Durch Tibets Hochland zum heiligsten Berg der Welt Der Kailash ist

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Durch Tibets Hochland zum heiligsten Berg der Welt Der Kailash ist
Durch Tibets Hochland zum heiligsten Berg der Welt
Text und Fotos: Jörg Kersten
Der Kailash ist der heiligste ort, das spirituelle Zentrum Asiens. Das 6675 meter hohe monument ist, verglichen mit den Achttausendern des Himalayagebirges, eher klein, aber in seiner
religiösen Bedeutung für Gläubige aus ganz Asien überragt er alle. Jörg Kersten reiste zusammen mit seiner Partnerin eva von Lhasa über die karge Changtang-Hochebene zum mystischen Berg. Höhepunkt ihrer reise war die Umrundung des Heiligtums auf dem Pilgerweg.
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in Zauber liegt über dem Ort,
der Anblick der Pyramide
aus Schnee und Eis ist überwältigend. Wie soll man sich
verhalten, wenn man dem
Thron der Götter gegenübertritt? Lobsang, unser tibetischer Begleiter, jubelt den Segensruf «Lha
Gya-lo – die Götter mögen siegen!» Dann wirft
er sich demütig zu Boden und verharrt lange
still. Jigme, der Junge aus Darchen, der am
Morgen hilft, die Yaks mit Zelt und Proviant
zu beladen, murmelt unablässig Gebete. Dabei
schmückt er den Chörten, den von unbekannten Mönchen und Pilgern aus Steinen geschichteten Kultort, sorgsam mit bunten Gebetsfahnen. Im Wind flatternd, sollen sie die aufgemalten Segenswünsche zum Gipfel schicken.
Die Tibeter nennen den Berg aus Fels und
ewigem Eis, dessen weisse Kappe uns hier zum
Greifen nah scheint,
«Kang Rinpoche», das
Schneejuwel. In vier Religionen gilt der Berg als
Nabel der Welt. Verehrt
wird er von den Hindus
und Buddhisten ebenso
wie von den Bönpos, den
Anhängern des Bön, der
vorbuddhistischen Religion Tibets, und von den
Jainas, einer in Indien beheimateten Religionsgemeinschaft. Eine Pilgerreise zu diesem heiligen
Berg, so sagen sie alle, erlöst sie von den Sünden und bringt sie damit der Befreiung aus
dem Kreislauf der Wiedergeburten näher.
Dort oben im ewigen Eis, dort, wo Wolken
um den Gipfel wabern, thront Shiva, der Herrscher über Tod und Wiedergeburt. Demchok,
so nennen ihn die Tibeter. Der «Gütige» wohnt
in einem Palast aus Edelsteinen, meditiert auf
einem Tigerfell, raucht Haschisch und regiert
die Welt. Kein Bergsteigerteam indes hat den
verzauberten Ort je gesehen, denn aus der Sicht
der Gläubigen ist es keinem Sterblichen erlaubt, jemals die Wohnstatt des Gottes zu betreten. Reinhold Messner lehnte das pietätlose
Angebot der Chinesen ab, als Erster den Kailash besteigen zu dürfen. «Man sollte nicht in
Bergstiefeln auf zu Stein gewordenen Göttern
herumtrampeln», sagte der Südtiroler Gipfelsammler. Ebenso konnten Proteste aus aller
Welt Bergsteigergruppen daran hindern, das
Heiligtum zu entweihen.
Die Umrundung des Berges aber ist erlaubt,
und für Gläubige aus Indien und Tibet ist es
von grosser Bedeutung, mindestens einmal im
Leben, den 53 Kilometer langen Pilgerweg um
den Thron der Götter zu gehen.
gehen. Bedenken kamen uns allerdings, als
wir in der Zeitung lasen, dass im Jahr 2007
auf der Wallfahrt 27 Pilger starben. Würden
wir den Strapazen des Weges in 4600 bis 5600
Metern Höhe überhaupt gewachsen sein?
«Eva», sagte ich zu meiner Lebensgefährtin,
«wir müssen trainieren!» Der Vorsatz, unsere
Muskeln über den Winter hinweg für das
Kailash-Abenteuer zu stählen, war dann aber
nicht viel mehr als Vorsatz geblieben – immerhin hatte es für ein paar ausgedehnte Spaziergänge gereicht.
Das Unternehmen, so hörten wir, sei nicht
ohne gesundheitliches Risiko. Also fing ich
schon Wochen vor der Abreise an, mir Krankheiten einzubilden. Allein schon die Vorstellung, im Notfall ohne jede ärztliche Versorgung
zu sein, löste bei mir Bauchschmerzen aus.
Würden wir die dünne Luft auf dem Dach der
Welt überhaupt vertragen? Die Reiseapotheke
wurde ergänzt mit Medikamenten gegen Höhenkrankheit. Auch die Vorstellung einer Autopanne
in der dünn besiedelten
Region bereitete uns ein
gewisses Unbehagen. Immerhin soll der Changtang, die Hochebene Tibets, die wir durchqueren
müssen, nach der Antarktis die grösste unberührte Landmasse unseres Planeten sein.
Die Zusammenstellung der Ausrüstung dauerte Tage. Für alle
Eventualitäten mussten wir uns wappnen, denn
auch mit einem Wetterumschwung im Gebirge
ist ja stets zu rechnen. Neben Trekkingstöcken,
einem Igluzelt und warmen Daunenschlafsäcken packten wir alles ein, was uns für das Kailash-Abenteuer wichtig erschien – und dann
packten wir wieder aus, weil die eigens angeschaffte Körperwaage bei hochgestemmten
Rucksäcken Übergewicht anzeigte. Wir disku-
Kein Bergsteiger
hat den heiligen
Kailash, den
Thron Shivas,
je bestiegen.
Vorfreude und Vorbereitung. Lange schon
hatten wir uns vorgenommen, zum Kailash
zu reisen und die Kora, wie man in Tibet die
Umrundung einer heiligen Stätte nennt, zu
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tierten Reiselektüre, Unterhosen, Socken,
Shampoos und Toilettenpapier so lange weg,
bis wir die Vorgaben der Fluggesellschaft erfüllten.
Gestörte Andacht. Vorbereitungsstress und
Bedenken sind schnell vergessen, als wir
dem Potala-Palast in Lhasa gegenüberstehen.
Der erste Blick auf das Monument ist ein magischer Moment, der noch lange wirkt. Das
imposante Gebäude erhebt sich auf einem
Hügel über der Stadt Lhasa und war von
1642 bis 1959 die offizielle Residenz der
Dalai Lamas. Auf 13 Stockwerke verteilen sich
etwa 1000 Räume. Wir erkunden den reich
ausgestalteten Thronsaal, die Kapellen und
Meditationshallen und sind überwältigt von
der Pracht der Grab-Chörten, in denen die
Gebeine der Gottkönige ruhen. Ehrfürchtig
nähern wir uns dem Grab des 5. Dalai
Potala. Über 300 Jahre lang die offizielle
Residenz der Dalai Lamas in Lhasa (links).
Pyramide der Götter. Der Kailash gilt für vier
Religionen als Zentrum der Welt. Ein Umrundung
des Berges bringt ein besseres Karma (oben).
Lama. Es erstreckt sich mehr als 17 Meter
hoch über drei Stockwerke. 3700 Kilogramm
Gold und eine Unzahl von Edelsteinen
wurden beim Bau der Grabpyramide verarbeitet.
Leider wird die Magie des Ortes durch die
lauten chinesischen Reisegruppen gestört.
Manch einer der Touristen schreit seine Reiseerlebnisse gleich live in sein Handy, damit die
ferne Verwandtschaft in der Volksrepublik
auch etwas davon erfährt. Chinesen, so stellen
wir immer wieder fest, betrachten Tibet als
eine Art buddhistisches Disneyland. Sie zeigen
sich wenig sensibel, auch an Orten, an denen
Tibeter beten.
Ein solcher Ort ist der Jokhang-Tempel im
Zentrum der Altstadt. Hier schlägt das Herz
Tibets. Hier wird die wertvollste Buddhafigur
des Landes aufbewahrt. Es ist die goldene Statue des Buddhas Jowo Shakyamuni, die die chinesische Prinzessin Weng Cheng einst nach
Lhasa brachte. Sie heiratete 639 den tibetischen
König Songtsen Gampo und überzeugte ihn
von der buddhistischen Lehre. Den Tibetern
gilt dieses Ereignis traditionell als Geburtsstunde des Buddhismus in ihrem Land. Entsprechend gross ist die Zahl der Pilger, die das
Heiligtum besuchen – 20 000 Gläubige sollen
es täglich sein. Am Jokhang erhalten wir einen
Eindruck davon, wie sehr die Religion das Leben der Tibeter bestimmt.
Die grossen Steinplatten am Eingang des
Tempels sind glatt poliert von den frommen
Buddhisten, die sich in tiefer Verehrung unzählige Male auf den Boden gleiten lassen.
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Geldscheine als Opfergaben für
den Buddha entgegennehmen,
mahnen zur Eile, damit die Reihe
der Gläubigen nicht ins Stocken gerät.
Wunschgebete für die Mutter.
Lhasa. Pilger umrunden den Jokhang-Tempel in
der Altstadt (oben).
Novizen. Mönche im Kloster Tashilhunpo (unten).
Tashilhunpo. Restauriertes Heiligtum. Einst
lebten 4000 Mönche im Kloster (rechts oben).
Hochebene. Dem Himmel etwas näher (rechts).
Mit Hingabe betasten die Tibeter bestimmte
Mauersteine, deren Höhlungen darauf hinweisen, dass unendlich viele vor ihnen Gleiches
taten. Die Luft in den dämmrigen Andachtsräumen im Innern des Heiligtums ist schwül
und gefüllt mit brisanten Gerüchen: Eine Mischung aus ranziger Butter, süsslichem Räucherwerk, Wacholderschwaden, Harz und verkohltem Holz raubt uns fast die Sinne. Die speckigen, abgegriffenen und ausgefransten Vorhänge zeigen an, dass der Tempel mehr ist als
ein Museum. Die Räume des Komplexes sind
voller Menschen, die sich vor den Statuen aufreihen und geduldig ihre Mantras murmeln,
bis sie an der Reihe sind, ihrem Buddha unter
die Augen zu treten.
Die eineinhalb Meter hohe Statue des Buddhas Jowo Shakyamuni ist bedeckt mit Seidenstoffen und Juwelen. Einer Legende nach
stammt die Figur aus Indien. Buddha persönlich soll das Bildnis geweiht haben. Wir können
kaum ermessen, was es für die Pilger bedeutet,
endlich mit der Stirn die Beine des Erleuchteten zu berühren. Viel Zeit zur Einkehr aber
bleibt ihnen nicht. Die diensthabenden Mönche, die Yakbutter, weisse Gebetsschals und
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Um uns an die Höhe anzupassen
– Lhasa liegt immerhin 3600 Meter hoch –, lassen wir uns Zeit.
Wir besuchen neben dem Jokhang
auch die Klosterstädte Sera, Drepung und Ganden vor den Toren
Lhasas. Die Klöster des Gelupaordens, zu dem auch der Dalai
Lama gehört, galten einst als die
grössten Klöster der Welt – bis
1950 die Chinesen kamen, um
die herrschende Mönchskaste zu
verjagen. Wo früher bis zu 8000
Gelbmützen lebten, regt sich nach
und nach neues Klosterleben –
wenn auch unter den wachsamen
Augen chinesischer Autoritäten.
Wir schauen im Klostergarten von
Sera den Mönchen bei ihren
philosophischen Diskussionen zu
und kneten in der grossen Versammlungshalle von Drepung
gemeinsam mit 700 Mönchen
Tsampa, das Gerstenmehl, mit
Buttertee gemischt zum Frühstücksteig.
Am Abend vor der Abreise aus
Lhasa besuchen wir noch einmal den Jokhang
und reihen uns ein in den nie abreissenden
Strom von Pilgern, die ihn umrunden. Thagme
ist einer von ihnen. Der junge Mann begleitet
seine Mutter jeden Morgen und jeden Abend
beim Pilgergang um das Heiligtum. «Ihr fällt
es schwer, alleine die
Kora um den Tempel zu
gehen – die Knie tun ihr
weh. Aber sie lässt sich
nicht davon abbringen,
denn sie hofft auf eine
bessere Wiedergeburt.»
Thagme stützt seine Mutter, die offenbar unter Arthrose leidet. «Sie macht
das schon, seit ich denken kann. Also helfe ich
ihr und spreche Wunschgebete.» Und dann verrät
uns Thagme sein Geheimnis: «Schau einmal. All die vielen Menschen hier. Sie demonstrieren für die Freiheit
Tibets – Tausende, jeden Tag!» Und lachend
fügt er hinzu: «Die Chinesen haben es nur
noch nicht gemerkt!» Thagmes Mutter würde
wohl einiges dafür geben, einmal im Leben
auch den Kailash, den Wohnort der Götter, zu
umkreisen. Doch der Weg zum heiligen Berg
ist beschwerlich und weit.
Die Route führt entlang alter Handelspfade
1300 Kilometer Richtung Westen. Burgähnli-
che Befestigungen, sogenannte Dzongs, entlang der Strasse sind Zeugen einer bewegten
Geschichte. Über Jahrhunderte markierten sie
als Stützpunkte die Handelswege, die von Lhasa
aus nach Indien, Sikkim, Bhutan und Nepal
führten.
Die Kraft der Herzen. Von Lhasa starten wir
unsere Reise zum legendären Kailash. Unterwegs sind wir im Geländewagen mit Lobsang
und dem Fahrer Dhondup. Erster Etappenhalt
ist die alte Stadt Shigatse. Der gewaltige Dzong
wacht schon seit dem 14. Jahrhundert über
der Stadt. «Little Potala» nennt Lobsang die
Burg spasshaft, da sie tatsächlich wie eine
Kleinausgabe des Potala in Lhasa aussieht.
Unter dem Kastell gibt es noch die Märkte, auf
denen einst Händler aus benachbarten Ländern Tee, Gewürze und Elfenbein gegen Yakwolle, getrockneten Käse, Salz und Gold
tauschten. Noch hat der Ort von seiner Geschäftigkeit nichts verloren – nur sind es heute mehr Chinesen als Tibeter, die hier Handel
treiben.
Bis hierher führt noch die Asphaltstrasse,
die die Chinesen «Strasse der Freundschaft»
nennen. Bis hierher bringt man die Touristen
aus Lhasa, denn das Kloster Tashilhunpo am
Rande Shigatses gilt als das Musterbeispiel eines restaurierten Heiligtums. Der Anlage ist
kaum mehr anzusehen, dass die Roten Garden
1959 im Kloster, in dem einst 4000 Mönche
studierten, wüteten. Der alte Mönch Gedün
Norbu erinnert sich noch genau an die düsteren Zeiten. «Die chinesischen Soldaten», so
weiss er zu erzählen, «raubten die kostbaren
Reliquien, zerstörten die prächtigen Bauten
und stapelten ihr Kriegsgerät und ihren Proviant in der grossen Gebetshalle. Die Kommunisten scheuten sich auch nicht, die kostbaren
Grabmäler der hier bestatteten Panchen Lamas
zu schleifen und ihre
Knochen zu verstreuen,
als wären sie für die
Hunde.»
Und dennoch gehört
Tashilhunpo zu den wenigen Klöstern, die die
Besetzung des Landes
noch glimpflich überstanden. 2700 zerstörte
Tempel, Klöster und Heiligtümer allein auf dem
Gebiet der heutigen autonomen Provinz Tibet sind die traurige Bilanz
der «friedlichen Befreiung», wie es die Chinesen nannten. Nur acht Klöster, darunter auch
Tashilhunpo, blieben einigermassen verschont.
Als Sitz des Panchen Lama, der nach dem
Dalai Lama zweitwichtigsten Persönlichkeit im
tibetischen Buddhismus, besitzt das Kloster
Tashilhunpo eine herausragende Bedeutung –
nur einen Panchen Lama suchen wir hier vergebens. Chökyi Nyima, ein kleiner Junge, der
Der weisse
Gebetsschal des
Mönchs soll uns
auf der Reise
Glück bringen.
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vom Dalai Lama als Wiedergeburt des 1980
verstorbenen 10. Panchen Lama anerkannt
worden war, wurde von den Chinesen entführt.
Ob er noch lebt, ist ungewiss. An seiner Stelle
inthronisierten die Besatzer einen anderen Jungen, der nun irgendwo abgeschirmt in China
lebt.
«Wir protestierten gegen das Vorgehen der
Chinesen. Sie schlugen uns und folterten viele,
bis wir den Panchen Lama der Chinesen akzeptierten.» Und leise fügt Gedün Norbu hinzu:
«Aber unsere Herzen und unseren Geist werden die Chinesen niemals beherrschen!» Der
Mönch spricht aus, was viele seiner Klosterbrüder nur zu denken wagen, denn Spitzel, die
Kritik an die chinesischen Autoritäten verraten
könnten, gibt es in den Klöstern überall.
Norbu zeigt uns das Grabmahl des 10. Panchen Lama, das die Chinesen dem Kloster wohl
eher aus propagandistischen Motiven heraus
spendeten. Die Stupa, ein zwölf Meter hoher
Gedenkstein, den man mit 109 Kilogramm
Gold und 1000 Kilogramm Silber auskleidete,
beherbergt die eingesammelten Gebeine des
«Grossen Lehrers». Er starb unter mysteriösen
Umständen, zwei Tage nachdem er die Chinesen zur Verständigung mit dem Dalai Lama
aufgerufen hatte. Norbu ist sich sicher: «Sie
haben ihn umgebracht!» Das allerdings raunt
er uns zu, damit es keiner hört.
Zum Abschied legt uns der Mönch einen
weissen Gebetsschal um und spricht leise die
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Pilgerfrauen. Noch ein weiter Weg zum heiligen
Berg (oben).
Unterwegs zum Kailash. Halt in einem Dorf;
spartanisches Angebot im Laden; praktische
Melkmethode; bei der Flussdurchquerung braucht
es den Geländewagen (rechte Seite v.o.n.u.).
Formeln für einen glücklichen Ausgang unserer Reise zum Kailash. Er selbst war noch nie
am heiligen Berg. Als er jung war, hatten die
Chinesen den Tibetern die Pilgerfahrt verboten, und jetzt, so sagt er,
fühlt er sich zu alt, um
den Strapazen eines solchen Unternehmens gewachsen zu sein.
Hartes Nomadenleben.
Andere hingegen trifft es hart. Etwa jene vier
Chinesen, die westlich von Paryang bei der
Überquerung des Yarlung Tsangpo-Flusses die
Furt verfehlten. Sie haben sich mitten im Fluss
festgefahren und müssen tatenlos zusehen, wie
der Tsangpo bedrohlich hoch, stetig und kalt
durch das Innere ihres Wagens fliesst. Dhondup, unser tibetischer Fahrer, lässt sich nicht
erweichen, den Unglücklichen zu helfen. Er
sucht eine geeignete Stelle für die Überquerung
des Flusses und dann
schnell und schadenfroh
das Weite. Das Mitgefühl
eines tibetischen Buddhisten stösst, wenn es
um Chinesen geht, eben
an seine Grenzen. «Sie
haben unsere Kultur zerstört, sollen sie doch
schwimmen!»
Wir fahren in einer
Höhe von durchschnittlich 4500 Metern durch
einen schier unbegrenzten Raum aus Steinwüsten, zart bewachsenen Steppen und Flusstälern.
Die Dimensionen des Schneelandes, wie man
Tibet auch nennt, sind für einen Europäer
überraschend. Die Landschaft ist überwältigend, karg, still und leer. Die grösste Hochebene der Welt präsentiert sich auf den
nächsten 700 Fahrkilometern in einer atembe-
Das Leben der
Nomaden auf
der kargen und
kalten Hochebene ist hart.
Saga ist der letzte nennenswerte Ort vor der
langen Einsamkeit des
Changtang, der weiten
Hochebene des wilden
Westens, 700 Kilometer
von Lhasa entfernt. Der
trostlose Armeeposten
mit seinen Kasernen, Karaokebars, Spielhöllen und leichten Mädchen ist für uns der
letzte Ort, an dem wir uns für das Kailash-Abenteuer mit Proviant eindecken können.
Unsere Reise ist auch nach der strengen
Kontrolle der Papiere vom Glück begünstigt.
tibet
raubenden Formen- und Farbenvielfalt aus
Steinwüsten, unendlichen Steppen, Sanddünen, ausgedehnten Graslandschaften,
Bergfaltungen und blauen Seen. In der
Ferne begleiten uns die Schneegipfel des
Himalayagebirges, die durch die klare Luft
sehr nah scheinen.
Trotz der scheinbar lebensfeindlichen
Umgebung sichten wir unterwegs Wildesel,
Gazellen, Antilopen, Murmeltiere, Pfeifhasen und Greifvögel. Leider ist der Bestand
der Tiere geschrumpft, da schon die Briten
in der Kolonialzeit abschossen, was ihnen
vor die Flinte kam. Das Mordvergnügen
der Roten Armee führte schliesslich viele
Wildbestände an den Rand der Ausrottung – ein Sakrileg für die Buddhisten, die
alles Lebendige respektieren.
Dort, wo wir es kaum vermuten, treffen
wir auf Menschen. Das Leben der Nomaden in den trockenen und kalten Hochsteppen ist schwer. Mit ihren Rinderherden,
Schafen und Ziegen durchwandern sie das
Land. Die Nomaden melken ihre Schafe
und Ziegen, nachdem sie die Tiere Kopf an
Kopf zusammengebunden haben. Der
«Reissverschluss aus Vieh» ist Grund genug
zum Halten und die Einladung zum Buttertee im Zelt aus Yakhaar anzunehmen.
Der getrocknete Dung der Dzo, einer
Kreuzung aus Yak und Hausrind, ist in dieser Gegend das geeignete Brennmaterial,
um den Ofen im Zelt der Sippe warm zu
halten. Wir giessen unsere chinesischen
Instantnudeln mit heissem Wasser auf,
während die Tibeter es vorziehen, an getrocknetem Yakfleisch zu nagen. Als die
Nomaden hören, dass wir unterwegs sind
zum heiligen Berg, verneigen sie sich mit
aneinander gelegten Händen vor unsichtbaren Kräften. Noch hat die Moderne das
buddhistische Weltbild dieser gelassenen
und bescheidenen Menschen nicht ins Wanken gebracht – trotz den Solarzellen, die wir
hier und dort schon entdecken können.
Die Weite der Hochebene. Wir übernachten nach unseren stundenlangen
Fahrten durch den leeren Raum in trostlosen Orten, die nicht mehr sind als eine
Ansammlung tibetischer Gehöfte und
Zelte. Das Hotel Tashi in Paryang ist typisch für die Unterkünfte am Weg: Das
Zimmer ist eine Art Stall mit Kerzenlicht
und das Bett eine dünn gepolsterte Pritsche. Das Graffito «Hot Shower» mit dem
roten Pfeil nach links auf einer Mauer ist
wohl nur eine Sinnestäuschung, denn eine
Dusche suchen wir vergebens. Das Wasser
in der Gegend ist knapp und reicht auch
in den folgenden Tagen gerade mal für
Hände, Gesicht und Zähne. Das Hotel
verfügt über ein Plumpsklo – mit einer
Abteilung für Männer und für Frauen.
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CH IN A
Reisetipps für Individualreise zum Kailash
Geografie: Das tibetische Hochland liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 4500 Metern und wird auch als «Dach der Welt»
Mount Kailash
bezeichnet.
Raksas Darchen
Anreise: Lhasa erreicht man am besten per Flugzeug von Chengdu
Tal
Manasarovar
(China) oder Kathmandu (Nepal) aus. Von Lhasa aus fährt man mit
dem Geländewagen 1200 Kilometer nach Westen. Vorteil dieser
N E PAL
Anfahrt ist die langsame Anpassung an die Höhe. Eine Anreise mit
dem Geländewagen von Nepal aus über den Friendship Highway
IN D IE N
ist auch möglich.
Visum: Für China und auch für Nepal wird ein Visum benötigt. Für
die Einreise nach Tibet braucht es eine Spezialbewilligung. Für
Reisen ausserhalb Lhasas wird zusätzlich ein Permit benötigt.
Fahrzeug: Eine Individualreise durch Tibet ist aufgrund der nötigen Bewilligungen nicht
ganz einfach organisierbar. Für die Fahrt zum Kailash braucht es ein geländegängiges
Fahrzeug mit Fahrer. Buchung bei einem Tibet-Spezialisten.
Unterkunft: Hinter Saga gibt es nur äusserst spartanische Unterkünfte ohne sanitäre
Einrichtungen. Die Pilgerunterkünfte auf der Kora sind häufig voll und schmutzig. Es
empfiehlt sich daher, ein Zelt mitzunehmen.
Verpflegung: Entlang der Strasse betreiben Tibeter «Verpflegungszelte», in denen man
Fertiggerichte zum Aufbrühen, Kekse und Getränke kaufen kann. Auch auf der Kora gibt es
Versorgungsmöglichkeiten bei den Klöstern
mit bescheidenem, aber ausreichendem
Angebot.
Ausrüstung: Unbedingt mitnehmen sollte
man einen sehr warmen Schlafsack, gute
Trekkingschuhe, Trekkingstöcke, starken
UV-Schutz, Kopfbedeckung, Sonnenbrille,
Regenschutz, warme Kleidung, Taschenlampe, Medikamente (auch gegen Höhenkrankheit), Toilettenpapier und Feuchttüchlein.
Reisezeit: Ideal zwischen April und
Oktober – ausserhalb dieser Zeit wird es
sehr kalt. Im Frühling und Herbst liegt
manchmal Schnee, und der Pilgerweg kann
nicht begangen werden.
Über einem Loch kauernd kann man sich
wunderbar über die niedrige Trennwand hinweg mit dem anderen Geschlecht unterhalten
oder in der Nacht den Sternenhimmel bestaunen. Ansonsten erledigt man sein Geschäft,
wie die Tibeter auch, irgendwo ausserhalb des
Dorfs. Deckung sucht man hier allerdings
vergebens, denn in der weiten Landschaft der
Hochebene gibt es weit und breit weder Baum
noch Strauch.
Auf unseren langen Fahrten singt Lobsang
fröhlich vor sich hin. Es ist, als würde die Weite
des Changtang seine Seele von einer Last befreien. Heiter, ja geradezu euphorisch, sind
auch die Pilger, die zu Fuss, auf dem Rücken
von Pferden oder Yaks unterwegs sind zum
Kailash, um dem Thron der Götter ihre Reverenz zu erweisen. Zusammen mit ihnen streben wir dem Dorf Darchen zu, dem Ausgangsund Endpunkt des Pilgerweges.
Buddhisten und Hindus glauben fest daran, dass sie von den Sünden eines Lebens befreit werden, wenn sie die Kora, den Pilgerweg,
schaffen. 108 Umrundungen sollen den direkten Weg ins Nirwana ebnen. Unser Yaktreiber,
den Lobsang im Dorf Darchen engagiert, ist
davon überzeugt, dass seine zotteligen Grunz32
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ochsen, die das Gepäck tragen werden, sich mit
der Umrundung des Kailash eine bessere
Wiedergeburt erwerben. Unterwegs wird er
über manchen untrainierten indischen Pilger
lachen, der es vorzieht, auf einem Pferd um den
Berg zu reiten: «Ein besseres Karma erwirbt sich
auf diese Art höchstens
das Pferd, aber nicht der
Reiter.»
Alles für ein besseres
Karma. Die lange Wan-
TIBET
Shigatse
Saga
Mount Everest
Kathmandu
Gyantse
Thimphu
BH U TAN
IN D I E N
M YA N MA R
Hände nach vorne strecken, aufstehen und so
weiter – eine Bussübung über Staub, felsiges
Gelände, ja sogar durch eiskalte Bäche, egal,
ob die Sonne brennt, es in Strömen regnet
oder schneit. Mindestens vier Wochen, so erzählt er uns, wird er benötigen, um die Strecke
zu bewältigen, angetrieben von der tiefen
Überzeugung, mit dieser Quälerei religiösen
Verdienst zu sammeln. Immerhin wiegt diese
Art der Wallfahrt 13 Koras auf, was den Makel
aus 13 Leben löscht und eine günstige Wiedergeburt garantiert.
Pilgerstationen am Wege sind die Klöster
Chukku, Dira Puk und Zutulpuk. Hier gibt es
Unterkünfte und im bescheidenen Rahmen
auch Lebensmittel. Geschäftstüchtige Tibeter
betreiben Versorgungszelte, in denen man Zigaretten, Nudelsuppentüten, Säfte und Wasser
kaufen und sich verpflegen kann. Die Waren
werden von Yaks und Pferden aus Darchen heraufgebracht. In den Zelten, die immerhin bis
zu 20 oder gar 30 Pilger aufnehmen können,
ist die Luft feuchtwarm wie in einem Regenwald. Man muss sich erst an das diffuse Dämmerlicht gewöhnen, bevor man Platz nimmt
auf Matratzen, die rund um den schweren
gusseisernen Kanonenofen liegen. Im Herbst,
so sagt Namgang, der in seinem Lammfellmantel dicke Bündel von Geldscheinen verbirgt,
baue er sein «Restaurant» ab, verstaue den
Ofen in einer der Schlafhütten und mache sich
auf nach Gyantse. «Im
Winter bei Temperaturen
bis 40 Grad unter Null
und Schnee geht hier keiner mehr.» Zwischen all
den Kisten mit chinesischen Aufschriften geniessen wir die Wärme
der Feuerstelle. Namgang
serviert uns das, was es
eben so gibt: gekochten
Reis mit Thunfisch aus
der Dose und dazu ein
chinesisches Bier, das
nach der Wanderung des
Tages einfach köstlich schmeckt. Zum Schlafen
ziehen wir uns in unser kleines Igluzelt zurück.
Vom Dira-Puk-Kloster aus wollen wir uns
gemeinsam mit Lobsang und Jigme der Schneekrone des Kailash nähern. Der Ausflug abseits
des üblichen Pilgerweges ist nicht einfach,
Einzelne Pilger
brauchen vier
Wochen für
die Umrundung
des Berges.
derung beginnt. Unterwegs begegnen wir immer wieder einzelnen
Pilgern oder Pilgergruppen. Unsere Bewunderung gilt denen, die die
53 Kilometer der Kora
mit dem Körper «abmessen». Lhakpa ist einer
von ihnen. Die Knie gepolstert mit Stofflappen, die Hände geschützt mit Holzpantinen
und bekleidet mit einer Lederschürze, rutscht
er die Kora schon seit zehn Tagen. Aufstehen,
einen Schritt nach vorn, einen Segen zum
Himmel senden, auf den Boden gleiten, die
Lhasa
tibet
Hingabe. Einige Pilger umrunden den Berg
rutschend auf Knien und Bauch (oben).
Versorgungszelt. Möglichkeit, um das Allernötigste einzukaufen (unten).
Persönlicher Moment. Andacht für die
verstorbenen Väter (rechts unten).
denn die Luft hier in 5000 Metern Höhe ist
dünn. Langsam und schwer atmend klettern
wir über Stunden bergauf. Die weisse Spitze
des Schneedoms haben wir stets vor Augen.
Wir können es kaum erwarten, hinter der letzten Anhöhe den Berg in seiner ganzen Grösse
zu sehen. Das Eisfeld des Kangkyam-Gletschers müssen wir noch überwinden, und endlich, oben auf dem Kamm, ist es so weit: Wir
stehen dem sagenumwobenen Kailash, dem
«Pfeiler der Welt», direkt gegenüber. Erschöpft
lassen wir uns auf den Felsen am Chörten nieder und verharren in Schweigen.
Illusion oder Wirklichkeit? Die Magie des
Ortes trifft uns mit aller Macht. Zum Greifen
nah steht da ein Monument der Ewigkeit. Eine
Kathedrale wie aus eisigem Kristall, ein Berg,
dessen Wirklichkeit der menschliche Geist
kaum zu begreifen vermag. Flüsternd bestätigen wir uns gegenseitig, dass wir nicht einer
Täuschung erlegen sind. Wir zeigen uns Eisformationen, Schneebretter und tiefe Kratzer
im Fels. Und inmitten einer unglaublichen
Stille können wir den Kailash hören: das Rauschen von Schmelzwasser, das hohle Klacken
von Eis und brechendes Gestein. Langsam
dringt in unser Bewusstsein, dass wir angekommen sind am Ziel der lang erträumten
Reise.
Wir wissen beide, dass wir wohl kaum einen würdigeren Ort finden könnten für die
kleinen Dinge, die wir eigens aus Deutschland
hierher brachten: einen Brief und einen Stift
von Evas Vater, weil der gerne schrieb, und einen Pinsel aus dem Nachlass meines Vaters,
weil der gern malte – beide starben vor unserer
Reise nach Tibet. Wir legen die Erinnerungsstücke unter die Steine des Chörten und beten
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still. Unsere kleine Andacht ist ein Gruss ganz
nah am Himmel und ein bewegender Moment,
der uns die Tränen in die Augen treibt. Lobsang
und Jigme indes machen es uns leicht – sie
strahlen uns an, weil es ihnen nach meinen
vergeblichen Versuchen endlich gelungen ist,
trotz Wind und dünner Luft, die mitgebrachten Kerzen anzuzünden und die Flammen vor
dem Chörten mit den Händen zu schützen, bis
sie nicht mehr verlöschen.
Vielleicht sind es die Ereignisse des Tages,
die es uns schwer machen, am Abend in einen
ruhigen Höhenschlaf zu gleiten. Oder ist es das
Wissen, dass wir die schwerste Prüfung des
Weges noch vor uns haben? Den 5636 Meter
hohen Dölma La, den Pass, an dem schon viele
scheiterten. Diesen Weg aber muss man gehen,
um ein neuer Mensch zu werden. Ein Rudel
wilder Hunde streitet in der Nähe, und Nachtwanderer kichern vor unserem Zelt. Für die
Pilger ist ein kleiner Iglu aus Stoff viel zu interessant, als dass man ihn unbeachtet am Weg
links liegen lassen könnte.
Wir kennen das schon: Gegerbte Gesichter,
verfilzte Haare, Fellmäntel, Glücksbringer und
Korallenketten bestimmen das Erscheinungsbild der Besucher, die auch am Tage alles genau
in Augenschein nehmen. Reissverschlüsse, Fliegengitter und das kleine Vordach des Zeltes finden immer grosse Anerkennung und werden
ausgiebig befingert. Ein ulkiges Bild scheinen
wir in unserer künstlichen Höhle abzugeben.
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Kaum haben uns die Pilger erspäht, bricht grosse Heiterkeit aus, und manch einer möchte
gleich ins Zelt kriechen. Für ein oder zwei Kinder ist immer Platz. Mit grossen Augen und
ganz still sitzen sie auf unseren Schlafsäcken, knabbern an Fruchtriegeln
und finden unseren Unterschlupf einfach toll.
Wir sind unendlich
froh, das Zelt bei uns zu
haben, denn die Pilgerunterkünfte sind nicht
mehr als ein paar schiefe
Baracken mit zweifelhaften Bettkonstruktionen
auf Blechtonnen oder
furchtbar verdreckte Militärzelte, in denen sich
der Unrat einer ganzen Saison gesammelt hat.
Den Pilgern scheint das wenig auszumachen.
Wenn es sein muss, legen sie sich nur auf Pappkarton auf die Erde, drehen noch ein wenig ihre
Gebetsmühlen und gleiten dann, Mantras murmelnd, in den Schlaf. Die Tschuba, der langärmlige Fellmantel, reicht ihnen als Decke, auch
wenn die Temperatur in der Nacht weit unter
den Gefrierpunkt fällt.
Wir wandern mit indischen Sadhus und tibetischen Pilgern in einer Karawane aus Yaks
und Pferden dem höchsten Punkt des Pilgerpfades entgegen. Das Pfeifen der Treiber, das
Grunzen der Zotteltiere,
das Wiehern der Pferde
erfüllt die sonst stille
Luft am heiligen Berg.
Von unseren Begleitern werden wir aufmerksam gemacht auf
Steine mit eingravierten
heiligen Formeln und
Höhlen, um die sich Legenden ranken. Wir betasten den Fussabdruck
Milarepas, der nach einer
Legende einst im Wettstreit mit dem Bönpo
Naro Bonchung den Kailash für die Buddhisten eroberte, und wir wagen uns an jene enge
Felsspalte, durch die man sich hindurchwinden
muss. Wer hier stecken bleibt, hat zu viele Sünden auf sich geladen.
Am Shivatsal, dem Leichenacker, sterben
die Pilger den rituellen Tod. Hier, unterhalb
des Passes, lassen sie das alte Ich zurück, indem
sie ein Kleidungsstück, eine Haarlocke, einen
Zahn oder ein paar Blutstropfen opfern. Am
Shivatsal werden auch jene Pilger bestattet,
die die Strapazen der Kora mit dem Leben
bezahlen.
Bunte Gebetsfahnen zeigen, dass
wir uns der Passhöhe auf 5600
Meter nähern.
Auf der Passhöhe. Schon im ersten Morgen-
licht brechen wir auf. Vor uns liegt eine Tagesetappe von 18 Kilometern in grosser Höhe.
tibet
Tragtiere Yaks. Schwer beladen auf der Kora
um den Kailash (links).
Passhöhe. Freude über den Sieg der Götter
und glücklich über die eigene Leistung (oben).
Team. Autor Jörg Kersten mit Eva, dem Führer
Lobsang und dem Fahrer Dhondup (rechts).
werfen ganze Bündel von bunten Zetteln
in die klare Bergluft, auf denen Lung-Ta,
das Windpferd, abgedruckt ist. Als Symbol
für Gesundheit und Glück tanzen die
Wunschzettel wie Konfetti im Wind. Die
Pilger umrunden den mit Opfergaben
überhäuften Felsen der Tara. Die Tara gilt
als Schutzpatronin Tibets. Man murmelt
ihr Mantra «Om Tare Tu Tare Ture So
Ha – Göttin Tara, rette mich». Der Höhepunkt der Pilgerreise ist erreicht. Im
Bewusstsein, ein neuer Mensch zu sein,
steigen die Gläubigen beschwingt zum Zutulpuk-Kloster hinab, vorbei an den blauen
Schmelzseen, in denen einst Götter badeten.
Ein letztes Mal halten wir inne, um die
Schneekrone des Kailash, den Thron der Götter, zu betrachten, und folgen dann den Yaks,
die schon weit unten als kleine Flecken ein
Schneefeld durchwandern, Darchen entgegen,
um den magischen Kreis zu schliessen.
Von den Strapazen erholen wir uns, wie
andere Pilger auch, am Manasowar, dem «König der Seen», nicht weit vom Kailash entfernt.
In seinem türkisblauen Wasser soll sich Maya,
die Mutter Buddhas gewaschen haben, bevor
sie den Erhabenen gebar. Während sich die
Hindus mit dem Wasser rituell reinigen, halten
die Tibeter am Ufer nach Federn, Muscheln
und an Land gespülten Fischen Ausschau. Getrocknet und zu Pulver zermahlen, sollen
sie eine heilende Wirkung haben. Im Süden
grüsst die Bergkette des Gurla Mandhata am
Horizont, Wohnsitz der Göttin Lhamo Yangtsen, die den Bauern Regen bringt. Über die
Götter, so sagen die Tibeter, werden die Menschen niemals siegen – und der Kailash, so
wissen sie, wird über die Geschichte hinaus bestehen bleiben.
joerg.kersten1@freenet.de
© Globetrotter Club, Bern
Wir folgen den Yaks mehrere Hundert Höhenmeter eine schroffe Felsenlandschaft hinauf
durch das «Bardo des Werdens», wie die Tibeter den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt nennen. Während die Tiere ungerührt
ihre Lasten nach oben schleppen, bleiben wir
immer wieder keuchend stehen, schnappen
nach Luft, die kaum mehr die Lungen zu füllen
vermag. Jeder Schritt wird zur Qual, jedes Foto
zu einem irrwitzigen Unternehmen. Wir gehen
sehr langsam und in kurzen Schritten. Unsere
Bewunderung gilt den Alten unter den tibetischen Pilgern, die kräftig daherschreiten und
fast behänd auch die steilsten Passagen des Weges nehmen. Dabei drehen sie auch noch unablässig ihre Gebetsmühlen und murmeln die
in Tibet allgegenwärtige heilige Formel «Om
Mani Padme Hum – Kleinod in der Lotosblüte», ohne aus der Puste zu geraten. Unter
den Indern hingegen, so wird erzählt, gibt es
immer wieder Opfer zu beklagen. Ihnen wird
diese Zone zum Verhängnis, weil sie die Höhe
nicht vertragen. Ihre Anreise von Nepal aus ist
zu kurz, um den Körper zu akklimatisieren.
Hinzu kommt die Anstrengung der Kletterei,
die manche Herrschaften aus Kalkutta und
Bombay an den Rand der Kräfte bringt.
Unzählige bunte Gebetsfahnen zeigen an,
dass wir uns dem Ziel nähern. Jeder, der den
Bergsattel betritt, lacht und freut sich, es geschafft zu haben. «Lha Gya-lo, Lha so so so»,
alle rufen den Sieg der Götter aus, und manche
sommer 2010 GLOBETROTTER-MAGAZIN 35
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