Vortrag zum - Uni

Transcription

Vortrag zum - Uni
Vortrag zum „Spiegelbild“
Aufgrund des Hauptthemas „Spiegel“ habe ich meinem Bild den Titel „Spiegelbild“
gegeben. Ich habe es mit Acryl auf Leinwand gemalt. Seine Maße sind 80 x 130 cm.
Bevor ich auf die Inhalte meines Bildes zu sprechen komme, möchte ich Ihnen und
euch zunächst erklären, was mich überhaupt dazu bewegt hat, ein solches Bild zu
malen:
Schon immer haben mich Träume fasziniert. Während des Schlafs erscheinen sie mir
manchmal so real, dass ich mich selbst nach dem Aufwachen noch spürbar an sie
zurückerinnere, manchmal mit einem nachklingenden Angstgefühl, manchmal belustigt, vor allem wenn man sich der Absurdität des Traums bewusst wird, wenn man
anderen davon erzählt, manchmal einfach nur erstaunt, was mein Geist sich da alles
im Unterbewusstsein zusammenzuspinnen vermag, was für eine scheinbar unerschöpfliche Fantasie mir innewohnt, von der ich nichts geahnt habe. Deswegen haben Träume für mich etwas Geheimnisvolles und Unergründbares.
Die Traumbilder bestehen zwar aus bereits Erlebtem, doch werden die Bruchstücke
der Vergangenheit meist verzerrt, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, dafür wie selbstverständlich in fremde Situationen eingefügt und in beinahe undenkbaren Konstellationen miteinander kombiniert. Es werden völlig neue Welten mit
neuen Geschichten geschaffen, die ich so noch nie erlebt habe.
Bei dieser Faszination für Träume seit meiner Kindheit ist es fast kein Wunder mehr,
mit welch großem Interesse ich erstmals dem Surrealismus begegnete, in dem der
Traum und das Unterbewusstsein eine Schlüsselrolle einnehmen. Keine andere
Kunstrichtung hatte mich bisher so stark in ihren Bann gezogen. Die malerischen
Arbeiten der Surrealisten Max Ernst, René Magritte, Paul Delvaux und Salvador Dalí
weckten in mir Erinnerungen an meine eigenen Traumbilder, und ließen diese Wirklichkeit werden. Unmögliches wurde mit einem Mal auf zweidimensionaler Ebene
möglich. Je älter ich wurde, desto mehr wuchs in mir das Bedürfnis, auch einmal in
der surrealistischen Malerei tätig zu werden und damit mich und andere Menschen
zu verwundern, sowie es die Werke meiner Vorbilder taten. Diese Kaleidoskopprüfung gab mir den passenden Anlass.
1
Was aber veranlasste die Surrealisten damals zu ihrem Denken und worin bestanden
ihre Absichten?
Der Surrealismus, der 1919 vom Schriftsteller André Breton und vom Künstler Max
Ernst in die Wege geleitet wurde, war eine Bewegung in der Literatur und in der bildenden Kunst. Zusammen mit dem ersten surrealistischen Manifest von Breton wurde 1924 die Surrealistengruppe gegründet, deren Revolution bis 1939 andauerte.
Durch die Erfahrungen des ersten Weltkriegs misstraute man in die Vernunft der
Menschen und baute daher auf die Macht des Irrationalen zur Lösung aller Probleme. Beeinflusst durch Freuds Lehre des Unbewussten in seinem Werk „Traumdeutung“ von 1900 und den 1916 entstandenen Dadaismus, der damals höchsten Stufe
der künstlerischen Avantgarde, der alles Konventionelle verneinte und alles Spontane, scheinbar Sinnlose bejahte, schrieben die Vertreter der surrealistischen Bewegung der Irrationalität eine ebenso große Bedeutung wie der Rationalität zu. Wie der
aus dem Französischen stammende Name „Surrealismus“, was übersetzt „über der
Wirklichkeit“ bedeutet, bereits verrät, wollten die Surrealisten eine „Überwirklichkeit“
erreichen, in der Wirklichkeit und Traum ineinander übergehen. Mit dieser Erweiterung der Realität wollten sie geltende Werte umstürzen, d. h. eine Befreiung von logisch-rationalem Denken und bürgerlichen Kunstauffassungen und stattdessen eine
stärkere Betonung der Gefühle erzielen. Um die Dimensionen der menschlichen
Psyche in der Kunst darstellen zu können, nutzten sie Rausch- und Traumbilder als
Quelle der künstlerischen Eingebung. Breton erklärte: „Allein der Traum gewährt dem
Menschen all seine Rechte auf Freiheit.“ In Bezug auf die Kunst sagte er: „Die Brüche, die Aufhebung der Kausalität, die Überraschungen und Übertreibungen des
Traums sind entscheidend für das ,neue Bild’.“
Der Auslöser der surrealistischen Malerei war jedoch Max Ernst mit seiner neuartigen
Frottagetechnik als Entsprechung zum sog. automatischen Schreiben in der surrealistischen Literatur.
Der Surrealismus in der Malerei lässt sich in zwei Unterarten unterteilen: Zum einen
in den abstrakten oder absoluten Surrealismus, der in der Frühphase des Surrealismus ab 1924 durch einen experimentellen Umgang mit Farbe, Formen und Materialien gekennzeichnet war. Zu seinen wichtigsten Vertretern gehörten Joan Miró, André
Masson, der für sein schnelles, unbewusstes Zeichnen und das zufällige Materialbild
bekannt war, sowie Yves Tanguy, der einerseits mit seinen nicht identifizierbaren,
meist organisch gerundeten Formen abstrakt blieb, andererseits aufgrund seines
2
Malstils, dem Verismus (d. h. der Realitätsanspruch erhebenden Bildelemente) und
der Feinmalerei bereits den Übergang zur zweiten Unterart bildete. Diese wird als
veristischer oder kritisch-paranoischer Surrealismus bezeichnet und begann 1926.
Seine bekanntesten Vertreter waren René Magritte und Salvador Dalí. Beide schafften räumlich-illusionistische Bildwelten. Magrittes Malereien lassen sich mit handgemalten Collagen beschreiben. Sein Malstil ist konventionell und er erschuf in der Regel perspektivisch korrekt dargestellte Räume mit naturalistisch abgebildeten, teils
vereinfachten Inhalten. Lediglich ihre sonderbare Zusammenstellung macht das
Fremdartige, Unwirkliche aus. Magrittes Ziel bestand darin, eine Öffnung des Bewusstseins durch die Kunst zu bewirken. Bild von Magritte
Dalís Stil gleicht dem von Tanguy hinsichtlich der Feinmalerei und den weiten öden
Landschaften, auf denen beide ihre Bildelemente platzieren; bei Dalí sind diese jedoch konkret, wenn auch weitaus weniger naturalistisch als bei Magritte, da sie von
einem hohen Grad an Absurdität und Wahnsinn gekennzeichnet sind. Zudem lassen
sich oft mehrere Figuren oder Objekte in ein und dasselbe Bildelement hineininterpretieren. Bild von Dalí „Unsichtbarer Afghane“
Inspiriert durch solche Vexierbilder war er es, der den kritisch-paranoischen Surrealismus entdeckte. Dalís Ergeiz lag darin, „die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität mit der herrschsüchtigen Genauigkeitswut sinnfällig zu machen.“
Auch mein Bild würde demnach in die Kategorie des veristischen Surrealismus fallen,
da auch ich versucht habe, realitätsgetreu abzubilden.
Wie man an der Beschreibung der beiden Unterarten (abstrakter bzw. absoluter versus veristischer bzw. kritisch-paranoischer Surrealismus) erkennen kann, lässt sich
die surrealistische Malerei also nicht über den Stil definieren, da die abstrakte, experimentelle Malerei, die das Ergebnis eines automatischen, ungesteuerten Schaffensprozesses ist, und die konkrete, übergenaue Malerei weit auseinanderklaffen.
Was jedoch allen surrealistischen Bildern gemein ist, ist die Loslösung von festgesetzten Bildvorstellungen und die ständige Suche nach neuen Methoden zur Darstellung des bisher Ungesehenen. Die wichtigsten Methoden, die gleichzeitig charakteristisch für den Surrealismus sind und stark an unsere Traumbilder erinnern, werden
als Kombinatorik und als Metamorphose bezeichnet.
Diese Methoden werde ich im Folgenden erläutern und exemplarisch anhand meines
Bildes aufzeigen:
3
- Mit Kombinatorik ist die Kollision einander wesensfremder Figuren und Objekte gemeint. Dazu ist zunächst das Herausheben der Objekte aus ihrem gewöhnlichen
Kontext notwendig, welche Entfremdung genannt wird. Dadurch, dass das Zusammentreffen so unterschiedlicher Elemente unerwartet ist, kann Überraschung im
Bildbetrachter ausgelöst werden, nach Meinung der Surrealisten kann es Schrecken,
aber auch Erleuchtung bewirken.
In meinem Bild versuchte ich an mehreren Stellen, die Methode der Kombinatorik
anzuwenden. Die plötzliche Begegnung fremder Welten ist z. B. zu beobachten
•
in der Gegenüberstellung der Gegensätze Tag und Nacht. (Hinter zwei Fenstern sieht man die schwarze Nacht, durch das dritte dringt gleißendes Sonnenlicht.) Bild von Magritte „Das Reich der Lichter“
•
in der Konfrontation von innen und außen. (Unten sieht man eine weitläufige
Landschaft, darüber jedoch einen Innenraum.) Der Kontrast wird durch die
Farbgebung verdeutlich: während der Boden des Flurs einen warmen Rotton
besitzt, hat der Himmel ein kühles Blau.
•
bei der große Säule, die hinter den Wolken am Horizont auftaucht.
•
beim Friedhof, der direkt am See- oder Meeresufer liegt.
•
beim Affengesicht auf dem ansonsten menschlichen Körper.
•
in der plötzlichen Kollision von Meer und Wüste, die nur durch das Bein des
Narren getrennt wird.
•
beim Auge in der Wüste und die Palmen, die sich darin spiegeln
•
beim Vorhang vorm Himmel.
- Die Metamorphose ist eine Sonderform der Kombinatorik. Hier wird die plötzliche
Konfrontation fremder Dinge abgelöst durch die Verwandlung, d. h. das nahtlose Ineinander-Übergehen eines Elements in ein anderes. (Das Aufheben der Grenzen
zwischen den Bildelementen kommt im übertragenen Sinne der Auflösung der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum oder Sichtbarem und Imaginärem gleich, welches Ziel der surrealistischen Bewegung war.)
Auch in meinem Bild findet man solche fließenden Übergänge stellenweise, z. B.
•
bei dem Bilderrahmen (linker Bildrand), der in eine Treppe übergeht.
•
bei der grauen Wand, die in den blauen Himmel übergeht, ebenso wie beim
dunklen Nachthimmel, der zu hellem Taghimmel wird.
•
bei der Frau, die sich nach unten hin in ein Skelett verwandelt.
4
•
bei dem Baum, dessen Stamm eine graue Säule ist.
•
bei dem Auge, dessen Lid gleichzeitig zum Himmel gehört bzw. dessen untere
Kante Teil der Wüste ist.
In der surrealistischen Malerei wurden jedoch nicht nur gleiche Methoden angewandt, auch ähnelten sich häufig die Bildinhalte:
Unter anderem stellten viele Surrealisten wie z. B. Dalí oder Tanguy weite, verödete
Landstriche dar, die leblos und bedrohlich zugleich wirken konnten. Diese Tristheit
übertrug ich auf mein Bild. Statt üppigen, grünen Landschaften wählte ich nackten
Lehmboden, eine Wüste und einen kahlen Baum, dessen Äste man mit langen, dünnen Gliedmaßen assoziieren könnte. Außerdem versuchte ich, mithilfe einer vorwiegend „kühlen“ und dezenten Farbauswahl (viele Blau- und Grautöne, durch Grau getrübte Farben) eine kalte, eher unbehagliche Atmosphäre zu schaffen.
Ein wesentliches Thema, das mit den toten Landschaften in Verbindung stand, waren die dargestellten „bösen Vorahnungen“. Im Kontext der surrealistischen Bewegung, die genau in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg (1919-1938)
aktiv war, erwiesen sich diese Vorahnungen als durchaus berechtigt. Die surrealistischen Bilder dienten daher als Ausdruck der eigenen Unsicherheit und Angst vor
Vernichtung und Zerstörung. Aus diesem Grund waren Gewalt, Schrecken und Tod
häufig dargestellte Bildinhalte. Bild von Magritte „Der bedrohte Mörder“
Breton sagte 1942: „ Ich bestehe darauf, dass der Surrealismus historisch nur im Zusammenhang mit dem Krieg verstanden werden kann […] mit dem, wovon er seinen
Ausgang genommen hat, und zugleich mit dem, wozu er zurückgekehrt ist.“
In meinem Bild lassen sich diese dunklen Ahnungen mehr oder weniger offensichtlich
erkennen. Sie drücken sich aus
•
im Schneewittchen, das ihre Hand nach dem Apfel ausstreckt, im Unwissen
darüber, dass er vergiftet ist.
•
in dem zerbrochenen Spiegel, der dem entsetzt dreinblickenden Mann laut
Aberglaube sieben Jahre Unglück verheißt.
•
in der Eule, die früher u. a. als Unglücksbote angesehen wurde.
•
in dem Vampir, der der Frau ihr Leben buchstäblich aussagt.
•
in der Frau, die aufgrund ihrer Eitelkeit nicht merkt, dass der Tod schneller
naht als sie glaubt, was durch das Skelett, die Ungeziefer, die schon an ihren
5
Haaren hochkrabbeln und den Pfau, der seine Federn, und somit das Markenzeichen seiner Schönheit verloren hat, veranschaulicht wird.
•
in dem Jungen, der von seinem eigenen Spiegelbild ins Wasser gezogen und
daher ertrinken wird.
•
in der Fata Morgana, die die Karawane in die Irre und somit evtl. in den Tod
führt.
Neben all diesen Gemeinsamkeiten gibt es weitere Elemente, denen sich die surrealistische Malerei bedient, um Verwirrung zu stiften. Dazu zählt u. a. das Erschaffen
unmöglicher Figuren und Perspektiven. Inspiriert haben mich dazu hauptsächlich
Paul Delvaux sowie der Grafiker Maurits Cornelis Escher, der zwar nicht zu den Surrealisten gehörte, der jedoch ebenso täuschend echte Zeichnungen anfertigte und
Meister im Ermöglichen des Unmöglichen war. Bild von Escher
Eine unmögliche Erscheinung finden Sie z. B. bei den beiden Säulen. Wenn man
jeweils den unteren Teil beider Säulen betrachtet, gibt er Auskunft über deren ungefähren Standort. Obwohl beide Säulen gleichdick sind, scheint die rechte sich viel
weiter hinten zu befinden als die linke, was noch durch die Überlagerung der Wolken
hervorgehoben wird. Legt man sein Augenmerk jedoch auf den oberen Teil der Säulen, verhält es sich genau umgekehrt: Die linke Säule, die sich in einen Baum verwandelt hat, befindet sich nun hinter der rechten Säule. Dieser Eindruck kommt
durch die Äste und den Hausflur zustande.
Was sich außerdem als unmöglich entpuppt, ist das Spiegelbild, das den Vampir
zeigt, da sich dieser gar nicht vor dem Spiegel befindet. Zudem erscheint das Kreuz
im Spiegel, das in Wirklichkeit abseits von diesem steht.
Des Weiteren ist es sonderbar,
•
dass das Schneewittchen aus dem Spiegelbild herausragt,
•
dass der Mann sich in jedem Spiegelbruchstück spiegelt und
•
dass das Bild des Jungen, das im Wasser erscheint, vorgibt, das Spiegelbild
des Jungen auf dem Steg und zugleich eine andere, sich im Wasser aufhaltende Person zu sein.
Davon abgesehen versuchte ich noch, für Verwirrung zu sorgen, indem ich
•
unrealistische Größenverhältnisse schaffte. So wirkt das übergroße Auge völlig fehl am Platz: im Kontrast dazu sind der Scheich und die Kamele winzig
6
klein. Sie haben seltsamerweise in etwa die gleiche Größe wie die Insekten,
die sich auf gleicher Höhe und in der gleichen Konstellation zueinander befinden, und die im Vergleich zu der Frau wiederum zu groß sind.
•
verschiedene Lichtquellen mit teils divergierenden Lichteinfällen erscheinen
ließ. Die im Bild sichtbaren Lichtquellen bilden zum einen das Sonnenlicht,
das durch das Fenster in der linken oberen Bildecke scheint, und zum anderen die Sonne im Bildzentrum, die durch die Wolken scheint (was einen Widerspruch bildet). Die hellerleuchteten Gesichter der Frau und des Affen, sowie der gemalte Rahmen des Bildes weisen u. a. jedoch daraufhin, dass noch
mindestens eine weitere Lichtquelle vorhanden sein muss, die im Bild allerdings nicht zu verorten ist. Es wird der Anschein erweckt, als sei sie außerhalb des Bildes. Der Schattenfall am Rahmen lässt auf eine Beleuchtung von
rechts oben schließen. Daher erwies sich dieser Ausstellungsort als umso
passender für das Bild.
Die langen Schatten (links unten) lassen zudem auf eine Dämmerung schließen, die jedoch dem weißen Sonnenlicht nach zu urteilen noch gar nicht eingesetzt hat.
•
einen echten Spiegel einbaute, der den Betrachter ins Bild integriert, das nur
durch diesen vervollständigt werden kann.
Trotz all dieser unrealistischen Elemente wollte ich – wie es beim veristischen Surrealismus üblich ist – die Illusion eines dreidimensionalen Raumes erzeugen. Deshalb
versuchte ich
•
möglichst naturalistisch zu malen. Dazu arbeitete ich teils nach Vorlagen, d.
h. nach Fotos und realen Modellen und teilweise aus meiner Vorstellung heraus.
•
räumliche Tiefe im Bild mittels einer weitläufigen Landschaft und einem fern
wirkenden Horizont zu erreichen.
•
verschiedene Bildebenen herzustellen, und zwar u.a. mithilfe des gemalten
Rahmens, dem darüberhängenden Vorhang und dem Narren, der sich außerhalb des Bildes zu befinden scheint, da sein Fuß den Rahmen überlappt.
7
Nun bleibt noch die Frage offen, warum ich gerade das Thema Spiegel für mein Bild
ausgewählt habe.
Ähnlich wie Träume üben auch Spiegel auf mich eine gewisse Faszination aus. Als
kleines Kind wundert man sich noch, wer denn die fremde Person auf der anderen
Seite des Glases ist, die jede seiner eigenen Bewegungen nachahmt, versucht sie
jedoch vergeblich zu fassen zu kriegen. Später lässt man sich dann gerne von Spiegelspielereien verblüffen: Man lässt sich in Spiegelkabinetten in die Irre führen,
schaut sich amüsiert in verzerrten Spiegeln an und erfreut sich an den bunten Facetten eines Kaleidoskops. Jedesmal gibt man sich der Illusion eines dreidimensionalen
Raumes hin, der jedoch in der dargebotenen Form nicht wirklich existiert. Hinzu
kommt die Assoziation des Spiegels mit etwas Magischem und Mystischem, die u. a.
durch seine Rollen in Märchen und Mythen ausgelöst wird. Aus diesen Gründen lassen sich Spiegel und Surrealismus meiner Meinung nach gut miteinander vereinen,
denn Spiegel in surr. Bildern eröffnen zahlreiche Möglichkeiten zur Täuschung, Verwirrung und Fesselung. Das fanden wohl auch die Surrealisten der veristischen Malerei, die häufig das Motiv des Spiegels in ihre Werke einbauten und die Spiegelbilder teils nur unmerklich (wie bei Delvaux in „Le sabbat“), teils mit provokativer Deutlichkeit (wie bei Magritte) so veränderten, dass sie in der Realität undenkbar wären.
Beispiele von Magritte, Dalí und Delvaux
8
9
10
In meinem Bild wollte ich den Spiegel jedoch nicht nur als Mittel zur Erzeugung von
Illusion einsetzen, sondern ihn vielmehr um seiner selbst willen erscheinen lassen.
Mein Ziel bestand darin, möglichst viele seiner unzähligen Facetten zum Ausdruck zu
bringen.
Dazu suchte ich zunächst nach spontanen Assoziationen, die ich mit dem Begriff
Spiegel verbinde. Das waren zunächst einmal die bereits erwähnten Auftritte des
Spiegels in Märchen, Mythen und Sagen, z. B. bei
•
Schneewittchen. (Man denke vor allem an den Spruch „Spieglein, Spieglein an
der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?)
•
Vampirgeschichten, laut denen der Vampir im Spiegel nicht zu sehen ist, da
der Spiegel die wahre Gestalt verzauberter Wesen zeigt. (Im Bild habe ich den
Spieß allerdings umgedreht, da der Vampir hier ausschließlich im Spiegel zu
sehen ist.)
•
Narcissus aus der griechischen Mythologie, der sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser verliebte und dadurch umkam.
•
Till Eulenspiegel, dem trickreichen Betrüger im Narrenkostüm.
Außerdem dachte ich an
•
den Aberglauben, laut dem ein zerbrochener Spiegel sieben Jahre Unglück
bringt.
•
natürliche Spiegelflächen wie das Wasser und das Auge, das auch „Spiegelbild der Seele“ genannt wird.
•
Spiegelung bzw. Reflektion in der Physik.
•
die Luftspiegelung bzw. Fata Morgana.
Weiterhin suchte ich aber auch gezielt nach der Symbolik des Spiegels und versuchte meine Assoziationen daraufhin zu kategorisieren.
Dabei stieß ich im Wesentlichen auf die folgenden abstrakten Begriffe. Diese könnten
kaum widersprüchlicher sein:
Einerseits steht der Spiegel nämlich für
•
Selbsterkenntnis, Selbstüberprüfung und Anstand,
•
Wahrheit (da der Spiegel wahrheitsgemäß das widergibt, was man ihm vorsetzt),
•
Klugheit und Weisheit.
11
Genauso wie positive besitzt er jedoch auch negative Attribute wie
•
Hochmut, Eitelkeit und Wollust, welche zu den sog. sieben Hauptlastern gehören,
•
Nichtigkeit bzw. leerer Schein und Vergänglichkeit (welche mit dem lateinischen Begriff „Vanitas“ auf den Punkt gebracht werden),
•
Torheit bzw. Einfalt, da der Tor sich vom Spiegel täuschen lässt und das
Spiegelbild für real hält.
Die lateinischen Übersetzungen hiervon habe ich auf den Rahmen geschrieben.
Analog zur Himmel-Hölle-Vorstellung stehen die Guten oben und die Schlechten unten. Jeweils darunter bzw. darüber habe ich die Verkörperungen der Spiegelattribute
dargestellt:
•
Cognitio, die Selbsterkenntnis wird zum einen durch den Apfel dargestellt, sofern man ihn vor dem biblischen Hintergrund, nämlich dem des Sündenfalls
betrachtet, bei dem Adam und Eva die Früchte vom Baum der Erkenntnis aßen und aus dem Paradies vertrieben wurden. Die Bedeutung des Apfels wird
hier noch durch seine starke Beleuchtung hervorgehoben.
Zum anderen soll das Mädchen (das übrigens ich selbst sein soll), das sein
eigenes Spiegelbild malt, für Selbsterkenntnis stehen.
•
Sapientia, die Weisheit, repräsentieren die Eule und das Buch.
•
Veritas, die Wahrheit wird mithilfe des Buchs und den darinstehenden physikalischen Zeichnungen über die Reflektionsgesetze ausgedrückt, da diese als
ewig gültig angesehen werden können.
Ferner dient auch das Auge als Metapher für die Wahrheit, da es heißt, die
Augen lügen nicht. (Hier gaukelt es der Karawane jedoch eine Oase vor.)
•
Superbia, die Hochmut oder Überheblichkeit, die durch Eitelkeit begünstigt
wird, steht in engem Zusammenhang mit dem Narzissmus, der die Eitelkeit
des in sein Spiegelbild verliebten Individuums bezeichnet. Daher wird sie
durch den jungen Narziss auf dem Steg verkörpert, ebenso durch die schöne
Frau, die ihr Gesicht im Handspiegel begutachtet.
•
Gleichzeitig verbildlicht sie das Vanitas-Attribut des Spiegels. Ich habe sie
nach dem Vorbild der sog. Frau Welt gemalt, die im Mittelalter eine Allegorie
für weltliche Sinnenfreude war und vorne als schön, hinten jedoch hässlich
und voller Ungeziefer dargestellt wurde.
12
Zudem ist auch die Fata Morgana im Auge ein Ausdruck für Vanitas, was wie
bereits erwähnt mit „leerer Schein“ übersetzt werden kann, und auch der Narr
ist Sinnbild hierfür, da es im Mittelalter Aufgabe der Hofnarren war, ihren Herrscher an die Vergänglichkeit zu erinnern.
•
Vor allem steht der Narr jedoch für Stultitia, die Torheit oder Dummheit, was
durch das frech grinsende Affengesicht noch verstärkt wird. Und indem er dem
Betrachter den Narrenspiegel vor Augen hält, möchte er auch ihn für dumm
verkaufen.
Zuguterletzt lässt sich noch hinzufügen, dass mein „Spiegelbild“ auch selber Charakteristika eines Spiegels haben sollte. Dies ist auch der Grund, warum ich einen
„Spiegelrahmen“ um das Bild setzte und einen Vorhang davor malte. Für mich ist ein
Spiegel nämlich auch gewissermaßen wie eine Bühne, auf der man sich sich selber
präsentiert, wobei man also gleichzeitig Publikum und Darsteller ist.
Da das Bild also sowohl Spiegel enthält, als auch selber Gemeinsamkeiten mit einem
Spiegel aufweist, kommt die Doppeldeutigkeit seines Titels noch mehr zum Vorschein.
13