Unfreiwillige Klientel im Case Management Ein
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Unfreiwillige Klientel im Case Management Ein
Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Unfreiwillige Klientel im Case Management Ein beratungsmethodisches ABC Patrick Zobrist, dipl. Sozialarbeiter FH Dozent und Projektleiter Hochschule Luzern – Soziale Arbeit 13. Schweizerischer Case Management Kongress Freiwilligkeit und Wahlfreiheit im Case Management – Die Anbieter- und Nutzersicht ? ? ? ? ? ? Sind gelingende Hilfeprozesse und erfolgreiche Veränderungen unter unfreiwilligen Bedingungen überhaupt erfolgsversprechend? Wie sinnvoll ist es, die Kooperation der Klientel für Case Management zu verlangen oder gar Druck aufzusetzen? Was muss in der Beratung beachtet werden? ? ? ? ? ? 1 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Inhalt 1. Was ist Unfreiwilligkeit – was sind Zwangskontexte? 2. Veränderungschancen unter Zwang – empirische Befunde 3. A B C – drei beratungsmethodische Prinzipien 4. Zusammenfassung, Fazit und weiterführende Fragen/Anregungen Unfreiwilligkeit Zwang Freiwilligkeit Unfreiwilligkeit strukturell Zwang existenziell Abhängig von: •Handlungsspielräumen •Ressourcen und Machtquellen (vgl. Giddens 1997, Schwabe 2008, Lindenberg/Lutz 2014) 2 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Annäherungen an den Begriff „Zwangskontext“ „Der Begriff Zwangskontext wird benutzt, wenn andere Menschen darauf drängen, dass jemand einen Sozialen Dienst aufsucht, oder wenn jemand durch gesetzliche Vorgaben zur Kontaktaufnahme mit einem Sozialen Dienst verpflichtet wird.“ (Kähler/Zobrist 2013: 9) Und: Es werden Problemlösungen und Verhaltensänderungen durch die Klientin/den Klienten erwartet! Zwangskontexte im psychosozialen Feld (vgl. Trotter 2015) - Sozialhilfe - Arbeitsintegration/arbeitsmarktliche Massnahmen - Bewährungshilfe - Kindes- und Erwachsenenschutz - Fürsorgerische Unterbringung - Suchttherapie (...) und: Case Management (wenn damit Handlungsspielräume eingeschränkt werden) 3 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Veränderungschancen in Zwangskontexten (vgl. Kähler & Zobrist 2013: 73f.) - Soziale Arbeit: Ca. in der Hälfte der Fälle in Zwangskontexten sind positive Wirkungen zu verzeichnen (Kähler/Zobrist 2013) - Psychiatrie: Initiale Zwangsbehandlung bei Psychotikern reduziert die Aufenthaltstage und erhöht die Klientenautonomie (Frank et al. 2005), v.a. kurzfristige Wirkung (Steinert & Schmid 2004). Partizipation trotz Zwangsbedingungen wichtig (Thornicroft et al. 2010) - Straftäter: generelle Rückfälligkeit wird durch psychosoziale Behandlungen um rund 30% reduziert (Lipsey & Cullen 2007), sofern spezifische Prinzipien (Risk-Need-Responsivity, vgl. Andrews & Bonta 2010) eingehalten werden. - stationäre Suchttherapie: Effekte der „freiwilligen“ und „zwangsweisen“ Behandlung vergleichbar (Schaub et al. 2010) Vermutete Erfolgsfaktoren - Partizipation und Wiedererlangung von Handlungsspielräumen - Veränderungsmotivation der Klientin/des Klienten - Beziehungsgestaltung A Aufträge, Rollen und Erwartungen klären B Bearbeite die „Veränderungsmotivation“ C Co-Operation mit KlientInnen-System (!)/ Auftraggeber und professionelle Arbeitsbeziehung 4 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit A - Auftrags-, und Rollenklärung (mod. nach Conen 2011; Kähler/Zobrist 2013: 90) Politik gesell. Erwartungen Normen/Gesetze Ökonomische Interessen Auftraggeber (Klinik, Versicherung, Sozialamt, RAV etc.) Case ManagerIn Organisation Klienten Bezugssysteme Wer will was von wem? Auftrags- und Rollenklärung als permanente Aufgabe in allen Stufen des CM-Regelkreises! 5 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit B – Bearbeitung der Veränderungsmotivation Motivation für den Kontakt mit Case ManagerInnen vs. Motivation für die Veränderung in Themen im Rahmen eines Case Managements (vgl. Sachse et al. 2012; Kähler/Zobrist 2013) Motivationsdiagnostik Einschätzung der Veränderungsmotivation zum Thema X. (Storch/Krause 2002) Motivationsförderung durch Klärungen Unterstützen/befähigen für Veränderungen 6 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Motivationsarbeit im Case Management www.pixabay.com Alles nur eine Frage der Belohnung? www.pixabay.com Oder des Druckes? Beispielhafte Interventionen zur Motivationsförderung in den Veränderungsstadien (vgl. Klug/Zobrist 2013) Stadium Strategien/Interventionen Absichtslosigkeit Klärung des Veränderungsthemas Förderung der Problembewusstseins -Sokratische Gesprächsführung -Systemische Klärungen -Problemfunktionalität erkunden -etc. Absichtsbildung Stärkung der Veränderungsbereitschaft -Klärung von Ambivalenzen -Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung -„Lebensziele“ -Mental-Contrasting etc. „ Rubikon “ Vorbereitung/Handlung Zielentwicklung und Planung -subjektiv bedeutsamer Veränderungsplan, GAS, Ressourcen aktivieren, etc. Aufrechterhaltung/ Stabilisierung „Rückfall“ antizipieren – Monitoring - Relapse-prevention, soziale Verstärkung etc. 7 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit C – Co-Operation und Beziehungsgestaltung „Kooperation lässt sich nüchtern definieren als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren.“ Sennett, 2012:17 Kooperation Inhaltlicher Aspekt (Koproduktion) Prozessualer Aspekt (kooperative Prozessgestaltung) Beziehungsaspekt (Arbeitsbeziehung) Kooperation als Voraussetzung und Merkmal professionellen Handelns (auch im CM) 8 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Prinzipien der Beziehungsgestaltung in Zwangskontexten - differenzierte Empathie (Trotter 2015) - Transparenz und Strukturierung (Mayer 2009) - Explizite Widerstandsakzeptanz (Mayer 2009) und Umgang mit Widerstand (Miller/Rollnick 2009) - „Freundliche Hartnäckigkeit“ und geleitetes Entdecken (Mayer 2009) - Pro-soziales Modellieren und Verstärken (Trotter 2015) - Motivorientierte Beziehungsgestaltung (Caspar 2008) Motivorientierte Beziehungsgestaltung (Caspar 2008) Beispiel einer Plan-/Motivstruktur eines Klienten Bedürfnisebene Grundbedürfnis: Selbstwertschutz Kognitive Zeige, dass du über enorme Kompetenzen verfügst und Ebene ein einzigartiger Klient bist Zeige, dass du an seinen Kompetenzen zweifelst Stellt Case Manager in Frage Mache klar, dass du mehr verstehst als er Zeige, dass du wichtig bist Betont, dass er eine Firma geleitet hat Erzählt, dass er nur vom Chefarzt behandelt wird Verhaltensebene Wie reagiere ich in der Beziehungsgestaltung darauf? 9 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Zusammenfassung - Freiwilligkeit und Zwang liegen auf einem Kontinuum, fehlende Motivation sollte kein primäres Indikationskriterium für CM sein - Es gibt Konzepte für Motivationsförderung im Rahmen von CM (z.B. Motivierendes Casemanagement [MOCA] von Vogt et al. 2007) - Beratung in Zwangskontexten kann unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein: - Beratungsmethodisches A B C: - Auftrags- und Rollenklärung - Bearbeitung der Veränderungsmotivation: mehr als nur Belohnungen und Druck machen - Co-Operation und Beziehungsgestaltung Fazit Beratung im Rahmen von CM bei unfreiwilligen Klientinnen und Klienten ist grundsätzlich möglich und auch wirksam, (...) allerdings... ... muss der Zwang legal und legitim sein und darüber umfassende Transparenz bestehen ... sind in der Beratung spezifische Faktoren (ABC) zu beachten ... sind Prinzipien wie Partizipation, Befähigung und Ermächtigung der Klientinnen und Klienten nicht ausser Kraft gesetzt! 10 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Merci für Ihre Aufmerksamkeit Kontakt: patrick.zobrist@hslu.ch Literatur: Andrews, D.A./Bonta, J. (2010). The psychology of criminal conduct. 5 Aufl. Cincinnati: Anderson. Caspar, Franz (2008). Motivorientierte Beziehungsgestaltung – Konzept, Voraussetzungen bei den Patienten und Auswirkungen auf Prozess und Ergebnisse. In: Hermer, M./Röhrle, B. (Hg.). Handbuch der therapeutischen Beziehung. Bd. 1. Tübingen: dgvt-Verlag. S. 527-558. Conen, Marie-Luise (2011). Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung in Zwangskontexten. 3 Aufl. Heidelberg: Carl Auer-Verlag. Frank, Daniel/Perry, J Christopher/Kean, Dana;/Sigman, Maxine/Geagea, Khalil (2005). Effects of compulsory treatment orders on time to hospital readmission. In: Psychiatric services. 56. Jg. (7). S. 867-869. Giddens, Anthony (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M.: Campus Kähler, Harro D./Zobrist, Patrick (2013). Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. 2. Aufl. München: Reinhardt-Verlag. Klug, Wolfgang/Zobrist, Patrick (2013). Motivierte Klienten trotz Zwangskontext. Tools für die Soziale Arbeit. München: Reinhardt-Verlag. Lindenberg, Michael/Lutz, Tilman (2014). Soziale Arbeit in Zwangskontexten. In: AK HochschullehrerInnen. Kriminologie und Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz/Juventa. S. 114-126. Lipsey, M.W./Cullen, F.T. (2007). The effectiveness of correctional rehabilitation. A review of systematic reviews. In: Annual Review of Law and Social Science. 3. Jg. (1). S. 297-320. Mayer, Klaus (2009). Beziehungsgestaltung im Zwangskontext. In: Mayer, Klaus/Schildknecht, Huldreich (Hg.). Dissozialität, Delinquenz, Kriminalität. Ein Handbuch für die interdisziplinäre Arbeit. . Zürich: Schulthess. S. 209-230. Miller, W./Rollnick, St. (2009). Motivierende Gesprächsführung. Freiburg i.Br.: Lambertus. Sachse, Rainer/Langens, Thomas A./Sachse, Meike (2012). Klienten motivieren. Therapeutische Strategien zur Stärkung der Änderungsbereitschaft. Bonn: PsychiatrieVerlag. 11 Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Schaub, Michael/Stevens, Alex/Berto, Daniele/Hunt, Neil/Kerschl, Viktoria/McSweeney, Tim/Oeuvray, Kerrie/Puppo, Irene/Maria, Alberto Santa/Trinkl, Barbara/Werdenich, Wolfgang/Uchtenhagen, Ambros (2010). Comparing outcomes of 'voluntary' and 'quasicompulsory' treatment of substance dependence in Europe. In: European Addiction Research. .16. Jg. (1). S. pp. 10.1159/000265938. Schwabe, Mathias (2008). Zwang in der Heimerziehung. Chancen und Risiken. München: Reinhardt-Verlag. Sennett, Richard (2012). Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: Hanser-Berlin. Thornicroft , G. /Farrelly, S. /Birchwood, M. /Marshall, M. /Szmukler, G. /Waheed, W. /Byford, S. /Dunn, G. /Henderson, C. /Lester, H. /Leese, M. /Rose, D. /Sutherby, K. (2010). CRIMSON [CRisis plan IMpact: Subjective and Objective coercion and eNgagement] protocol: a randomised controlled trial of joint crisis plans to reduce compulsory treatment of people with psychosis. In: Trials. 11. Jg. (102). S. 1-7. Steinert, Tilman/Schmid, Peter (2004). Effect of voluntariness of participation in treatment on short-term outcome of inpatients with schizophrenia. In: Psychiatric services. 55. Jg. (7). S. 786-791. Storch, M./Krause, Frank (2002). Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Bern. Hans HuberVerlag. Trotter, Chris (2015). Working with involuntary clients. 3rd. Ed. London: Routledge. Vogt, I. et al. (2007). Motivierendes Case Management (MOCA) in der deutschen Studie zur heroin-gestützten Behandlung von Opiatabhängigen. In: Suchttherapie 8 (1). S. 19-25. Fragen und Anregungen zur Weiterentwicklung von CM mit unfreiwilligen Klientinnen/Klienten - CM-Konzepte auf ihre Passung für Zwangskontexte überprüfen: Gibt es „Pflichtkonsum“ von Angeboten und Dienstleistungen? - Wie wird Zwang im Case Management legitimiert, wenn dieser nicht rechtlich abgesichert, sondern ein Ergebnis von ökonomischen Interessen und Machtungleichgewichten ist? - Sind die jeweiligen Interessenlagen den Klientinnen und Klienten gegenüber offen gelegt? Wird Klartext gesprochen? 12