als Frontmann der Formation The Bad Seeds (Debütalbum „From Here to Eternity“, 1984) zur Kultfigur. Doch auch als Romancier („And the Ass Saw the Angel“) und Drehbuchautor (The Proposition, 2005) konnte der Mann mit dem pechschwarz gefärbten Haar reüssieren. Nimmt man noch Extreme wie jahrzehntelange Heroinsucht oder ein Duett mit Kylie Minogue („Where the Wild Roses Grow“) auf die Rechnung, hat man ein Leben, das geradezu nach einem filmischen Porträt schreit. Umgesetzt hat dies nun das Künstlerduo Iain Forsyth und Jane Pollard (unter tatkräftiger Mithilfe von Cave, der selbst hat am Drehbuch mitgearbeitet hat). Das Ergebnis ist ein genreüberschreitendes Werk, das sich gängigen (vor allem dokumentarischen) Kategorien in der Sparte Musikerfilm konsequent und geglückt verweigert. Statt das Leben Caves zu banalisieren, setzen die Regisseure beim enormen Selbstinszenierungstalent des Sängers an und übersetzen dies in eine stark stilisierte Filmsprache – Kameraarbeit und Sounddesign sind exzellent. Der Beginn gleicht einem Urknall in Bildern: Auf Fernsehschirmen sieht man in rascher Folge Ausschnitte aus Nachrichtensendungen und klassischen Fernsehshows, dazu läuft ein Countdown. Ein Wecker klingelt, Cave schlägt die Augen auf und macht sich ans Tagwerk. Es ist sein 20.000. Tag auf Erden. Man sieht ihn beim Schreiben auf einer mechanischen Schreibmaschine, beim Psychiater (mit dem er unter anderem über die Bedeutung Gottes für sein Schaffen spricht), beim Proben mit The Bad Seeds oder beim Plaudern mit seinem Bandkollegen Warren Ellis (der einen Aal kocht). Dazwischen fährt er mit einem Jaguar durch Brighton. Was davon nun stimmt oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass es funktioniert. Zu den Hauptthemen des Films zählen das Vergehen der Zeit und die Erinnerung an prägende Momente und so tauchen am Nebensitz oder auf der Rückbank des Jaguars immer wieder Weggefährten auf: Schauspieler Ray Winstone (The Proposition) plaudert mit Cave darüber, dass man sich manchmal neu erfinden muss und Blixa Bargeld erzählt, warum er die Bad Seeds verließ. Eine andere Szene spielt gar in einem Archiv, das Dokumente aus Caves Leben beherbergt. Letztlich ergeht sich das Werk aber nicht in Nostalgie sondern feiert das Leben im Hier und Jetzt. OLIVER STANGL Künstlerporträt, Großbritannnien 2014 Regie Iain Forsyth, Jane Pollard Drehbuch Iain Forsyth, Jane Pollard, Nick Cave Kamera Erik Wilson Schnitt Jonathan Amos Musik Nick Cave & Warren Ellis Production Design Simon Rogers Verleih Stadtkino Wien, 96 Minuten www.20000daysonearth.com 54 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s CASANOVA VARIATIONS Being Giacomo Casanova S chon zu Lebzeiten eine Legende, bietet die Biografie des legendären italienischen Verführers und Schriftstellers Giacomo Casanova (1725–1798) bis heute Stoff für Opern, Romane und Filme. Dabei steht allerdings nicht immer der Liebhaber in der Blüte des Lebens im Mittelpunkt: In Schnitzlers Novelle „Casanovas Heimkehr“ etwa ist der alte Abenteurer vom Leben schon ordentlich desillusioniert. Und auch in Michael Sturmingers 2011 uraufgeführter Kammeroper „The Giacomo Variations“, die Passagen aus Mozart-Opern mit Textpassagen kombiniert, ist Casanova müde geworden. John Malkovich spielte die Rolle unter viel Applaus in Häusern von Wien bis New York, wobei er sich die Bühne mit klassischen Sängern teilte. Die sagenumwobene Vita Casanovas mit den Mozart/da Ponte-Opern kurzzuschließen, macht Sinn, werden dort doch mit Sinnlichkeit und Witz ebenfalls Triebes- und Liebeswirren thematisiert, zudem waren da Ponte und Casanova befreundet. Für seinen Film Casanova Variations schwebte Sturminger mehr vor als bloß die Aufzeichnung eines musikalischen Theaterabends und so spielt sich das Geschehen auf mehreren Ebenen ab: Die „historische“ thematisiert einen Besuch Elisas (Veronika Ferres) bei Casanova, der als Bibliothekar auf Schloss Duchcov arbeitet und dort seine Memoiren zu Papier bringt. Elisa interessiert sich sehr für das Manuskript, doch für Casanova stellt sich die Frage, ob es sich für einen Gentleman geziemt, eine Biografie voller Indiskretionen zu veröffentlichen. Dann gibt es die Ebene einer szenischen Aufführung des Stücks in Lissabon, bei der die Illusion des Bühnengeschehens des Öfteren in die Reihen des Publikums eindringt. Und schließlich wird – Being John Malkovich lässt grüßen – auch noch ein Blick hinter die Kulissen geworfen, wo Malkovich wechselweise von Groupies belästigt wird oder eine Filmproduzentin ihn wissen lässt, dass das Stück nicht zur Verfilmung tauge. Unter den vielen Themen, die der Film anschneidet – amüsant etwa die Seitenhiebe auf ein eventhungriges Publikum, das weniger an der Kunst des Gebotenen interessiert zu sein scheint, als vielmehr daran, einen Hollywoodstar mittels Smartphone zu fotografieren – sind es vor allem die Fragen nach Selbst- und Fremdbild, die im Gedächtnis bleiben. Dynamisch baut sich das filmische Experiment zunächst auf, trägt jedoch möglicherweise nicht über seine volle Laufzeit (so stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der „historischen“ Ebene jenseits von Ausstattungskino, da sie ebenso distanziert präsentiert wird wie die Theaterebene). Jederzeit ein Trumpf sind die gute Kameraarbeit und natürlich die unsterbliche Musik. OLIVER STANGL Filmexperiment, Österreich/Frankreich/Deutschland 2014 Regie, Drehbuch Michael Sturminger Kamera André Szankowski Schnitt Evi Romen Ausstattung, Kostüm Andreas Donhauser, Renate Martin Mit John Malkovich, Veronika Ferres, Florian Boesch, Jonas Kaufmann, Fanny Ardant, Mia Persson, Lola Naymark, Victoria Guerra Verleih Filmladen, 118 Minuten www.casanova.derfilm.at ray 55 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s CHINA REVERSE Interessanter Blick auf die Lebenssituation von chinesischen Auswanderern in Österreich I n den achtziger Jahren verließen viele Chinesen auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage ihre Heimat, um im Westen einen höheren Lebensstandard zu erreichen. In einer Provinzstadt wie Qingtian gingen von 500.000 Einwohnern im Lauf der Jahre über 200.000 in alle europäischen Länder, beinahe die Hälfte der chinesischen Restaurants in Österreich wird beispielsweise von Menschen aus dieser Region betrieben. Sehr viele Österreicher haben wohl in den letzten 30 Jahren mit den kulinarischen „Acht Schätzen“ Bekanntschaft gemacht hat, vielleicht hat sich manch einer gefragt, wie die Lebensumstände dieser Minderheit hierzulande sind. In ihrem Regiedebüt begleitet die Kamerafrau Judith Benedikt (Hana dul sed) drei dieser Menschen, die sich in Wien dauerhaft mit ihren Familien niedergelassen haben. In Interviews, aber auch in sehr stimmungsvoll dokumentierten Alltagsszenen erschließt sich eine relativ hermetische Welt. Die meisten Einwanderer hatten vor ihrem großen Schritt von Österreich bzw. Europa überhaupt keine Vorstellung, sie kamen ohne Besitztümer, ohne ein Wort Deutsch zu können, ohne irgendjemanden außer vielleicht einen entfernten Cousin zu kennen. Die drei Protagonisten – eine Supermarktbesitzerin, der Gründer der Fastfood-Kette „Mr. Lee“ und die Betreiberin des Kinos in Mistelbach – stehen exemplarisch für viele Lebenswege in der chinesischen Community. Geschickt verdichtet die Regisseurin in der ersten Hälfte des Films das Bild von aufstiegswilligen, opferbereiten Menschen, die wegen der ständigen Arbeitsüberlastung vor allem wenig Zeit haben – weder für ihre Kinder noch für Deutschkurse. Ganz beiläufig, fast mit einem Lächeln wird die doch eher traurige Tatsache berichtet, dass man kaum Erinnerungen an die ersten zehn Jahre hier außerhalb der Arbeit hat. Im zweiten Teil gewinnt der Film mit der Fokussierung auf die in China gebliebenen Freunde und Verwandten, von denen etliche durch den Wirtschaftsboom mehr Geld angehäuft haben als die Emigranten, eine neue Dimension. Man kommt den Protagonisten auf ihrer Reise in die alte Heimat menschlich viel näher, sei es wenn sie durch die Eröffnung eines Viennese Coffehouse von der Hipness westlicher Klischees bei den Neureichen profitieren wollen oder wenn sie zugeben, keine gute Mutter zu sein, weil ihre Lebensphilosophie die ständige Bewegung ist. Viele humorvolle Culture-Clash-Details, der kluge Einsatz von unterschiedlichen Musikstilen und die gute Kameraarbeit tragen dazu bei, dass man als Zuschauer einen kurzweiligen Einblick in die sehr stark an der Vermehrung des Wohlstands orientierte chinesische Kultur zu Hause und in der Ferne gewinnt. GÜNTER PSCHEIDER Dokumentarfilm, Österreich 2014 Regie, Kamera Judith Benedikt Drehbuch Judith Benedikt, Gregor Stadlober Schnitt Andrea Wagner, Niki Mossböck Verleih Filmdelights, 90 Minuten www.filmdelights.com 56 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ist das gerausch, das denkt. 100 JAHRE Seit 100 Jahren ist das Wiener Admiral Kino ein beliebtes Nahversorgerkino im 7. Bezirk und seit 2008 ein Programmkino mit besonderem Angebot. Täglich gute Filme! www.admiralkino.at Wien 7., Burggasse 119 Öffis: U6, 48A, 5er Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Fotos: Eine Nacht in London (GB/D 1928) Am 2. August 1929 besuchte Arthur Schnitzler das Admiral Kino um sich EINE NACHT IN LONDON von Lupu Pick mit Lilian Harvey in der Hauptrolle anzusehen. Tagebucheintrag 2/8/29. Schnitzler wohnte in der Burggasse 100. f i l m s t a r t s DIE FRAU IN SCHWARZ 2: ENGEL DES TODES / THE WOMAN IN BLACK 2: ANGEL OF DEATH Mäßig gespenstisches Sequel, das an Genreklischees und einer faden Handlung leidet D as Problem mit Geistern ist und bleibt ihre Beharrlichkeit. Immer, wenn man meint, man sei sie ein für alle Mal los, tauchen sie irgendwann, irgendwo wieder auf. Das ist auch bei der Frau in Schwarz nicht anders, mit der die unlängst regenerierte britische Produktionsfirma Hammer Films vor gut zwei Jahren einen Neustart wagte. Am Ende der Kinoadaption von Susan Hills Roman, damals verfilmt unter der Regie von James Watkins, gab es eigentlich keine Zweifel mehr: Der Fluch war gebrochen, alles Böse vernichtet und der Spuk damit Gottseidank vorbei. Hätte es da nicht den verdächtigen letzten Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, der ein Sequel, je nach Bedarf und Erfolgsaussichten des Erstlings, rechtfertigen würde. Nun ist sie also wieder da, die mysteriöse Gestalt einer in Schwarz gekleideten Frau, die in Tom Harpers Fortsetzung mit dem Untertitel Angel of Death nicht mehr im viktorianischen England, sondern diesmal zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in einem verwaisten und mächtig heruntergekommenen Gutshaus in der britischen Provinz ihr Unwesen treibt. Was die Sache noch unheimlicher macht: Das einst recht noble Anwesen, in dem eine Gruppe verschreckter Schulkinder unter Aufsicht ihrer zwei Lehrerinnen vor den Bomben der Großstadt in Sicherheit gebracht werden soll, befindet sich inmitten einer schwer zugänglichen, in dicken Nebel gehüllten Moorlandschaft. Eve (Phoebe Fox), die jüngere und warmherzigere der beiden aufsichtspflichtigen Damen (Helen McCrory gibt die unterkühlte Direktorin), ahnt schnell, dass noch jemand anderes den Ort für sich beansprucht hat, und nachdem das erste Kind sterben muss und die verbleibenden sich immer merkwürdiger verhalten, nimmt der Horror seinen gewohnten Lauf. Es ist immer wieder erschreckend, mit welcher Ignoranz gegenüber einem mittlerweile doch recht Horror-geeichten Publikum Filme wie diese auf die Leinwand geworfen werden, die ihren Mangel an Originalität ungeniert mit müden Genreklischees, billigen Special Effects und klassischen Schreckelementen zu kompensieren versuchen. Geschrieben wurde das hanebüchene Drehbuch nunmehr lediglich „unter Anweisungen“ von Susan Hill. Und mit dem Starpotenzial eines Daniel Radcliffe, der dem Vorgänger zumindest ein gewisses Flair von Eigentümlichkeit zu verleihen wusste, kann hier der auch noch so adrette Jeremy Irvine als zur Rettung eilender Jüngling bei weitem nicht mithalten. Bleibt zu hoffen, dass die unvermeidliche Vorahnung am Schluss diesmal nicht wirklich ernst gemeint ist und Hammer die bösen Geister nun vorerst ruhen lässt. PAMELA JAHN Horror, Großbritannien/Kanada 2014 Regie Tom Harper Drehbuch Jon Croker Kamera George Steel Schnitt Mark Eckersley Musik Marco Beltrami, Brandon Roberts Production Design Jacqueline Abrahams Kostüm Annie Symons Mit Helen McCrory, Jeremy Irvine, Leanne Best, Ned Dennehy, Adrian Rawlins, Oaklee Pendergast, Leilah de Meza Verleih Constantin Film, 98 Minuten www.frauinschwarz2-film.de 58 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s GRUBER GEHT Weitgehend gelungene Bestseller-Verfilmung über einen oberflächlichen Zyniker auf dem Weg der Besserung W enn Gewalt oft eine Folge der Angst vor dem Versagen (der Männlichkeit) ist, so resultiert die Angst vor Nähe oft in einem nihilistischen Zynismus, der die Leere einer Existenz ohne Bindungen notdürftig überdeckt. Johannes, genannt John, Gruber ist der typische Fall eines solchen mit viel destruktivem Humor gesegneten Zeitgenossen, der erfolgreich zwischen Werbeagentur, Fitnessstudio, Drogenkonsum und One-Night-Stands ein hedonistisches Traumleben führt. Familientermine auf dem Land sind bestenfalls lästige Pflichtübungen, Schwester und Mutter behandelt er wie nervende Angestellte, die Dialoge mit seinen „Freunden“, die alle auf dem gleichen Trip sind, wirken wie Boxkämpfe, bei denen jeder unbedingt gewinnen will. Grubers rücksichtslose Siegermentalität erhält einen starken Dämpfer, als er mit der Diagnose Krebs konfrontiert wird und sich – in einem ebenso klugen wie unwahrscheinlichen Kunstgriff – gleichzeitig von einer Berliner DJane angezogen fühlt. Die Geschichte der Läuterung eines oberflächlichen Grantscherms ist Hollywood-Standardrepertoire. Mit Jack Nicholson kann Hauptdarsteller Manuel Rubey nicht ganz mithalten, obwohl er in seiner vielleicht ersten richtigen Charakterrolle eine durchaus reife Leistung zeigt. Bernadette Heerwagen ist mit ihrem rauen Charme perfekt als Gegenpol zu Grubers üblichen Model-Freundinnen gecastet, ihre gegenseitige Anziehung ist zumindest plausibel, wenn auch die für den weiteren Handlungsverlauf extrem wichtigen Kennenlernszenen nicht hundertprozentig funktionieren. Marie Kreutzer (Die Vaterlosen) setzt ganz auf inszenatorischen Realismus und vermeidet die meisten Klischees und Sentimentalitäten, die beim Thema Sterblichkeit in der Lebensmitte schnell zur Hand sind. Durch die trotz des Themas erstaunlich geringe Fallhöhe identifiziert man sich aber auch nicht übermäßig mit dem (Anti-) Helden, er ist für den Zuschauer mehr ein entfernter Bekannter als ein Freund, um dessen Leben man wirklich zittert. Der Score ist keinesfalls schlecht, schafft es aber auch nicht, das Geschehen auf eine neue emotionale Ebene zu heben. Gar nicht geht, wenn die Lyrics das Geschehen auf der Leinwand beschreiben – so erklingt „Tumble Down“ von Naked Lunch, als Gruber in seiner Wohnung zusammenbricht. Doris Knecht ist eine hervorragende Beobachterin und Beschreiberin menschlicher Schwächen. Marie Kreutzer hat aus dem Roman einen weitgehend gelungenen Film über die absolute Notwendigkeit gemacht, sich mit der Welt, den Menschen und sich selber verbunden zu fühlen. GÜNTER PSCHEIDER Drama, Österreich 2015 Regie Marie Kreutzer Drehbuch Marie Kreutzer nach dem Roman von Doris Knecht Kamera Leena Koppe Schnitt Ulrike Kofler Musik Florian Blauensteiner, Florian Horwath Ausstatung Martin Reiter Kostüm Monika Buttinger Mit Manuel Rubey, Bernadette Heerwagen, Doris Schretzmayer, Harald Windisch, Patricia Hirschbichler, Thomas Stipsits Verleih Thimfilm, 104 Minuten www.grubergeht.at ray 59 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s THE IMITATION GAME Codes geknackt, die Etikette gebrochen A re you paying attention?“ will Alan Turing wissen. Seine eindringliche Stimme führt uns ein in seine Geschichte, die lange Zeit ein britisches Staatsgeheimnis war und davon erzählt, wie er den Zweiten Weltkrieg um geschätzte zwei Jahre verkürzte, um später von einer Nachkriegsgesellschaft vor die Wahl zwischen Gefängnis oder chemische Kastration gestellt zu werden. Verkörpert wird der britische Mathematiker von Benedict Cumberbatch, dem to-go-to-Schauspieler wenn es um arrogante Genies geht, die – irgendwo auf dem autistischen Spektrum – jedwede soziale Kompetenzen vermissen lassen. Wir begegnen Turing in drei Phasen seines Lebens: bei einem Verhör wegen „grober Unzucht“ im Jahr 1951; während des Kriegs in Bletchley Park und in einem Internat in den 1930ern. Mit nur 27 Jahren bietet er Commander Denniston (Charles Dance) seine Dienste an, um mit einem Team von Experten und der Kryptoanalytikerin Joan Clarke (eine willkommene Angelegenheit: Keira Knightly), die Chiffriermaschine der Nazis, die Enigma, zu entschlüsseln und zwar mit einem Rechner, der einem Computer schon sehr nahe kommt. Turing war aber auch homosexuell in einer Zeit, in der das strafbar war. Standesgemäß findet das im Off statt, was frustrierend ist, weil es ohnehin schon ein repressiver Teil seiner Identität ist und er sehr wohl Affären hatte. Der norwegische Regisseur Morten Tyldum (Headhunters) arrangiert seinen Spionagethriller dramatisch, aber sehr gesittet auf die „feine englische Art“. Cumberbatch dabei zuzusehen, wie er den Wissenschaftler mit all seinen Ticks, dem Stottern und den Zuckungen mimt, ist enorm imposant, aber man vergisst an fast keiner Stelle, dass man einem Schauspieler zusieht, dessen Rollen als Rätselknacker allmählich ineinander verschwimmen. Was ihn dennoch so gewaltig als Sherlock Holmes, Julian Assange und Alan Turing macht, ist seine Fähigkeit, abweisende Gefühllosigkeit mit tiefer Verletzbarkeit zu verkörpern. Er steht nicht nur vor einem Rätsel, er selbst stellt eines dar. Der Titel des Films bezieht sich sowohl auf Turings Ambitionen, festzustellen, ob Maschinen ähnlich wie Menschen denken können, als auch seine Anstrengungen sich der Norm einer phantasielosen Gesellschaft anzupassen. In Turings Worten: „Just because something things differently from you, does that mean its not thinking?“ Die Zweideutigkeit ist nicht an uns verloren und die faszinierende, wenn auch zu ordentlich erzählte Geschichte ist es auch nicht. MARIETTA STEINHART Biografie/Drama/Thriller, USA/Großbritannien 2014 Regie Morten Tyldum Drehbuch Graham Moore nach der Biografie „Alan Turing: The Enigma“ von Andrew Hodges Kamera Óscar Faura Schnitt William Goldenberg Musik Alexandre Desplat Production Design Maria Djurkovic Kostüm Sammy Sheldon Mit Benedict Cumberbatch, Keira Knightley, Matthew Goode, Allen Leech, Matthew Beard, Charles Dance, Mark Strong, Alex Lawther Verleih Constantin Film, 114 Minuten www.theimitationgamemovie.com 60 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s THE INTERVIEW Wer hat Angst vor Kim Jong-un? D as Volk befreit sich, indem es das Bedrohliche auslacht. Seth Rogen und Evan Goldberg mögen vielleicht nicht Michail Bachtin gelesen haben, aber der russische Theoretiker beschrieb genau das, was The Interview gerne sein will: ein grotesker Befreiungsschlag. In der ersten Szene singt ein nordkoreanisches Mädchen mit lieblicher Stimme: „Die, America, die!“ und so weiter. Man könnte es für ein nettes Lied halten, wenn da nicht die Untertitel wären, die uns über die Hasstirade aufklären. Unterdessen führt Dave Skylark (James Franco) ein Interview mit Eminem (großartiges Cameo), der gesteht, er hätte eine „schwule Brotkrümelspur“ in seinen Texten hinterlassen. Für Daves Produzenten und besten Freund Aaron (Seth Rogen) ist das der Tiefpunkt einer gehaltlosen Karriere. Die beiden reisen also nach Nordkorea für ein seriöses Interview mit Kim Jong-un, doch die CIA wünscht, dass sie den „Obersten Führer“ vergiften, nichts ahnend, dass Dave mit Kim Margaritas nippen und „Firework“ von Katy Perry in einem Stalin-Panzer grölen wird. Rogen ist der Samweis zu Francos Frodo, der übersteuert und ganz überragend die westliche Trashkultur reflektiert, doch die Show stiehlt Randall Park als Kim Jong-un, ein „Man-Baby“ mit Minderwertigkeitskomplexen, das sich vor versammelter Welt in die Hosen scheißt. Sicher, die Witz sind infantil, anal-fixiert und rassistisch (und repetitiv im Œuvre Rogens), aber mitunter smart. Viele Gags kommen von unterhalb der Lenden, aber der Scherz geht auf Kosten des dummen Amerikaners, der Koreanisch nicht von Japanisch unterscheiden kann oder sich eine Drohne in den Hintern schiebt. Vorgemacht haben das Filme von Charlie Chaplin, Woody Allen oder Quentin Tarantino, die sich einreihen in die Tradition amerikanischer Satiren über faschistische Staatsmänner. Team America: World Police karikierte Kim Jongil, und Saddam Hussein wird in Hot Shots: Part Deux in Stücke zerschmettert. Es grenzt an Absurdität, dass dieselben Kerle, die uns Superbad, Pineapple Express und This Is The End gaben, imstande sind, einen globalen Cyberkrieg von der Stange zu brechen und ungewollt zum Symbol für Freiheit zu avancieren. Das Debakel hat sich in Cyberstaub aufgelöst, aber wenn eine Bro-Comedy wie The Interview – vielmehr feuchter amerikanischer Traum als politisches Skandalon – eine so starke Reaktion hervorrufen kann und ein Hackerangriff Hollywood in die Knie zu zwingen vermag, dann liegt darin etwas Erhabenes. Oder aber es lacht die eine Hälfte der Welt über die andere, und Narren sind wir alle. MARIETTA STEINHART Komödie, USA 2014 Regie Seth Rogen, Evan Goldberg Drehbuch Dan Sterling Kamera Brandon Trost Schnitt Zene Baker, Evan Henke Musik Henry Jackman Production Design Jon Billington Kostüm Carla Hetland Mit Seth Rogen, James Franco, Randall Park, Diana Bang, Lizzy Caplan, Timothy Simons, Reese Alexander Verleih Sony Pictures, 112 Minuten www.theinterview.de ray 61 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s INTO THE WOODS „Once upon a time ... later“: subversives Märchen-Mash-Up E s war einmal...“ endet nicht immer mit „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“. Um den Fluch einer Hexe (Meryl Streep) aufzuheben, begibt sich ein kinderloses Ehepaar (James Corden und Emily Blunt) auf einen tragikomischen Kollisionskurs in den Wald, um vier Elemente zu finden: „eine Kuh, weiß wie Milch, Haar so gelb wie Mais, einen Umhang so rot wie Blut und einen Schuh so rein wie Gold“. In dem Wald treffen sie auf ein Konglomerat Grimm’scher und Perrault’scher Stars: einen pädophilen Wolf (Johnny Depp) und sein kleptomanisches Rotkäppchen (Lilla Crawford); ein manipulatives Aschenputtel (Anna Kendrick), das auf der Flucht vor ihrem Freier (Chris Pine) bewusst einen Schuh zurücklässt; Jack (Daniel Huttlestone), der seine Kuh für magische Bohnen verkauft; und Rapunzel (MacKenzie Mauzy), die gelangweilt in ihrem Turm hockt. Der erste Akt des hierzulande eher unbekannten StephenSondheim-Musicals „Into the Woods“ aus dem Jahr 1987 folgt dem „happily ever after“-Prinzip, aber die zweite, dunklere Hälfte fragt, was danach kommt. Die Konventionen klassischer Märchen zu verfremden, ist in einer Post-Shrek-Ära wahrlich nichts Neues, vor über zwanzig Jahren war das indessen einmalig und aus heutiger Sicht merkwürdig politisch. Stephen Sondheims (Musik und Texte) und James Lepines (Buch und Drehbuch) Freud’scher Kommentar zu psychosozialen Krisen von Märchenhelden und Disneys Heile-Welt-Philosophie bilden ein reizvolles Zwiegespräch. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass dasselbe Hollywoodstudio, das uns von klein auf unrealistische Erwartungen vom Leben vermittelte, nun unter der Regie von Rob Marshall unsere liebsten Gute-Nacht-Geschichten zertrümmert. Und es ist angenehm erfrischend. Der Märchenwald wird zur Metapher für das Unbewusste und zum Schauplatz von Enttäuschungen, sexuellen Abenteuern und Mord. Sondheims anspruchsvolle Kompositionen und Stakkato-Texte sind herrlich verdichtet mit mehrdeutigen Bonmots und rastlosen Reimen, doch das All-Star-Ensemble ist dem gewachsen. Meryl Streep ist das Aushängeschild (ihre klobige Gesangsperformance in Mamma Mia! ist vergeben – nicht vergessen), aber es ist Emily Blunt, die Into The Woods ein übergroßes, verästeltes Herz schenkt, und es ist Chris Pines liebestoller Prinz, der dem Film seine charmanten Comic-Highlights beschert. „Kinder brauchen Märchen“, dafür plädierte der Psychologe Bruno Bettelheim. Erwachsene auch. Besonders solche mit widerspenstigen Aschenputtels, tapferen Hausfrauen und hysterischen Hexen. MARIETTA STEINHART Fantasy/Musical, USA 2014 Regie Rob Marshall Drehbuch James Lapine nach dem Musical von Stephen Sondheim und James Lapine Kamera Dion Beebe Schnitt Wyatt Smith Musik Stephen Sondheim Production Design Dennis Gassner Kostüm Colleen Atwood Mit Meryl Streep, Anna Kendrick, James Corden, Emily Blunt, Chris Pine, Billy Magnussen, Johnny Depp, Lilla Crawford Verleih Walt Disney Studios, 125 Minuten www.into-the-woods.de 62 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Wer „ray“ abonniert, weiß alles über Film und Kino. Und kann jetzt die „Presse“ und die „Presse am Sonntag“ 3 Monate lang zum Sneak-Preview-Preis testen. Bestellung per E-Mail an abo@ray-magazin.at 3 MONATE * UM 44 EURO * statt um 141 € DiePresse.com/abo Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s JOHN WICK Kompetent inszenierter Rachefeldzug J ohn Wick (Keanu Reeves) hat vor kurzem seine Frau verloren, aber er bekommt einen Funken Hoffnung in Form eines zauberhaften Beagle-Welpen – was seine Frau noch vor ihrem Tod arrangiert hat. Dummerweise stört der hitzköpfige Gangster Iosef (Alfie Allen) Johns Trauer, bricht in sein Haus ein, stiehlt seinen schwarzen 69er Mustang und tötet den Hund. Der einzige Fehler, den er macht, ist Wick am Leben zu lassen, denn was der russische Mobster nicht weiß: John ist ein pensionierter Auftragskiller und erfinderisch, wenn es darum geht einen soliden Rachefeldzug gegen die Unterwelt zu führen, die er einst der Liebe wegen verließ. John Wick ist nicht der Bogeyman – „He’s who you send to kill the fucking bogeyman.“ Anders formuliert: Er ist imstande, Charaktere wie den von Liam Neeson in Taken und von Denzel Washington in The Equalizer gespielten aus dem Verkehr zu ziehen. John Wick hat einen ziemlich guten Sinn für Humor und macht sich einen Jux aus der Mythologisierung seiner Figur. Die erstmaligen Regisseure Chad Stahelski und David Leitch (StuntKoordinatoren und Reeves’ einstige Doubles) sind gewandte Choreografen, die ihren Beruf schätzen und ihr Handwerk verstehen. Anstelle eines rasanten Schnitts und wackeliger Bilder nehmen sie sich Zeit für aufwändig choreografierte, kohärente Kampfszenen mit Kulissen in schrillem Neon oder poliertem Stahl, eine Clubszene ruft Michael Manns Collateral ins Gedächtnis. Die Kamera von Jonathan Sela filmt atmosphärische Szenen in blaugrauen, metallenen Couleurs, die dunkle Schatten werfen. John Wick geht sehr selbstbewusst mit seiner Simplizität um, und Drehbuchautor Derek Kolstad hat eine imposante hermetische Welt geschaffen. Darunter ein New Yorker High-End-Hotel (mit Ian McShane als Inhaber und Lance Reddick als Manager) – eine für neutral erklärte Zone für Mafiosi – und einen Verhaltenskodex unter den charismatischen Hitman-Kollegen (u.a. Willem Dafoe und Adrianne Palicki), die „Dinner-Reservierungen“ in einer „Reinigungsfirma“ machen, um Leichen zu entsorgen. Keanu Reeves wird nicht mehr als sein übliches Portfolio abverlangt, ein stoischer Gesichtsausdruck und eine filigrane Figur, aber der Fünfzigjährige ist glaubhaft in den wenigen emotionalen Beats, die er spielt und fast auffallend schön anzusehen, wenn er jemandem über einer Elektro-Tonspur das Gehirn wegschießt oder die Wirbelsäule bricht. „People keep asking if I am back“, brüllt er in einer Szene. „Yeah, I think I’m back“. Es sieht ganz danach aus. MARIETTA STEINHART Action/Thriller, USA/Kanada/China 2014 Regie David Leitch, Chad Stahelski Drehbuch Derek Kolstad Kamera Jonathan Sela Schnitt Elísabet Ronaldsdóttir Musik Taylor Bates, Joel J. Richard Production Design Dan Leigh Kostüm Luca Mosca Mit Keanu Reeves, Michael Nyqvist, Alfie Allen, Willem Dafoe, Adrianne Palicki, Ian McShane, John Leguizamo, Lance Reddick, Bridget Moynahan, Keith Jardine, Dean Winters Verleih Constantin Film, 96 Minuten www.johnwick.de 64 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s THE LOFT Beziehungsdrama über trügerische Freundschaften und einen mysteriösen Todesfall D er Kinohit Loft (2008) brach Kassenrekorde in Belgien, und Regisseur Eric Van Looy erhielt Gelegenheit, selbst das US-Remake des spannenden Psycho-Krimis zu inszenieren. Wesley Strick sorgte für eine kongeniale englische Version des flämischen Originaldrehbuchs von Bart De Pauw, eine komplex strukturierte, sehr überraschungsreiche „Whodunnit“-Geschichte mit falschen Fährten und vielen Rückblenden, die das Geschehen in immer wieder neuem Licht erscheinen lassen und zu einer immer tiefer gehenden Charakterisierung der Hauptfiguren führen. Um durch Hotelrechnungen oder Zahlungen per Kreditkarte keinen Verdacht bei ihren Ehefrauen zu erregen, erwerben fünf gutsituierte Freunde mit typischer Yuppie-Mentalität gemeinsam ein großräumiges Hochhaus-Apartment für Schäferstündchen mit Liebhaberinnen oder Prostituierten. Als dort eine mit Handschellen ans blutbesudelte Bett gefesselte tote Frau gefunden wird, stellt sich die Frage, wer von den fünf der Mörder ist, denn nur sie allein hatten je einen Schlüssel zur Wohnung. Oder doch nicht? Vor dem Eintreffen der Polizei kommt es am Tatort zum heftigen Streit zwischen den Verdächtigen: Sie beschuldigen einander gegenseitig, sie streiten ab, jeder könnte ein Motiv für den Mord gehabt haben. Es stellt sich mehr und mehr heraus, das es um wahre Freundschaft und Vertrauenswürdigkeit nicht gut bestellt ist bei den von ihrer Persönlichkeit her ganz unterschiedlichen Männern, am Ende entpuppt sich die Gruppe als ein „Quintet infernal“. Während der Rückblenden werden auch die Ehegattinnen und Sexpartnerinnen vorgestellt, die Darstellung des sozialen Umfelds wirft ein denkbar schlechtes Licht auf die USamerikanische Bourgeoisie: Dekadenz, Egoismus, Habgier, Sexbesessenheit, Alkohol- und Drogensucht. Moralische Haltlosigkeit und sittliche Verkommenheit allerorten. Korrupte Politiker und Karrieristen kungeln mit kapitalistischen Magnaten um profitable Aufträge. Im letzten Filmdrittel werden das Schnitttempo und die Dramatik zügig gesteigert, ständig gibt es neue, oft widersprüchliche Hinweise auf den Tathergang. Das raffinierte Szenario verlangt vom Zuschauer Konzentration und Aufmerksamkeit, bleibt aber dennoch einigermaßen plausibel. Dann die kaum vorhersehbare, gruppeninterne Lösung des Falles ... und danach noch eine weitere, unerwartete Wendung am Schluss. Mehr soll hier nicht verraten werden. RALPH UMARD Krimi/Thriller, USA 2014 Regie Eric Van Looy Drehbuch Bart De Pauw, Wesley Strick Kamera Nicolas Karakatsanis Schnitt Eddie Hamilton Musik John Frizzell Production Design Maia Javan Kostüm Liz Staub Mit James Marsden, Wentworth Miller, Karl Urban, Rhona Mitra, Eric Stonestreet, Matthias Schoenaerts, Isabel Lucas, Rachael Taylor Verleih Constantin Film, 104 Minuten www.the-loft-film.de ray 65 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s PRIVATE REVOLUTIONS – JUNG, WEIBLICH, ÄGYPTISCH Spannender, dichter Dokumentarfilm über vier ägyptische Frauen A n diesem Film von Alexandra Schneider ist vieles klug gedacht und beeindruckend umgesetzt: Das beginnt beim Titel, der gar nicht erst suggeriert, der Film befasse sich in erster Linie mit der sogenannten „ägyptischen Revolution“. Das tut er zwar auch, aber es geht in erster Linie um vier Frauen, deren Leben davon zwar betroffen ist – aber nicht in gleichem Maße. Tatsächlich ist die aktuelle Lebenssituation der vier Protagonistinnen sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen „nur“, dass sie allesamt gebildet sind und sich sehr gut artikulieren können – ein wohltuender Kontrast zum Klischee, Frauen in islamischen Ländern seien per se zu keinen eigenen Gedanken fähig. Im Gegenteil: Sharbat Abdullah wird sich im Laufe des Films von ihrem etwas unbedarften Mann scheiden lassen – keine einfache Sache, zumal Scheidungen zwar gang und gäbe, aber immer noch nicht gesellschaftlich sanktioniert sind, wenn sie von Frauen betrieben werden. Dass Sharbats Ehemann nicht aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen will, ist eine tragikomische Begleiterscheinung. Stichwort Scheidung: Amani Eltunsi, die auch einen kleinen Radiosender für Frauen und frauenorientierte Themen betreibt, hat ein Buch zu dem Thema geschrieben; die Buchpräsentation ist ein Höhepunkt des Films – ebenso wie eine kurze Diskussion, die sie mit zwei jungen Frauen zum Thema weibliche Beschneidung führt. Die Beschränkung auf vier Schicksale erlaubt der Filmemacherin, die selten im Bild, aber ständig aufmerksam ist, wie gelegentliche pointierte Zwischenfragen beweisen, eine wirklich substanzielle Beschäftigung mit dem Leben von Sharbat Abdullah, Fatema Abouzeid, Amani Eltunsi und May Gah Allah, von denen Letztere vielleicht am meisten beeindruckt: eine junge, moderne Frau, die sich in einem besonders konservativen Umfeld bewegt und sich für die Selbstermächtigung der stark bedrängten nubischen Minderheit, der sie selbst angehört, einsetzt. In exzellentem Englisch berichtet sie von Behördenschikanen und von der Mühsal, in der Community selbst, die im Zuge der fortschreitenden Arabisierung droht, ihre Sprache und ihre Wurzeln zu verlieren, zu bestehen. Ebenso eloquent ist Fatema Abouzeid, die ihr PolitologieStudium mit Auszeichnung absolviert und sich vor der Präsidentenwahl 2012 im Kampagnenbüro von Mohammed Mursi und der Moslembrüderschaft, der auch ihr Vater prominent angehört, engagiert. Dass sie eines Tages ankündigt, ihre Arbeitgeber würden gerne noch einmal den Vertrag mit der Filmemacherin lesen und dass sie letztlich aus dem Film „verschwindet“, sagt mehr als tausend Worte. Der Wirkung dieses hervorragenden, fast ausschließlich von und mit Frauen hergestellten Films tut dies keinen Abbruch. ANDREAS UNGERBÖCK Dokumentarfilm, Österreich 2014 Regie Alexandra Schneider Kamera Sandra Merseburger, Alexandra Schneider Schnitt Alexandra Löwy Ton Alexandra Schneider, Daniela Praher Musik Julian Hruza, Fayrouz Karawaya Verleih Daniela Praher Filmproduktion, 98 Minuten www.privaterevolutions-film.com 66 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at March 11-15 International Animation Filmfestival METRO Kinokulturhaus Vienna 13. Februar bis 9. März 2015 Asphalt Stadtmenschen im Weimarer Kino 2015 26.02.- 05.03.2015 // FILMHAUS KINO Eröffnung.Filmcasino // Infos. www.frauenfilmtage.at Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Augustinerstraße 1 1010 Wien T +43/1/533 70 54 www.filmmuseum.at f i l m s t a r t s RED ARMY Spektakulärer Dokumentarfilm zu einer spektakulären Sportart K ein Wunder, dass dieser Film nach seiner Premiere in Cannes 2014 zum Festivalrenner wurde und nun auch regulär ins Kino kommt: Gabe Polsky, Produzent von Werner Herzogs Bad Lieutenant, selbst russischer Abstammung und eher erfolgloser ehemaliger Eishockeyspieler, hat sich ein Stück Sportgeschichte vorgenommen, dass alle, die es erlebt haben, mit großer Freude und zugleich Wehmut erfüllt. Im Fokus von Red Army steht die mutmaßlich beste Eishockey-Mannschaft aller Zeiten, die Einser-Linie von ZSKA Moskau (dem Armee-Klub) und der sowjetischen Nationalmannschaft von Mitte der siebziger bis weit in die achtziger Jahre hinein. Fetisov – Kasatonov; Krutov – Larionov – Makarov, das waren mehr als Eishockeyspieler, eher schon Eis-Zauberer. Mit ausgeklügelten Kombinationen in atemberaubender Geschwindigkeit spielten sie ihre Gegner schwindlig und gewannen alles, was es zu gewinnen gab – alles außer die Olympische Goldmedaille in Lake Placid 1980, die ihnen eine vergleichsweise unerfahrene, junge US-Truppe in einem als „Miracle on Ice“ legendär gewordenen Finale wegschnappte – aber das ist eine andere Geschichte. Natürlich war dieses Finale mitten im Kalten Krieg auch politisch hoch explosiv und ein Prestigeduell für beide Seiten. Um Politik geht es denn auch sehr viel in Gabe Polskys Film, nicht nur weil mit dem Ende der Sowjetunion auch die sowjetische Sport-Übermacht zerbröselte, weil der legendäre, kürzlich verstorbene Trainer Viktor Tichonov, der die jungen Spieler mit eiserner Disziplin und unerbittlicher Strenge zum Erfolg trieb, vom KGB eingesetzt war, und weil – generell – der Sport eine wichtige propagandistische Funktion hatte. Die Überlegenheit im Sport sollte die Überlegenheit des politischen Systems demonstrieren. Nicht verwunderlich also, dass der Film mit Kaltem Krieg (und einer Ronald Reagan-Rede) beginnt, dass auch andere Politiker zu Wort kommen, und dass der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ebenso thematisiert wird wie der Fall des Eisernen Vorhangs. Protagonist des Films ist der wohl beste Verteidiger aller Zeiten, Vyacheslav Fetisov, heute ein charismatischer, mehr als selbstbewusster Geschäftsmann. Wenn er erzählt, dann wird die Legende Wahrheit, wie es bei John Ford so schön heißt, bzw. dann bekommt die Legende auch einige Kratzer ab – vor allem, was seinen eigenen Kampf mit Tichonov und dem Sportministerium betrifft, als er schon längst Angebote aus der NHL hatte. Gabe Polsky kann nicht nur in punkto Interviews aus dem Vollen schöpfen. Er hat phänomenales Material zusammengetragen, und er nützt diesen Vorteil weidlich aus – eine Doku, die hält, was sie verspricht. ANDREAS UNGERBÖCK Dokumentarfilm, USA 2014 Regie, Drehbuch Gabe Polsky Kamera Peter Zeitlinger, Svetlana Cvetko Schnitt Eli Despres, Kurt Engfehr Ton E.J. Holowicki Musik Christopher Beck, Leo Birenberg Verleih Filmladen, 85 Minuten www.redarmy.weltkino.de 68 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s WHIPLASH Ausgezeichneter Musikfilm, hervorragendes Psychodrama Ü ben. Üben, üben. Üben, üben, üben. Bis die Hände bluten. Für einen Musiker, der seine Sache ernst meint, ist das nicht unbedingt ungewöhnlich. Schon wer nur gut sein will, muss Opfer bringen. Wer jedoch zu den wirklich Großen strebt, der muss sein Leben danach ausrichten. Selbstdisziplinarische Propaganda? Lust- und lebensfeindliche Indoktrination? Jeder, der sich schon einmal an der Beherrschung eines Instrumentes versucht hat, weiß, dass: leider nein. Da kann Buddy Rich noch so sehr der Meinung sein, dass nicht das Üben, sondern das Spielen in einer Band letztlich ausschlaggebend für Könnerschaft sei. Buddy Rich (1917–1987), einer der technisch versiertesten und bedeutendsten Jazz-Schlagzeuger der Welt, ist Andrews großes Vorbild. Und Fletcher, Andrews Bandleader an der Shaffer Music School, träumt davon, den nächsten Charlie Parker zu entdecken. Bescheidenheit ist eine Zier … Dementsprechend rücksichtslos knallen Andrews und Fletchers Mega-Egos aufeinander. In Whiplash verarbeitet Damien Chazelle (dessen Debütfilm Guy and Madeline on a Park Bench 2009 im Rahmen der Viennale zu sehen war) eigene Erfahrungen als Drummer einer High-School-Band. Weder das Vergnügen an ihr noch die Möglichkeit, sich durch sie auszudrücken, hätten damals sein Verhältnis zur Musik bestimmt, so Chazelle in den Produktionsnotizen zu Whiplash. Das bestimmende Gefühl, das er mit dem Musikmachen assoziiert habe, sei das der Angst gewesen. Angst vor Ungenügen, Angst vor Versagen, vor allem aber Angst vor seinem Lehrer. Am Beispiel von Andrew und Fletcher nimmt Chazelle nun also ein Schüler-Lehrer-Verhältnis unter die Lupe und fächert es von der Demütigung über den Psychoterror bis zur physischen Gewalt, vom Einschleimen über das Aufbegehren bis hin zum Verrat in allen nur denkbaren, negativen Facetten auf. Dabei wird der Widerspruch zwischen der Freiheit der Musik und der Knechtschaft, die ihre Entstehung ist, offenkundig. Und doch ist Whiplash kein quälendes, sondern ein mitreißendes Musikfilm-Psychodrama. Dank Miles Teller, dessen langjährige Erfahrung als Schlagzeuger diverser Bands Andrews kompromißlosen Einsatz glaubwürdig wirken lässt. Und dank J.K. Simmons, dem die begeisterte Gnadenlosigkeit seines Fletcher soeben eine Oscar-Nominierung als Bester Nebendarsteller einbrachte. Am Ende jedenfalls versteht man, warum der Schlagzeuger der Muppets – mit dem Buddy Rich sich einst ein legendäres Duell lieferte – den Namen „Tier“ trägt. ALEXANDRA SEITZ Musikfilm/Psychodrama, USA 2014 Regie, Drehbuch Damien Chazelle Kamera Sharone Meir Schnitt Tom Cross Musik Justin Hurwitz Production Design Melanie Jones Kostüm Lisa Norcia Mit Miles Teller, J.K. Simmons, Melissa Benoist, Paul Reiser, Austin Stowell, Chris Mulkey, Nate Lang, Damon Gupton Verleih Sony Pictures, 107 Minuten www.whiplash-film.de ray 69 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at f i l m s t a r t s WINTERSCHLAF / KIŞ UYKUSU Klassenunterschiede in der Türkei D er türkische Starregisseur Nuri Bilge Ceylan gewinnt, so oft er einen seiner Filme beim Wettbewerb in Cannes einreicht, einen der Hauptpreise und in diesem Jahr mit Winterschlaf endlich die Goldene Palme. Man wundert sich nicht, denn der Film ist lang, langsam und dialoglastig und vereint ansehnliche Darsteller vor dem Hintergrund der attraktiv-bizarren kappadokischen Höhlenlandschaft im Winter. Das kleine Hotel, das der ehemalige Schauspieler Aydın dort betreibt, ist ziemlich leer, und als auch noch die drei letzten Gäste abreisen, bleiben er und seine junge Frau Nihal, seine Schwester Necla und sein Personal, der Verwalter und die Köchin, dort oben übrig. Man erwartet, dass die fünf zusammenrücken, aber das geschieht nicht; im Gegenteil scheint jede Person vor sich hin zu agieren, ungeachtet dessen, was die anderen tun. Vertrautheit, ja Intimität, scheint nur zwischen Aydın und seiner Schwester Necla möglich. Während er abends Kolumnen für die Lokalzeitung schreibt, sitzt sie mit einem Buch auf dem Sofa und liest, dabei träge mit ihm plaudernd. Bis man die Ehefrau Nihal zum ersten Mal überhaupt sieht, dauert es sehr lange; die Eheleute wohnen auf verschiedenen Ebenen des weitläufigen Geländes. Der Verwalter erledigt alle anfallenden Arbeiten, auch die Eintreibung der Mieten im Dorf, denn Aydın gehören dort einige Häuser. Eins bewohnt der Hodscha, der jedoch mit der Miete im Rückstand ist. Unerfreuliche Begegnungen zwischen den beiden Parteien haben bereits stattgefunden, aber Aydın drückt sich gern vor der Begegnung mit seinen Mietern. Es ist ihm peinlich, dass er wohlhabend und intellektuell ist, andererseits nerven sie ihn mit ihren Anliegen, ihrer Beflissenheit und ihren Ritualen. So unerfreulich ist die Gemengelage im kappadokischen Hotel, und sie wird im Verlauf des Films nicht besser; es stellt sich nämlich heraus – wie häufig bei Nuri Bilge Ceylan – dass Aydın den eigenen Ansprüchen nicht gewachsen ist und das ahnt. Ein Abend unter Männern im Suff und der darauf folgende Jagdausflug bringen ein paar Erkenntnisse. Wie eine Rüstung trägt Aydın seinen schweren, nachtblauen Wollmantel und die Wanderstiefel, mit denen er durch den Schnee stapft. Trotz der weiten Landschaft ist die Szenerie kammerspielartig, Ceylan beruft sich auf Motive aus zwei Kurzgeschichten Tschechows, auf Molière und auf Shakespeare sowieso. Man denkt, dass es für einen türkischen Filmemacher aktuellere Referenzen gäbe. DANIELA SANNWALD Drama, Türkei/Deutschland/Frankreich, 2014 Regie Nuri Bilge Ceylan Drehbuch Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan Kamera Gökhan Tiryaki Schnitt Nuri Bilge Ceylan, Bora Göksingöl Ausstattung Gamze Kus Kostüm Monika Münnich, Anke Thot Mit Verleih Stadtkino Wien, 196 Minuten www.stadtkinowien.at 70 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at FILM+MUSIKLIVE «Blackmail» Stummfilm mit Live-Musik Regie: Alfred Hitchcock, GB 1929 Musik: Stephen Horne, GB Stephen Horne Klavier, Flöte, Akkordeon Sonntag, 15. Februar 2015, 19.30 Uhr, Großer Saal ray- auf bis zu zwei Eintrit g n u ig ß ä m Er % 10 en thaus.at AbonnentInnen genieß tskarten ticket@konzer er od 2 00 2 24 1) (0 r te un h Karten erhältlic Information: 242 002 www.konzerthaus.at Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Medienpartner f i l m s t a r t s My Name Is Salt Jupiter Ascending Selma Wild Card UND AUSSERDEM ... Salzabbau, Wachowski-Geschwister, US-Bürgerrechte und Jason Statham. Der Rest des Kinomonats. W er gelegentlich meint, das Leben in unserer europäischen Luxusfestung sei "so anstrengend", der oder die (und nicht nur der oder die) möge sich My Name Is Salt (trigon-film, 30. Jänner) anschauen. Der indisch-schweizerische Dokumentarfilm von Farida Pacha, der auch bei der Viennale zu sehen war, berichtet von den tausenden indischen Familien, die Jahr für Jahr für endlose acht Monate in die Wüste ziehen, um Salz aus dem glühenden Boden zu holen. Mit jedem Monsun werden ihre Salzfelder weggespült, und die Wüste verwandelt sich in Meer. Trotzdem kehren die Salzbauern zurück, voller Stolz, das weißeste Salz der Erde zu produzieren. Fasziniert von dem Thema hat Farida Pacha in der Salzwüste von Kutch, im Westen Gujarats, ein Jahr lang unglaubliches Material gesammelt und daraus einen überwältigenden, geradezu meditativen Film gestaltet. Offensichtlich in einer anderen Zeit und in einem anderen Universum spielt Jupiter Ascending (Warner Bros., 6. Februar). Die Königin des Universums wird das Gefühl nicht los, die US-amerikanische Putzfrau (sic!) Jupiter Jones werde ihr demnächst die Herrschaft entreißen, weil diese nämlich einen besonderen genetischen Code hat, der sie dazu prädestiniert. Also sendet die Queen den ehemaligen Elite-Soldaten Caine auf die Erde, um Jupiter zu eliminieren. Dass der sich, wie weiland der gute alte Terminator, in sein potenzielles Opfer verliebt, verändert die Sachlage allerdings nachhaltig. Man muss schon sehr fest an die großen historischen Verdienste (Bound, Matrix) der ehemaligen Brüder und nunmehrigen Geschwister Wachowski glauben, um sich darunter einen guten Film vorstellen zu können, vor allem wenn man an das letzte Œuvre, bei dem sie für Drehbuch und Produktion verantwortlich zeichneten, denkt, nämlich Cloud Atlas. Die Besetzung immerhin ist tadellos: Channing Tatum, Mila Kunis und Oscar-Nominee Eddie Redmayne. Einem zeitgeschichtlichen Kapitel widmet sich hingegen Selma (Constantin Film, 20 Februar). Im Jahr 1965 herrschte zwar in den Vereinigten Staaten formal Gleichberechtigung, doch insbesondere in den Südstaaten sahen sich afroamerikanische Bürger unfassbaren Diskriminierungen gegenüber, sogar das verfassungsmäßig verbriefte Wahlrecht wurde ihnen dort in der Praxis oft verwehrt. Als sich immer stärkerer Widerstand regt, beschließt der Bürgerrechtsaktivist Dr. Martin Luther King friedlichen Protest dagegen zu organisieren. Erste Demonstrationen finden in der titelgebenden Kleinstadt in Alabama statt, doch die örtliche Polizei reagiert mit brutaler Gewalt. Als ein Bürgerrechtler dabei den Tod findet, soll mit einem Marsch von Selma bis nach Montgomery, Hauptstadt des Bundesstaates, reagiert werden, doch damit zieht man sich nicht nur den Unwillen von George Wallace, Gouverneur von Alabama, auf sich. Die Rolle des Friedensnobelpreisträgers Dr. King hat David Oyelowo übernommen, daneben agieren Tom Wilkinson als Lyndon B. Johnson und Tim Roth als Gouverneur Wallace. Gar nicht gewaltfrei agiert Jason Statham, der sich in Wild Card (Constantin Film, 13. Februar), mit dem organisierten Verbrechen von Las Vegas anlegt. Regie bei diesem Remake – Vorlage war Heat mit Burt Reynolds in der Hauptrolle – führt Simon West. ANDREAS UNGERBÖCK, JÖRG SCHIFFAUER 72 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at K o l u m n e : B u t t g e r e i t Die letzte Vorstellung Text und Foto ~ Jörg Buttgereit 17. Dezember 2014. Es war die letzte Pressevorführung von Sony Pictures vor den Weihnachtsferien im Berliner Sony Center. Traditionell gibt es zu diesem Anlass immer eine leicht verträgliche Komödie für die ganze Familie und man darf eine Begleitperson mitbringen. Es wurde Glühwein und Bockwurst gereicht um für gute Stimmung zu sorgen. Gezeigt wurde die übermütige Nordkorea-Satire The Interview von Seth Rogen und Evan Goldberg, deren Kinostart für den 2. Februar 2015 angekündigt war. Da ich erst kürzlich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Hörspiel „Das Märchen vom unglaublichen Super-Kim aus Pjöngjang“ geschrieben und inszeniert hatte, war ich besonders gespannt wie respektlos Hollywood mit dem Diktator Kim Jong-un umspringen würde. Rogen und Goldberg gehen gewohnt brachial zu Werke. The Interview ist eine durch und durch herabwürdigende Verunglimpfung des „obersten Führers“ der „Demokratischen Volksrepublik Korea“ Kim Jong-un. Die beiden Journalisten Aaron Rapaport (Seth Rogen) und Dave Skylark (James Franco) dürfen in Pjöngjang ein Interview mit dem Diktator für das amerikanische Fernsehen führen und sollen ihn bei der Gelegenheit im Auftrag des CIA um die Ecke bringen. Im Finale schießen sie den flüchtenden Kim Jong-un im Hubschrauber ab und verhindern damit den Abschuss von Atomraketen auf die USA. Kim verglüht in Zeitlupe in der Feuersbrunst. „He must die! That’s the American way.“ sagt Rogen schon zu Beginn des Films. Kein Wunder also, das die nordkoreanische Regierung die Mordskomödie in einem Brief an UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon als „unverhohlene Förderung des Terrorismus sowie eine Kriegshandlung“ gebrandmarkt hat. Über Team America, den zehn Jahre alten, subversiven Marionetten-Film der South Park-Macher Matt Stone und Trey Parker, im dem Kim Jong-il als singender Superbösewicht die Schauspielelite Hollywoods massakriert, hat sich „der geliebte Führer“ damals nicht ereifert. Denn Kim Jong-uns Vater war ein bekennender Filmliebhaber, der die zur Chefsache erklärte Propaganda-Filmproduktion seines Landes erfolgreich belebte, indem er 1978 seinen südkoreanischen Lieblings-Regisseur Shin San-ok und dessen Ex-Ehefrau, die beliebte Schauspielerin Choi Eun-hee, entführen und Filme drehen ließ. War es Kim Jong-il als bekennenden James-Bond-Fan womöglich eine Ehre, in Team America als diabolischer Filmbösewicht dargestellt zu werden? Die politische Relevanz und Originalität von The Interview leidet unter dem infantilen Fäkalhumor der beiden dummdreisten Protagonisten Rogen und Franco. So mein erster fachmännischer Eindruck nach Sichtung der derben Komödie beim Verzehren der zweiten Bockwurst. Als Sony an nächsten Morgen verlauten ließ, man werde den Film aufgrund von Terrorwarnungen aus dem Verkehr ziehen, habe ich nicht schlecht gestaunt. Der Schenkelklopfer hatte wohl doch mehr Brisanz, als ich ihm zugestanden hatte. Ich war einer der Auserwählten, die den Film noch gesehen hatten und jetzt bestimmt vom nordkoreanischen Geheimdienst überwacht wurde. Nachdem US-Präsident Obama kritisierte „Wir können nicht in einer Gesellschaft leben, in der ein Diktator irgendwo anfängt, in den USA Zensur auszuüben“ wurde der Film wie geplant am ersten Weihnachtstag in 300 US-Programmkinos gezeigt. Außerdem war er zeitgleich auf diversen Online-Kanälen verfügbar und hat Sony den besten Online-Filmstart in seiner Geschichte beschert. Sequel gefällig? ray 73 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at VIER MAL EINS IST FÜNF Die tolle Mini-Serie „Olive Kitteridge“ mit der großartigen Frances McDormand in der Titelrolle Text ~ Roman Scheiber 74 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 75 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at E ine tiefsitzende Unzufriedenheit scheint diese Frau umzutreiben. Wir lernen sie erst in der Mitte ihres Lebens kennen, und doch haben wir sehr bald eine Vorstellung davon, wie dieses Leben bislang verlaufen sein könnte. Viel Pflicht, wenig Kür. Eher hart als herzlich. Olive Kitteridge erscheint nach außen als eine selbstsichere Frau, aber auch als eine gänzlich unsensible Persönlichkeit. Anerkennung und Anteilnahme scheinen ihr fremd zu sein. Ruppigkeit wäre ein Hilfsausdruck für ihr Verhalten. Zumeist agiert sie misstrauisch, gedankenlos und abweisend. Ihr Gesichtsaudruck ist oft verkniffen, ihre Zunge schärfer, als es ihrer Umwelt gut tut. Warum soll man sich für so eine Antiheldin interessieren? Weil sie eine wunderbar authentische, direkt aus dem Leben gegriffene Figur ist. Weil sich hinter einer harten Schale oft ein verletzlicher Kern verbirgt. Und weil die eigenwillige Olive immer wieder überraschende Sachen macht. Gleich zu Beginn zum Beispiel kniet sie sich im Wald auf eine Decke, holt einen „To whom it may concern“ adressierten Brief aus ihrer Handtasche und hält sich einen Revolver an den Schädel: eine Vorblende, die einen der dramatischeren Töne der ein Vierteljahrhundert fassenden, herrlich unaufgeregt erzählten Alltagsgeschichte anklingen lässt – und der noch einige überaus effektiv gesetzte Vor- und Rückblenden folgen werden. Vier US-Amerikanerinnen zeichnen in der Hauptsache für Olive Kitteridge verantwortlich. Basierend auf dem Pulitzer-preisgekrönten Roman von Elizabeth Strout (die aus Maine stammt), von Jane Anderson (How to Make an American Quilt, 1995) adaptiert, auf Betreiben der Hauptdarstellerin Frances McDormand vom Pay-TV-Sender HBO als vierteilige Miniserie produziert und von Lisa Cholodenko (The Kids Are All Right, 2010) inszeniert, faltet das Period Piece ein Kleinstadt-Familienalbum auf, dessen stimmige Atmosphäre und subtile Qualität sich vor allem zwischen den Seiten offenbart. Hat man sich von diesem Mikrokosmos präzis gezeichneter, unter der landläufigen Oberfläche leise pathologischer Figuren einmal ansaugen lassen, mag man Augen und Ohren nicht mehr davon lösen. Im Zentrum der seltsam angespannten Pseudo-Gewöhnlichkeit, in der Serie noch stärker als im Roman, steht Olive, angesehene Mathematik-Lehrerin in ihrem Geburtsort Crosby, Maine, New England. Sie scheint sich um wenig mehr als die eigene Familie zu kümmern, doch wirkt sie auch innerhalb dieser über weite Strecken isoliert. Das Verhältnis zu ihrem anfangs 13-jährigen Sohn Chris (Devin Druid, später John Gallagher Jr.) ist und bleibt kühl. Von ihrem im Grunde gutherzigen Mann Henry (Richard Jenkins) wirkt sie entfremdet. Er ist der Apotheker am Ort, seine Kunden behandelt er mit ausgesuchter Freundlichkeit. Da Olive auf seine Art der Zuwendung verzichtet (eine Valentinstagskarte befördert sie mit den Worten „I know what it says“ in den Müll), beschenkt Henry junge Mitbürger damit, darunter seine hilflos wirkende Assistentin Denise (Zoe Kazan) – was Olive zunächst eher lächerlich findet, als dass es sie eifersüchtig macht. Verstanden fühlt sie sich nur von einem Lehrerkollegen (Peter Mullan), versagt sich aber eine Affäre mit ihm. 76 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at TRAGIK HINTER KOMIK „You won’t like Frances McDormand in Olive Kitteridge ... but you might love her“, schreibt eine US-Kritikerin und charakterisiert sie treffend als „one of our great unsentimental actresses“. McDormand spielt Olive souverän, nuancenreich und uneitel wie immer. Mit ihren nunmehr 57 Jahren ist die Charakterdarstellerin, die der plastischen Chirurgie dezidiert abschwört, viel zu selten auf der Leinwand zu sehen, jedenfalls zu selten in tragender Rolle. McDormand ist bis heute die einzige Schauspielerin, die für eine Rolle in einer Regiearbeit des Ehegatten den Oscar gewann (Fargo, Joel Coen, 1996) – jedoch dürfte die ikonische Figur der Marge Gunderson ihre Karriere auch eingeschränkt haben (siehe auch das nachfolgende Interview). Eine dysfunktionale Frau spielte McDormand schon einmal in einer früheren Kollaboration mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Lisa Cholodenko, in dem Drama Laurel Canyon (2002). Wie viele ihrer kreativen Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Jahren haben die beiden sich das Format der Fernsehserie neu erschlossen. Vielleicht hat McDormand sich mit Olive Kitteridge sogar die Rolle ihres Lebens gesichert – in einer vier Erzählstunden langen Geschichte, in der nichts fehlt und nichts überflüssig ist, in der hinter der Komik die Tragik zu spüren ist und in der Tragik die nur mit Humor zu ertragende Leichtigkeit des Seins. Olive Kitteridge ist das berührende Porträt einer verstockten Frau, aber mehr noch erzählt es universell über Kleinbürgerlichkeit und Provinzialität, über das Verhältnis der Generationen, über die ungeschriebenen Gesetze der Part- nerwahl, über Identitätsprobleme, sozialen Determinismus und den wechselseitigen Umgang von Menschen, die oft nicht viel mehr miteinander gemein haben als ihre Herkunft. L’inconnu du lac ein „schwules Meisterwerk“ zu nennen, sei so lächerlich, als würde man Stromboli ein „heterosexuelles Meisterwerk“ nennen, schrieb Hans Hurch über den jüngsten Film von Alain Guiraudie (Teil der Viennale-DVD-Edition 2014). Obwohl Frances McDormand sich selbst als Feministin bezeichnet, wäre es ebenso lächerlich, würde man Olive Kitteridge ein „feministisches Meisterwerk“ nennen. Dies ist weder ein Bestärkungsfilm für Frauenrechtsaktivistinnen, noch ein Lehrfilm für Retroweibchen, sondern ein sehr zu empfehlender Film für empathiefähige Menschen, alte, junge, weibliche, männliche, homo- und heterosexuelle, und wer aus einer bloß scheinbar funktionalen Familie stammt, hat vielleicht noch mehr davon als die anderen. Auf der großen Leinwand, wie löblicher Weise bei der vergangenen Viennale, wird Olive Kitteridge nun leider kaum noch zu sehen sein. Aber wie groß dieses Kino auch auf dem kleinen Bildschirm ist, beweist u.a. der letzte Teil: Wenn Olive auf den Witwer Jack (Bill Murray) trifft, ist das so abgeklärt wie erfrischend, und so aufrichtig wie selten in der üblichen Arthouse-Mainstream-Beziehungskiste. „I’m waiting for the dog to die so I can shoot myself“, sagt Olive zu Jack. Er amüsiert sich darüber, und wir uns mit ihm. Zu diesem Zeitpunkt hat sie uns schon so weit, dass wir nicht denken: „Alte, sei doch nicht so zynisch!“, sondern eher: „Na, wenn dir da mal keiner dazwischenkommt.“ OLIVE KITTERIDGE Vierteilige Drama-Miniserie, USA 2014 ~ Regie Lisa Cholodenko Drehbuch Jane Anderson, basierend auf dem Roman von Elizabeth Strout Kamera Frederick Elmes Schnitt Jeffrey Werner Musik Carter Burwell Production Design Julie Berghoff Kostüm Jenny Eagan Mit Frances McDormand, Richard Jenkins, Zoe Kazan, Peter Mullan, Ann Dowd, Martha Wainwright, John Gallagher Jr., Rosemarie DeWitt, Brady Corbet, Jesse Plemons, Rachel Brosnahan, Bill Murray Gesamtlänge 233 Minuten Ab 3. Februar 2015 exklusiv auf Sky Atlantic HD, Sky Go und Sky Anytime Ein Interview mit Regisseurin Lisa Cholodenko lesen Sie auf www.ray-magazin.at ray 77 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 78 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at NEUES BABY STATT ECHTEM BABY Frances McDormand erklärt, warum sie zehn Jahre lang die Klappe gehalten hat, wie sie zu Olive Kitteridge wurde und wie der Beruf als Hausfrau ideal auf den Beruf als Produzentin vorbereitet. Interview ~ Thomas Abeltshauser Nach der Polizistin Marge Gunderson in Fargo haben Sie mit Olive Kitteridge nun eine weitere unvergessliche Frauenfigur erschaffen. Wie nah sind Ihnen diese beiden? Sind Sie ein bisschen Marge, ein bisschen Olive? Nein, umgekehrt: Marge und Olive sind zum Teil Frances. Ich glaube, es war für alle an Fargo Beteiligten faszinierend zu sehen, wie Marge zu einer Ikone wurde. Niemand, wirklich niemand hatte damit gerechnet. Als wir den Film drehten, waren wir alle hin und weg von Peter Stormares und Steve Buschemis Figuren, diesen beiden Kleinkriminellen. Aber irgendwas war damals in der Luft, der Film traf auf einen kulturellen Zeitgeist und die Situation von Frauen in der Arbeitswelt, was Marge Gunderson zu einem Phänomen werden ließ. Fargo wurde im vergangen Jahr zu einer TV-Serie weiterentwickelt ... Nie gesehen. Ich habe gehört, die Kritiken waren sehr gut. Aber wir haben nichts damit zu tun. Ich schaue einfach kein Fernsehen. Ich werde es mir wahrscheinlich ansehen, wenn es als DVD-Box erscheint, wenn ich es auf einen Rutsch schauen kann. Wie hat die Rolle der Marge Gunderson Ihre Laufbahn beeinflusst? Ich habe eine 35 Jahre andauernde Karriere daraus gemacht, kleine Rollen zu spielen, supporting roles, wie es im Englischen heißt, die Unterstützung für die männlichen Hauptfiguren. Meine Karriere beruht auf amerikanischen, ein bisschen unordentlichen Frauen der Arbeiterklasse, das habe ich mein gesamtes Leben gespielt, das bin ich. Und jetzt, mit 57, wurde mir die Möglichkeit geschenkt, Olive zu spielen. Und ich glaube, sie ist eine ebenso ikonische Figur wie Marge damals. Sie ist die Mathelehrerin in einer Kleinstadt, verheiratet mit dem Apotheker. Jeder kennt sie, sie ist ein Faktotum, aber man würde sie eher nicht zu sich zum Abendessen einladen. Wir alle kennen jemanden wie Olive. Regisseurin Lisa Cholodenko nannte die Adaption von Olive Kitteridge Ihr Baby. Ja, es ist mein Baby! Ich war bislang nie eine Schauspielerin, die sich Filmrechte sicherte. Dazu fehlt mir die Aufmerksamkeitsspanne, ich will nicht so lange warten. Ich bekomme einen Job am liebsten zwei Monate, bevor es losgeht. Im Theater ist es ein bisschen anders, da gibt es schon mal einen Vorlauf von einem Jahr, aber bei einem Film werde ich maximal ein paar Monate vorher besetzt. Die Vorstellung, auf ein Projekt länger warten zu müssen, würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber als ich Elizabeth Strouts Roman „Olive Kitteridge“ (deutsch: „Mit Blick aufs Meer“) las, war mein Sohn 13 Jahre alt. Ich wusste, er würde in etwa fünf Jahren ausziehen und aufs College gehen. Als er noch zur Schule ging, blieb ich zuhause und habe viel von zuhause aus gearbeitet und bin nur zu Dreharbeiten, wenn mein Mann (Regisseur Joel Coen) übernehmen konnte. Also wusste ich, wenn mein Sohn 18 wird, muss ich sehr, sehr beschäftigt sein. Also sorgte ich vor und stieß diverse Projekte an. Und dann passierten vier in einem Jahr: ich produzierte einen Spielfilm, ein Theaterstück mit der Wooster Group in New York ging auf Tour, Olive Kitteridge ging los ... aber so wollte ich es ja! Es war ein neues Baby, um mich darüber hinwegzutrösten, dass mein echtes Baby flügge geworden ist. Und um ihm Platz zum Atmen zu geben. ray 79 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Hausfrau zu sein ist ein Beruf, das meine ich todernst. Aber wenn ich meinen Lebenslauf als Hausfrau schreiben würde, wäre ich für die meisten Jobs überqualifiziert Wie schwierig war die Entwicklung der Adaption? Es war überraschend einfach. Und das liegt an HBO und dem langen Fernsehformat. Der Roman ist episodisch, er besteht aus 13 einzelnen Kurzgeschichten. Und Olive ist eine Figur, die immer wieder in diesen Geschichten auftaucht, mal mehr, mal weniger prominent. Als ich den Roman las, dachte ich sofort an eine Serienstruktur. Ich hatte kurz zuvor die HBO-Serie The Wire gesehen, in einem durch in zwei Monaten. Und damit war ich bei Weitem nicht die einzige, da änderte sich gerade etwas im Zuschauerverhalten, es gibt keine Limitierung mehr auf Spielfilmlänge. Und mir war klar, das ist die Art, wie man die Geschichte einer weiblichen Protagonistin erzählen muss. Ich lese für mein Leben gern. Ich liebe Bücher. Erinnern Sie sich, diese dicken Dinger aus Papier? Ich lese nur auf Papier, ich habe meterlange Bücherregale zuhause. Zunächst genoss ich also den Roman erstmal nur als Literatur und verschenkte danach das Buch an viele Freunde, weil ich so begeistert war. Eine Freundin, die Schauspielerin Katherine Borowitz, rief mich zwei Tage später an und sagte nur: „Du musst diese Rolle spielen!“, und ich meinte nur: „Nein, das taugt nicht als Film.“ Es ist zu komplex für 90 Minuten, das reicht nicht für ihre Geschichte. Es kann nur mit dem dramaturgischen Atem eines Serienformats funktionieren. Persönlich wollte ich nie eine reguläre Serie machen, ich will einfach nicht fünf Jahre in einem Projekt gefangen sein. Dazu habe ich das falsche Temperament. Aber ein Mehrteiler mit vier oder sechs Stunden: perfekt! Und so wurde es am Ende ein Vierstünder. Worin sehen Sie genau den Vorteil dieses langen Atems? Das kann ich beantworten, indem ich einen der erfreulichsten Momente der Dreharbeiten beschreibe. Normalerweise sind bei den Proben immer nur die notwendigsten Leute dabei, Schauspieler, Regisseur, ein paar andere. Wenn die ganze Crew dabei sein und zuschauen will, ist das sehr schmeichelhaft. Und es hat was von Theater. Es ist nicht Film, es ist nicht das, was am Ende im Schnitt entsteht. Es ist pures Theater. Und in der Szene, in der Christopher nach Henrys Herzinfarkt zurückkommt und er Olive beim Dinner vorwirft, was für eine furchtbare Mutter sie war und sie um Gnade betteln lässt, strömte plötzlich die Crew in Trauben herein, bis hin zu dem jungen Mann, der die Sets malte. Er brachte eine Obstkiste mit und stellte sich in einer Ecke darauf, um sehen zu können, was passiert. Alle wollten diese Konfrontation sehen. Es war wie ein griechisches Drama. Die Szene war aber auch brillant geschrieben, wie ein Einakter. Und so haben wir es auch gespielt, in einem Rutsch. Und das ist ein Vorteil des Serienformats: diese dramaturgischen Bögen und ikonischen Momente. Würden wir Olives Geschichte in 90 Minuten erzählen, wäre sie unausstehlich. 80 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Was macht für Sie die Faszination dieser Figur aus? Sie ist ja durchaus ambivalent ... Das war einer der größten Konflikte zwischen Lisa und mir: die emotionale Spannbreite von Olive. Ich hatte nie Bedenken, ob Olive sympathisch ist oder ob wir die Empathie der Zuschauer verlieren. Darüber konnte ich mir gar keine Gedanken machen, weil OIive es auch nicht tut. Ich wollte nicht, dass es in der Geschichte darum geht, dass sie irgendwann weint. Olive bricht nicht zusammen, ihre Verletzungen sind wie Haarrisse, die sich zu einem großen Loch akkumulieren, aber es sind keine großen Risse. Sie reißt sich zusammen und handelt. Auf ihre Depression und Ängste reagiert sie, in dem sie aktiv wird. Statt zu heulen, putzt sie. Ich liebe dieses Geräusch, wenn sie etwas sauberschrubbt, das ist für mich die Quintessenz von Olive und ihrer stoischen Art. Welche Frau hat Sie persönlich beeindruckt oder geprägt? So viele, ich könnte nicht einzelne Namen nennen. Ich bin das Ergebnis eines langen Flusses an Mentoren, nicht nur Frauen. Ich bin Feministin, und es tut mir in der Seele weh, wie sich junge Frauen wie Beyoncé im Showbusiness winden müssen, um ja nicht in diese Ecke gestellt zu werden. Darf sich eine Frau Feministin nennen? Ja! Dürfen sich junge Männer Feministen nennen? Natürlich!!! Darum geht’s doch! Wir können alles sein, was wir wollen. Und das macht Angst! Es gibt unendlich viele Positionen im Genderspektrum – und ich weiß noch nicht mal, was es heißt, eine weiße heterosexuelle Frau in einer monogamen Beziehung zu sein! Worin liegt das Problem, die Geschichte einer weiblichen Hauptfigur in Spielfilmlänge zu erzählen? Ich habe mein ganzes Leben im Film Nebenrollen gespielt, nur auf der Bühne waren Hauptrollen, denn in den Theaterstücken ist es sehr viel üblicher, eine weibliche Hauptfigur zu haben. Im Film gibt es nur eine Handvoll Genres: das Buddy Movie, der Actionfilm, die Romantikkomödie, das Epos, der Film Noir... und alle sind um einen männlichen Protagonisten herum gebaut. Man kann sie für weibliche Figuren umschreiben, wie Thelma und Louise, aber es bleibt ein Buddy Movie. Man kann Salt mit Angelina Jolie als Heldin besetzen, aber es bleibt ein Actionfilm. Es gibt also Ausnahmen für die Regel, aber es gibt kein Genre, das per se eine weibliche Hauptfigur hat, außer die Romantikkomödie und das Melodram. Aber die werden kaum noch geschrieben, weil uns Meister wie George Cukor oder Douglas Sirk fehlen. Ich glaube, wir brauchen lange dramaturgische Bögen, in denen sich die Figuren entwickeln können, wir brauchen zyklische Erzählweisen, nicht lineare. Ich wollte Olive Kitteridge nicht chronologisch erzählen, auch die Romanvorlage springt permanent in der Zeit. Und ich bin überzeugt, dass es so funktioniert. Im Grunde kann man die vier Teile in beliebiger Reihenfolge sehen, man kann mit Kapitel 4 anfangen, dann zu Kapitel 2 springen, danach 3, dann 1. Es funktioniert trotzdem. Warum haben Sie sich für Lisa Cholodenko als Regisseurin entschieden? Ganz ohne Larifari, weil ich ein sehr pragmatischer Mensch bin: Sie war die richtige, weil sie es machen wollte. Jane Anderson, die den Roman adaptiert hat, kenne ich seit einem Vierteljahrhundert, und sie hat mir in dieser Zeit immer wieder Rollen in einem ihrer Filme oder Theaterstücke angeboten. Eines Abends saßen wir beim Dinner und redeten darüber, was wir gerade machen und ich erzählte, dass ich gerade die Rechte an einem Buch erworben habe und auf der Suche nach einem Drehbuchautor bin. Und jetzt, sechs Jahre später, hat Jane das wahrscheinlich herausragende Drehbuch ihrer Karriere geschrieben. Lisa und ich kennen uns auch schon eine Weile. Sie hat mich in Laurel Canyon besetzt, den sie auch selbst geschrieben hat. Niemand anderes hätte mir diese Rolle gegeben, wir sind uns damals im genau richtigen Moment begegnet. Und sie war die richtige, weil sie vom Independent-Kino kommt, weil sie den Atem für einen vierstündigen Film hat, weil sie mit einem überschaubaren Budget arbeiten kann, weil sie eine Geschichte mit einer gewissen Ironie erzählen kann. Nach welchen Kriterien wählen Sie eine Rolle aus? Ich suche immer nach der Wahrheit, nach dem innersten Kern einer Figur. Und damit übertreibe ich es bisweilen ein bisschen. Wenn sich Joel einen meiner Film anschaut, fragt er mich oft: „Musst du wirklich so furchtbar aussehen? Es ist bloß ein Film!“ Ich glaube, ich treffe manchmal Entscheidungen, die härter und ehrlicher als vielleicht notwendig sind. Weil das Ihrem Naturell entspricht? Wahrscheinlich. Dieses Interview ist mein erstes seit zehn Jahren. Ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden, weil ich mich vor elf Jahren in diesem Radwerk gesehen habe, wo ich nur von einem Fünfminutenfernsehauftritt zum nächsten hetze und mir immer wieder dieselbe Frage zu meinem viel berühmteren Kollegen gestellt wurde und ich irgendwann nicht mehr glaubhaft wiederholen konnte, wie sehr ich seine Anwesenheit und die Zusammenarbeit mit ihm genossen habe. Und ich sagte, dass mein damals neunjähriger Sohn smartere Dinge sagt und gefährdete damit viele Jobs. Also zog ich mich zurück und hielt die Klappe. Haben Sie mal überlegt, selbst Regie zu führen? Oh, einer in der Familie ist mehr als genug! Und ich bin eine der Produzentinnen, das reicht an Einflussnahme. Mein einziger kontinuierlicher Beruf neben der Schauspielerei ist es, Hausfrau zu sein. Und ich meine es todernst: es ist ein Beruf. Und ein unbezahlter dazu. Aber wenn ich meinen Lebenslauf als Hausfrau schreiben würde, wäre ich wohl für die meisten Jobs überqualifiziert. Soll ich meine Skills als Hausfrau mal aufzählen? Ich habe für meinen Sohn Schulen auf der ganzen Welt ausgewählt, diverse Haushalte aufgebaut, die Lebenshaltungskosten für meine Familie organisiert, ich war Privatsekretärin für meinen Ehemann und meinen Sohn ... diese Erfahrungen gehen weit darüber hinaus, was man als Produzentin so zu tun hat. Ich war also gut vorbereitet. Wie sehen Sie Ihre Zukunft in der Filmbranche? Als amerikanische Schauspielerin eines gewissen Alters kommt man, wenn man Glück hat, irgendwann in die „europäische Phase“, wenn sich Autorenfilmer für einen interessieren. Ich habe dazu den Nachteil, nur eine Sprache zu beherrschen, ich muss also warten, bis jemand eine amerikanische Darstellerin braucht. Mit Paolo Sorrentino in Cheyenne hatte ich das Glück. Wir sind uns über gemeinsame Freunde begegnet und er kannte meine Filme – sehr viel besser übrigens als die meisten amerikanischen Regisseure, die oft keine Ahnung haben, wer ich bin und was ich gemacht habe. Dialekte sind kein Problem, aber eine andere Sprache wäre unmöglich. Es sei denn, es wäre wie bei Fellini, der Leute einfach das Alphabet und Zahlen aufsagen und dann nachsynchronisieren ließ. Das kann ich gut! Schreiben Sie das bitte. Ich stehe zur Verfügung! ray 81 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at NULLEN UND EINSEN UND VOLLES ROHR RADAU Von der Hutmode und anderen schicken Dingen: „Blackhat“ von Michael Mann, ein sehenswert daneben gehender Thriller über globalisierte Cyberkriminalität und vernetzte Gegenwehr. Text ~ Alexandra Seitz 82 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 83 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Anhand des schwarzen Hutes ließen sich in den frühen Western die Schurken von den weiß behüteten Gesetzestreuen unterscheiden; neuerdings bezeichnet „Blackhat“ einen Hacker, der mit krimineller Absicht in Netzwerke eindringt C omputerkriminalität spannend ins Bild zu setzen ist keine einfache Aufgabe. An der Oberfläche: Tastaturen und Bildschirme, Festplatten, Server und Kabelsalat. Dahinter: Nullen und Einsen. Alles digital, alles virtuell. Was soll schon aufregend daran sein, wenn einer mit Schmackes auf die „Enter“-Taste haut? Zu Beginn von Michael Manns Blackhat geschieht eben dies, dann saust ein Licht durch mikroskopische Prozessorlandschaften wie das Feuer einer Zündschnur und am Ende explodiert ein chinesisches Atomkraftwerk. Das ist also kein Sack Reis, der da umfällt, und dementsprechend groß der ausgelöste Aufruhr. Nicht viel später befindet man sich auch schon inmitten einer Story, die James Bond zur Ehre gereichen würde; das Atomkraftwerk war – wen wundert’s? – lediglich der Anfang, Börsenkurse geraten ins Visier, Gewinne werden eingestrichen, Unsummen transferiert. Aus welchem Grund? Zu welchem Zweck? Alsbald holt das bläuliche Bildschirmlicht der Aufklärung global vernetzte Bösewichter, Strohmänner und Strippenzieher aus dem finsteren Schatten der Morallosigkeit. Zugegeben, es wird viel in Computer gestarrt und programmiert, mit Smartphones hantiert und per GPS geortet – allerdings von der sehr ansehnlichen Paarung Chris Hemsworth als großer, starker Hacker Nick Hathaway und Wei Tang als zierliche, hübsche Netzwerkspezialistin Chen Lien. Und immer dann, wenn einem die beiden ein wenig zu viel werden, weil sie eigentlich ein wenig zu wenig sind, oder immer dann, wenn die Abläufe in den Blackboxes den Horizont zu übersteigen drohen, besinnt sich Michael Mann auf den reizvollen Kontrast. Dann kracht es im Gebälk, donnern Projektile aus großkalibrigen Waffen, sterben Handlanger den kollateralen Tod, gerät die anonyme Masse ins Kreuzfeuer. Anhand des schwarzen Hutes, den sie trugen, ließen sich in den Western filmgeschichtlicher Frühzeit die Schurken von den weiß behüteten Gesetzestreuen unterscheiden; neuerdings bezeichnet „Blackhat“ einen Hacker, der mit krimineller Absicht in Netzwerke eindringt, gleich ob er dieses dann zerstört, beschädigt oder sich (zunächst) mit dem Machtgefühl der erlangten Kontrolle zufrieden gibt. Die eingeschleuste Malware mag mitunter jahrelang auf ihren Einsatz warten – wie im vorliegenden Fall, in dem ein von Elite-Hackern geschriebenes Patch von einem anderen entdeckt und genutzt wird, mit oben erwähnten Folgen. Doch kein Dunkel ohne Licht, und also ist mit dem Auftauchen weißer Hüte immer und überall zu rechnen. Die vergleichsweise leichte Angreifbarkeit eines Systems aus Nullen und Einsen, das wiederum an nationale Interessen gekoppelt ist, die bekanntlich jederzeit und allerorten bedroht sind, sein könnten oder möglicherweise werden, führt zur Aufrüstung. Zur Erweiterung des Kriegsschauplatzes, wenn man so will: wo ein Blackhat Hacker, da alsbald auch ein Whitehat Hacker. Auftritt Computerspezialist Chen Dawai, Bruder der zierlichen Netzwerkspezialistin, in den USA ausgebildeter Hauptmann der chinesischen Volksarmee und beauftragt mit der Untersuchung des Anschlags. Ein Blick genügt und er realisiert, dass das kriminell genutzte Patch, ein RAT (Remote Access Tool), auf seinem eigenen Mist gewachsen ist. Genauer, auf seinem und dem seines guten Freundes und Studienkollegen am MIT, genau: Hacker Nick. Nur hat der dummerweise den schwarzen Hut aufgesetzt, sich erwischen lassen und sitzt nun in den USA im Knast. Dieser Umstand wiederum macht jene von beiden Seiten nur äußerst ungern eingegangene Zusammenarbeit zwischen chinesischen und US-amerikanischen Behörden notwendig, die die 84 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ray 85 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 86 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Das Banale und das Komplexe, sie liegen in Michael Manns aktuellem Werk nicht nur nahe beieinander, sie kommen auch des Öfteren zur Deckungsgleiche Handlung von Blackhat voran treibt. Denn dem global operierenden Verbrechen ist nur mittels gemeinsamer Anstrengung beizukommen, das ist zwar klar wie Kloßbrühe, kann aber trotzdem nicht oft genug gesagt werden; und wenn es bei der Gelegenheit auch noch zu einer der Völkerverständigung wie dem menschlichen Genpool überaus dienlichen Paarung zweier bildhübscher Masterminds kommt, umso besser. Das Banale und das Komplexe, sie liegen in Manns aktuellem Werk nicht nur nahe beieinander, sie kommen auch des Öfteren zur Deckungsgleiche. So ambitioniert das Drehbuch von Morgan Davis Foehl in seinem Versuch, der Fragilität unserer computerisierten Gegenwart gerecht zu werden, auch scheinen mag, so konventionell wirkt, zumindest im Kontext von Manns bisherigem Œuvre, dem Blackhat nichts zwingend Neues hinzufügt, dessen inszenatorische Umsetzung. Freilich, das ist Jammern auf hohem Niveau, ändert aber eben auch nichts an der Tatsache, dass es Mann nicht wirklich gelingt, jenes Zittern am Abgrund zu vermitteln, das den Status Quo der turbokapitalistischen Gesellschaften definiert. Das Entsetzen, auf das die Geschichte hinaus laufen will, der Schrecken darüber, dass ein Einzelner die Möglichkeit hat, via Manipulation an Nullen und Einsen nicht nur Wirtschaftssysteme zum Einsturz zu bringen, sondern das Weichbild eines Landstrichs zu verändern und die dort lebende Bevölkerung auszuradieren – es teilt sich nicht mit. Die moderne Zivilisationen prägenden Strukturen – Überwachung und Kontrolle, Paranoia und Alarmismus – bleiben illustrativ. Die trügerische Sicherheit, in der wir alle uns jeden Tag wiegen, sie wird immer wieder sichtbar, doch in ihren Grundfesten erschüttert wird sie nicht. Woran liegt das? Mann stellt sich sozusagen selbst ein Bein. Mit geradezu verbotener filmemacherischer Lässigkeit demonstriert er seine Souveränität im Umgang mit dem vielschichtigen Stoff. Cool bis dort hinaus zeigt er seine Könnerschaft im Schaffen sinnlicher Bildtexturen. Im Inneren eines Computers sieht es aus wie im Tron-Remake, und im Inneren eines Gefängnisses hat die Zukunft bereits begonnen. Raubkatzengleich elegant fließt die von Stuart Dryburgh geführte Kamera von Schauplatz zu Schauplatz – China, USA, Malaysia, Indonesien, Wherever – und vergisst nie, auch ein wenig Lokalkolorit aufzunehmen. Man kann gar nicht genug bekommen von der Brillanz und Dynamik dieser Bilder, von den Nahaufnahmen der Gesichter, den beiläufig eingefangenen Details, der vermeintlichen Flüchtigkeit des Chris Hemsworth und Michael Mann Blicks, in dem doch sorgsame Planung steckt. Da schaut man also und sieht hier die teure Sonnenbrille und den schicken Anzug, dort die Submachine-Gun und das aus der Trainingshose hängende Labbershirt. Hier die hübschen Menschen, hier die eher hässlichen, die einen tragen weiße, die anderen schwarze Hüte. Posen, Gesten, Symbole und Metaphern. Alles schön und gut, aber auch kalt und glatt. Wären da nicht Viola Davis, die als FBI-Agentin Carol Barrett die Mission koordiniert, und Ritchie Coster, der als Söldner Kassar für die Feuergefechte zuständig ist, Blackhat bliebe eine Blackbox ohne Herz. Doch Davis und Coster gelingt es, einen Virus ins Programm zu schleusen, eine alte analoge Technik, gegen die noch kein digitales Kraut gewachsen ist. Sie heißt Figurencharakterisierung, baut auf Mitgefühl und Interesse auf, setzt emotionales Gewicht gegen bleierne Artifizialität. BLACKHAT Thriller, USA 2015 ~ Regie Michael Mann Drehbuch Morgan Davis Foehl Kamera Stuart Dryburgh Schnitt Mako Kamitsuna, Jeremiah O’Driscoll, Stephen E. Rivkin, Joe Walker Musik Harry Gregson-Williams, Atticus Ross, Leopold Ross Productions Design Guy Hendrix Dyas Kostüm Colleen Atwood Mit Chris Hemsworth, Tang Wei, Viola Davis, Ritchie Coster, Wang Leehom, William Mapother, John Ortiz, Holt McCallany, Andy On Verleih Universal Pictures, 134 Minuten www.blackhat-film.at Kinostart 5. Februar ray 87 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Asphalt Metropolis 88 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at DER ZAUBER DER STRASSE Ab 13. Februar im Österreichischen Filmmuseum: „Asphalt. Stadtmenschen im Weimarer Kino, 1923–1933“ Text ~ Jörg Becker D ie Auswahl, die das Filmmuseum zum Kino der Weimarer Republik getroffen hat, umfasst etwa dreißig Werke aus der Dekade zwischen 1923 und 1933, vom Ende der Inflation bis zum Übergang von der präsidialdemokratischen Republik in die NS-Diktatur. Das Spektrum erstreckt sich zwischen dem Genre-begründenden Film Die Straße (Karl Grune) und dem aus historischer Rückschau sarkastisch anmutenden Titel Morgen beginnt das Leben (Werner Hochbaum): ein Film noch in der Formensprache des Weimarer Stadtfilms, wenngleich bereits in den ersten Monaten der Nazi-Regierung entstanden. Mit ihm ging ein frühes Kapitel realistischer Filmkunst des modernen Stadtlebens zu Ende. Gewichtige Markierungen des deutschen Kinos jener Jahre jenseits des ausdrücklichen Topos Straße bilden die Ufa-Prestigeproduktionen Der Walzertraum (Ludwig Berger, 1925), Metropolis (Fritz Lang, 1927) und Der blaue Engel (Josef von Sternberg, 1930). Mit dem Walzertraum kam, nach der Vorlage einer Oscar-Straus-Bühnenoperette, das „Alt-Wien“-Genre in die Welt; mit Der blaue Engel, im Kolorit der spätwilhelminischen Ära, gewann Marlene Dietrich als gefundene Verkörperung einer erotisch libertären Moderne auf dem ungeregelten Libido-Markt der Kräfte Wunsch, Verlangen, Gier und Verführung Ikonenstatus; und Metropolis, dieses Monstrum, das, von utopischem Zukunftspunkt aus, eine rückblickende Phantasie übergreifender Menschheitsmythen enthält, „bester Ausdruck des Imaginären in Deutschland während der ‚relativen Stabilität‘“ (Bernard Eisenschitz). Der Zauber der Straße, dieses schmutzigen Schauplatzes von kommunalem, öffentlichem Leben – das war auch der Zauber des Kinos. Karl Grunes Die Straße (1923) zeigt Menschen in ih- ren Milieus, definiert sie räumlich. Lichtreize, Stimulantien von außen ziehen den Biedermann aus seiner Innerlichkeit in die ungeschützten Räume der Großstadt. Der Freiheitstraum eines braven Bankkassiers hat in Siegfried Kracauers sozialpsychologische Diagnose des Weimarer Kinos, „Von Caligari zu Hitler“ (1947), eingewirkt: „Das Aufkommen dieser realistischen Tendenz in Die Straße zeigt deutlich, dass der allgemeine Rückzug ins Schneckenhaus, der symptomatisch für die Nachkriegsjahre war, abgeblasen werden sollte. Es war, als hätte dieser Rückzug mit der Annahme der Devise ‚Von der Auflehnung zur Unterwerfung‘ sein Ziel erreicht und als wollte jetzt, wo der Prozess innerer Anpassung zu einem Abschluss gekommen war, das Kollektivbewusstsein den Kontakt mit der äußeren Realität wieder aufnehmen.“ Bezeichnend für den Straßenfilm erscheint der infantil-regressive Charakter einer Schutz suchenden, wiedergutmachen-wollenden Gebärde eines reumütigen Rückkehrers im Schoß der Gattin oder in den Armen der Geliebten, einer Gebärde, wie sie etwa in Asphalt (1929) oder Morgen beginnt das Leben (1933) den Zyklus der Handlung beschließt. REIZÜBERFLUTUNG DER STADTMASCHINE Der letzte Mann (1924), F.W. Murnaus Tragikomödie eines alternden Hotelportiers, gehört auch noch zum Genre Kammerspielfilm, erfüllt von mimisch-gestischem Psychodrama, das die Ängste des deutschen Kleinbürgers in der Inflationsphase reflektiert. „In seinem Kern ist dieser Film eine Herrschersatire.“ (Karl Prümm) Eine Satire allerdings als universelle kapitalistische Parabel um einen „Modernisierungsverlierer“ (Thomas Koebner), eine Parabel, in der allerdings der Faktor „Status und Scham“ bei Gesichtsverlust des Degradierten dazu angelegt war, dem ray 89 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at M – Eine Stadt sucht einen Mörder Zuschauer für lange Zeit zu schaffen zu machen, bis dieser Niedergang ironisch aufs Unwahrscheinlichste umgebogen wird ins Happy End einer großen Erbschaft, die ein verrückter amerikanischer Millionär dem zum Klomann herabgewürdigten Portier hinterlässt. US-Dollars lassen den von seiner Uniform Gehäuteten urplötzlich aus den Tiefen der Aborte in unglaublicher Wendung nach oben schießen, empor in die Salons – zu denken an die US-Investitionen in Deutschland, die als Auswirkung des Dawes-Plans die Verhältnisse der Republik umwälzten, worauf das Hauptmotiv des Grand Hotels, die Drehtür, welche die Einund Ausgehenden herumwirbelt, das zentrale Sinnbild abgibt. Tatsächlich verdankte sich der wirtschaftliche Aufschwung nach der Ablösung der Rentenmark durch die Reichsmark in Deutschland in erster Linie ausländischem, vor allem US-Kapital, das infolge des Dawes-Plans, der durch die Räumung des Ruhrgebiets, die Senkung der Reparationsleistungen sowie große Anleihen an Deutschland eine Scheinblüte verursachte, in der Republik angelegt wurde. Mit Franz Biberkopf, dem ehrlichen Ganoven aus dem Kriminellenmilieu, gerade aus dem Gefängnis entlassen, fährt der Film Berlin-Alexanderplatz (Piel Jutzi, 1931) vom Rand der Stadt (Tegel) in die Mitte Berlins, in Richtung Scheunenviertel, und der Held fühlt sich nach Jahren der Absenz von der Reizüberflutung der Stadtmaschine, in die er eindringt, zunehmend in Panik versetzt. Wiederholt wird der Alexanderplatz als authentischer Topos einbezogen, wo der nunmehr einarmige Biberkopf sich schließlich mit eisernem Willen behaupten kann durch den Verkauf von Stehaufmännchen – dessen Geheimnis: „Es hat Metall am rechten Fleck!“ Der Querschnitt durch die Stadt – in unterschiedlichster Weise findet er sich in Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (Walther Ruttmann, 1927): 24 Stunden im Leben einer Stadt, phänomenologisch und nach formalen Prinzipien, musikalisch in rhythmischen Sequenzen komponiert, zielt der Film auf visuelle Wirkungen des modernen Metropolenlebens mehr als auf soziale Zusammenhänge und stellt eine Eroberung der Wirklichkeit des Dokumentarischen durch den Avantgardefilm dar. Ein anderer filmischer Berlin-Querschnitt zeigt sich in Emil und die Detektive (Gerhard Lamprecht, 1931) nach Erich Kästner, denn während der Entdeckungsreise bzw. Verfolgung des Diebes quer durch die Stadt wird Berlin selbst zum Träger der Handlung. DIE METROPOLE, DER DSCHUNGEL Mit M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), der Geschichte einer Menschenjagd, traf Fritz Lang die Atmosphäre in Deutschland kurz vor dem Machtantritt der Nazis. M markiert Langs Kino der Angst, das darauf angelegt war, dem noch Unbekannten Gestalt zu geben und Ahnungen zukünftiger Dinge identifizierbar zu machen. Der Film synchronisiert die Fahndungsgeschichte von Polizei und Unterwelt: Während jene die Stadt rasterhaft erschließt, bewegt sich diese wie im Dschungel, auf eigener Wildbahn, ist damit im Vorteil und zerrt den getriebenen Täter (Peter Lorre), eine gehetzte, zerrissene Gestalt, vor ihr unterirdisches Tribunal. 90 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Berlin Alexanderplatz Auf der Flucht vor der Polizei landet ein Einbrecher-Matrose (Friedrich Gnaß) im Zimmer eines Straßenmädchens (Gina Falckenberg), im Nu bricht die Liebe aus, mit ihr keimt der Traum von einem anderen Leben, doch während der Nacht in der Kongo-Bar zieht sich das Fahndungsnetz immer enger zusammen. Ein lumpenproletarischer poetischer Realismus von Werner Hochbaums Film aus dem Hafenmilieu, Razzia in St. Pauli (1932), habe, so Peter Nau, „das verbrauchte, abgestorbene Material des aus der Stummfilmzeit überkommenen Ganoven- und Dirnenfilms durch Verwandlung in eine originale und aktuelle Filmform gleichzeitig aufgedeckt und gerettet“. Der von Piel Jutzi für die KPD-nahe Prometheus-Filmgesellschaft inszenierte Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) galt als der proletarische Film seiner Zeit, der das Wohnungselend in den Berliner Arbeitervierteln anprangerte und in von Heinrich Zille inspirierten Bildern eine Authentizität vorgab, die hier eher noch als die Montagetechnik des erfolgreichen „Russenfilms“ seine agitatorische Wirkung forcierte. Gegenüber diesem naturalistischen Melodram markiert Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt (1932) nach Brecht und Ottwaldt als politisches Werk eine erhebliche Differenz. Aufruf zur Veränderung der sozialen Verhältnisse auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit Anfang 1932 mit 6,1 Millionen Arbeitslosen, ist Kuhle Wampe, letzter klassenkämpferischer Film der Weimarer Republik, ein betont unsentimentaler Film, „ein Experiment“, schrieb Herbert Ihering 1932. „Er ist jenseits des Betriebs gemacht, mit künstlerischer Überzeugung und restlosem Einsatz.“ Asta Nielsens Gesicht, das in Die freudlose Gasse (G.W. Pabst, 1925) zur „dramatischen Bühne“ der Metamorphose des Schmerzes wird, beschreibt Balázs in seinem Werk „Der sichtbare Mensch“ (1930). Die freudlose Gasse konfrontiert die sozial Deklassierten und Hungernden im Wien der NachkriegsInflationszeit mit den Spekulationsgewinnern zur Zeit der „Entwertung aller Werte“; entgegen der kriminalistischen Vorlage konzentrierte sich Pabst auf den sozialen Kontrast und die herrschende Korruption. Der Blick auf Greta Garbo, die in ihrem einzigen deutschen Film eine arbeitslose Beamtentochter verkörpert, wird meist als Tableau inszeniert, nah, was in einem reizvollen Spannungsverhältnis steht zum sozialkritischen Impetus des Films. FILMGESCHICHTLICHER PAUKENSCHLAG Ein „Film ohne Schauspieler“, sollte es sein, „ein Taxi-Chauffeur, ein Weinreisender, ein Ladenmädel (verkauft Schallplatten von Caruso bis Sunnyboy), eine Filmkomparsin und ein Mannequin – was passiert? Nichts? Nichts passiert.“ So warb das Programmblatt zur Uraufführung mit Ereignislosigkeit, weckte Neugier auf die alternative Attraktion: Ein Sonntag wie tausend andere wird dokumentiert in Menschen am Sonntag (Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Buch: Billie Wilder, nach Curt Siodmak, 1930), dem Film, der die Konventionen des damaligen Erzählkinos unterlief. Zu sehen ist eine visuelle Studie der Urbanität, die vor und unabhängig von jeder Inszenierung existiert, Stilisierung ausschließt und stark auf Spontaneität, Zufällen und Gefundenem ray 91 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Emil und die Detektive Ich bei Tag und du bei Nacht Die Straße basiert. Das Porträt einer jungen Stadtgeneration erscheint wie ein Lob auf deren Vitalität und wie sich diese in der Metropole entfalten kann – überdies „ein filmgeschichtlicher Paukenschlag. Formal der Neuen Sachlichkeit zugehörig, antizipiert der Film den Neorealismus.“ (Thomas Brandlmeier) Siodmaks anschließender abendfüllender Tonfilm, Abschied (1930), ein Milieu-Nachwuchsfilm der Ufa, widersprach ebenfalls den Mustern des Starkinos. Die insgeheime Adaption von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ (1902) liefert eine typische Berliner Geschichte aus Vertrautheit mit Ort und Milieu: „Menschen in einer kleinen Pension, es ist ein Stadtfilm des Innenraums. Die sich überschneidenden Bewegungslinien, Zufallskonstellationen und ein unablässiges Zirkulieren sind für ihn kennzeichnend.“ (Karl Prümm) Die Beschränkungen auf den Innenraum des Studios, weil Tonaußenaufnahmen noch nicht möglich waren, nimmt der Film ins Konzept seiner Reduktion von Raum und Zeit sowie des Kamerablicks auf. „Die Handlung beginnt abends um 7, und gegen 9 Uhr endet sie schon. Die Zeitfolge wird gar nicht unterbrochen. Und auch die Einheit des Milieus nicht. (…) Mit der Absicht, die tonfilmisch toten Stellen zu überbrücken, spielt im Film während seiner ganzen Dauer ein Klavier.“ (Drehbuchautor Emmerich Preßburger). „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück“, singt Lilian Harvey in Ein blonder Traum (Paul Martin, 1932). Statt Filmstar in Hollywood zu werden, entscheidet sich die abgebrannte Variétékünstlerin für den Fensterputzer Willy Fritsch (das deutsche Filmtraumpaar jener Jahre, von dem auch die Menschen am Sonntag schwärmen). Das eskapistische kleine Glück, zentrales Element der Tonfilmoperette jener Jahre, machte das Ufa-Erfolgsrezept in der Notverordnungsphase der späten Republik maßgeblich aus. Zeitweilig kommen die Lebenskünstler aus Armut in Laubenkolonien unter („Wir zahlen keine Menschen am Sonntag Miete mehr, wir sind im Grünen zuhaus‘“). Aus Geldnot in der Krise müssen sich die Maniküre Grete (Käthe von Nagy) und der Kellner Hans (Willy Fritsch), der nachts arbeitet, arrangieren und im Schichtdienst ein Untermietzimmer teilen, doch kennt man sich nicht persönlich, sondern verliebt sich an neutralem Ort. Der Hauptschlager des Films Ich bei Tag und du bei Nacht (Ludwig Berger, 1932) besingt das Kleine-Leute-Vergnügen: Kino im Film, der durchaus selbstironisch die Realitätsflucht, die das Medium bedient, bloßstellt. „Wenn ich sonntags in mein Kino geh‘ und den Himmel voller Geigen seh‘, träum‘ ich noch am Montag früh: Einmal leben so wie die – doch zu sowas kommt man nie!“ Asphalt. Stadtmenschen im Weimarer Kino, 1923–1933 Österreichisches Filmmuseum, 13. Februar bis 9. März Außerdem zu sehen: Der zweite Atem. Rezente Restaurierungen des Filmmuseums. 35 von 350 restaurierten bzw. umkopierten Werken aller Gattungen und Formate, entstanden zwischen 1907 und 2001, vom Klassiker bis zum historischen Amateur-Fundstück, sind ab 26. Februar zu sehen. An der Auswahl, die Kennerinnen und Kenner des Filmmuseums nicht überraschen wird, lassen sich auch die Grundlinien der Sammlungsgestaltung ablesen: Filme von Dziga Vertov, Dušan Makavejev, Apichatpong Weerasethakul, Ulrich Seidl, Heinz Emigholz oder James Benning (zu letzteren beiden siehe auch die DVDTippstrecke in diesem Heft), aber auch schablonenkolorierte Tourismusfilme der 1910er Jahre oder das Werk einer der ersten Spielfilmregisseurinnen: „Das Teufelchen“ (1917) von Rosa Porten. Eröffnet wird die Reihe mit Lav Diaz’ fünfstündigem, in der philippinischen Diaspora in New Jersey angesiedeltem Meisterwerk „Batang West Side“ (2001). 26. Februar bis 11. März www.filmmuseum.at 92 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at D r. Z Die Poesie des Realen: mit Umberto D. in Rom Text ~ Peter Zawrel Wenn es Februar wird im „ray“, verbringt Dr. Z seine Abende im Filmmuseum, das ist im Jahreslauf so festgeschrieben. In seiner – zugegebenermaßen sehr subjektiven – Retrospektiven-Rangliste liegen die Wintermonate im Kino seines Vertrauens ungefährdet ganz vorne. Als er vor genau drei Jahren die erste Kolumne verfasste, blieb ihm mangels anderer Eindrücke gar nichts anderes übrig, als einen Vorfall an der Bar des Filmmuseums zum Anlass des Schreibens zu nehmen, nämlich den – unvergesslich gebliebenen! – vergeblichen Versuch einer Besucherin, am 16. Dezember 2012 einen „Sportgummi“ zu erstehen, um sich durch die Vorführung von Macao zu rascheln … und nun ist es wieder so weit, denn von Dezember bis Februar heißt die wichtigste Frage wieder, ob der Lieblingsplatz in Reihe 8 frei ist oder nicht! Von diesem Platz aus lassen sich im perfekten Blickwinkel die wundersamsten Reisen unternehmen, neulich etwa mit der Straßenbahn durch das Rom der Nachkriegszeit. Als ich selbst 1983 in Rom angekommen war, um dort einige Zeit zu verbringen, folgte ich dem Rat einheimischer Freunde und verbrachte meinen ersten freien Tag in der Straßenbahn. Besser als durch die Fenster einer Tram an einem frühen Sonntagmorgen erschließt sich einem die Stadt nicht. Die Fassaden der hohen Gebäude, die am Tiber schon vor Jahrhunderten in den Himmel wuchsen, zeigen sich in den harten Schatten des Morgenlichts gleißend hell oder tief verdunkelt. Man möchte nicht aufhören, durch das Häusermeer zu gleiten, auch wenn es gefährlich rumpelt. Vittorio De Sica lässt seinen Anti-Helden Umberto D. am frühen Morgen das ihm verleidete Quartier an der Ecke Via San Martino della Battaglia/Campo Pretorio verlassen, in einem Koffer seine letzten Habseligkeiten, die er einsetzen will, um seinem Hund Flike ein Auskommen in einer Hundepension in der Via Luccosa zu sichern, bevor er, der alt und nutzlos gewordene, verschuldete Beamte i.R. sich aus seinem sinnlosen Hiersein hinwegstiehlt. Als er die Straßenbahn besteigt, beginnt eine der schönsten urbanen Sequenzen der Filmgeschichte, ein Kleinod an Rhythmus und Stimmigkeit. Wir verfolgen drei Bewegungen: jene der Tram durch das halbschlafene Rom, jene des Signor D., der sich aus seinem vertrauten Leben zur letzten Reise aufmacht, und jene seiner Blicke, die er zuerst zurück wendet, zu dem im Fenster seines alten Domizils stehenden Zimmermädchen Maria, des einzigen Menschen, der ihn ernstgenommen hat, bevor er sich in die Fahrtrichtung wendet und hinauf zu den Häusern, die vorbeiziehen wie stumme Zuschauer, und weiter hinauf in den römischen Himmel. Er braucht aber noch einen letzten Anstoß, damit er sich ganz dem Blick aus dem Fenster widmet, das ist der Mann, der sich neben ihn setzt, ihn keines verschlafenen Blickes würdigt. Einmal leuchtet ein weißer Fleck in einem Fenster hoch oben auf, aber da ist kein Mensch, nur Wäsche im Sonnenlicht. Auch die Straßen sind leer, und in der Via Leccosa wird Umberto D. nur auf Karikaturen von Menschen treffen, die uns wehmütig an Maria zurückdenken lassen. Die Straßenbahnfahrt dauert knapp 70 Sekunden, die man immer und immer wieder sehen will. Wir verstehen, dass nun der letzte Teil des Filmes beginnen muss, dass es kein Zurück mehr gibt, ein Ende naht. Dass dieses ganz anders sein wird, als wir glauben, können wir nicht einmal erahnen. (Alleine dafür hätte der Drehbuchautor Cesare Zavattini den Oscar verdient, für den er nominiert war.) Aber wir können 70 Sekunden lang mit Umberto D. und Flike durch Rom fahren, den Blick die Häuser entlang in den Himmel träumen lassen, uns der Poesie des Realen hingeben und die Misere des Lebens vergessen. PS: Das Filmmuseum zeigt Umberto D. auch noch am 5. Februar, und wenn das neue „ray“ rechtzeitig im Postkasten liegt, sollte sich der Ausflug nach Rom für seine Leserinnen und Leser noch ausgehen. ray 93 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at AUSTRIAN PSYCHO James Bond in Osttirol? Was ist das schon gegen diesen Thriller: Das British Film Institute sucht einen verschollenen, 1926 in den Tiroler Bergen gedrehten Film von Meister Alfred Hitchcock. Text – Heinz Kampel E s dürfte wohl nur eingefleischten Cineastinnen und Cineasten bekannt sein, dass der legendäre Alfred Hitchcock in Österreich einen Film gedreht hat. Für seine zweite Regiearbeit wählte der spätere Master of Suspense das Dorf Obergurgl in Tirol als Schauplatz. Die wenigen erhaltenen Setfotos zeigen Sir Alfred mit voller Haarpracht inmitten schneebedeckter Landschaften. Von den Filmrollen selbst hingegen fehlt bis heute jegliche (Schi-) Spur. Bei der Wahl der Location führte ein bisschen auch der Zufall Regie. Ursprünglich war Hitchcock in bayrischen Landen unterwegs, als er in München, so die Legende, an einem Kiosk eine Postkarte eines völlig entlegenen Bergdorfes entdeckte. Hitchcock war sehr angetan, denn bar jeder Zivilisation musste die Ortschaft sein, um die Einsamkeit der ansässigen Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Die steilen Hänge der Ötztaler Alpen standen symbolisch wohl auch für die menschlichen Abgründe der handelnden Personen des in Kentucky angesiedelten Melodramas. Analytische Inszenierung psychischer Beeinträchtigungen sollte in späteren Jahren zu einer fixen Zutat eines echten Hitchcocktails werden. Handlung, Hauptdarsteller und Hintergründe des 1926 entstandenen Stummfilms sind bekannt. Titel des Films war nicht Das Fenster zum Bauernhof, sondern The Mountain Eagle. Das BergWerk behandelt eine Vierecks-Geschichte zwischen einem Vater, dessen Sohn, einem geächteten Eremiten und einer hinreißenden, hin- und hergerissenen Lehrerin. Dass diese Konstellation nicht für alle Protagonisten gut ausgehen konnte, versteht sich von selbst. Als Cutterin war damals auch schon Alma Reville, die Muse des Maestros und spätere Mrs. Hitchcock, mit von der Partie. Sie war es, die dem Regisseur beistand, als er einmal an Vertigo litt. Sie kredenzte ihm seine Lieblingslimonade aus den Zitrusfrüchten, die er eigens in einem prall gefüllten Rucksack 94 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at angeschleppt hatte. Sie vermittelte, als die für die weibliche Hauptrolle engagierte amerikanische Diva Nita Naldi, die ehemalige Stummfilm-Partnerin Rodolfo Valentinos, sich zu Drehbeginn lautstark beschwerte: Ihre Anreise nämlich hatte sechs Stunden bergauf im Pferdewagen gedauert, zudem musste sie für ihre Performance als Mädchen vom Lande ihre schönen langen Fingernägel opfern und von ihren eleganten Pumps auf Haferlschuhe umsteigen. Ganz generell standen die für zwei Wochen angesetzten Dreharbeiten unter keinem guten Stern. Der ungewöhnlich früh einsetzende Schneefall bedingte, dass die örtliche Feuerwehr zur Schneeräumung herangezogen werden musste. Auf die weiße Pracht hätte Hitch gerne verzichtet, hatte er doch die Drehorte zuvor nur in Grünlage besichtigt. Diesbezüglich die bekannteste von Hitchcock überlieferte Anekdote zu dem Film: „Nach Tagen der Untätigkeit beschlossen wir, Tauwetter zu produzieren. Ich überzeugte eine Handvoll Männer, mit der Handpumpe der Freiwilligen Feuerwehr den Schnee wegzuwaschen. Eines ums andere befreiten sie die Dächer vom Schnee. Doch eines der Hausdächer gab unter den Wassermassen nach, und die Bewohnerin beschwerte sich zu Recht über ihr geflutetes Heim. Der Bürgermeister meinte, dass ein Schilling Entschädigung für die Frau angemessen wäre. Sie bekam zwei von mir. Gemessen an ihrer Freude, hätte ich für zehn Schilling wohl das ganze Dorf unter Wasser setzen dürfen.“ Das British Film Institute räumt dem Film einen hohen Stellenwert innerhalb der Filmgeschichte ein und hat eine Kampagne zur weltweiten Suche nach einer Kopie ausgerufen. Auch Johannes Köck, der Geschäftsführer von CineTirol, hat sich der Auffindung von The Mountain Eagle verschrieben. Er sieht es als Verpflichtung an, der Nachwelt Hitchcocks Heimatthriller vorzuführen. Seine Nachforschungen reichen von Russland, wo die Filmrollen als Nachkriegsbeute gebunkert sein könnten, bis in ein Filmarchiv in Neuseeland, einem beliebten letzten Ruheort rund um die Welt gereister Filmkopien. Sachdienliche Hinweise und der Film im Besonderen werden von ihm zu jeder Tagesund Nachtzeit entgegengenommen. Hitchcock selbst teilte die Begeisterung offenbar nicht: Als Sir Alfred von François Truffaut auf sein verschollenes Frühwerk angesprochen wurde, äußerte er sich abfällig und befand The Mountain Eagle für vernachlässigbar. Wir werden uns wahrscheinlich kein Lichtbild mehr davon machen können. Genauso wenig wie wir wissen können, wie es gewesen wäre, hätte Hitchcock den ersten James-Bond-Film gedreht, wie Ian Fleming es sich gewünscht hatte. Aber das ist wieder eine ganz andere interessante Geschichte. ray 95 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at 96 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at t i p p s d e s m o n a t s Trois couleurs: Rouge (1994) GROSSMEISTER Krzysztof Kieślowski, 1941 in Warschau zur Welt gekommen und 1996 ebendort verstorben, zählt zu den bedeutendsten Regisseuren des 20. Jahrhunderts. Begann er zunächst mit Dokumentarfilmen, die einen kritischen Blick auf soziale Realitäten warfen (und die allesamt von der polnischen Regierung stark zensiert wurden) war zunächst auch sein Stil als Spielfilmregisseur von sozialem Realismus geprägt. Während der Dreharbeiten zu Ohne Ende (1984) lernte Kieślowski, der am Filmemachen besonders den Aspekt der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern schätzte, zwei prägende künftige Mitarbeiter kennen: den Drehbuchautor Krzysztof Piesiwicz und den Komponisten Zbigniew Preisner. Mit beiden arbeitete er für den Fernseh-Zehnteiler Dekalog zusammen, der ihm den internationalen Durchbruch bescherte. Diese Verfilmung der zehn Gebote funktionierte abseits von Bibelkitsch und stellte Fragen nach der moralischen Relevanz der Gebote in der Gegenwart. Zwei der Episoden erregten auch in längeren Versionen Aufsehen: Ein kurzer Film über das Töten und Ein kurzer Film über die Liebe. Nach dem geheimnisvollen Drama Die zwei Leben der Veronika drehte Kieślowski die berühmte, mehrfach preisgekrönte „Drei-Farben“-Trilogie – Blau, Weiß, Rot – die sich mit den Farben und Werten der französischen Flagge (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) beschäftigt. Die Kunst Kieślowskis war es, moralische Fragen auf spannende Weise, ohne erhobenen Zeigefinger, zu stellen. Wenn Sie Kieślowski neuoder wiederentdecken wollen: Eine DVD-Besprechung zu Dekalog finden Sie auf Seite 98, einen Literaturtipp zu einem Buch über den Filmemacher auf Seite 104. Oliver Stangl ray 97 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at d v d c l a s s i c s RELIGIOSITÄT OHNE RELIGION Ein im besten Sinne zeitloses Kino: Auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer Entstehung hat Krzysztof Kieś lowskis zehnteilige Filmreihe „Dekalog“ (1988–1989) nichts von ihrer emotionalen Wucht und Vielschichtigkeit verloren. Text ~ Benjamin Moldenhauer Illustration ~ Franz Suess 98 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at d v d c l a s s i c s D ie Bibel-Verfilmungen sind zahlreich, und die meisten sind unerquicklich. Die angestammten Genres sind der Monumentalfilm und der JesusEssay. Manchmal geht das gut (Martin Scorseses Die letzte Versuchung Christi), manchmal nicht (Mel Gibsons Die Passion Christi). Auf die Idee, von Religiosität anders als im Modus des Biopic oder als einer Abfolge von großen Taten bärtiger Männer zu erzählen, kommen nur die wenigsten (Pier Paolo Pasolini mit Das 1. Evangelium-Matthäus etwa, um auf noch etwas Gelungenes hinzuweisen); vielleicht auch deswegen, weil die allermeisten Produzenten einem Regisseur, der ein Exposé für einen Film, der nach der Aktualität christlicher Ethik fragt, auf den Tisch legt, bestenfalls freundlich aber bestimmt die Tür zeigen würden. Der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski hat nicht nur einen gedreht, sondern gleich zehn, einen zu jedem Gebot. Sein „Dekalog“-Zyklus ist Ende der achtziger Jahre für das polnische Fernsehen produziert worden, und jeder einzelne der knapp einstündigen Filme ist auch heute noch von einer bestürzenden Intensität. All die Tragödien, Grausamkeiten und Glücksmomente, die Kieślowski zeigt, spielen sich in und um einen Warschauer Neubaukomplex ab, alle funktionieren als eigenständige Geschichten über Menschen, die sich verloren haben oder deren Halt in der Welt mit einem Mal äußerst porös geworden ist. „Immer häufiger hatte ich den unabweisbaren Eindruck, ich sähe Menschen, die nicht wirklich wüssten, warum sie leben“, erzählt Kieślowski im Interview, bietet dem Zuschauer aber keine Erbauung an: „Ich weiß nicht, wie es sein sollte.“ Vielleicht deswegen können diese Filme ihre Wirkung nachweislich auch für Zuschauer entfalten, die sich, wie der Rezensent, für Agnostiker halten. Es geht Kieślowski nicht darum, was Jesus getan hätte. Es geht um einen präzisen, zugleich aber konsequent zurückhaltenden Blick auf die Menschen und ihr Tun und Lassen. Man sieht, was Hybris, was Einsamkeit, was ein Dilemma ist; im Film zum fünften Gebot bekommt man, in einer der unerträglichsten Gewaltszenen der Kinogeschichte, gezeigt, was es bedeutet, einen Menschen zu töten. Natürlich sind diese Filme nicht frei von Moral (wie immer das auch aussehen könnte), im Gegenteil – nur gibt Kieślowski nichts vor, sondern zeigt, was vorliegt. Die Klarheit und die Einfachheit dieser Bilder entstehen nicht durch die Suggestion eines Realismus, der behauptet, einfach nur die Kamera draufzuhalten. Jeder der zehn Filme ist mit einem anderen Kameramann gedreht, die Tonfälle differieren, jede Einstellung wirkt durchkomponiert. Es ist die Offenheit des Blicks, die den Zuschauer tatsächlich dazu zwingt, über diese Bilder nachzudenken. Wer das verweigert, kann sich die Zeit sparen und weiter HBO schauen. Die „Dekalog“-Filme wollen, wenn die etwas schiefe Formulierung gestattet ist, vom Zuschauer wissen, wer er ist. Und dieses ganz grundsätzliche Ernstnehmen – durch das sich das Gesamtwerk Kieślowskis im Übrigen ganz fundamental von, sagen wir, 95 Prozent der internationalen Filmproduktion unterscheidet – findet seine Entsprechung in der Haltung zu den Figuren auf der Leinwand. Man kann sie alle verstehen, ohne dass man sie mögen müsste. Niemand wird gerichtet. Diese Haltung zeugt von einer Religiosität, die mit der institutionalisierten Religion, wie wir sie heute kennen, nichts mehr zu tun hat. „Ich brauche keine Vermittler“, sagt Kieślowski. Warum die polnische Originalfassung im Fall dieser ansonsten rundum sorgfältig editierten DVD-Box ohne deutsche Untertitel auskommen muss, bleibt rätselhaft. Die deutsche Synchronisation jedenfalls macht keine Freude. DEKALOG Bibelfilmzyklus, Polen 1988/1989 Regie Krzysztof Kieś lowski Drehbuch Krzysztof Piesiewicz, Krzysztof Kieś lowski Kamera Wieslaw Zdort, Piotr Sobocinski, Jacek Blawut u.a. Musik Zbigniew Preisner, Henryk Baranowski, Wojciech Klata, Daniel Olbrychski, Maria Pakulnis, Joanna Szczepowska, u.v.a. Bonus „Still Alive“ (Dokumentation über Krzysztof Kieś lowski), „100 Fragen an Krzysztof Kieś lowski“ (Aufzeichnung eines TV-Gesprächs mit dem Regisseur, 42 Min.) Gesamtfilmlänge 563 Minuten auf 6 DVDs absolut Medien ray 99 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at d v d Parabeton, Perret in Frankreich und Algerien, The Airstrip Im Kopf vervollständigen Mit „The Airstrip“ erscheint der dritte Teil der Architekturfilmreihe „Aufbruch der Moderne“ von Heinz Emigholz. „Meine Arbeit als Filmemacher besteht darin, den dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche zu präsentieren, ihn also in filmische Einstellungen zu zerlegen und in der Projektion neu zu konstruieren. Kameraarbeit ist so gesehen eine architektonische Tätigkeit.“ („Bauwelt“ 37/2004) Nach zahlreichen, an Werkkatalogen favorisierter Architekten und Ingenieure der klassischen Moderne orientierten monografischen Filmen setzt sich in The Airstrip nunmehr ein Interesse an „anonymen, architektonischen Situationen“ durch. Vom „gefesselten Prometheus“ zu den künstlichen Landungsb r ü cke n a n d e r K ü s t e d e r Normandie, anschließend der Lichteinfall durch die Kuppel des Pantheon, es folgt eine Betonkuppel von 1913 in Breslau, unter der die Nazis Großversammlungen abhielten, und ein Warenhaus aus demselben Jahr in Görlitz – „Der Kapitalismus baute Filmsets für unschuldige Träume ...“ –, ein Einkaufszentrum um 2000 in Arceuil, 2011 „Die Moderne – ein Schrottplatz für architektonische Utopien ...“ Am Schluss der „Neptunbrunnen“, von Reinhold Begas, wie der Prometheus, aus der wilhelminisch-kolonialistischen Ära. Die monografischen Filme zum Werk der Architekten Pier Luigi Nervi und Auguste Perret geben Porträts ihrer geschaffenen Räume als „Handlungsräume“, die Emigholz mit Kameraeinstellungen für die Vorstellungskraft des Filmbetrachters komponiert. Das geschieht durchweg mit atmosphärischem Originalton der Bauten bzw. dem Klang ihrer äußeren Welt, ohne jeden Kommentar, ohne Menschenhandlung, in fixen Kadragen. In den Blickvarianten der Aufnahmeausschnitte wird ein vom ruhenden Objekt, der gegenständlichen Welt der Architektur inspirierter Kamerazugang kenntlich. Oft findet die Annä- herung an ein Bauwerk aus weiträumigem Ambiente statt, mit Sinn für die Integration einer Architektur in eine Landschaft, dann tendieren die Einstellungen ins Innere, Durchgänge, Raumanordnungen in die Tiefe ziehen den Blick an, mit Vorliebe bleibt die Kameraperspektive im Aufwärtsblick an komplexen Deckenkonstruktionen haften, betrachtet die geometrischen Lösungen der Begegnung von Flächen und Linien. Für The Airstrip filmte Emigholz auf den Marianen-Inseln im Pazifik die Betongruben, aus denen die beiden Atombomben für Hiroshima und Nagasaki in die Flugzeuge verladen wurden; später suchte er den Strand von Aramanche in der Bretagne auf, wo zwei riesige Betonbunkeranlagen, von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg als künstliche Häfen angelegt, im Gezeitenwechsel der Küste daliegen. Emigholz setzt mit The Airstrip die Ästhetik seiner Architektur- 100 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at filme fort, schlägt allerdings, neben dem verlesenen Autorentext, mit Überblendungen, Spezialeffekten und Musik der Band Kreidler neue Töne an. Womöglich eröffnet der historiografisch begründete Verknüpfungssinn seinem Werk neue Horizonte. JÖRG BECKER Parabeton. Pier Luigi Nervi und römischer Beton (DE 2012) Aufbruch der Moderne – Teil I Bonus 72 min. additional shots; Presseheft Filmlänge 100 Minuten Perret in Frankreich und Algerien (DE 2012) Aufbruch der Moderne – Teil II Bonus 113 min. additional shots; Presseheft Filmlänge 110 Minuten The Airstrip (DE 2013) Aufbruch der Moderne – Teil III Bonus Kurzfilm „Zwei Museen“ (18 min.) mit Gebäuden von Samuel Bickels und Renzo Piano, Kapitelmenü; Presseheft (DVD ROM) Filmlänge 108 Minuten Regie / Kamera / Schnitt Heinz Emigholz Filmgalerie 451 r e v i ed w s v d Bilitis, Nurse l i t e r a t u r NYMPH()MANIAC 1&2 – DIRECTOR’S CUT (DK 2013) BILITIS UNHUNG HERO NURSE (FR/IT 1977) (USA 2013) (USA 2014) In „Rumpelstilzchen“ wird ein Mädchen von einem Gnom symbolisch-sexuell ausgenutzt gegen frisch gesponnenes Gold, das sie stracks ihrem König/Ehemann/ Zuhälter abliefert. „Rumpelstilzchen“ – das war der Tarnname für den klandestinen Versand der Vorab-Presse-DVDs, vermutlich, damit dem Briefträger seine brisante Fracht verborgen bleibt: Die Langversionen von Lars von Triers schon legendärem zweiteiligen Nymph()maniac. Den gekürzten Kinofassungen weit überlegen – nicht nur wegen expliziter Sexszenen –, geht es um Obsessionen der Triebe, des Erzählens und Zuhörens in der dialektischen Dynamik der Ausnutzung. All den innerfilmischen Exkursen und Abschweifungen vom Fliegenfischen und Einparken, von Bach’schem Orgelchoral und Ost- und Westkirche, von Fingernägelschneiden und Rugelach, von Linden, Eschen und von Fibonacci-Penetration – all diesen Bereicherungen fügt der paratextuelle „Rumpelstilzchen“Verweis eine weitere, klug gewählte Fußnote hinzu. Kult der Unschuld. Zeitkonserven-Erotikon, Schmalztapete oder Pädophilen-Pampe? Bilitis lässt bis heute niemanden kalt. Der britische Fotograf David Hamilton, König des Weichzeichners, wurde zur Ikone der sexuellen Liberalisierung der Siebziger, als er sich mit impressionistischer Tattrigkeit auf vornehmlich unverhüllte Minderjährige konzentrierte. Knospende Früchte an Schamhaar-Gamsbart. Wallegewänder im Gegenlicht. Gebutterte Optik am Mittelmeerstrand. Es gibt viel zu entdecken inmitten der Überdosis Kitsch rundum den bisexuellen ersten Forschungsurlaub einer TeenieNymphe: Denn das Drehbuch der späteren Regie-Provokateurin Catherine Breillat enthält etliche böse Spitzen gegen das MachoPatriarchat. Sinnlichkeit und Farbgebung nehmen das spätere französische Kommerzkino eines Besson oder Beineix komplett vorweg. Und die selbstverständliche Leichtigkeit der Erotik hier, so fragwürdig sie in vielen Dingen sein mag, demonstriert perfekt, in welch politisch korrektem Mief das Kino aktuell steckt. Patrick Moote hat nicht eben den Größten, meint dessen Ex. „Unterdurchschnittlich“ seien Penislänge wie -dicke, bescheinigt die daraufhin zu Rate gezogene Urologin. Kein Mann hört dergleichen gerne, aller „size doesn’t matter“-Autosuggestion zum Trotz. Unerschrocken aber macht Moote sich nun daran, das „Problem“ zu beheben. Er begibt sich auf das weite Feld der Vergrößerung eines „zu klein“ geratenen Gemächts, und Brian Spitz begleitet ihn auf einer Reise, die von den USA nach Südostasien führt, Begegnungen mit Ärzten, Wissenschaftlern, Pornostars, Medizinmännern, Quacksalbern und Esoterikern mit sich bringt und doch zuvörderst der Frage nach der Relation zwischen männlicher Identität und männlichem Geschlechtsteil nachgeht. Mit welcher Offenheit Moote uns an seinem Selbstversuch teilhaben lässt, ist nicht weniger als heldenhaft; und auch wenn Unhung Hero mitunter etwas albern und narzisstisch wirkt, die unverkrampfte Weise, auf die sich hier ein Mann mit seinem Schwanz auseinandersetzt, nimmt ein. Der pathologische Hass auf Ehebrecher infolge eines schweren Kindheitstraumas treibt eine im Arbeitsalltag tüchtige Krankenschwester dazu, untreue Männer mit Verstümmelung und dem Tod zu bestrafen. Ein Opfer des Liebesverlangens der tückischen Serienkillerin – mit verlockendem Pornstar-Appeal affektiert verkörpert von Paz de la Huerta wird eine hübsche neue Kollegin. Als die den Kontakt abbricht, kommt es zu einem Massaker auf der Intensivstation. Die nach Art klassischer Exploitation Movies versiert inszenierte Femdom-Story wird streckenweise aus der Perpektive und mit OffKommentaren der Psychopathin geschildert, „The Killer Inside Me“ von Jim Thompson mag da als Anregung gedient haben. Mit aufreizenden Kostümen, Catfights, einer chirurgischen Folterszene und literweise verspritztem Kunstblut werden sadomasochistische Gelüste, Fetisch- und GoreFans gleichermaßen bedient. Für Komik sorgt eine penetrant frohsinnige Klatschbase, die Kranke und Klinikpersonal mit SmileyAufklebern nervt. PAUL POET ALEXANDRA SEITZ RALPH UMARD Mit Charlotte Gainsbourg, Stellan Regie David Hamilton Regie Brian Spitz Regie Douglas Aarniokoski Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBe- Musik Francis Lai Mit Patrick Moote, Axel Braun, John Mit Paz de la Huerta, Catrina Bow- ouf, Christian Slater, Uma Thurman, Mit Patti d’Arbanville, Mona Kristen- Falcon, Allie Haze den, Corbin Bleu, Judd Nelson Jamie Bell, Willem Dafoe sen, Bernard Giraudeau, Matthieu Filmlänge 84 Minuten Bonus Regiekommentar, Making-of, Bonus Interviews mit den Darstellern Carrière, Gilles Kohler Filmconfect Featurette Filmlänge 327 Minuten Länge 91 Minuten Filmlänge 84 Minuten Concorde Film Alive Universum HARALD MÜHLBEYER Regie Lars von Trier ray 101 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Harms, Ruhr d v d WHEN ANIMALS DREAM HARMS 55 DAYS AT PEKING NATURAL HISTORY / RUHR (DK 2014) (DE 2013) (USA 1963) (AT 2014 / DE 2009) Ein Mädchen in einem dänischen Dorf am Meer, die Mutter ist mit Medikamenten ruhig gestellt, der Vater besorgt wegen eines nicht weiter spezifizierten Familienf luchs. Die Pubertät ist in vollem Gange, es wachsen Haare, wo sie eigentlich nicht hingehören, die Dorfgemeinschaft wird unruhig und natürlich dauert es nicht allzu lang, bis die erste Leiche im Vorgarten vergraben werden muss. Der dänische Film When Animals Dream knüpft an die WerwolfMythologie an, der Horror aber ist hier nur der Aufhänger, um etwas ganz und gar Grundlegendes über Etablierte und Außenseiter zu erzählen. Dass sich schon sehr bald die nominell Normalen als die eigentlichen Monster herausstellen, ist nun wiederum nichts Neues, wird aber nicht oft so en passant und überzeugend erzählt wie hier. Ein feministisch informierter und auch filmästhetisch eigensinniger Werwolf-Horror: Fast jede Einstellung wirkt wie gemalt, und durch die Stilisierung entsteht eine genreuntypische Langsamkeit. „Für mich ist unheimlich wichtig, dass ich endlich wieder Leute erschießen kann“, sagt André Hennicke im Interview zu Harms: „Rollen, in denen wenig gesprochen und viel geschossen wird, sind für mich immer ganz besondere Highlights.“ Das umreißt ziemlich genau die Motivation, die Regisseur Nikolai Müllerschön und Produzent/ Hauptdarsteller Heiner Lauterbach antrieb zu diesem ungeförderten, kompromisslosen, straighten Gangsterfilm: Frisch aus dem Gefängnis, ein letzter großer Coup, die alten friends in crime, 100 Millionen in der Bundesbank, knackige OneLiner und natürlich Verrat, Blut und Tod – kurz, alles, was man braucht, ist drin in dieser Story um den harten Hund Harms. Und das ist nicht nur für eine deutsche Produktion beachtlich: dass von vorn bis hinten Hochspannung herrscht, dass mehr die Waffen als die Münder sprechen. Und dass die alte Garde der Senioren-Kriminellen sich allwöchentlich trifft, um ein paar Runden „Risiko“ zu spielen. Virtuose Kamerakranfahrten verbinden das Flaggenhissen von zwölf Botschaften in Beijing, begleitet von Klängen der Nationalhymnen – ein kakophonischer Effekt zu Beginn. Die Belagerung der Auslandsvertretungen durch die Boxer-Aufständischen im Jahr 1900 schafft für 55 Tage eine Allianz, bis am Ende wieder jede Nation ihre eigene Melodie spielt. In der Dekadenzphase Hollywoods produzierte Sam Bronston, Neffe von Leo Trotzki und Spezialist für Monumentales, in der Nähe von Madrid, um Kosten zu sparen, wenngleich das Geld üppig floss. Die Vorstellung eines (Meta-)Films über die ruinös komplizierten Dreharbeiten, zwischen Eitelkeiten, Labilitäten und Machtgebärden seiner Beteiligten, übertrifft das filmfeudale Spektakel bei weitem an Reiz. Nicholas Ray hatte sich vom Regiehonorar im Anschluss künstlerische Autonomie versprochen, doch die Rechnung ging nicht auf. Am 11. September 1962 kollabierte er am Set. Ein Traum hatte ihn gewarnt: „Something came to me in the night, and told me that if I do this film I will never make another.“ JÖRG BECKER Eingeweihten Kreisen ist der USamerikanische Mathematiker, Landschaftssoziologe und monolithische Filmemacher James Benning seit Jahrzehnten ein Begriff. Ihm ist die Entwicklung des Mediums ins Narrative zu schnell gegangen; in seinem überwiegend von langen, starren Einstellungen geprägten Werk übernimmt der jeweils sorgsam gewählte Frame die Rolle des Erzählers. Bennings bislang einzige zwei „außeramerikanischen“ Filme bilden die fünfte Ausgabe der BenningReihe der Edition Filmmuseum. In Ruhr, seiner Ode an das Ruhrgebiet, schlägt sich sein Umstieg aufs Digitale u.a. in der zentralen Einstellung des Kühlturms einer Kokerei nieder (in dieser Länge nicht möglich mit einer 16mmFilmrolle). In natural history wiederum, einem hinter die Kulissen schauenden „Porträt“ des Wiener Naturhistorischen Museums – mit sensationellem End Frame – spielt die Zahl Pi die verborgene Hauptrolle. Bonus: eine allfällige Einstiegshürden abbauende WDR-Doku, entstanden während der Arbeit an seinem Meisterwerk 13 Lakes (2004). HARALD MÜHLBEYER BENJAMIN MOLDENHAUER ROMAN SCHEIBER Regie Nikolai Müllerschön Regie Jonas Alexander Arnby Mit Heiner Lauterbach, Friedrich von Regie Nicholas Ray Regie James Benning Mit Sonia Suhl, Lars Mikkelsen, Sonja Thun, Axel Prahl, Martin Brambach, Mit Charlton Heston, Ava Gardner, Bonus „James Benning: Circling the Richter, Jakob Oftebro André Hennicke, Helmut Lohner, Ble- David Niven, Flora Robson Image“ (Reinhard Wulf, DE 2003, 84 Bonus Making-of, unveröffentlichte rim Destani, Valentina Sauca Bonus Deutscher Trailer, Restaura- Min.), Viennale-Trailer 2009, ausführ- Szene, Trailer Bonus Behind the Scenes tions-Demo-Szene liches Booklet (Deutsch, Englisch) Filmlänge 75 Minuten Filmlänge 102 Minuten Filmlänge 155 Minuten Filmlängen 122 bzw. 77 Minuten Prokino Alive Koch Media Edition Filmmuseum 102 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at KURT WEILL | BERTOLT BRECHT DIE SIEBEN TODSÜN TODSÜNDEN DEN Es spielt das Orchester der Vereinigten Bühnen Wien unter der Leitung von Milan Turković Karten: (01) 52 111-400 www.volkstheater.at Foto © Christoph Sebastian „Maria Bill macht Die Sieben Todsünden zum Triumph.“ (Die Presse) Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at l i t e r a t u r Krzysztof Kieślowski: Zufall und Notwendigkeit Ansprechendes Buch über den früh verstorbenen Regiegiganten 2001 hatte die Filmhistorikerin Margarete Wach ihre erste Monografie „Kino der moralischen Unruhe“ auf Basis ihrer Dissertation über Krzysztof Kieślowski (1941–1996) veröffentlicht. Der Titel bezieht sich auf die Beschreibung des engagierten, Missstände anprangernden Kinos der zweiten Hälfte der 1970er Jahre: „Diese Bezeichnung habe ich nicht ausstehen können, aber sie hat funktioniert“, so zitiert die Autorin Kieślowski. Wach, gebürtige Polin, hat sich in ihrer Forschung an diversen Univer- sitäten von Köln bis Łódź sehr intensiv mit dem polnischen Film beschäftigt. Der Regisseur Krzysztof Kieślowski war und ist dabei stets einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie hat nun mit dem Schüren Verlag in der Edition film-dienst eine zweite, überarbeitete Auflage ihrer Monografie über den polnischen Meister vorgelegt. „Zufall und Notwendigkeit“, so der neue Untertitel, soll die Aufmerksamkeit der zweiten Auflage auf Kieslowskis „vielleicht wichtigste ästhetische und epistemologische Kategorien“ lenken. Wach möchte den großen Einfluss deutlich machen, den Kieślowski auf das episodische Erzählkino von beispielsweise Tom Tykwer, Jean-Pierre Jeunet oder Paul Thomas Anderson hatte: „So sind Zufallskombinationen und Zwangslagen für Kieś lowski Poetik eines narrati- ven Netzwerks der offenen Lebenswege wie für sein ethisches Paradoxon einer indeterminierten Determiniertheit konstituierend.“ Das Buch wurde um mehr als 100 Seiten erweitert und stark umgearbeitet. Neu ist vor allem die Wiederentdeckung und Interpretation des 40 Jahre lang verloren geglaubten 16mmFilms Zdjȩ cie („Das Foto“) aus dem Jahr 1968. Es handelt sich hierbei um eine 32-minütige Dokumentation über zwei Männer, die ein altes Foto zweier Jungen mit Gewehren in der Hand – sie selbst – aus der Kriegszeit betrachten, sich gemeinsam erinnern. Entsprechend hat sich Wach Gedanken zur Fotografie gemacht. Fotos, Screenshots und Sequenzen-Stills wurden auch deshalb eindrucksvoll in die Analyse des Werks eingearbeitet. Darüber hinaus weist das Buch einen enormen Quellenkorpus 104 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at auf, darunter eine große Anzahl aus der polnischsprachigen Publizistik. Stilistisch stören hier und da allzu lobende Adjektive den Lesefluss des sonst im eher wissenschaftlichen Duktus verfassten Buchs. Inhaltlich jedoch bietet Wachs Buch innerhalb der Kiesś lowskiana einen sehr umfangreichen und detaillierten Einblick, macht wohl überlegte und genau beobachtete Interpretationsangebote für ein grundlegendes Verständnis der Filmästhetik und -poetik von Krzysztof Kieś lowski. Wach zollt damit auch fast 20 Jahre nach seinem Tod einem der bekanntesten und einflussreichsten polnischen Regisseure ihren Respekt. JENNIFER BORRMANN Margarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Zufall und Notwendigkeit. Edition film-dienst. Schüren Verlag, Marburg 2014. 624 Seiten, € 49,40 l i t e r a t u r ANSCHAUEN UND VORSTELLEN Belletristisch begeisterte, jedoch dem Kino abgeneigte Menschen erklären ihre Aversion gern so: „Ich möchte mir meine eigenen Bilder von einer Geschichte machen.“ Doch die Rezeption eines Films erschöpft sich nicht im Erfassen vorgegebener Bildinformationen. Die Zuschauer versuchen Figuren zu identifizieren, Orte zu erkennen, narrative Muster zu deuten, Farben, Töne und Symbole zu dechiffrieren. Um einen Film verstehen zu können, bedarf es in aller Regel imaginativer Ergänzungen, des geistigen Vor- oder Rückgriffs, des Auffüllens von Ausgelassenem, sprich: der Vorstellungskraft. „Aktive Zuschauer sind tätig bis in ihr Unbewusstes hinein, schon wenn sie die Leinwand automatisiert abtasten nach signif ikantem Material“, schreibt Heinz-Peter Preusser in der Einführung. Erstaunlich genug, dass die Forschung sich erst in jüngster Zeit verstärkt dem Phänomen der Rezipientenaktivität widmet bzw. umgekehrt Filme auf deren Imaginationslenkungsstruktur hin untersucht, nach Lenkungsmarkierungen im Filmtext fahndet. Wie breit das Feld ist, zeigt ein Blick auf die Arbeitsgebiete der Autorinnen und Autoren neben der Film- und Medienwissenschaft: u.a. Germanistik, Sprach-, Literatur-, Musik- und Kulturwis- senschaft, Philosophie, Ästhetik, Psychoanalyse, Didaktik, Kognitive Neuroinformatik und eben: Textualitätsforschung. Wer gedacht hat, Michael Hanekes Das weiße Band (2009) sei bereits ausinterpretiert, wird hier eines besseren belehrt: Gleich sechs Beiträge aus unterschiedlicher methodologischer Perspektive verdeutlichen, mit welch gehaltvollen Leerstellen der Filmtext die Phantasie der Zuschauer herausfordert und emotionale Ambivalenz hervorruft. Für Haneke-Kenner besonders lesenswert ist der aus didaktischer Sicht formulierte Ansatz „Die Kinder in Das weiße Band (nicht) verstehen“ von Ulf Abraham. Als die Bilder laufen und die Zuschauer mitlaufen lernten: „ray“-Kolumnist Klaus Kreimeier liefert unter dem Aspekt „Entfesselung und Steuerung“ eine mit vielen Beispielen unterfütterte Konzentration von Überlegungen zum frühen (Attraktions-)Kino, die er in seinem schönen Buch „Traum und Exzess“ angestellt hat; Julia Schoderer analysiert akribisch die 2008 restaurierte früh-expressionistische „Stummfilmsymphonie“ Nerven (1919, Robert Reinert, auf DVD in der Edition Filmmuseum). Naturgemäß sind die meisten Aufsätze nur für wissenschaftlich Vorgebildete durchweg verständlich. Von den Ausnahmen sei Julian Hanichs Typisierung der „suggestiven Verbalisierungen im Film“ erwähnt. Seinem Text stellt er einen Satz von Wittgenstein voran: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ ROMAN SCHEIBER Heinz-Peter Preusser (Hg.): Anschauen und Vorstellen. Gelenkte Imagination im Kino. Schriftenreihe zur Textualität des Films, Band 4. Schüren Verlag, Marburg 2014. 452 Seiten, zahlreiche Abbildungen, € 49,40 INDIENS KINOKULTUREN „Ein Buch über den Plural“ – besser kann man das Projekt nicht zusammenfassen, dem sich die Herausgeberinnen Susanne Marschall und Rada Biberstein mit „Indiens Kinokulturen. Geschichte – Dramaturgie – Ästhetik“ zugewandt haben. Zwar ist Bollywood inzwischen in Europa ein bekannter Begriff, zwar sind Regisseure wie Satyajit Ray (Pather Panchali, 1955), Ritwik Ghatak (Subarnarekha, 1962)oder Guru Dutt (Kaagaz Ke Phool, 1959) dem ArthousePublikum bekannt. Doch kann die Komplexität und Heterogenität der indischen Kinokulturen bezüglich ästhetischer Formenvielfalt, Symbolik und gesellschaftlicher Wirkungskraft im deutschsprachigen Raum als weitgehend unbekannt vermutet werden. Mit der Lektüre von „Indiens Kinokulturen“ taucht man in die Vielschichtigkeit dieser Kinokulturen ein und erkennt das Ausmaß der für einen Durchschnittseuropäer kaum entschlüsselbaren Inhalte. Der optimistische Ansatz, Filmbilder seien universell verständlich, wie dies die Vertreter des globalen Kinos in den achtziger und neunziger Jahren propagierten, entlarvt sich mit der Lektüre dieses Buches einmal mehr als Trugschluss: Es sind im Gegenteil die kulturellen Besonderheiten in den Bildern und Narrativen, die ästhetischen Genuss und intellektuelle Befriedigung ermöglichen und ein Kino der globalen Vielfalt ausmachen. „Indiens Kinokulturen“ umfasst 20 Beiträge – fast ausschließlich von Europäern verfasst – und ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird das Phänomen Bollywood reflektiert und bietet u.a. erhellende Essays zum Einfluss westlicher Indien-Stereotypen auf den Diskurs zu Bollywood sowie die Bedeutung des populären Hindi-Films für die indische Diaspora. Der zweite Teil, „Figuren – Figurationen – Motive“, ist dem Bezugsrahmen indischer Kunstgeschichte und Religion gewidmet. Codierung, Inszenierung und Wirkungsmacht von mythischen Figuren oder der Rolle der Natur werden analysiert, die Geschlechterrollen vor diesem Hintergrund reflektiert. Kursorisch wirkt der dritte Teil, „Vielfalt entdecken“, mit exemplarischen Filmanalysen und Interviews u.a. mit Mrinal Sen und Loveleen Tandan. Die kulturwissenschaftlichen, filmtheoretischen und bildanalytischen Beiträge entstanden anlässlich einer Konferenz zur indischen Kinokultur an der JohannesGutenberg Universität in Mainz, woraus sich die methodische Vielfalt, aber auch thematische Lücken erklären lassen. Nur am Rande findet die pluralistische politische Ästhetik dieser Kinokulturen Erwähnung, die Indien seit 100 Jahren hervorbringt. In seiner Informationsdichte ist „Indiens Kinokulturen“ aber eine genussvolle, äußerst bereichernde Lektüre für Kinokosmopoliten und alle, die es werden wollen. VERENA TEISSL Suanne Marschall, Rada Bieberstein (Hg): Indiens Kinokulturen. Geschichte – Dramaturgie – Ästhetik. Schüren Verlag, Marburg 2014. 356 Seiten, € 30,80 ray 105 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at s o u n d Inherent Vice Auch die dritte Zusammenarbeit zwischen Johnny Greenwood und Paul Thomas Anderson erfreut Nonesuch Jonny Greenwoods Kompositionen für die Filme von Paul Thomas Anderson waren das, was die dazugehörigen Filme selbst auch waren: die Highlights ihrer jeweiligen Jahrgänge. Die Streber sozusagen. Die Klassenbesten. There Will Be Blood (2007) war musikalisch spröde Landschaftsmalerei, The Master (2012) karger Impressionismus, der Debussy stolz gemacht hätte. Diesem Duo folgt nun Inherent Vice, der damit eine schwere Nachfolge antritt. Erstaunlich (und erfreulich, weil originell) ist, dass Greenwood für Inherent Vice keine bluesige Neo-NoirMusik geschrieben hat, wie dies einst Jerry Goldsmith für Roman Polanskis legendären Film Chinatown (1974) tat. Angeboten hätte es sich ja schließlich, bedenkt man, dass es sich bei dieser Verfilmung eines Romans von Thomas Pynchon um das schmuddelige Los Angeles der siebziger Jahre handelt, in denen ein heruntergekommener, drogenabhängiger Privatdetektiv nach einer ehemaligen Freundin sucht. Aber kein Jazz, kein Saxophon, kein träges Schlagzeug. Lasziv, erotisch aufgeladen, geheimnisvoll und düster ist sie trotzdem, die spröde Musik, die sich eher dem Impressionismus aus The Master annähert, als sich an den Filmmusiken der siebziger Jah- re zu orientieren. Greenwood arbeitet auch hier mit kleinen Motiven statt mit prägnanten Themen, lässt den Holzbläsern prominente Parts zukommen und schafft im Zusammenspiel mit den drängend-dräuenden Streichern damit eine treibende Spannungsmusik, die den amerikanischen Privatdetektiv bei seiner Odyssee durch Los Angeles aufmerksam begleitet wie einst Bernard Herrmanns grandiose Vertigo-Musik Scottie Ferguson (James Stewart) durch San Francisco. Ein Gespür für die Seventies zu erzeugen, das besorgen stattdessen die eingestreuten Songs, die mit der sinfonischen Filmmusik Johnny Greenwoods herzlich wenig gemein haben, die in ihrer Tanzbarkeit und in ihren unschuldig-verklärten Pop-Rhythmen ein absurdes Gegenteil des 106 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at grimmigen Impressionismus darstellen; das ist eine eigenwillige Mischung, die dem Höralbum allerdings zugute kommt, es am Laufen hält und nicht eintönig werden lässt. Diese urige Mischung passt zum eigenwilligen Ton des Films, ist mit ihren gutgelaunten Popsongs, die sich mit den schwermütigen, nervösen Instrumentalkompositionen abwechseln, derart verstörend, dass sie den Hörer unmittelbar in den amerikanischen Abgrund des Films zieht, der Joaquin Phoenix als Privatdetektiv zu zerstören droht. Das macht Inherent Vice zu einer der wohl gelungensten Soundtrack-Alben des Jahres 2014. Man darf jetzt schon auf die nächste Zusammenarbeit des Duos Anderson/Greenwood gespannt sein. STEPHAN EICKE s o u n d UNBROKEN FADING GIGOLO Milan Records / Warner Music ASTERIX IM LAND DER GÖTTER / Boriginal BIRDMAN Parlophone Als Regisseurin ist Angelina Jolie bislang eher mäßig erfolgreich. Ihr Debüt In the Land of Blood and Honey f loppte an den Kinokassen und Unbroken erntete trotz eines Skripts der erfahrenen und vielfach prämierten Brüder Coen nur mäßige Kritiken. Musikalisch scheint sie aber durch die von ihr präferierte Herangehensweise einen deutlichen Stil gefunden zu haben. Nach Gabriel Yared beauftragte sie nun Alexandre Desplat mit der Komposition und damit erneut einen Maestro, der für seine einfühlsamen Orchestermelodien bekannt ist. Somit liefert Desplat auch das, was er am besten kann: Einfühlsame Orchestermelodien. Damit ist ihm eine zurückhaltende, niemals kitschige Partitur gelungen, die Einflüsse japanischer Musikkultur in die schwermütige westliche Sinfonik einbindet. Zwar hat das mit 61 Minuten großzügig bemessene Album einige Längen zu verzeichnen, kann dies aber durch die einprägsamen Themen und deren subtile Orchestration wieder wettmachen. Erstaunlich ist, wie differenziert Desplat sein musikalisches Material behandelt, dass die Größe der Geschichte zwar erahnen lässt, aber niemals in süffigen Hollywood-Bombast ausartet und über weite Strecken äußerst subtil die emotionale Reise des Kriegsgefangenen Louis Zamperini begleitet. Desplat drückt die richtigen Knöpfe. In John Turturros Lustspiel gehen männliche Wunschphantasien in Erfüllung, im Grunde aber ist es ein Film über Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebe. Dementsprechend romantisch ist die Grundstimmung des famosen Soundtracks, der zum Träumen und Tanzen anregt. Neben zwei originalen Filmscore-Kompositionen von Bill Maxwell enthält er ein abwechslungsreiches Potpourri von Musikstücken aus über 40 Jahren, das beim Hören aber einen kohärenten klanglichen Gesamteindruck hinterlässt. Pop, Swing, Chansons, Latin-Sound von Alacran und – da Fading Gigolo in enger Zusammenarbeit mit dem Jazz-Enthusiasten Woody Allen entstand – schöne Aufnahmen mit dem Tenorsaxophonisten Gene Ammons (1925-1974), der mit „Canadian Sunset“ und einer zart tönenden Version des Klassikers „My Romance“ aus dem Jahr 1960 vertreten ist. Dean Martin croont „Sway“ und „I’m a Fool to Want You“ der gebürtigen Tunesierin M’Barka Ben Taleb wirkt wie eine Einladung zum Liebesspiel. Da die französische Sängerin Vanessa Paradis eine der weiblichen Hauptrollen spielt, ist natürlich auch sie mit einem Lied vertreten: Auf dem elften, vorletzten Track trägt sie mit Flüsterstimme „Tu si na cosa grande“ vor. Mit verlässlicher Regelmäßigkeit schafft es der unbeugsame Gallier Asterix ins Kino. Der neueste Streich ist die 3D-CGIAnimation von „Die Trabantenstadt“. Die Musik folgt dabei beinahe einer Tradition, denn sie ist besser als der Film. Wenn der cineastische Asterix inhaltlich Klamauk ausgesetzt ist, dann ist es gut, dass sich nicht ganz Gallien diesen Albernheiten hingibt, sondern es nach wie vor ein paar Verantwortliche gibt, die den kleinen Krieger ernst nehmen und den Filmen wenigstens eine gute, profunde Musik zugestehen. Für Asterix im Land der Götter hat Philippe Rombi den musikalischen Zaubertrank zusammengerührt. Rombi, der sich nicht nur einen Namen als Stammkomponist von Regisseur François Ozon gemacht hat, hat eine komische, aber keine Komödienmusik für Asterix geschrieben. Obwohl voll mit kompositorischem und stilistischem Witz, ist seine Arbeit zuvörderst eine Abenteuermusik; zu jeder Zeit leicht und verspielt, aber dennoch primär daran interessiert, eine Geschichte zu erzählen. Den Klamauk weitestgehend – Rombi ist sich für die eine oder andere kompositorischen Zote auch nicht zu schade – der Bildebene überlassend, gibt seine Musik der Handlung die Ernsthaftigkeit zurück. Es ist selten, dass ein Tonträger auf den Markt kommt, der die Gesetze desselben zu ignorieren und sich gar nicht erst um die Hörgewohnheiten des Filmmusik-Mainstreams zu kümmern scheint. Der Originalscore zu Alejandro González Iñárritus mehrfach oscarnominierter Tragikomödie Birdman besteht fast ausschließlich aus Percussion, für die Jazzdrummer Antonio Sanchez verantwortlich zeichnet. Sanchez nutzt die Percussion nicht bloß als Stilmittel, das sich dann aber schnell einem symphonischen Klang unterordnen darf, sondern stellt sie in den Vordergrund – und in den Hintergrund und auf alle anderen Ebenen dazwischen. Nur mit den Mitteln des Schlagwerks ist es dem mexikanischen Virtuosen gelungen, einen in seiner klanglichen Stringenz abwechslungsreichen Score zu erarbeiten, der dem Film eine unwirkliche Schmerzhaftigkeit verleiht. Durch den Verzicht auf eine harmonisch-symphonische, angenehme Musik ist ein Score entstanden, der seinesgleichen erst suchen muss. Dass dies auch vom Bild losgelöst funktioniert und ungeachtet der klassischen Stücke, die, an die Originalmusik angehängt, das Album auf seine 77 Minuten Laufzeit bringen, zeugt von den immer noch unterschätzten Möglichkeiten des Schlagwerks. STEPHAN EICKE RALPH UMARD DAVID SERONG DAVID SERONG Milan Records ray 107 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at v e r a n s t a l t u n g e n Karl Markovics’ Superwelt © Thimfilm/Petro Domenigg Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre © Nikolaus Geyrhalter Film 50 Schattierungen und 399 andere Filme Wegen anhaltenden Erfolges zum 65. Male: die Internationalen Filmfestspiele Berlin Alle Jahre wieder drängen sich Medien, Moguln und Menschenmassen in dem architektonisch und von seiner gastronomischen Ausstattung her ein wenig fragwürdigen Viertel rund um den Potsdamer Platz, wohin man um die Jahrtausendwende die Berliner Filmfestspiele verpflanzt hat. Zwar gibt es die alten Spielstätten im Westen wie den Zoo Palast (siehe auch S. 8) oder das Delphi (einst legendär für seine zum Bersten gefüllten Mitternachtsvorstellungen) immer noch, aber aus pragmatischen Gründen der Zeitersparnis bleiben die meisten Festival-Profis dann doch lieber in Mitte. Am 5. Februar hebt mit Isabel Coixets Nobody Wants the Night mit Juliette Binoche in der Hauptrolle die 65. Berlinale an – eine, wie gewohnt, etwas eklektische Entscheidung des charismatischen Festivaldirektors Dieter Kosslick. Ganz ohne Zweifel hat Kosslick im Laufe seiner nun auch schon 15-jährigen Amtszeit mehr gute Dinge getan, als man hier aufzählen kann – etwa, dass er die einst grotesk zerstrittenen Sektionen Wettbewerb, Panorama und Forum wieder unter einem Dach vereint hat. Auf der Soll-Seite steht jedoch die von Jahr zu Jahr zunehmende Berlinale-Unübersichtlichkeit: Kosslick und sein Team haben einen Wust an Reihen und Nebenreihen, an neuen Veranstaltungen und Gimmicks installiert, und das leider oft an Spielstätten, die ihren Namen nicht verdienen, jedenfalls nicht als Kinos. So vergeht derzeit kein Tag, an dem nicht eine neue Pressemeldung eintrudelt, meistens sogar mehrere. Der Erfolg, gemessen an Zuschauermassen (491.316 waren es 2014), verstopften Foyers und überfüllten Kinos, gibt den Festivalmacherinnen und -machern Recht, Kosslicks Auswahl seiner Filme, etwa im Wettbewerb, nicht ganz so sehr. Und hat man kein Glück, kommt auch noch Pech dazu: Dass ausgerechnet solch ein Jahrhundert-Festival-Film wie Richard Linklaters Boyhood nicht den Goldenen Bären überreicht bekam, konnte 2014 wirklich niemand verstehen. Betrachtet man das Programm des Wettbewerbs 2015, sieht man – zumindest auf den ersten Blick – nicht allzu viel, für das man um 7 Uhr aufstehen und um 9 Uhr schon im Kino sitzen möchte. Es handelt sich, wie so oft, um eine Art hochkarätiges Veteranentreffen – von Greenaway bis Herzog, von Malick bis Branagh, von Benoît Jacquot bis Jiang Wen – mit schrägen Einsprengseln. Hoffnung machen – wieder einmal – die deutschen Filme (vor allem Sebastian Schippers Victoria und Andreas Dresens Als wir träumten), aber auch diese gingen bekanntlich letztes Jahr fast leer aus. Auch dass die Jury diesmal unter dem Vorsitz des ehemaligen US-Independent-Regisseurs Darren Aronofsky steht, macht einen nach seinem ganz und gar unsäglichen Bibelschinken Noah nicht wirklich froh. Wie auch immer: So viel können Dieter Kosslick und seine Mitprogrammierer in Wettbewerb, Panorama, Forum (darin befinden sich zwei mit Spannung erwartete österreichische Filme: 108 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Karl Markovics’ Superwelt und Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre), Retrospektive (Technicolor, im April auch in Wien im Filmmuseum zu sehen), Hommage (Wim Wenders), Perspektive Deutsches Kino, Berlinale Classics (mit drei digital restaurierten deutschen Filmen), Berlinale Specials, usw. gar nicht hineinpacken, dass nicht der „Höhepunkt“ des diesjährigen Festivals bereits im Vorfeld feststünde: Am 11. Februar 2015 nämlich wird Berlin unter der Weltpremiere des „Erotik-Thrillers“ 50 Shades of Grey erzittern, mit Dakota Johnson, der Tochter von Melanie Griffith und Don Johnson, in der Hauptrolle. Was wohl Alfred Bauer, der legendäre erste Direktor der Berlinale, oder sein Nachfolger Wolf Donner dazu gesagt hätten? Übrigens: Erstmals können Sie dieses Jahr auf www.ray-magazin.at alle Pressekonferenzen der Berlinale im Livestream gratis mitverfolgen. ANDREAS UNGERBÖCK 5. bis 15. Februar, Berlin www.berlinale.de v e r a n s t a l t u n g e n Dear John von Hans Scheugl im Stadtkino Wien FRAUENFILMTAGE 2015 Die Wiener FrauenFilmTage finden zum bereits zwölften Mal statt. Wie jedes Jahr steht eine Auswahl von österreichischen und internationalen Spiel- und Dokumentarfilmen von Frauen und mit frauenspezifischen Themen auf dem Programm. Ebenfalls schon Tradition ist die Verleihung eines Ehrenpreises durch eine Jury an eine Frau, die sich seit Jahren für die Sichtbarkeit weiblicher Filmschaffender einsetzt. Die Personale 2015 gilt Katharina Wöppermann (siehe auch das ausführliche Interview in „ray“ 12/14), die sich seit Anfang der achtziger Jahre mit der Gestaltung filmischer Räume – on location und im Studio – beschäftigt. Sie bezeichnet sich heute als Production Designerin gemäß dem international geläufigsten Begriff. Beruflich bewegt sich die renommierte Szenenbildnerin zwischen technischen, ästhetischen, visuellen, organisatorischen und budgetären Aufgaben. Katharina Wöppermann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 2011 mit dem Österreichischen Filmpreis für Beste Ausstattung in Shirin Neshats Women Without Men und bei der Diagonale 2012 für das Beste Kostümbild (Stillleben). Bei den FrauenFilmTagen wird es einige moderierte Diskussionen mit Katharina Wöppermann geben, aber auch Möglichkeiten für gegenseitigen Austausch. 27. Februar bis 5. März, Filmhaus Kino am Spittelberg, Wien; Eröffnung am 26. Februar im Filmcasino www.frauenfilmtage.at Alfred Hitchcocks Blackmail bei Film + Musik Live im Wiener Konzerthaus STADTKINO WIEN: HANS SCHEUGL Hans Scheugls neuer Film Dear John, der zuvor bei der Berlinale zu sehen ist, feiert am 3. März im Stadtkino seine ÖsterreichPremiere bei freiem Eintritt. Als zweiten Film zeigt Scheugl anschließend seinen ersten, 18-minütigen Film Miliz in der Früh (1966), da beide Filme zeitlich korrespondieren. Miliz, so Scheugl, beschreibt Gegensätze, die einander nicht ausschließen. Ein junger Mann soll getötet werden; er ist vielleicht schon tot oder er wird erst geboren. Er ist das ewige Opfer, denn die Vergangenheit streckt sich in die vergessliche Zukunft. (…) Die Gestalt, die die Entstehung von Miliz in der Früh begleitete, war Godards Pierrot le Fou, der seinen eigenen privaten Vietnamkrieg führte. „Dear John“ wiederum ist die Anrede an einen amerikanischen Freund, mit dem sich für Scheugl vor 50 Jahren die Möglichkeit öffnete, aus seinem damaligen Leben auszusteigen und in Amerika ein anderes, neues Leben zu beginnen. Das entnimmt der Filmemacher den Briefen, die der Freund ihm einst schrieb und die Scheugl vor einiger Zeit in einer Schachtel gefunden und gelesen hat. Bei den Briefen wäre es geblieben, hätte Scheugl im Internet nicht jenes Haus entdeckt, in dem John jetzt wohnt und mit dem sich ihm auf unerwartete Weise die imaginäre, da fast vergessene Person der Vergangenheit in ein reales Bild seines gegenwärtigen Lebens verwandelte. Diese Transformation bewog den Künstler dazu, den Film zu machen, allerdings ohne die Absicht, mit „Dear John“ real einen Dialog aufzunehmen. Scheugl: „Der unvermutete Blick auf das Haus ließ plötzlich die vergangenen 50 Jahre als Leerstelle ins Bewusstsein treten, ohne das abhanden gekommene Leben – dessen Sinnbild dieses Haus ist – nachträglich mit Inhalten füllen zu können. Nicht dass ich das gewollt hätte, die zeitliche und räumliche Distanz ist real uneinholbar. Mit dem Film hingegen kann ich versuchen, der in den Briefen entworfenen Idee von einem anderen Leben in Amerika aus der Gegenwart und von dem Ort aus, in dem ich lebe, zu begegnen.“ 3. März, 19 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus, Wien scheugl.org KONZERTHAUS: FILM + MUSIK LIVE Im Zyklus „Film + Musik Live“ ist diesmal ein besonders prächtiges Highlight zu sehen: Alfred Hitchcocks früher Klassiker Blackmail aus dem Jahre 1929 mit Anny Ondra in der Hauptrolle. Der Film ist in vieler Hinsicht bemerkenswert, unter anderem deswegen, weil der junge Michael Powell am Drehbuch mitarbeitete und weil das Projekt als Stummfilm begonnen, aber schließlich zunächst als Tonfilm herausgebracht wurde. Anny Ondras deutscher Akzent war jedoch so „störend“, dass sie von Joan Barry synchronisiert wurde. Das Konzerthaus zeigt die seinerzeit populärere, aber heute nahezu unbekannte stumme Fassung. Die Musik zu Blackmail stammt von Stephen Horne, der den Film am Klavier, auf der Flöte und auf dem Akkordeon begleitet. 15. Februar, 19.30 Uhr Wiener Konzerthaus, Großer Saal www.konzerthaus.at THEATER AKZENT: RODDY FRAME Nach der Absage im Oktober jetzt aber wirklich: Ein „Jahrhundertereignis“ für Freunde feinster britischer Pop-Kultur ist der Auftritt des aus Schottland stammenden Gitarristen, Singers und Songwriters Roddy Frame. Frame war ein Zentralgestirn der britischen Pop-Landschaft der frühen Achtziger, Vorreiter und Wegbereiter für Brit-Pop und Independent-Szene. Ausgehend von der Industrie- und Arbeiterstadt Glasgow bildete Frame mit seiner Band Aztec Camera damals einen vor Harmonien und Einfallsreichtum nur so strotzenden musikalischen Gegenpol zum mitunter recht rüde ausfallenden (Post-)Punk jener Tage. Er gilt bis heute als Inbegriff für „Pop-Perfektionismus“ und Singer/Songwriter-Kunst auf höchstem Niveau. Roddy Frame kommt mit dem Programm seines vierten Solo-Albums „Seven Dials“, das nahtlos an die schönsten Momente früherer Tage anschließt. 19. Februar, 20 Uhr Theater Akzent, Wien www. akzent.at www.roddyframe.com ray 109 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at v e r a n s t a l t u n g e n Fitzcarraldo bei der Ö1 Filmnacht Claudia Cardinale in Il gattopardo (Stadtkino Basel) Ö1 FILMNACHT MIT RAY Das Thema der alljährlichen Ö1 Filmnacht im Wiener Technischen Museum ist diesmal „Mobilität“. Zu sehen sind vier ausgesprochen schöne Raritäten, nämlich Billy Wilders The Spirit of St. Louis (1957) mit James Stewart als Charles Lindbergh, David Lynchs The Straight Story (1999), Wolfgang Petersens Die unendliche Geschichte (1984) und Werner Herzogs Fitzcarraldo (deutsche Fassung, 1982). Als besonderes Zuckerl wird die Ö1 Filmnacht die einminütige Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat (Brüder Lumière, 1895) präsentieren, die beweist, dass Mobilität seit Beginn der Filmgeschichte eines der zentralen Themen des Mediums war und ist. Die Filmauswahl besorgte wie immer das „ray Filmmagazin“. sche übersetzt. Im Anschluss daran läuft Richard Brooks’ Western The Professionals (1966), in dem Claudia Cardinale an der Seite von Hollywood-Haudegen wie Burt Lancaster, Lee Marvin, Robert Ryan und Woody Strode zu sehen ist. Außerdem umfasst die großartige Filmschau Meisterwerke wie Mario Monicellis I soliti ignoti (Diebe haben’s schwer, 1958), Luchino Viscontis Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960) und Il gattopardo (Der Leopard, 1963), Fellinis 8 ½ (1963), Blake Edwards’ Pink Panther (1963), Sergio Leones C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968) und Damiano Damianis Politthriller Il giorno della civetta (Der Tag der Eule, 1968). 13. Februar, ab 18 Uhr DEUTSCHES FILMMUSEUM: FILMTHEATER Das Kino als magischer Ort steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Filmtheater. Kinofotografien von Yves Marchand und Romain Meffre“ im Deutschen Filmmuseum Frankfurt. Die beiden Pariser Künstler begeben sich als fotografische Archäologen seit 2001 auf Spurensuche in den Ruinen der modernen Industr iegesellschaft. 2010 machten sie mit ihrem Buch „Ruins of Detroit“ Furore, das den Verfall der einstigen AutoBoomtown auf faszinierende Art dokumentierte. In ihrer Fotoserie „Theaters“ erforschen die beiden Künstler seit 2005 mit einer großformatigen Kamera alte Technisches Museum, Wien oe1.orf.at, www.technischesmuseum.at STADTKINO BASEL: CLAUDIA CARDINALE Ausgesprochen hohen Besuch erwartet das Stadtkino Basel: Anlässlich einer ihr gewidmeten Retrospektive beehrt Claudia Cardinale, einer der großen Diven des italienischen Films, am 20. Februar das Basler Lichtspieltheater. Im Gespräch mit dem Filmwissenschaftler und -journalisten Till Brockmann (19 Uhr) wirft Cardinale einen Blick zurück auf ihre bewegte Karriere. Das Gespräch wird auf Italienisch geführt und ins Deut- ab 1. Februar, Stadtkino Basel www.stadtkino.ch US-Kinopaläste. In den teilweise verfallenen Gebäuden suchen sie nach Bildern, die die „Psychologie einer Ära“ einfangen. Denn für Marchand und Meffre sind die alten Kinogebäude mehr als nur architektonische Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit. Sie sehen die leerstehenden oder fremdgenutzten Filmtheater auch als „Sinnbilder der komplexen Beziehung zwischen Kunst, Geschichte, Wirtschaft und Moderne, die den Wandel hin zu Massenproduktion und Globalisierung verdeutlichen.“ noch bis 31. Mai Deutsches Filmmuseum Frankfurt deutsches-filminstitut.de/ filmmuseum 21ER HAUS: SCHLAFLOS Vor mehr als 40 Jahren gingen Yoko Ono und John Lennon zusammen ins Bett, um gegen den Krieg zu protestieren. Das damals berühmteste Künstlerpaar der Welt machte seine Flitterwochen öffentlich und verkündete aus dem Bett heraus: „Make love, not war!“ In Onos und Lennons Szene wird das Bett zum politischen Instrument der bildenden Kunst. Yoko Onos legendärer Film Bed Peace (1969) wird im März im Rahmen der Ausstellung „Schlaflos – Das Bett in Geschichte und Gegenwartskunst“ im Wiener 21er Haus zu sehen sein. Diese umfasst Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Fotografien und Videoarbeiten, deren Bandbreite sich von Werken alter Meister bis zu Arbeiten der Gegenwartskunst spannt, die einander thematisch und asso- 110 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at ziativ gegenübergestellt werden. Als Schauplatz von Geburt, Liebe, Krankheit und Tod, als Ort jeglicher menschlicher Ausdrucksform, in der Geschichte jedweder Kultur zu finden, gehört das Bett wohl zu den am häufigsten in der Kunst reproduzierten Gegenständen, und nicht selten hat seine Darstellung metaphorische Bedeutung: das Bett als Veranschaulichung der Bedingungen menschlicher Existenz. Ein Großteil der Menschen wird auf einem Bett geboren, man könnte sagen, dass das unerklärliche Wunder des Lebens auf einem Bett seinen Anfang nimmt. Ein Werk der Ausstellung ist ein Gemälde von Lavinia Fontana aus dem 16. Jahrhundert, das ein Kind in einer Wiege zeigt – die wahrscheinlich erste Umsetzung dieses Sujets in der Kunstgeschichte. Die Tradition der Darstellung der Geburt hat sich bis heute fortgesetzt, wie beispielsweise bei Robert Gober oder Sherrie Levine. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, von Nobuyoshi Araki, Diane Arbus, Lucian Freud, Yayoi Kusama über Jannis Kounellis, Antoni Tàpies, Rosemarie Trockel bis Egon Schiele, Jürgen Teller oder Franz West und Rachel Whiteread haben sich der Form des Bettes bedient oder – wie Tracey Emin, Mona Hatoum, Damian Hirst, Jim Lambie und Sarah Lucas – das Bett als Readymade verwendet. 30. Jänner bis 7. Juni 21er Haus, Wien www.21erhaus.at ray Filmmagazin und Filmdelights präsentieren China Reverse Meist sind sie zufällig in Wien gelandet, in einem China-Restaurant, um Geld für ein eigenes Unternehmen zu verdienen oder die Einreise für Familienmitglieder zu finanzieren. Die Arbeit ging weiter, endlos, bis man es sich ein wenig gemütlicher machen konnte. Erst dann tauchten die Fragen an das Leben auf. Hier setzt China Reverse an, fragt nicht viel und stellt fast alles in Frage. Es hätte anders kommen können, weniger in Europa als in China. Wer dort blieb, konnte den Wirtschaftsboom nützen. Es lässt sich noch aufspringen auf diesen Zug, für einige zumindest. China Reverse sucht nicht nach offensichtlichen Erfolgsgeschichten, sondern blickt hinter die Fassaden. Nur scheinbar beiläufig bleibt man an den kleinen Details hängen, an Porzellanschalen, Liedern aus der Heimat, und am Lächeln, das auf die Zukunft weisen will, dabei aber ein wenig zittert. In Anwesenheit der Regisseurin und der Protagonistinnen und Protagonisten ray verlost 50 x 2 Karten Schicken Sie bis 19. Februar eine Mail mit dem Betreff „China Reverse“ an gewinnspiel@ray-magazin.at Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Dienstag 24.02. 20.15 Uhr Filmcasino Margaretenstraße 78 1050 Wien Österreich 2014 Regie Judith Benedikt Mit Hu Zhuming, Xie Feiru, Shan Jiaqian, u.a. Originalfassung (Deutsch und Chinesisch) mit Untertiteln 90 Minuten g e w i n n s p i e l e BIRDMAN ODER (DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT) Rechtzeitig zum Kinostart von Alejandro González Iñarritus für neun Oscars nominierter Tragikomödie am 30. Jänner verlost ray zweimal ein T-Shirt mit einem Zitat aus dem Film („Beliebtheit ist die nuttige kleine Cousine von Wertschätzung, mein Freund“), zwei Soundtracks und zwei Posters. KINGSMAN: THE SECRET SERVICE Rechtzeitig zum Kinostart von Matthew Vaughns Comicbook-Verfilmung am 27. Februar verlost ray zweimal einen Flaschenöffner, zwei verspiegelte iPhone5- Handyfolien sowie zwei Eiswürfelformen. Beantworten Sie die folgende Frage: Wie heißt Hauptdarsteller Michael Keaton mit seinem richtigen Namen? Beantworten Sie die folgende Frage: Wie heißt die Ehefrau von Regisseur Matthew Vaughn? a) Michael Douglas b) Michael Jackson c) Michael Moore a) Marylou Vaughn b) Emma Vaughn c) Claudia Schiffer Schicken Sie bis 26. Februar eine Mail mit dem Betreff „Birdman“ an gewinnspiel@ray-magazin.at Schicken Sie bis 26. Februar eine Mail mit dem Betreff „Kingsman“ an gewinnspiel@ray-magazin.at www.birdman-derfilm.at www.kingsman-derfilm.at Ab 30. Jänner im Kino! Kin Ab 27. Februar. im Kino! GUARDIANS OF THE GALAXY GONE GIRL – DAS PERFEKTE OPFER ray verlost zum DVD- und Blu-ray-Start von James Gunns Marvel-ComicVerfilmung drei Blu-ray-Discs, ein T-Shirt, einen Schlüsselanhänger und ein Mousepad. ray verlost zum DVD- und Blu-ray-Start von David Finchers Ehe-Thriller mit Ben Affleck und Rosamund Pike je zwei Exemplare der DVD und der Blu-ray. Beantworten Sie die folgende Frage: Wer spricht in der Originalfassung den Waschbären Rocket? Beantworten Sie die folgende Frage: Von wem stammt die Romanvorlage zum Film? a) Vin Diesel b) Bradley Cooper c) Lee Pace a) Tara French b) Gillian Flynn c) Alex Kava Schicken Sie bis 26. Februar eine Mail mit dem Betreff „Guardians“ an gewinnspiel@ray-magazin.at Schicken Sie bis 26. Februar eine Mail mit dem Betreff „Gone Girl“ an gewinnspiel@ray-magazin.at Jetzt als Digital HD und ab 5. Februar als Blu-ray und DVD erhältlich! 112 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at U r b a n e r s L e g e n d e n Mickys vergessener Bruder Text ~ Roman Urbaner „Alles begann mit einer Maus“, lautet zwar eine gerne zitierte Bemerkung Walt Disneys, aber es wäre ebenso richtig gewesen, hätte er stattdessen von einem Kaninchen gesprochen. Denn unmittelbar, bevor Micky mit Steamboat Willie Ende 1928 zum ersten Zeichentrickstar der Tonfilmära avancierte, hatte es Disney einige Monate lang mit einem langohrigen Geschöpf namens „Oswald the Lucky Rabbit“ versucht. Und das durchaus mit Erfolg – bis ihn sein Produzent bei einem Geschäftstreffen in New York über den Tisch zog, sodass der junge Trickfilmer plötzlich ohne Job und ohne die Rechte an seiner eigenen Kreation dastand. Walt Disney musste also wieder ganz von vorne beginnen: „Auf dem Rückweg nach Hollywood habe ich gedacht, ich kann nicht mit leeren Händen ankommen“, erinnerte Disney sich später an die Geburtsstunde der Maus, die sein Imperium begründen sollte. Noch auf der Zugfahrt brachte er, so will es zumindest die Legende, die allererste Skizze seines künftigen Protagonisten zu Papier. Dass dabei das knopfäugige Kaninchen Oswald Pate stand, ist kaum zu übersehen: „Micky Maus sieht im Endeffekt genauso aus wie Oswald, nur die langen Hasenohren wurden abgeschnitten und der Schwanz etwas länger“, erklärt der Disney-Biograf und FAZ-Redakteur Andreas Platthaus; selbst die kurze Hose scheint Micky direkt von seinem Vorgänger übernommen zu haben. Oswalds Leinwanddebüt lag damals noch kaum ein Jahr zurück: Am 5. September 1927 hatte sich das schelmische Kaninchen im Kurzfilm Trolley Troubles erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Zuvor war die Figur nach einem ersten, missglückten Probelauf (Poor Papa) radikal überarbeitet worden. Jetzt aber lief alles wie am Schnürchen: Die Oswald-Serie geriet zum kommerziellen Erfolg, den Universal mit allerlei Merchandising-Produkten weidlich auszuschlachten verstand. Am laufenden Band fabrizierten Walt Disney und Ub Iwerks – schon damals Disneys rechte Hand am Zeichentisch – immer neue Oswald-Cartoons; über zwei Dutzend waren es insgesamt. Zwei Filmrollen eines bislang verloren geglaubten Oswald-Streifens (Disneys erster Weihnachtsfilm Empty Socks von 1927) sind erst neulich in einem norwegischen Archiv wieder aufgetaucht. Dann kam das abrupte Ende. Doch auch nach Disneys Abgang dauerte der Publikumserfolg des Kaninchens zunächst unvermindert an, dümpelte dann – nach etlichen Umgestaltungen und Personalrochaden – noch einige Jahre vor sich hin, bis Oswald schließlich um 1940 gänzlich von der Bildfläche verschwand. Seit kurzem aber bemüht sich die „Walt Disney Company“ nun wieder um die lange vergessene Disney-Figur. Die Rechte an den frühen Oswald-Cartoons wanderten im Zuge eines ungewöhnlichen Deals (im Gegenzug wechselte ein Sportmoderator zu NBC/Universal) zurück zu Disney. Dort machte man sich sogleich an die Edition der noch erhaltenen Filme und verschaffte dem heimgekehrten Kaninchen in „Epic Mickey“ wenigstens ein Comeback als Computerspiel-Figur, wenn auch nur als Mickys von Neid zerfressener Gegenspieler. ray 113 Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at v o r s c h a u AMERICAN SNIPER Bradley Cooper als Scharfschütze bei Clint Eastwood KINGSMAN – THE SECRET SERVICE Spaß mit Samuel L. Jackson SUPERWELT Karl Markovics im Gespräch Das März-Heft von ray erscheint am 27. Februar. 114 ray Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at Eine unserer Clubgarnituren. Ö1 Club-Mitglieder erhalten bei mehr als 500 Kulturpartnern Ermäßigungen, u. a. im Gartenbaukino, Filmcasino, Burg Kino, English Cinema Haydn und im Kino im Kesselhaus. Sämtliche Ö1 Club-Vorteile finden Sie in oe1.ORF.at Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at URES PRESENTS MPANY PRODUCTION T IC P . S O R B R E N O WAR OULARDI FILM CSON KATHERINE WATERSTON H G / R A L L E S E N A JOAN LIN OWEN WIL JENA MALONE O R B H IAC FILMS IT H S W O N J IO AT IX CI N O E IN ASS JOAQUIN PHO MARTIN SHORT “INHERENT VICEH”ERSPOON BENICIOSIC DEL TOROEENWOOD CODESIGSTUMNEER MARK BRIDGESASC REESE WIT A NEWSOM MUBY JONNY GR PHDIOTREOGCTRAORPHOFY ROBERT ELSWIT, PRODUCTIONENR DAVID CRANK THE AND JOANN CHON DESIG BASED ONL BY THOMAS PYN CE A , S E VE N NO O J IE EDITOR LESL DAM SOMNER PAUL THOMAS ANDERSON EXECUTIVE SCOTT RUDIN A S PRODUCER R DANIEL LUPI AS ANDERSON PRODUCED JOANNE SELLA BY E SCREEN HOM WRITTEN FODRDITHRECTED BY PAUL T AN Persönliches Exemplar von wach.m@t-online.de, alle Rechte vorbehalten. Nutzungsbedingungen unter www.kiosk.at