Der Wildnis entkommen - Plassen
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Der Wildnis entkommen - Plassen
PLASSEN VERLAG Die Geschichten meiner Vorbilder – wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde Bear Grylls Der Wildnis entkommen Autor des Bestsellers Schlamm, Schweiß und Tränen Bear Grylls Der Wildnis entkommen Die Geschichten meiner Vorbilder – wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde PLASSEN VERLAG Die Originalausgabe erschien unter dem Titel True Grit ISBN 978-0552168786 Copyright der Originalausgabe 2013: Copyright © Bear Grylls Ventures 2013. Translation copyright © 2014, by Börsenmedien AG, Kulmbach, Germany Copyright der deutschen Ausgabe 2014: © Börsenmedien AG, Kulmbach Übersetzung: Yvonne Rolli Umschlaggestaltung: Johanna Wack, Börsenmedien AG Gestaltung und Satz: Jürgen Hetz, denksportler Grafikmanufaktur Herstellung: Martina Köhler, Börsenmedien AG Lektorat: Egbert Neumüller Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-86470-168-9 Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Postfach 1449 • 95305 Kulmbach Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444 E-Mail: buecher@boersenmedien.de www.plassen.de www.facebook.com/plassenverlag Gewidmet ist dieses Buch all meinen Helden und Vorbildern in Geschichte und Gegenwart. Denn sie haben sich in Zeiten größter Not tapfer bewährt, durch Mut und Entschlossenheit Unmenschliches geleistet und sich mit ihrem Kampfgeist und Durchhaltewillen ein Denkmal gesetzt. Aber gleichzeitig ist es auch jener Handvoll junger Menschen gewidmet, die noch nicht ahnen, dass das Schicksal sie eines Tages auf eine harte Probe stellen wird, wodurch sie sich als die unerschrockenen Helden von morgen erweisen werden. inhalt Einleitung 11 Kapitel 1: Nando Parrado: Der Geschmack von Menschenfleisch 15 Kapitel 2: Juliane Koepcke: Die grüne Hölle 33 Kapitel 3: John McDouall Stuart: Der wohl durchgeknallteste Forschungsreisende aller Zeiten 51 Kapitel 4: Kapitän James Riley: Ein Sklave in der Sahara 67 Kapitel 5: Steven Callahan: „Ich kann dabei zusehen, wie mein Körper allmählich verfault.“ 85 Kapitel 6: Thor Heyerdahl: Die Kon-Tiki-Expedition 5 103 Kapitel 7: Jan Baalsrud: Odyssee einer dramatischen Flucht Kapitel 8: Louis Zamperini: Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten … und durch Vergebung wieder ins Leben zurückfinden 121 141 Kapitel 9: Alistair Urquhart: Einmal durch die Hölle und wieder zurück 157 Kapitel 10: Nancy Wake: Die Weiße Maus – Topspionin des britischen Geheimdienstes 173 Kapitel 11: Tommy Macpherson: Der Mann, der es mit 23.000 Nazis aufnahm 189 Kapitel 12: Bill Ash: Der Ausbrecherkönig 207 Kapitel 13: Edward Whymper: Zwischen Triumph und Tragödie 225 Kapitel 14: George Mallory: „Weil er da ist.“ 239 Kapitel 15: Toni Kurz: Die Mordwand 253 Kapitel 16: Pete Schoening: Die Partnersicherung 269 Kapitel 17: Joe Simpson: Kapp das Seil oder stirb 285 Kapitel 18: Chris Moon: Entführt und in die Luft gesprengt, aber dennoch nicht unterzukriegen 305 6 Kapitel 19: Marcus Luttrell: Höllenwoche 321 Kapitel 20: Aron Ralston: Überlebt dank Selbstamputation 339 Kapitel 21: Sir John Franklin: Tod in der Arktis 357 Kapitel 22: Kapitän Robert Falcon Scott: „Großer Gott, dies ist ein schrecklicher Ort.“ 373 Kapitel 23: Roald Amundsen: Der größte Polarforscher aller Zeiten 393 Kapitel 24: Douglas Mawson: Die weiße Hölle 411 Kapitel 25: Ernerst Shackleton: „Der dickköpfigste, halsstarrigste Bursche, der mir je untergekommen ist.“ 427 Lektüreempfehlung445 Bildnachweis451 7 „Zwei Waldeswege trennten sich und ich, ich ging und wählt’ den stilleren für mich, und das hat all mein Leben umgedreht.“ 1 — Robert Frost — (amerikanischer Dichter) 1) Auszug aus dem Gedicht The Road Not Taken; in der deutschen Übersetzung Der nicht gegangene Weg von Walter A. Aue 9 Einleitung Immer wieder werde ich gefragt, woher ich meine Inspiration und Motivation beziehe, wer eigentlich meine Helden und meine Vorbilder sind. Aber um ehrlich zu sein, diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Natürlich war mein Vater mein großes Vorbild. Denn er war abenteuerlustig, witzig, bescheiden – eben ein Mann des Volkes – und nicht nur ein unerschrockener Bergsteiger und tapferer Offizier in der Eliteeinheit der Royal Marines Commandos, sondern auch ein liebevoller, fürsorglicher Vater. Allerdings war mein unbändiger Drang, immer wieder aufs Neue meine Grenzen auszutesten – und zwar mental, physisch, emotional und psychisch –, im Wesentlichen auf eine Vielzahl unerwarteter Umstände zurückzuführen. Ich hoffe, dass ich Sie in diesem Buch mit einigen der größten Heldentaten vertraut machen kann, die jemals vollbracht wurden. Denn all diese Geschichten belegen auf ausgesprochen inspirierende, bewegende und atemberaubende Weise, was Menschen mit unerschütterlichem Durchhaltewillen zu leisten in der Lage sind. 11 Bear Grylls Dabei gibt es so viele, dass mir die Auswahl nicht leicht fiel. Denn zu jeder Geschichte, die von entsetzlichem Schmerz und Leid geprägt ist, lassen sich oft Dutzende anderer finden, die von ähnlichen Höllenqualen berichten – Geschichten, die einerseits schockieren, aber dennoch auch von unglaublichem Heldenmut zeugen. Möglicherweise werden sie sogar die eine oder andere dieser Geschichten kennen, die meisten aber vermutlich nicht. Aus der Vielzahl der Geschichten habe ich ganz gezielt jene ausgewählt, die mich schon immer sehr beeindruckt haben und die zudem ein breites Themenspektrum abdecken – angefangen bei der weißen Hölle der Antarktis über die unbarmherzige Wüste bis hin zu der beispiellosen Unerschrockenheit von Kriegshelden und den unvorstellbaren Qualen, die ein Mensch durchleidet, der sich im Kampf ums nackte Überleben selbst seinen Arm amputieren muss. Doch was treibt Männer und Frauen dazu, in Todesangst und tiefster Verzweiflung alles auf eine Karte zu setzen? Woher nehmen sie bloß diese unglaubliche Hartnäckigkeit, die unerschütterliche Unerschrockenheit und große Tapferkeit und nicht zuletzt die eiserne Entschlossenheit, sich diesem Überlebenskampf zu stellen? Werden wir mit diesen Charaktereigenschaften geboren oder entwickeln wir sie erst im Laufe unseres Lebens? Aber auch diese Fragen sind gar nicht so leicht zu beantworten. Wenn ich jedoch in meinem Leben eines gelernt habe, dann dies: Helden lassen sich nicht in eine Schablone pressen, denn Heldenmut zeigt sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise, und so gibt es viele verschiedene Arten von Helden. Allerdings wundern sich die meisten Menschen darüber, wozu sie in Extrem situationen auf einmal fähig sind. Dennoch habe ich mit der Zeit einen Blick dafür entwickelt, um vorhersagen zu können, dass manche Menschen zweifellos zu Großem berufen sind. Denn diese Menschen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie schon in jungen Jahren Charakter12 Der wildnis entkommen stärke und Mut entwickeln, dass sie ihr Selbstvertrauen stärken und große Träume hegen. Und diese Eigenschaften kommen ihnen sehr zustatten, wenn sie sich dann irgendwann einmal bewähren müssen. Ich denke, dass das folgende Zitat von Walt Unsworth, der schon viele Bücher über das Bergsteigen geschrieben hat, den Charakter jener Menschen ganz treffend beschreibt, die das Abenteuer suchen: Für manche Menschen geht gerade von etwas Unerreichbarem eine magische Anziehungskraft aus. Doch für gewöhnlich sind diese Menschen keine Experten: Allein ihr Ehrgeiz und ihre Gipfelfantasien sind stark genug, um jegliche Zweifel beiseite zu schieben, die weitaus besonnenere Menschen ernst nehmen würden. Denn Entschlossenheit und Zuversicht sind ihre stärksten Waffen. Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass wir alle in der Lage sind, Großes zu vollbringen, und auch über unglaubliche Kraftreserven verfügen, von denen wir nicht einmal ahnen, dass wir sie überhaupt besitzen. Im Grunde genommen ist es wie beim Keltern: Erst wenn man die Trauben presst, weiß man, was wirklich in ihnen steckt. Doch eines haben all diese Geschichten gemeinsam: Jeder einzelne dieser Helden musste, dem Tode nah, unter extremsten Bedingungen ums nackte Überleben kämpfen und war gezwungen, ungeahnte Reserven an Mut, Hartnäckigkeit, Willensstärke und Tapferkeit zu mobilisieren, um diesen Kampf durchzustehen. Einige von ihnen sind dabei zu Tode gekommen, andere überlebten. Doch jeder von ihnen hat durch seinen verzweifelten Überlebenskampf gezeigt, was es heißt, ein Mensch zu sein: Denn sie alle haben tief in ihrem Inneren verborgen eine Willensstärke gefunden, die weit über die körperliche Kraft hinausgeht – nämlich unbändigen Kampfgeist und unbeirrbare Entschlossenheit. 13 Bear Grylls Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen wieder in Erinnerung rufen wird, dass tief im Inneren von jedem von uns diese unerschütterliche Willensstärke schlummert, die uns in einer scheinbar aussichtslosen Notsituation einen Funken Hoffnung schenkt. Allerdings müssen wir uns mitunter auch ganz schön ins Zeug legen, damit dieser Funke nicht verglüht, denn wir müssen ihn schon geschickt nutzen, um daraus ein Feuer zu entfachen. Die Geschichten in diesem Buch werden Sie also hoffentlich dazu anspornen, in Zukunft ein kleines bisschen mutiger und ein kleines bisschen entschlossener zu sein, wenn das Leben Sie auf eine harte Probe stellt. Und denken Sie stets daran, was Winston Churchill einmal gesagt hat: „Wenn du durch die Hölle gehst, bleib nicht stehen und lass dich ja nicht unterkriegen.“ Aber nun lehnen Sie sich gemütlich zurück und lernen Sie meine Helden kennen … 14 Nando Parrado: Der Geschmack von Menschenfleisch „Es war keine Heldentat und auch kein Abenteuer. Es war die Hölle.“ — Nando Parrado — 15 F ür den 22-jährigen Nando Parrado sollte es eigentlich nur ein schöner Familienausflug werden. Er spielte in einer uruguayischen Rugby-Mannschaft, die einen Flug nach Santiago in Chile gechartert hatte, um dort ein Freundschaftsspiel auszutragen. Er hatte seine Mutter Eugenia und seine Schwester Susy gefragt, ob sie nicht Lust hätten, ihn auf dieser Reise zu begleiten – eine Reise, bei der sie an Bord einer zweimotorigen Turboprop-Maschine über die Anden fliegen würden. Flug 571 startete am Freitag, dem 13. Oktober 1972, und einige der Jungs machten noch Witze darüber, dass dies wohl nicht gerade der beste Tag wäre, um sich auf einen Flug über eine Gebirgskette zu begeben, auf dem Piloten mit schwierigen und gefährlichen Wetterbedingungen rechnen mussten. Denn warme Luft steigt vom Fuß der Berge auf und trifft an der Schneefallgrenze auf kalte Luftmassen. Die dadurch entstehenden Fallwinde stellen für Flugzeuge eine sehr ernste Gefahr dar. Doch die Jungs dachten sich nichts weiter dabei. Sie rissen eben ihre Witze, denn der Wetterbericht war gut. Allerdings kann das Wetter in den Bergen für gewöhnlich sehr schnell umschlagen. Insbesondere in dieser Gebirgsregion. Das Flugzeug war bereits einige Stunden in der Luft, als der Pilot sich 17 Bear Grylls gezwungen sah, aufgrund schlechter Wetterverhältnisse in der Stadt Mendoza, am Fuß der Anden, einen Zwischenstopp einzulegen und zu übernachten. Am nächsten Morgen hatten die beiden Piloten erhebliche Zweifel, ob sie den Flug überhaupt fortsetzen sollten. Doch da die Passagiere ihr Rugby-Spiel nicht verpassen wollten, drängten sie die Piloten schließlich dazu, weiterzufliegen. Eine unkluge Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Denn als die Turboprop-Maschine den Planchon-Pass überflog, wurde sie von starken Turbulenzen erfasst. Von vier heftigen Fallböen. Ein paar der Jungs grölten vor Begeisterung, als wären sie auf der Achterbahn. Aber Nandos Mutter und seiner Schwester stand die Angst ins Gesicht geschrieben und sie hielten sich an den Händen. Nando öffnete den Mund, um sie zu beruhigen und ihnen Mut zusprechen. Doch dann blieben ihm die Worte im Hals stecken, weil die Maschine plötzlich mehr als 100 Meter absackte. Jetzt grölte keiner mehr. Die Maschine wurde brutal hin und her gerüttelt. Einige der Passagiere fingen an zu schreien. Nandos Sitznachbar – er hatte einen Fensterplatz – zeigte nach draußen. Kaum mehr als zehn Meter von der Flügelspitze entfernt konnte Nando die Bergflanke erkennen – eine gewaltige Wand aus Fels und Schnee. Als sein Nachbar ihn fragte, ob das Flugzeug denn nicht viel zu dicht an den Bergen wäre, zitterte seine Stimme vor Angst. Nando antwortete nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, auf das schreckliche Kreischen der Motoren zu hören, während die Piloten verzweifelt versuchten, wieder an Höhe zu gewinnen. Das ganze Flugzeug wurde so heftig durchgeschüttelt, dass man das Gefühl hatte, es würde jeden Augenblick auseinanderbrechen. Nando blickte in die angsterfüllten Augen seiner Mutter und Schwester. Und dann passierte es. 18 Der wildnis entkommen Es gab einen fürchterlichen Aufprall, gefolgt von einem unerträglich schrillen Knirschen – so ein hartes, mahlendes Geräusch, wenn Metall über Stein schrammt. Die Maschine war in die Bergflanke gekracht und wurde in Stücke gerissen. Nando schaute nach oben. Doch er konnte über sich das Kabinendach nicht mehr sehen. Stattdessen blickte er geradewegs in den Himmel. Er spürte die eiskalte Luft in seinem Gesicht und sah im Mittelgang nur noch Wolken. Es blieb keine Zeit zum Beten. Noch nicht einmal Zeit zum Denken. Umgeben von einem markerschütternden, ohrenbetäubenden Getöse, spürte er nur noch, wie er von einer unglaublichen Kraft aus seinem Sitz herausgerissen wurde. Nando Parrado muss überzeugt gewesen sein, dass er im Begriff war, einen entsetzlich grauenvollen und schmerzhaften Tod zu sterben. Dann fiel er in eine tiefe Bewusstlosigkeit. * Nach dem Absturz war Nando drei Tage lang bewusstlos. So bekam er nicht mit, wie schlimm die Verletzungen waren, die einige seiner Kameraden erlitten hatten. Einem seiner Kameraden ragte ein Stahlrohr mitten aus dem Bauch und als ein Freund versuchte, es herauszuziehen, quoll ein blutiges Stück Darm aus der Wunde. Bei einem anderen war die Rückseite des Unterschenkels aufgeschlitzt, der Schienbeinknochen lag frei und der Wadenmuskel war abgerissen und baumelte nun lose um das Schienbein. Aber bevor ein Freund das Bein seines Kameraden bandagieren konnte, musste er zuerst den Wadenmuskel wieder an die richtige Stelle drücken. Eine Frau steckte in einem Gewirr aus zusammengeschobenen Sitzen fest und wurde langsam zerquetscht, weil diese so stark 19 Bear Grylls ineinander verkeilt waren, dass niemand sie befreien konnte. Ihre Beine waren gebrochen und sie schrie laut vor Schmerzen. Aber es gab nichts, was die Kameraden hätten tun können, um ihr zu helfen; sie waren gezwungen, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Nandos Kopf war auf die Größe eines Basketballs angeschwollen. Er atmete zwar noch, aber keiner seiner Kameraden rechnete damit, dass er überleben würde. Doch allen Erwartungen zum Trotz wachte er nach drei Tagen aus tiefer Bewusstlosigkeit wieder auf. Er lag auf dem Boden des zertrümmerten Flugzeugrumpfs, wo sich alle Überlebenden zusammengekauert hatten. Die Toten hatte man draußen im Schnee deponiert. Die Tragflächen des Flugzeugs waren abgerissen worden und auch das Heck fehlte. Die Maschine war in ein steiniges, schneebedecktes Hochtal gestürzt, und die Überlebenden waren ringsum von hohen Berggipfeln umgeben. Doch das Einzige, was Nando in diesem Augen blick interessierte, war seine Familie. Allerdings gab es schlechte Nachrichten. Nandos Mutter war tot. Es brach ihm das Herz, doch er unterdrückte seine Tränen, denn er wusste, dass sein Körper Salz verlieren würde, wenn er weinte. Und ohne Salz würde er sterben. Er war zwar erst wenige Minuten aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht, aber schon jetzt wurde deutlich, dass er einen eisernen Überlebenswillen hatte und nicht bereit war, kampflos aufzugeben. Er wollte unbedingt überleben, egal wie. Da dieser schreckliche Absturz bereits 15 Menschen das Leben gekostet hatte, galt Nandos ganze Sorge jetzt seiner Schwester. Susy war zwar am Leben, aber sie war mehr tot als lebendig. Ihr Gesicht war blutverschmiert, sie hatte massive innere Verletzungen erlitten und ihr zertrümmerter Körper schmerzte so sehr, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Füße waren schon schwarz verfärbt – eine Folge der Erfrierungen. Im Fieberwahn rief sie nach ihrer Mutter und flehte sie an, sie und ihren Bruder 20 Der wildnis entkommen nach Hause zu holen, raus aus dieser entsetzlichen Eiseskälte. Nando hielt sie den ganzen Tag und die ganze Nacht über in seinen Armen, in der Hoffnung, dass seine Körperwärme sie am Leben erhalten würde. Allmählich zeichnete sich jedoch das ganze Ausmaß der Gefahr ab, in der sie sich alle befanden. Denn nachts können die Temperaturen in den Anden auf bis zu minus 40 Grad Celsius sinken. Während Nando noch bewusstlos war, hatten seine Kameraden die klaffenden Löcher im Flugzeugrumpf mit Schnee und Koffern verschlossen, damit sie zumindest einigermaßen vor dem eiskalten, todbringenden Wind geschützt waren. Aber dennoch war Nandos Kleidung, als er wieder aufwachte, an seiner Haut festgefroren. Jeder von ihnen hatte eine dünne weiße Eisschicht auf Haaren und Lippen. Der Flugzeugrumpf – ihr einziger schützender Unterschlupf – war nach dem Absturz auf einem riesigen Gletscher zum Stehen gekommen. Aber obwohl sie sich in großer Höhe befanden, waren die Berggipfel um sie herum so hoch, dass sie den Kopf ganz in den Nacken legen mussten, damit sie die Bergspitzen überhaupt sehen konnten. Die Luft war so dünn, dass jeder Atemzug in ihren Lungen brannte. Die Sonneneinstrahlung war so intensiv, dass sie die Haut mit Blasen bedeckte. Und die Lichtreflexion durch den Schnee so grell, dass es in den Augen wehtat und sie Gefahr liefen, schneeblind zu werden. Wären sie über dem Meer oder in der Wüste abgestürzt, hätten sie eine weitaus bessere Überlebenschance gehabt. Zumindest existiert in diesen beiden Umgebungen Leben. Aber hier oben gab es keinerlei Leben. Keine Tiere und keine Pflanzen. Also rationierten sie die geringen Vorräte an Essbarem, die sie aus der Kabine und den Koffern zusammengetragen hatten. Doch das war nicht gerade viel und schnell aufgebraucht. 21 Bear Grylls Auf jeden Tag folgte eine eiskalte Nacht und danach begann wieder ein neuer Tag. Am fünften Tag nach dem Absturz beschlossen die fünf stärksten Überlebenden, einen Versuch zu wagen, um aus dem Tal aufzusteigen. Wenige Stunden später kamen sie zurück – gezeichnet von Sauerstoffmangel, Erschöpfung und völliger Verzweiflung. Sie sagten, es sei unmöglich. Doch „unmöglich“ ist kein gutes Wort, an das man sich klammern kann, wenn man ums nackte Überleben kämpft. * Am achten Tag starb Nandos Schwester in seinen Armen. Und wieder kämpfte er gegen die Tränen an, obwohl ihn der Schmerz fast zerriss. Nando begrub sie im Schnee. Alles war ihm genommen worden, nur eines nicht: sein Vater in Uruguay. Er gelobte im Stillen, dass er alles daransetzen würde, nicht hier oben in der einsamen eisigen Bergwelt der Anden zu sterben. Wasser gab es überall in Form von Schnee. Doch schon bald wurde es für alle zu einer unerträglichen Tortur, Schnee zu essen, denn durch die trockene, kalte Luft waren ihre Lippen aufgesprungen und blutig. Sie waren auf dem besten Weg zu verdursten, bis einer der Überlebenden mithilfe eines Aluminiumblechs eine Vorrichtung zum Schneeschmelzen erfand. Dann schichteten sie den Schnee auf das Blech und ließen ihn immer in der Sonne schmelzen. Aber egal, wie viel Wasser sie auch trinken würden, es könnte letztlich nicht verhindern, dass sie langsam, aber sicher verhungerten. Bereits nach einer Woche waren ihre kärglichen Essensvorräte aufgebraucht. In großer Höhe und bei extremer Kälte braucht der menschliche Körper jedoch sehr viel mehr Nahrung als auf Meereshöhe. Aber mittlerweile hatten sie überhaupt nichts mehr 22 Der wildnis entkommen zu essen. Ziemlich schnell begannen ihre Körper, sich selbst aufzuzehren. Sie brauchten daher dringend Eiweiß. Denn wenn sie ihrem Körper kein Eiweiß zuführten, würden sie sterben. So einfach war das. Allerdings stand ihnen jetzt nur eine einzige Nahrungsquelle zur Verfügung: die Leichen, die draußen im Schnee lagen. Immerhin war das Fleisch der Toten aufgrund der Minusgrade hervorragend konserviert. Nando war der Erste, der vorschlug, dass sie darauf zurückgreifen sollten, um ihr Überleben zu sichern. Denn die einzige andere Alternative war, auf den Tod zu warten, doch dafür war er nicht bereit. Sie nahmen sich zuerst die Leiche des Piloten vor: Vier der Überlebenden hatten im Flugzeugrumpf Glasscherben gefunden und benutzen diese, um mühsam schmale Streifen Fleisch aus dem Leichnam des Piloten herauszuschneiden. Nando nahm sich ein Stück davon. Natürlich war es steinhart gefroren und außerdem hatte es eine seltsame grau-weiße Farbe. Er starrte auf dieses Stück Fleisch in seiner Hand und merkte, dass es einigen der Überlebenden um ihn herum genauso erging. Andere hatten bereits die gefrorenen Brocken Menschenfleisch in den Mund gesteckt und kauten mit großer Selbstüberwindung darauf herum. Es ist nur Fleisch, sagte er sich. Sonst nichts. Dann schob er das Fleisch über seine aufgesprungenen Lippen auf seine Zunge. Es hatte keinen Geschmack, nur Textur: Es war zäh und sehnig. Nando kaute ein paarmal und würgte dann den Klumpen Menschenfleisch hinunter. Er hatte kein schlechtes Gewissen. Vielmehr war er einfach nur wütend, dass sie so etwas tun mussten, um zu überleben. Auch wenn durch den Verzehr des Fleisches dieses quälende Hungergefühl nicht nachließ, so hegte er doch die Hoffnung, dass er den Hungertod zumindest so lange hinauszögern könnte, bis die Suchmannschaften sie gefunden hätten. 23