Vom Mangel zum Wohlstand 1950–1975
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Vom Mangel zum Wohlstand 1950–1975
Vom Mangel zum Wohlstand 1950–1975. Gesellschaftlicher Wandel in Salzburg an Hand der Bilder von Johann Barth Vortrag von Thomas Weidenholzer am 15. Mai 2014 im Haus der Stadtgeschichte Johann Barth, 1954 1954 erwarb Johann Barth seine erste Leica, also vor sechzig Jahren und vierzig Jahre nach deren Erfindung. Mit der Leica war der fotografische Schnappschuss möglich geworden, ein Markenzeichen Johann Barths. Mit den schweren Glasplatten und den nicht minder unhandlichen Kameras war das schnelle Fotografieren nicht möglich gewesen. Das Stadtarchiv besitzt etwa 50.000 Negative und Dias von Johann Barth. Diese sind wie ein fein verästeltes Kaleidoskop. Die Bilder dokumentieren die vielfältigen, zunächst unmerklichen, Veränderungen und Änderungen der Stadt und des Stadtlebens. 1 Vorweg ein paar biografische Eckpfeiler: 1931 geboren in Mettersdorf, Siebenbürgen 1944 Vertreibung und Flucht, Familie landet im Innviertel Verschiedene Berufe, darunter als Bauarbeiter in Kaprun 1952 Übersiedlung nach Salzburg Abendmatura Barth arbeitete von 1960 bis 1981 als selbständiger Pressefotograf, ehe Aufträge zurückgehen und er seinen Beruf an den Nagel hängen muss und arbeitslos wird. Barth betätigt sich nun als Schriftsteller, wird Mitglied er Grazer Autorenversammlung und publiziert Romane und Gedichtbände. 2005 erscheinen die „Menschenbilder“, deren zweite Auflage die heutige Veranstaltung gewidmet ist. 2009, am 3. Februar, stirbt Johann Barth in Salzburg. Die Welt der Bilder Zum Umgang mit Fotografien Wie macht man aus einem derart riesiges Konvolut einen Fotoband, der auch noch eine Geschichte erzählen soll. Man beginnt, indem man Tausende Kontaktabzüge durchsieht, die besten, oder, was man dafür hält, auswählt. Bei diesem Auswahlverfahren überwiegen zunächst ästhetische Überlegungen. Man kann aber nicht umhin, die ausgewählten Fotos zu gruppieren, nach Themen und Themenkreise geordnet, man versucht dies zumindest Dann entdeckt man, dass diese Fotos, diese Tausenden von Fotos eine Geschichte, besser gesagt, mehrere, ja viele Geschichten erzählen. Ein einzelnes Foto, sei es gelungen oder nicht, sei es ästhetisch interessant, technisch perfekt oder nicht, einzelnes Foto ist auch verwoben mit der Geschichte des Fotografen, mit der Geschichte der Fotografie, mit der 2 Geschichte und den Geschichten der Abgebildeten, der Porträtierten. Aber eine Reihe von Tausenden Fotos, welche in einem Zeitraum von zehn, zwanzig, dreißig Jahren entstanden sind, erzählen darüber hinaus die Geschichte einer Stadt, genauer gesagt, die spezifische Perspektive, die der Fotograf auf seine Objekte geworfen hat, und in weiterer Folge, die der Interpret seiner Kunstobjekte daraus zieht. Fotografien sind als „eingefrorene“ als „kristallisierte“ Zeit beschrieben worden und trotzdem ist es so, dass dem Entstehen eines Bildes, dem Akt des Fotografierens wie auch jeglicher Reflexion über ein Bild, ein subjektiver Affekt vorausgeht. Aber gerade deshalb sind Datierung, Verortung, Beschreibung und geschichtliche Indizierung notwendig, um Fotografien „lesbar“ zu machen. Im Anschluss an Walter Benjamin, kann gesagt werden, wer unfähig ist, Bilder zu „lesen“, werde in einer zunehmend von bildlicher Information geprägten Welt unweigerlich zum Analphabeten. Das „Lesbar-Machen“ von Bildern ist daher auch eine wichtige Aufgabe des Stadtarchivs. 3 Daghofer Dieses Bild zeigt Fritz und Hella Daghofer, kurz vor Schließung ihrer Metzgerei in der Goldgasse im September 1963. Diese Metzgerei war seit dem 18. Jahrhundert im Besitz der Familie Daghofer gewesen. Nebenbei bemerkt, ein Vorfahre, namens Lorenz Gmachl, wegen seines Schweinehandels spöttisch Saulenzl genannt, kommt als solcher in den Mozartbriefen vor. Sie sehen, reichern wir die Bilder mit Informationen an, gewinnen sie an Aussagekraft und beginnen zu erzählen. Ich kann hier keine vollständige zusammenhängende Erzählung und auch keine stringente Analyse der Salzburger Nachkriegsgeschichte liefern. Ich wende ein eher fotografisches Verfahren an, indem ich wie der Fotograf schnappschussartige Momentaufnahmen des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels mache. Wenn man so will, ist 4 der Vortrag so etwas wie ein illustrierter Tatsachenroman mit (analytischen) Passagen. Es gibt daher auch Passagen im Vortrag, bei denen überwiegt der Text und solche, bei denen überwiegen die Bilder. Der Begriff „Passage“ ist nicht zufällig gewählt. Walter Benjamins fragmentarisches und posthum erschienenes Werk über Paris widmete sich den Passagen, jene Durchbrüche und Querverbindungen zwischen parallel verlaufenden Straßenzügen, welche überraschende Durchblicke auf Vertrautes erlauben. Es geht darum, seinen Gegenstand durch „Passagen-Denken“ ständig zu umkreisen und „jedes Bild zu nehmen, als sei es das eines zusammengefalteten Fächers, der erst in der Entfaltung Atem holt ...“. Sie sehen auf dem Bild ein Ehepaar, an jenem Tag fotografiert, an dem seine Berufskarriere und die fast zweihundertjährige Geschichte einer Salzburger Metzgerei endet. Sie sehen das karge Angebot: Rindsschnitzel auf der Waage, Beinfleisch am Haken an der Wand, ohne Kühlung. Das Wurstangebot scheint karg, ist aber im Vergleich Mit dem Angebot von zehn Jahren zuvor schon erheblich. Barths Bilder setzen in den fünfziger Jahren ein, Bilder aus der Stadt Salzburg entstanden erst nach der Übersiedlung der Familie nach Salzburg 1952. Gestatten Sie mir, den Fotoessay zeitlich etwas früher zu beginnen. Befreiung durch die Amerikaner Am Freitag, dem 4. Mai 1945, in Salzburg der Tag der Befreiung, notierte Regierungsrat Josef Hummel in sein Tagebuch: „In der Nacht um 22 Uhr erscheint ein Polizeibeamter mit einem amerikanischen Soldaten und fordert die Räumung aller Wohnräume des Hauses bis Samstag, 5. Mai um 10 Uhr Vormittag“. 5 Fast alle Bewohner der Riedenburg, von der Reichenhaller Straße bis zum Rainberg und vom Neutor bis zur Hübnergasse müssen ihre Wohnungen innerhalb von 12 Stunden räumen und verlassen. Zumindest die Riedenburger müssen sich das Ende des Nationalsozialismus, die Befreiung, anders vorgestellt haben. Am nächsten Tag vertraut Hummel seinem Tagebuch: „Um 4 Uhr Nachmittag konnten wir uns eine Teejause mit Schwarzbrot vergönnen – ein Mittagessen herzuholen war ausgeschlossen […} Und weiter unten schreibt er: „Ich hatte Gelegenheit, das Abendessen der Kampfbesatzungstruppe zu beobachten: Ein 30 cm langes, schneeweißes, zweifingerdickes Butterbrot mit dickem Aufstrich; in der Menageschale Reisfleisch oder eine Menageschale voll mit Gemüse; hiezu warmen Milchkaffee. Das Aussehen der Truppe ist ausgezeichnet.“ Facts des Mangels Das war im Mai 1945. Die Ernährungswirtschaft bot zu Kriegsende das Bild völliger Desorganisation, die Vorratslager waren geplündert und, wer sich bei den ausgiebigen Plünderungen nicht selbst versorgen hatte können, musste mit den zugeteilten 900 Kalorien zufrieden sein. Die Unterversorgung nahm im Sommer 1946 dramatische Ausmaße an. Österreich wurde nun neben der Tschechoslowakei, Polen, Griechenland, Italien, Albanien und China zu den am meisten vom Hunger bedrohten Ländern der Erde gezählt. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Schuldige am Mangel waren bald gefunden: ablieferungsunwillige Bauern und Schleichhändler, aber auch andere Konkurrenten um den kargen Nachkriegstisch machte man aus: Ausländer und Flüchtlinge, wieder einmal. Für bevorzugte Lebensmittelzuteilungen für eben dem Holocaust entronnenen Juden 6 sowie für Flüchtlinge und Heimatvertriebene fehlte jedes Verständnis. Die gewohnten Feindbilder, die man eingetrichtert bekommen und nur allzu gern repetiert hatte, wirkten fort: und man wünschte diese Opfer des Krieges möglichst bald aus dem Land. In der Presse war von „Ausländerplage“ die Rede. Der Bürgermeister der Landeshauptstadt drohte 1946 bei Verstößen gegen die Lagerordnung gar mit zeitweisem Kostentzug.Barth war auch Migrant Diese Bildfolge, rechts Barths Stiefvater mit Messer und geschlachtetem Schwein, in der Mitte seine Mutter mit geschlachtetem Schwein und Blutschüssel, links Barth mit geschlachtetem Schwein …Besitzerstolz in Zeiten des Mangels 7 Stichwort Wohnungen Über 7000 Wohnungen waren in der Stadt Salzburg durch den Luftkrieg verloren gegangen. Im Sommer 1945 waren mehr als 14.000 Personen obdachlos. Dazu waren im Juli 1945 in mehreren Lagern über 66.000 Flüchtlinge untergebracht. Die Wohnungssituation wurde durch die Beschlagnahme von Wohnraum für US-Army weiter verschärft. Der Wohnbau kam dem Bedarf in keiner Weise nach, allzu Mal es in den vierziger Jahren noch an Baumaterial fehlte. Aber auch in den fünfziger Jahren konnte der Bedarf an Wohnungen durch den Neubau kaum gedeckt werden. Barackensiedlung an der Siezenheimer Allee Noch 1953 wohnten gut 10.000 Menschen in Baracken, 1957 waren es immer noch annähernd 7.000 Personen. Baracken und Barackenlager prägten das Stadtbild. Die Baracken und ihre Bewohner störten das Selbstbild vom schönen Salzburg. 8 Eine offizielle Denkschrift befürchtete die „dauernde Verschandelung“ der Festspielstadt und stellte zynisch fest, es werde immer Elendsquartiere geben, da es immer Menschen gebe, die lieber „eine Bretterbude mit Hühnerstall ihr Eigen nennen“. Die Barackenbewohner waren an ihrem Elend angeblich selbst schuld. Erst Mitte der sechziger Jahre verschwanden die letzten hölzernen Notquartiere. Bewohner einer Barackensiedlung an der Siezenheimer Straße 9 Entnazifizierung oder so ähnlich Die Fakten: In der Stadt Salzburg mussten im Mai 1945 etwa zwei Drittel der Magistrats-Bediensteten wegen Mitgliedschaft in der NSDAP entlassen werden. Ähnlich verhielt es sich mit den Pädagogen. Diese Entlassungen wurden auf Grund fehlenden Fachpersonals allerdings bald wieder revidiert. Ich will mich hier nicht allzu lange aufhalten. Spätestens 1949 beendete das Werben der politischen Parteien um die Stimmen der wieder zu Wahlen zugelassenen „Ehemaligen“ die Diskussion über die Entnazifzierung. Ernst Hanisch ist zuzustimmen, wenn er meint, es gehe nicht darum, die Leier von der verfehlten Entnazifizierung abzuspielen. Die politische und soziale Integration „Ehemaliger“ war ein notwendiger demokratischer Prozess. Es ist Hanisch aber auch zuzustimmen, dass dieser Prozess stillschweigend und ohne kritische Reflexion abgelaufen ist und hier gilt es nachzuhaken: Ich will nur eine Salzburger Ikone schlechthin erwähnen: Hans Sedlmayr. Sedlmayr, 1941 habilitiert, verlor 1945 seine Professur wegen Mitgliedschaft in der NSDAP, erhielt jedoch bereits 1951 wieder eine Professur in München, ehe er ab 1964 in Salzburg lehrte. Seine Klage über den Verlust der „Mitte“ war ein bildungsbürgerlicher Bestseller und war einem kunstgeschichtlichen und gesellschaftlichen Ideal aus der Zeit vor der Aufklärung verpflichtet. Säkularisierung, Individualisierung sowie der Liberalisierungsprozess, der in den fünfziger Jahren einsetzte, waren ihm ein Menetekel. Er empfand diese Prozesse als Verlust, als Verlust der Mitte. Sedlmayr lieferte in zahlreichen kunsthistorischen und -theoretischen Arbeiten das ideologische Rüstzeug für den Kampf gegen die moderne 10 Kunst, gegen die Moderne. Sedlmayrs – auf hohem theoretischem Niveau stehenden – Arbeiten zeigen aber auch die gerade für Salzburg typische breite Übereinstimmung und Überlappung von nationalen und katholischen Ideologemen. Um kein Missverständnis zu produzieren: ich bin kein Freund von Straßenumbenennungen. Sedlmayrs Verdienste um Salzburg, um die Salzburger Altstadt sind unbestritten, an sein politisches Herkommen sollte aber erinnert sein. Kuhhirte im Nonntal, Herbst 1957 Im Bild die Landschaft im Süden der Stadt, für deren weitgehende Erhaltung, sich Sedlmayr verdient gemacht hat. Der rechts im Bild zu sehende Mühlbacherhof musste allerdings der Universität weichen. Der Film Aber auch – und gerade in diesem Zusammenhang – ist die Filmproduktion zu erinnern. 11 Es ist kaum ein Unterschied zwischen den in der NS-Zeit in Salzburg gedrehten Filmen und den Heimatfilmen der Nachkriegszeit auszumachen. Schauspieler wie Produzenten waren vor 1945 und nach 1945 oft dieselben und die Inhalte der Filme weitgehend auch. Idyllisierung der alpinen und voralpinen Landschaft, Harmonisierung potentieller Konflikte und Konfliktlinien und ein bittersüßer, augenzwinkernder Moralkodex zeichneten diese Trivialfilme österreichischer Machart und Salzburger Provenienz aus. Sie lieferten zahlreiche Identifikations-Anhaltepunkte in einem unwirtlichen Alltag mit einer noch unwirtlicheren Vergangenheit. Sie suggerierten Heiteres, Beschwingtes, Österreichisches eben. Fast scheint es so als verdankte sich die Geburt eines allgemein akzeptierten österreichischen Nationalbewusstseins der verschmitzten Kaschierung vergangenen Unrechts. Österreichische Gemütlichkeit In diesem Zusammenhang ist auch an die tiefe Abgründigkeit österreichischer Gemütlichkeit zu erinnern. Der mit Stolz vorgetragene angebliche österreichische Charme und die Abneigung gegen alles Piefkische dienten auch der Exkulpierung in nationalsozialistische Verstrickungen. Österreichische Gemütlichkeit, Stereotype und Markenzeichen des hiesigen Heimatfilms, verdeckten die tiefen Seiten jüngster Vergangenheit. 12 Nico Dostal und Marte Harell im „Rendezvous“, 1963 Im Bild Nico Dostal und Marte Harell, in einer Salzburger Bar Er Operetten-Komponist ist Schauspielerin. Die „Fiaker-Milli“ im 1944 gedrehten Unterhaltungsfilm „Schrammeln“ war einer ihrer Paraderollen. Vergessen und Verdrängen waren aber nicht nur für die Unterhaltung konstitutiv, sondern allgemeine Merkmale dieses Zeitabschnitts. Wer könnte aber auf der anderen Seite den Menschen das kleine Glück im Kino verdenken und wer würde es ihnen nicht gönnen. Und ohne Vergessen und Verdrängen wären Wiederaufbau und Wirtschaftswunder auch gar nicht möglich gewesen. Die Menschen hatten genug von den Kümmernissen des Alltags und waren der Eskapaden der Politik müde. Während Film, Radio und Fernsehen vom Alltag ablenkten, versprachen 13 neue konsumative Produkte das künftige kleine Glück. Der Blick war in die Zukunft gerichtet und dafür schuftete man. Folgende Bildsequenz ist offensichtlich in Szene gesetzt, aber nicht minder aussagekräftig. Das imaginierte kleine Glück des Konsumierens reproduzierte noch einmal althergebrachte Rollenzuschreibungen. 14 15 Zukunftsträume Zukunftsträume gab es viele, etwa jenen im sozialdemokratischen „Volksblatt“ 1961, also vor über fünfzig Jahren, mithin lange vor dem Aufkommen der Smartphones: „Der Radarherd in der Küche ist mit einem Kühlschrank kombiniert, aus dem auf Knopfdruck hin – und das schon unterwegs vom Auto aus! – die jeweils gewünschte Speise in den Kochtopf wandert und zur beliebigen Zeit fertig gekocht und gebraten ist. Wieder ein Druck auf einen Knopf – und der Spülautomat daneben erledigt alles weitere ...“ u.s.w. Thomas Bernhard Wünschen, Vergessen, Träumen und Verdrängen waren nicht nur gleichsam Voraussetzungen des Wiederaufbaus, sondern auch bequem. Das Werden der österreichischen Nation aus dem Geist des Verdrängens. Deshalb erschreckten auch Thomas Bernhards Heimatromane so sehr. In Frost, seinem ersten Roman, erscheint Salzburg – Das Land Salzburg ist unschwer erkennbar – als Gegenteil einer Idylle, geprägt von Verfall und Morbidität. Sämtliche Klischees des traditionellen Heimatromans sind in ihr Gegenteil verkehrt. In Frost spielt auch der Bau des Großkraftwerkes Kaprun, Symbol des Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Schaffenskraft Österreichs schlechthin, eine Rolle. Dass während der NS-Herrschaft Tausende unter unmenschlichen Bedingungen gegen ihren Willen dort arbeiten mussten, und in den Triumph-Posen nach Vollendung des Kraftwerkes keine Erwähnung fanden, ist auch so eine österreichische Verdrängung. Als Thomas Bernhard für „Frost“ der österreichische Staatspreis zugesprochen bekam, provozierte seine Aussage, dass angesichts des Todes alles lächerlich sei, einen Skandal. 16 Der Salzburger Landtag protestierte gegen die Preisverleihung. Bernhard habe „grobe Anklagen gegen seine Heimat“ vorgebracht und die Salzburger Bevölkerung beleidigt. Karl Heinrich Waggerl Offensichtlich die Salzburger nicht beleidigt hat ein anderer: Karl Heinrich Waggerl. Seine NS-Verstrickungen und dass seine Sujets bereits in den 30er- und 40er-Jahren entwickelt worden waren, tat seiner Popularität keinen Abbruch, im Gegenteil, wobei der Begriff „Verstrickung“ in seinem Fall durchaus euphemistisch ist. Karl Heinrich Waggerl Nach dem Krieg schrieb Waggerl an seinen Verleger Otto Müller, er habe nur „selten einmal irgendwo ... Probleme der unmittelbaren Gegenwart“ berührt. Ein Biograph Waggerls meinte, er habe „Vertrauen 17 in eine tiefere, sittliche Ordnung“ vermittelt und den „Fleiß an der gerechten täglichen Arbeit“ zum Gegenstand gehabt. Waggerls Harmonie- und Trostangebote waren das Geheimnis seines literarischen Erfolgs. Das Goldene Zeitalter Der englische Historiker Eric Hobsbawm hat den Zeitabschnitt, der nach dem Weltkrieg folgte, als „goldenes Zeitalter“ definiert. Noch nie habe sich in der Weltgeschichte innerhalb eines so kurzen Zeitabschnittes so viel geändert, noch nie habe sich – zumindest in Europa und Nordamerika – der Wohlstand der Bevölkerung so erhöht wie in den fünfziger bis in siebziger und achtziger Jahre. Vollbeschäftigung, Bildungsexplosion und Massenkonsum sind die Eckpfeiler dieser Entwicklung. Der Sozialstaat mit seinen öffentlich garantierten Transferleistungen ermöglichte eine bis dato nicht gekannte soziale Sicherheit. Gerade die „unteren“ Schichten profitierten an der boomenden Wirtschaft. Neue Bildungsmöglichkeiten, vor allem seit den siebziger Jahren, eröffneten soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Vollbeschäftigung oder zumindest ein hohes Beschäftigungsniveau ermöglichten den Auf- und Ausbau des Sozialstaates, gerade in Österreich. Dazu ein paar statistische facts: Noch 1954 lag der österreichische Lebensstandard 40 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt. Dieser Abstand halbierte sich bis 1961. Das Bruttonationalprodukt stieg von annähernd 50 Milliarden Schilling im Jahr 1950 auf über 130 Milliarden am Ende dieses Dezeniums. Die Lohn- und Gehaltssumme wie auch das Nettoeinkommen stiegen in Österreich in den fünfziger Jahren um mehr als das Doppelte, der 18 Konsum im selben Zeitraum um etwa 70 Prozent. Um 1957/58 kann man eine „Wohlstandswende“ annehmen. Ein paar weitere Indikatoren für diesen unglaublichen und heute für die später geborenen kaum mehr nachvollziehbaren Anstieg des Wohlstandes. Wohnungen: In der Stadt Salzburg gab es 1945 nicht ganz 24.000 Wohnungen. Bis 1960 kamen ca. 10.000 neue dazu, 1970 gab es in der Stadt Salzburg über 50.000 Wohnungen. Noch deutlicher wird dies, wenn wir uns die durchschnittlichen Belegszahlen pro Wohnung ansehen: 1945 teilten sich 4,2 Personen eine Wohnung, 1960: 3,1; 1970 zweieinhalb Personen. Darin spiegelt sich allerdings nicht nur die Zunahme der Wohnungen, sondern auch der Wandel der Familien, ihre Erosion und neue Formen des Zusammenlebens (Stichwort: Single-Haushalt). Die fünfziger und sechziger Jahre waren die hohe Zeit des „Sozialen“ Wohnbaus, nach Parteiproporz sauber getrennt. An der Peripherie entstanden neue Stadtteile wie Taxham oder Lehen. Auch das: Nicht selten löste erst das Parteibuch den Eintrittsschein in die neue Wohnung, oder beschleunigte zumindest die Wohnungsvergabe. Für die Parteien stellte die Wohnungssuche (wie auch die Arbeitssuche) ein ideales Rekrutierungsfeld dar. Ihnen gelang es zunächst noch, ihre Klientel, über Wohnungs- und die Jobbeschaffung zu organisieren. Moderne Individualisierungstendenzen hatten auf diesem Segment der Gesellschaft noch nicht Einzug gehalten. Trotz zunehmender und immer schneller vor sich gehender Erodierung der politischen Lager beherrschten Paternalismus und Proporz noch weit gehend das politische Handeln. Stichwort Motorisierung: Das Auto war das Symbol des eben errungenen Wohlstandes schlechthin. Bundesland Salzburg: 1947 gab es 1958 19 PKW, 1950 3232 PKW; aber sechs Jahre später,1956, bereits über 10.000 PKW, 1959 über 19.000 PKW und 1961 bereits über 27.000 PKW’s. Die Mobilisierung durch Motorisierung hatte allerdings ihren Preis. Alter Markt, August 1961 20 Fernsehen: Im August 1955 startete das österreichische Fernsehen, mit der Egmont-Ouverture und einer Journalisten-Diskussion. 1961 gab es in Salzburg 11.424 Fernsehapparate, Ende der siebziger Jahre weit über 100.000. Bereits seit 1964 erstreckte sich der Empfangsbereich über das ganze Bundesland. Konsumrausch Der Mangel war gedeckt. Es ging nicht mehr um das Überleben wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die dringendsten Bedürfnisse konnten befriedigt werden. Die Regale hatten sich wieder mit Waren gefüllt. Um verkauft werden zu können, werfen die Waren „Liebesblicke“ nach den Käufern, deren menschliche „Liebesblicke“ sie nachahmen und übertreffen. Die ästhetische Sprache des menschlichen Liebeswerbens wurde nun in einem Ausmaß in den Dienst Werbung genommen wie nie zuvor. Die vielfältigen Konsumartikel bieten sich in den Staffagen des sexuellen Glücks an. Halbzarte Am 6. März 1959 hat in Salzburg ein Film mit Romy Schneider Premiere: Titel: „Die Halbzarte“. Das Interesse an dem Film ist enorm. Nur zur Einstimmung: in den Salzburger Kinos laufen gleichzeitig Filme mit Titeln wie „Schwarze Nylons – heiße Nächte“ im Elmo-Tageskino, Jugendverbot; oder im Central „Indiskret“, ebenfalls Jugendverbot. Im Stadtkino sah man am Nachmittag die jugendfreie „Katarina-ValenteMusik-Show“, in der Nachtvorstellung „Ein ungewöhnlich heikles Thema um Sinnlichkeit, Eifersucht und spannungsreicher Erotik: Gier nach Liebe mit Brigitte Bardot, die Frau, die alle begehren“. Zurück zu der „Halbzarten“: Die „Halbzarte“ in der Regie von Rudolf Thiele, ebenfalls mit dem Prädikat „Jugendverbot“ ausgezeichnet, erhielt nicht nur in der lokalen Presse keine gute Kritiken, dies trotz einer 21 Besetzung mit Josef Meinrad, Magda Schneider, Carlos Thompson, Gertraud Jesserer und Helmuth Lohner. Es ist hier nicht der Ort, die künstlerische Qualität des Streifens zu beurteilen, Inhalt (wie immer beim Boulevard) und vor allem Titel haben sehr viel mit der Zeitstimmung zu tun. Der durchaus banale Inhalt ist kurz erzählt. Um das Einkommen ihrer Familie aufzubessern, entschließt sich eine junge Buchverkäuferin aus gutem Haus, anonym, ein Theaterstück mit schlüpfrigem und durchaus eindeutigem Inhalt mit dem Titel „Eva – Memoiren einer 17-Jährigen“ zu veröffentlichen. Der Erfolg ist durchschlagend, das Stück wird im Burgtheater aufgeführt. Ein amerikanischer Filmproduzent interessiert sich dafür, allerdings nur unter der Bedingung, dass die bisher anonyme Autorin für eine Reklametour ihr Inkognito aufgibt. Um an die Dollarmillionen heranzukommen, wird sie von ihrer Familie bedrängt, die Rolle der verführerischen „Halbzarten“ auch dem Produzenten zu spielen. Als der gut aussehende und millionenreiche Amerikaner aber erkennt, dass die „Halbzarte“, geschaffen für Ehe und Familie ist, also eine „Ganzzarte“ ist, bekommt diese nicht nur die Millionen, sondern auch den Millionär. Hochzeit und Happyend. Ein Rezensent vermerkte nicht zu Unrecht: „Das Schweinigeln unter dem Mantel der Moral ist die eigentümliche Keuschheit der österreichisch-deutschen Filmproduktion“. Der Film war von zwiespältigem Erfolg gekrönt: Das ältere Stammpublikum konnte Romy Schneiders Wandel von der Sissy zur „Halbzarten“ nicht verzeihen, andererseits waren Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot in ihrem Rollen als Sex-Symbole authentischer und überzeugender. Im zeitgenössischen Jargon werden die MM und BB gerne als „Sex-Bomben“ bezeichnet, ein mehr als eigenartiger Begriff, der zwischen Eros und Krieg changiert. 22 Die sexuelle Freizügigkeit der „Halbzarten“ spielt sich ausschließlich in der Fiktion, in der Phantasie ab, und wird durch das Eheglück der „Ganzzarten“ abgefangen. Immerhin die Thematisierung im Film zeigt an, dass gegen Ende der fünfziger Jahre das Gefüge zwischen den Geschlechtern, die Regeln und Konventionen der „ganzstarken“ (wie auch der „ganzzarten“) Generation ins Rutschen gekommen ist. Es zeigt aber vor allem, zwischen welchen Polen die Generationen der Kriegsund der Wiederaufbauzeit sich bewegen, zwischen halb- und ganzstark und zwischen ganz- und halbzart. Nur in der Gleichzeitigkeit dieser Phänomene erschließt sich der Charakter des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Schmutz und Schund Linke wie rechte Abstinenzler liefen gegen die allgemeine Sexualisierung von Kauf und Konsum Sturm, erfolglos. Katholische Memoranden gegen „Schmutz und Schund“ wie jenes der katholischen Aktion an den Salzburger Landtag im September 1961, oder Kampagnen der Gewerkschaftsjugend verpufften wirkungslos. Letztlich erwiesen sich auch die Predigten des Pater Leppich historisch als weit überholt. Instinktiv erkannte aber Pater Leppich, das „Maschinengewehr Gottes“, so seine Eigendefinition, welche Gefahr in der Wohlstandsgesellschaft der katholischen Kirche erwuchs. 1961 folgten seinen Predigten auf dem Kapitelplatz gegen die „Bestie Sexualität“ und gegen die „Wohlstandsgesellschaft“ Tausende Menschen. Aber auch Teile der sozialistischen Reichshälfte formulierten asketische Kritik an der Konsumgesellschaft, etwa Josef Kaut, Salzburger Kulturlandesrat und späterer Präsident der Salzburger Festspiele. Feste wie Weihnachten, so Kaut 1961, seien „Orgien des Absatzes von 23 Überflüssigem“ und wer sich den Einflüssen der Reklame nicht entziehen könne, werde „Objekt einer wohlorganisierten Ausbeutung“. Wie auch immer, fest steht, die „sexuelle Revolution“ ist eines der Kennzeichen der sechziger Jahre und stellte lang eingeübte Ordnungen in Frage. Katholische Prüderie und Lustfeindlichkeit wurden zunehmend in Frage gestellt. Dass der Zwang zur Keuschheit durch den Zwang zum Orgasmus abgelöst worden sei, wie dies Ernst Hanisch formuliert hat, mag eine Übertreibung sein, fest steht aber, dass der Körper und das Körperliche eine enorme Aufwertung genommen haben. Auch wenn die Erscheinungsformen der sich formierenden Wohlstandgesellschaft, Sexualisierung, Konsum, Individualisierung von den einen als Enttabuisierung göttlicher Maximen und von den anderen als Auflösung proletarischer Solidargemeinschaften beklagt worden sein mag, fest steht, die Sicherung existenzieller Lebensgrundlagen und darüber hinausgehende Konsummöglichkeiten stellten überkommene Verhaltensregeln radikal in Frage. Das „goldene Zeitalter“ ermöglichte nicht nur die „kulturelle Revolution“ (Hobsbawn), sondern bedingte sie. Die kulturelle Revolution war jung. Die Jugend ihre Trägerin. Die Jugendkultur entwickelte sich zu einer unabhängigen politischkulturellen Kraft. Jeans und Pop-Musik sind deren globale Markenzeichen. Eine wachsende Marktmacht erleichterte es der Jugend, neue Identitätssymbole zu kreieren und zu besitzen. So etwas wie eine Rebellion „halbstarker“ Jugendlicher gab es in Salzburg nicht, aber doch versuchten Jugendliche Ende der fünfziger Jahre erwachsene Bevormundung zurückzudrängen und sich eigene Symbolwelten aufzubauen. Mofa und Vespa waren solche Symbole. Die Musik, insbesondere Rock ’n’ Roll, war ein Medium, in dem sich ein 24 gegen die Erwachsenen und ihren überkommenen Vorstellungen und Maximen gerichtetes Lebensgefühl artikulierte. Bescheiden zunächst: 1957 waren im Bundesland Salzburg lediglich 70 Music-Box’s aufgestellt. Aber immerhin konnte man auch in Salzburg Rock ’n’ Roll-Konzerte besuchen; am 7. März 1957 fand angeblich erstmalig in Salzburg, im Mirabell-Casino ein Rock and Roll-Konzert (mit Joe Wagner als Gast) statt. Der Twist konterkarierte alle eingelernten Anstandsnormen des Tanzes und die geordneten Begegnungen der Geschlechter. Freilich, Salzburg erlebte nur einen Abklatsch halbstarken Aufbegehrens, aber der Einzug amerikanischer Rhythmen in den Schlager, die Beliebtheit von Sendungen wie „Tanzmusik auf Bestellung“ ab dem Fasching 1962, oder des wöchentlichen „Fünf-Uhr-Tees“ im Kongresshaus, es gab auch „Konsum-Partys“, markieren das allmähliche Ende der starren Welt der „Ganzstarken“. Die Vorstellungswelt der Kriegs- und Kriegergeneration wird abgelöst, allmählich zunächst und nicht vollständig. Zwischen der Eltern- bzw. der Großelterngeneration und der Jugend tat sich eine enorme kulturelle Kluft auf. Vorgezeichnete und lang eingewöhnte Lebensprogramme wurden abgelöst, man richtet sich nun nach den Konsumangeboten. Obwohl weit davon entfernt, eine liberale und tolerante Gesellschaft zu sein, der Zug ging jedenfalls in diese Richtung. Lange vor der Revolte der 68er hatte der Prozess der Entstarrung begonnen. Rebellen und Massenkonsumgesellschaft bauten auf den selben Prämissen auf, dem Triumph des Individuums über die Gesellschaft. 25 Modernisierungsverlierer Das „Wirtschaftswunder“ verdeckte eine noch immer vorhandene Armut oder schuf eine neue. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger Jahre konnten nicht alle mithalten. Barth fotografierte auch die „Outcasts“, den Lieferinger Tiergartenbesitzer Eduard Steindl etwa, für den es immer schwieriger wird, das Futter für seine Raubtiere zu bezahlen und Kundschaft anzulocken, oder die „Lavendel-Fanny“, die versucht, durch den Verkauf dieses duftenden Krautes am boomenden Tourismusgeschäft teilzuhaben. Barth fotografierte den Bettler auf dem Makartsteg und den Obdachlosen am Salzburger Hauptbahnhof und hielt im Bild jene alte Frau fest, die sich wie Sisyphus abmüht, den Schotter beim Tomaselli-Kiosk zu glätten. Industrialisierung und Rationalisierung der Wirtschaftsabläufe entzog nicht wenigen Gewerben den Boden. Berufe wie die Dienstmänner verschwanden. Kleine Gewerbebetriebe hatten es immer schwieriger sich zu behaupten. In den sechziger Jahren verstärkte die einsetzende touristische Globalisierung auch in der Salzburger Altstadt diesen Verdrängungsprozess. Immer mehr Geschäfte und Läden mussten schließen, so auch die Metzgerei Daghofer in der Goldgasse. Und dieser Prozess bleibt widersprüchlich. Drei fast zeitgleiche Beispiele: Während Helmut Qualtinger im März 1965 im Radioprogramm Ö1 aus Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ las, las in Salzburg Ordinariatskanzler Karl Berg in St. Peter zum ersten Mal nach der neuen Liturgie, feierte den Wortgottesdienst in deutscher Sprache und den Gläubigen zugewandt. Am darauf folgenden Wochenende lief im Österreichischen Fernsehen ein Lustspiel mit Willy Millowitsch mit dem Titel „Weidmannsheil“ und anschließend um 22.15 „Rio Grande“, ein Wildwestfilm mit John Wayne, allerdings unter Jugendverbot. 26 Zum Abschluss zwei Gegensatzpaare, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Zum einen das amerikanische Sex-Symbol: Kim Novak, hier im Hotel Bristol, zum anderen die Grande Dame des österreichischen Theaters: Paula Wessely Das zweite Gegensatzpaar: Zum einen die versammelte Avantgarde aus Politik und Kirche bei der Einweihung des Landessschießstandes 1963 und twistende Jugend Anfang der Siebziger. 27 28