Indovation: 1 - Indische Wirtschaft

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Indovation: 1 - Indische Wirtschaft
Indovation:
1
Indovation:
Indovation
Produkte für den indischen Markt
erfolgreich entwickeln und verkaufen
2
Indovation:
IMPRESSUM
Autor, Herausgeber, Verleger: Wolfgang Bergthaler
UnternehmerInnen-Zentrum Rochuspark
Erdbergstraße 10/35
1030 Wien, Österreich
wolfgang.bergthaler@gmail.com
www.indische-wirtschaft.de
Lektorat: Barbara Rietzsch, www.visa-and-expats-consulting.de/
Buch-Cover / Titelbild: Robert Six Concept & Design, www.robertsix.com/
1. Auflage, veröffentlicht im Oktober 2012, Wien
Copyright © Wolfgang Bergthaler
Alle Rechte vorbehalten
Die Inhalte wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und selbst verfasst, entsprechen aber
durchaus den subjektiven Ansichten und Meinungen des Autors. Jegliche (Be)wertung ist nicht beabsichtigt.
Es handelt sich bei diesem Buch um keine wissenschaftliche Arbeit, sondern einen praktischen Leitfaden zur
erfolgreichen Marktentwicklung in Indien, basierend auf den persönlichen Erfahrungen des Autors beziehungsweise
seiner Gastautoren.
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Indovation:
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.................................................................................................................................................6
Einleitung.............................................................................................................................................7
Indien: Wirtschaft und Gesellschaft...................................................................................................10
Der attraktivste Absatzmarkt der nächsten 20 Jahre......................................................................11
Finanz-Krise als Jahrhundert-Chance für Indien......................................................................11
Indien wächst nachts, während die Regierung schläft..............................................................12
Die Finanz-Krise war das Beste was Indien passieren konnte..................................................12
Vom Exporteur zum attraktiven Binnenmarkt..........................................................................13
Die indische Gesellschaft...............................................................................................................15
Indien ist wie Europa................................................................................................................15
India does not fit in an Excel-Sheet!.........................................................................................16
Das indische Wertesystem........................................................................................................17
Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen..................................................................19
So is(s)t Indien..........................................................................................................................19
Viele Wahrheiten und ein ewiger Kreislauf..............................................................................21
Mythen und Werte im Vergleich...............................................................................................22
Über Kunden und Märkte...................................................................................................................24
Indien übernimmt Innovationsführerschaft...................................................................................24
Globalisierung...........................................................................................................................24
Localisation & Glocalization....................................................................................................24
Lokale Innovation.....................................................................................................................26
Reverse Innovation...................................................................................................................27
Der indische Markt........................................................................................................................29
Wie am Bazar............................................................................................................................29
The famous Middle-Class.........................................................................................................30
Der Kunde ist König Gott..............................................................................................................32
Konsumgüter & Luxusprodukte....................................................................................................32
Wachstumsmarkt Base of the Pyramide (BoP)..............................................................................33
Westliche Unternehmen fehlt es an Market Intelligence...............................................................35
Der Indovation-Prozess......................................................................................................................38
1. Darshan - Marktsondierung.......................................................................................................39
2. Maya: Innovationsprozess & Produkt-Entwicklung für Indien.................................................40
Entwicklung von Produkt-Ideen und Lösungen........................................................................41
Prinzipien der Produkt-Entwicklung.........................................................................................42
Innovations-Bewertung.............................................................................................................48
Inkubation, Proof of Concept und Proof of Market..................................................................49
3. Pragrati: Markteinführung Ihrer Indovation..............................................................................49
Preispolitik: Value for money...................................................................................................49
Promotion und Werbung...........................................................................................................50
Product Placement.....................................................................................................................51
Von der Werbung zur Produkt-Innovation...............................................................................52
Word of Mouth-Marketing........................................................................................................53
Brand Ambassadors..................................................................................................................54
Branding....................................................................................................................................55
Vertrieb und Distribution..........................................................................................................55
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Indovation:
Best practice...................................................................................................................................58
Fallstudien und Gastbeiträge..............................................................................................................59
Der Wurm muss dem Fisch schmecken.........................................................................................59
Von Dipl. Kaufmann Klaus Maier, Geschäftsführer Maier+Vidorno (M+V)..........................61
Marketing für Millionen oder Marketing für Millionäre...............................................................62
Von Thomas Seifert, Stellvertretender Chefredakteur der Wiener Zeitung.............................64
Erfolgreiche Markteintritts-Strategien für Indien..........................................................................65
Von Martin Fuchs: Managing Director German Centre for Industry and Trade......................66
Indische Ingenieurskunst vereint mit deutscher DNA...................................................................68
Von Stephan Mittelhäuser: Redaktion IndienContact...............................................................69
Produkt-Entwicklung und Reverse Innovation bei Philips............................................................70
Von Wido Menhardt: CEO, Philips Innovation Center Bangalore...........................................72
Von der „Holy Cow“ zur „Cash Cow“ – Indien im 21. Jahrhundert.............................................73
Von André Sarin: Journalist und Asienwissenschaftler............................................................76
Wie ich gelernt habe, in Indien dem Chaos zu vertrauen..............................................................77
Von Martina Maciejewski: Unternehmensberaterin.................................................................78
Als ich Devdutt traf........................................................................................................................79
Von Stefan Mey: Journalist. Blogger........................................................................................80
Indien – Vibhinnata Mem Ekta (Einheit in Vielfalt).....................................................................81
Von Stefan Pellech: Indien-Experte (BoP und Industrie).........................................................83
Innovation in India – an overview from an investor's perspective................................................84
Von Sanjay Anandaram: entrepreneur, investor and corporate executive................................85
Mobile first! The disruptive power of the cell phone....................................................................87
Von Rahul Gaitonde: Manager Telecom industry, Blogger.....................................................88
A glimpse of rural innovation........................................................................................................89
Von Jubin Mehta: Editor and blogger about technology and start-ups.....................................90
Mobile Innovation: Local and Global Opportunities for Innovators from India...........................91
Von Madanmohan Rao: Author, Consultant, Editor und DJ....................................................94
Österreichische Schmankerl für den indischen Gaumen...............................................................95
Von Maya-Lisa Shanker: Unternehmerin.................................................................................95
Dienstleistungen und digitale Güter..............................................................................................96
Über den Autor...................................................................................................................................99
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Indovation: Vorwort
Vorwort
Indien ist ein faszinierendes Land – nicht nur hinsichtlich Kultur, sondern auch im Geschäftsleben:
Mit seiner wachsenden kaufkräftigen Mittelschicht von ca. 300 Mio. Menschen, dem steigenden
Bedarf an Konsumgütern und der großen Nachfrage an Maschinen, Technologien und Know-How
aus dem Ausland birgt das Land enormes Potenzial für die europäische Exportwelt.
Auch
zählt
Indien
nach
wie
vor
zu
den
wirtschaftlichen
Top-Boomregionen.
Die
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Indien haben sich in den vergangenen Jahren
hervorragend entwickelt. Das Handelsvolumen liegt bei weit über 1 Milliarde Euro (2011). Exporte
nach Indien erreichten einen neuen Rekordwert von EUR 818 Mio. – ein Anstieg von fast 25%
gegenüber dem Jahr davor. Österreichische Produkte und Dienstleistungen genießen einen guten
Ruf. Dies hat bisher zur Gründung von mehr als 120 Tochtergesellschaften bzw. Joint Ventures in
Indien geführt.
Und dennoch – Indien ist kein einfacher Markt.
Ein Markteintritt will gut vorbereitet und mit langfristigen Plänen untermauert werden. In Indien
kann in der Regel kein „schnelles Geld“ gemacht werden und Hoffnungen darauf müssen einer von
Geduld geprägten Haltung weichen. Indien kann schon alleine wegen der Größe des Landes nicht
im Vorbeigehen erobert werden.
Waren noch vor einigen Jahren Wirtschaftsgespräche mit ausländischen Partnern von indischen
Unternehmen geradezu gesucht, so hat sich das Bild gewandelt. Mittlerweile kann sich ein gut
geführtes indisches Unternehmen die Wirtschaftspartner unter vielen aussuchen.
Die Entwicklung des Landes schreitet stetig voran und trotzdem ist Indien noch weitaus kein
gesättigter Markt – unzählige Marktchancen warten darauf genutzt zu werden. Mit dem richtigen
Produkt, einer innovativen Marketing-Strategie sowie einer langfristigen Planung kann man in
Indien sehr erfolgreich sein.
Dr. Wolfram Moritz
Der österreichische Wirtschaftsdelegierte in New Delhi
http://wko.at/aussenwirtschaft/in/
6
Indovation: Einleitung
Einleitung
In den letzten zehn Jahren ist der indische Markt für Konsum- und Industriegüter enorm gewachsen.
Im täglichen Leben merkt man das vor allem in den großen Städten. Man sieht überall, dass
konsumiert wird. In den Shopping Malls, Supermärkten, am steigenden Angebot quer durch alle
Produkt-Kategorien. Auch das Straßenbild und das Verhältnis von Autos zu Motorrädern lassen
sich als Indikator dafür heranziehen, dass Geld verdient und auch ausgegeben wird. Anfang des
Jahrtausends war das noch nicht so.
Indien hat 1991 mit der Wirtschaftsliberalisierung begonnen; seitdem hat sich viel getan. Das BIPWachstum liegt seit Jahren kontinuierlich um die acht Prozent-Marke. Aber auch abseits der
Makroökonomie beobachten wir einen Wertewandel: früher war es verpönt, Wohlstand zu zeigen;
jetzt wollen hart arbeitende junge Inder zeigen, was sie sich leisten können. Es hat sich eine kaufkräftige Mittelschicht entwickelt.
Für deutsche Industrieunternehmen bedeutet der steigende Konsum ein enormes Absatzpotential im
neuen Wachstumsmarkt. Daher genießt die indische Wirtschaft – auch gerade seit dem Einsetzen
der Euro-Krise – wieder große Aufmerksamkeit als Investitionsstandort und Standbein für
zukünftige Geschäftssicherung.
Kein globales Unternehmen kann sich leisten, Indien zu ignorieren. Ganz im Gegenteil! Für viele
Firmen ist Indien bereits der Primär-Markt. RIM (Blackberry), Hyundai oder Intel launchen
beispielsweise ihre Produkte zuerst in Indien, und dann erst im Westen.
Diese Unternehmen beweisen mit ihrer Strategie, die Produkte zuerst in Indien einzuführen, wie
wichtig ihnen der Wachstumsmarkt in Südasien ist. Immer mehr amerikanische, koreanische,
japanische und europäische Unternehmen begreifen Indien als Jahrhundert-Chance. Wer heute auf
den Weltmärkten überleben will, muss in Indien Vorreiter sein.
Die Zeiten, als der Westen Entwicklungsgelder nach Südasien geschickt hat, sind längst vorbei.
Heute stellen sich die größten und innovativsten Konzerne der Welt an, ihre Produkte und
Dienstleistungen in Indien zu verkaufen. Indien rückt immer mehr in den Mittelpunkt der globalen
Marketer. Heute kann sich kein Unternehmen mehr leisten, sich nicht mit dem indischen Markt zu
beschäftigen!
Ihr Unternehmen Indien
Sie beschäftigen sich auch schon mit dem Wachstumsmarkt in Südasien oder sind sogar schon dort
präsent?
7
Indovation: Einleitung
Dann begleiten Sie mich auf (m)eine Reise durch die Geheimnisse der indischen Märkte. Lernen
Sie mit mir die Inder kennen, die indischen Kunden und ihre Bedürfnisse verstehen, um für dieses
so einzigartige Land maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und diese zu
vermarkten. Diese Reise wird sich für Sie lohnen – finanziell sowie persönlich. So wie es für mich
gewesen ist...
Mein Indien
Indien ist offensichtlich mein Schicksal. Vor fast zehn Jahren wollte ich ein Praktikum im
englischsprachigen Ausland absolvieren und bin durch Zufall in Indien gelandet; nicht gerade das,
was ich mir ursprünglich erhofft habe. Im Nachhinein betrachtet war Indien aber das Beste, was mir
in meinem ganzen Leben passiert ist. Ich warne Sie: Es könnte Ihnen ähnlich ergehen!
Als ich am 26. August 2004 in Hyderabad zum ersten Mal indischen Boden betrat, war mir die
Tragweite meiner Entscheidung noch nicht annähernd bewusst. Seit diesem Zeitpunkt dreht sich
mein Leben nicht nur rund um die Uhr um Indien, sondern ich habe Summa Summarum zwei Jahre
in meiner zweiten Heimat gelebt und gearbeitet; zuerst als Praktikant und Software-Entwickler,
später als selbstständiger Projekt-Manager und Berater für den indischen Markt. Zur Beraterkaste á
la McKinsey & Co fühle ich mich aber definitiv nicht zugehörig. Viel eher bezeichne ich mich als
kreativen Nomaden, Wissensarbeiter, Brückenbauer, Netzwerker, Researcher, Blogger, Journalist,
Projektmanager, Indien-Manager, Schlachtross für Indien, Geschäfts-Reiseleiter, Entrepreneur mit
Indien-Affinität sowie als Consultant für Innovation in Bezug auf Indien, kurz autodidakter
Indien-Experte aus Leidenschaft.
Projektweise arbeite ich für unterschiedliche Auftraggeber, meist junge innovative Unternehmen –
am liebsten aus der so genannten New Economy, also überall wo das Internet und Technologie eine
Rolle spielen, aber auch anderen Branchen. Dabei unterstütze ich Firmen bei Markteintritt und
Geschäftsentwicklung.
Meist
liegt
mein
Fokus
auf
der
Analyse
des
Marktes,
Innovationsmanagement, der Generierung von Ideen und Geschäftsmodellen sowie auf der
Auswahl der jeweils geeignetsten Geschäftspartner. Es macht mir unglaublich viel Spaß, neue
Branchen zu verstehen, mich in neue Märkte einzuarbeiten und das Management des Kunden bei
der Strategie-Entwicklung zu unterstützen - aber auch selbst Verantwortung für diese Projekte zu
übernehmen.
Oft bin ich in Indien aber einfach nur unterwegs, um interessante Unternehmen kennen zu lernen,
Innovationen zu finden und um mich mit spannenden Leuten zu vernetzen – auch ganz ohne
Auftrag, einfach getrieben durch meine Neugierde und Interesse. Ich bin ständig auf der Suche nach
8
Indovation: Einleitung
Erfahrungen, intensiven Eindrücken, neuen Einblicken und nach einem tieferen Verständnis und
Wissen über die wohl komplexeste Kultur, die diversifizierteste Gesellschaft und den
dynamischsten Markt der Welt.
Es
gibt
derzeit
wohl
keinen
spannenderen
Ort
auf
der
Welt,
wo
man
so
viel
lernen/erleben/umsetzen/gewinnen kann wie in Indien - kulturell, unternehmerisch und persönlich.
Begleiten Sie mich auf meine Reise und erfahren Sie in diesem Buch mehr über die Psyche der
indischen Kunden, die Herausforderungen und Eigenheiten des südasiatischen Wachstumsmarktes
und Grundsätze der Vermarktung. Außerdem stelle ich Ihnen einen praktischtischen InnovationsProzess zur Entwicklung für Indien maßgeschneiderter Produkte und Dienstleistungen vor.
Dieses Buch stellt einen kompakten Leitfaden zur erfolgreichen Markteinführung dar, bringt
Ihnen aber auch mit zahlreichen konkreten Beispielen und Erfolgsgeschichten ein lebendiges
Bild des heutigen Indien.
Ein gutes Dutzend renommierte Persönlichkeiten und Indien-Experten steuerten zu diesem Buch
Gastartikel zu Innovation und Marketing bei. Darunter sind Wissenschaftler, Investoren,
Journalisten und Autoren, hochrangige Manager aus der Industrie, europäische Unternehmer in
Indien, Unternehmensberater und Indien-Experten.
Mit dem Wissen dieses Buches werden Sie Produkte und Dienstleistungen für den indischen
Markt erfolgreich entwickeln und verkaufen!
Ihr
Wolfgang Bergthaler
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Indovation: Indien: Wirtschaft und Gesellschaft
Indien: Wirtschaft und Gesellschaft
Mit seinen 1,2 Milliarden Menschen und einem robusten, anhaltenden Wirtschaftswachstum ist
Indien einer der wichtigsten Wachstumsmärkte der Welt. Obwohl die westlichen Medien in den
letzten Monaten die Wirtschaft des Subkontinents hart ins Gericht nahmen, sind die
Fundamentaldaten in Ordnung. Lassen Sie uns zu Beginn dieses Buches gemeinsam einen Blick auf
die Rohdaten und Fakten werfen.
Für das Finanzjahr 2012/2013 erwartet man in Indien ein Wirtschaftswachstum von 6,1 Prozent.
2011/2012 waren es 6,9 Prozent und vor zwei Jahren (2010/2011) noch 8,4 Prozent. 2011 war die
Welt der Ökonomen noch in Ordnung und Premierminister Manmohan Singh ein gefeierter Star.
Heute aber ist Indien schon Prügelknabe – nur weil es zwei Prozent Wirtschaftswachstum eingebüßt
hat.
Um diese Enttäuschung der Analysten nachzuvollziehen, wollen wir die Zahlen aller vier BRICStaaten vergleichen. Vielleicht kommen wir ja auch zu einer ähnlich düsteren Einschätzung. Dazu
habe ich die BIP-Raten von China (CN), Indien (IN), Russland (RU) und Brasilien (BRA) für jedes
Quartal, beginnend mit 2010, aufgetragen. Sehen Sie nun selbst!
Abbildung 1: BIP-Raten der BRIC-Staaten seit 2010 (Daten
von Wikipedia)
Was das Wachstum betrifft liegt Indien im Vergleich mit seinen Rivalen also immer noch auf dem
zweiten Platz, hinter China. Beide Länder haben seit 2010 etwa ein Drittel ihrer Zuwachsraten
eingebüßt. Russland liegt stabil bei 4 bis 5 Prozent und profitiert in der derzeitigen weltpolitischen
Lage sogar noch (vom Rohstoff-Boom). Brasilien dagegen ist komplett abgestürzt und kratzt schon
an der Null-Linie.
10
Indovation: Indien: Wirtschaft und Gesellschaft
Es gibt zwar einige Länder, die derzeit schneller wachsen als China und Indien, diese finden aber in
den Medien kaum Beachtung: zum Beispiel Katar (+18,8 %), die Mongolei (+17,2 %),
Turkmenistan (+14,7 %), Ghana (+13,6 %), Osttimor (+10,6 %) u.v.a.
Der attraktivste Absatzmarkt der nächsten 20 Jahre
Wenn man also Indiens Wirtschaft derzeit so abstraft wie derzeit die Mainstream-Medien, tut man
ihr nicht nur unrecht, sondern man widerspricht einfach den objektiven Zahlen. Indien ist
tatsächlich neben China weiterhin der attraktivste Wachstumsmarkt der Welt. Gesamtvolumen und
Dynamik suchen ihresgleichen.
Wenn man berücksichtigt, dass China seine Märkte schon 13 Jahre vor Indien (1991) geöffnet hat
und damit einen klaren Vorsprung bei Einkommen, Infrastruktur, Kaufkraft, AuslandsInvestitionen, Exporten und Industrialisierung hat, ergeben sich zum heutigen Tage in Indien
bessere Chancen für Investments und Markteintritt.
Das Window of Opportunity ist in Indien noch weit offen und bietet Ihnen attraktivere
Geschäftsmöglichkeiten, als im bereits viel entwickelteren China. Außerdem spricht für den
Subkontinent, dass das Wirtschafts-Wachstum durch den Binnenkonsum getragen wird und nicht
durch die so viel krisenanfälligere Exportwirtschaft, wie etwa in China.
André Sarin gibt uns in seinem Gastartikel Fehler: Referenz nicht gefunden einen wunderbaren
Überblick über die Makro-ökonomischen Entwicklungen seit der Unabhängigkeit und einen
Ausblick in die Zukunft.
Finanz-Krise als Jahrhundert-Chance für Indien
Die Welt scheint an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Europas Wirtschaft leidet unter einer
hausgemachten Währungskrise, die USA büßt möglicherweise bald ihre globale Führungsrolle ein,
in China steht die Immobilienblase kurz vor dem Platzen. Diese Situation bietet für Indien eine
Jahrhundert-Chance, Kapital und Talent aus aller Welt anzuziehen und zur absoluten
wirtschaftlichen Supermacht aufzusteigen. Das Land könnte unendlich viel Geld, Ressourcen und
Technologie absorbieren und eine in der Weltgeschichte noch nie gesehene Entwicklung hinlegen.
Doch leider nützt die derzeitige Regierung von Premierminister Manmohan Singh diese einmalige
Chance der Geschichte nicht zum eigenen Vorteil. Seit der Wiederwahl im Jahr 2009 bringt die
Regierung wie es scheint nichts mehr zusammen. Die zögerliche Umsetzung notwendiger Reformen
könne das Wachstum auf jährlich fünf Prozent drücken und einen Teufelskreis in Gang setzen.
Oberste Priorität der Regierung müsste es sein, die Wirtschaft zu stimulieren. Dazu müssten etwa
11
Indovation: Der attraktivste Absatzmarkt der nächsten 20 Jahre
die Rahmenbedingungen für Investitionen verbessert werden. Trotzdem:
Indien wächst nachts, während die Regierung schläft
Doch auch all die Schwächen der Regierung, die man nicht leugnen kann, können das solide und
nachhaltige Wachstum kaum bremsen. „Indien wächst nachts, während die Regierung schläft”,
behauptet beispielsweise Gurcharan Das, ehemaliger Vorstand bei Procter & Gamble, heute
Berater, Autor und Kolumnist mit neoliberaler Handschrift. Der Unternehmergeist sowie die
Ambitionen des indischen Volkes sind stärker als politische Trägheit und die legendäre indische
Bürokratie.
Gleichgültig welche Regierung in Zukunft an der Macht ist, Indien wird weiterhin seinen Weg
gehen „wie ein Elefant“, als welcher Indien oft bezeichnet wird. Einmal in Bewegung marschiert er
langsam aber stetig nach vorne, ohne dass ihn etwas stoppen könnte.
Auch in Zukunft scheint Indien relativ Krisen-resistent. Der starke Binnenkonsum stützt die
Wirtschaft, die wenig vom Export und seinen Schwankungen abhängig ist. Einzig der IT- und
Software Sektor, welcher in den letzten zehn bis zwanzig Jahren entstanden ist und
Dienstleistungen in der Höhe von mehreren Dutzend Milliarden US Dollar exportiert, ist in
Krisenzeiten stark exponiert. Aber auch diese Industrie entwickelt immer mehr Angebote für den
indischen Heimmarkt. In den letzten zwei bis drei Jahren haben sich in Bangalore, Gurgaon, Pune
und Chennai zahlreiche indische IT Start-Ups mit Produkten für den indischen Markt zu
Unternehmen mit mehreren hundert Millionen US-Dollar Marktwert entwickelt.
Die Finanz-Krise war das Beste was Indien passieren konnte
Viele der talentiertesten Mitarbeiter wollten am Zenit der Finanzkrise 2009 auf ihre gewohnte 25prozentige Gehaltssteigung nicht mehr verzichten und kündigten selbstbewusst ihre Jobs in
Corporate India. Noch härter traf es ihre Landsleute in Übersee. Zur gleichen Zeit verloren tausende
Inder in den Vereinigten Staaten ihre Jobs und kehrten wieder nach Indien zurück.
Damals begannen also mehrere tausend von Indiens besten Ingenieuren an ihren eigenen Ideen zu
arbeiten. An Know-how und Geld fehlte es ihnen nicht. Sie alle hatten vorher für die besten und
größten Unternehmen der Welt gearbeitet. Außerdem kamen die neuen Infrastruktur-Technologien
wie Cloud Computing und SaaS-Modelle (Software as a Service) gerade zum rechten Zeitpunkt auf
den Markt. Nun war es möglich Hardware, Speicher und Rechenleistung ohne große
Investitionskosten (pay per use) flexibel zu anzumieten.
Heute, drei Jahre später, sehen wir das Ergebnis der Krise – in Form von zahllosen hochkarätigen
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Indovation: Der attraktivste Absatzmarkt der nächsten 20 Jahre
Start-Ups in Indien. Die meisten davon haben Produkte und Services für den indischen Markt
entwickelt. Das liegt nicht nur daran, dass sie den indischen Markt sehr gut verstehen, sondern
schlicht und einfach daran, dass der indische Markt gewaltiges Potential darstellt.
Statt Software für amerikanische Banken und Versicherungen zu testen, entwickelt heute die neue
Generation der Unternehmer innovative Software-Produkte für Indien und die Welt. Damit
kletterte Indien gerade auf Grund der Wirtschaftskrise in der Wertschöpfungskette eine Stufe höher.
Vom Exporteur zum attraktiven Binnenmarkt
Was wir derzeit im IT-Bereich sehen – die Entwicklung von einer billigen Outsourcing-Destination
zur kreativen High-Tech Schmiede, fand in ähnlicher Weise bereits einmal in den 30er Jahren des
20. Jahrhunderts statt. Indien machte auch damals schon die Not zur Tugend. Weil der Tee-Export
nach Europa und Amerika während der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren einbrach, wurde Tee in
Indien ein Produkt für den Massenmarkt und damit auch im eigenen Land ein Milliardengeschäft.
Sie wissen bestimmt, wie populär heute Chai (Tee mit Milch und Zucker) in Indien ist. Das war
aber nicht immer so. Patriotisch wie die Inder nun mal sind, glauben heute die meisten, dass sie den
Tee selbst erfunden und eine schon Jahrtausende alte Tee-Tradition hätten. Dem ist aber nicht so!
Tee kommt traditionell aus China, wo man das Teetrinken schon bis in die Zeit vor Christi Geburt
nachweisen konnte. Von dort brachten ihn die Engländer nach Indien – pikanterweise bezahlten sie
den chinesischen Tee mit in Indien angebautem Opium – ein früher Aspekt der Globalisierung …
Vor nicht einmal 200 Jahren wurde dann zum ersten Mal im Nordosten Indiens Tee für einen Markt
im Land selbst angebaut. Dieser frühe indische Tee war damals aber ausschließlich als Genussmittel
für die herrschenden (englischen) Eliten in der damaligen Hauptstadt Kalkutta reserviert.
Als am Ende des 19. Jahrhunderts der chinesische Marktanteil an der Londoner Teebörse von 70
auf magere 10 Prozent fiel, konnte Indien (gemeinsam mit Ceylon) durch die mittlerweile sehr
umfangreiche eigene Produktion diese Lücke auffüllen und so innerhalb von zwanzig Jahren zum
größten Tee-Exporteur der Welt aufsteigen. Davon profitierten natürlich die indischen Händler und
die britischen Geschäftsleute.
Tee war damals aber noch längst kein Produkt für den indischen Massenmarkt, sondern ein
absolutes Luxusgut. Im Jahre 1910 wurden in Indien lediglich 8 Millionen Kilogramm Tee
verkauft, während 15-mal so viel nach Großbritannien ging. Heute würde man sagen: Die indische
Tee-Industrie war vollkommen Export-abhängig.
Als infolge des Börsen-Crashs 1929 die (amerikanische) Wirtschaft zusammenbrach und die
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Indovation: Der attraktivste Absatzmarkt der nächsten 20 Jahre
Marktpreise für Tee in den Keller rasselten, wurde Indiens Tee-Branche erst einmal richtig hart
getroffen. Daher gab es in den 30er Jahren die ersten Versuche, Tee in Indien als Getränk populärer
zu machen - zum Leidwesen der Händler zunächst mit relativ wenig Erfolg. Tee hatte damals noch
eine schlechte Lobby. Selbst politische Führer und Sozialreformer wie Mahatma Gandhi wetterten
gegen den Teekonsum. Das Heißgetränk sei so berauschend wie ungesund – auf einer Ebene mit
Tabak. Außerdem würde Tee die Haut dunkler färben. Das wäre auch heute noch ein absolutes
Killer-Argument gegen den Teekonsum – denn die noble Blässe ist (bis heute) in Indien noch
immer das vorherrschende Schönheitsideal.
So dümpelte der heimische Tee-Markt erst einmal weiter vor sich hin. Bis zur Unabhängigkeit im
Jahre 1947 wurden 70 Prozent des indischen Tees exportiert. Erst in den 1960er Jahren wurde der
Teekonsum in der breiten Bevölkerung Indiens populär. Damals entstanden all die uns bekannten
Tea-Stalls, die heute noch immer die Straßen Indiens säumen. Denn ein großer Teil des Tees wird
in Indien auf der Straße getrunken – mit viel Milch und noch mehr Zucker, dafür um wenige
Rupien.
Heute konsumiert
Indien ein Viertel des weltweit
produzierten Tees. Von 1.000 Tonnen in Indien geerntetem
Tee wurden im letzten Jahr 85 Prozent in Indien selbst
getrunken. Die Nachfrage nach Tee wächst in Indien
schneller als die Produktionskapazitäten. Das bedeutet, dass
Indien vermutlich in einigen Jahren Tee einführen muss, um
die noch weiter steigende Nachfrage zu bedienen.
Abbildung 2: Chai Stall
Wahrscheinlich wird dieser Tee dann (wieder) aus China
kommen, das Indien seit 2006 wieder als weltweit größter Tee-Produzent abgelöst hat.
Weil also in den 30er Jahren die Abnehmer im Westen schwächelten, wurde langfristig der indische
Markt für Tee angekurbelt. Auch wenn die Top-Ware heute noch exportiert wird, macht doch der
Heimmarkt den weitaus größten Marktanteil aus.
Was wir beim Tee-Handel (Inbegriff der Kolonialisierung) im letzten Jahrhundert gesehen haben,
scheint sich in zahlreichen anderen Branchen im 21. Jahrhundert zu wiederholen. Weil die
Absatzmärkte im Westen schwächeln, rückt der domestic market für die indischen Unternehmer
immer mehr in den Vordergrund und eröffnet damit auch für Sie als Unternehmer
neue
Geschäftsmöglichkeiten. Wer weiß, vielleicht muss Indien in zwanzig Jahren Software und
Entwicklungsleistungen aus Deutschland zukaufen? Dazu aber später!
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Indovation: Die indische Gesellschaft
Die indische Gesellschaft
Bevor wir uns aber weiter mit dem Wachstumsmarkt und seinen Chancen beschäftigen, möchte ich
Ihnen noch etwas mehr über Indien und das indische Leben erzählen. Immerhin dreht sich dieses
Buch um Marketing. Dazu sollten wir zuerst den indischen Kunden und Gesellschaft verstehen.
Video-Tipp!
Keiner kann, meiner Meinung nach, Indien besser beschreiben, als der ehemalige Minister Shashi Tharoor.
Nach seiner Ansicht ist die Macht Indiens nicht militärisch oder rein wirtschaftlich begründet, sondern basiert
auf der so genannten “Soft Power“, der kulturellen Attraktivität der indischen Nation („India is the country
which tells the better story“). Gönnen Sie sich eine Viertelstunde um das Video seiner einzigartigen und
inspirierenden Rede aus dem Jahre 2009 zu sehen. Es wird auch Sie mitreißen und in Ihrer Entscheidung
bestärken in Indien tätig zu sein. Das verspreche ich Ihnen. http://www.youtube.com/watch?v=EiTrl0W1QrM
Indien ist wie Europa
Für mich ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass Indien nicht als Land zu verstehen ist, sondern
als ein Kontinent, so wie Europa. Indien wird nicht umsonst als Subkontinent bezeichnet. Wie in
Europa leben auch in Indien dutzende Völker vereint durch eine Union, nämlich durch den
Indischen Unionsstaat. Sie unterscheiden sich deutlich in Sprache, Sitten, Bräuche, Kleidung,
Musik, Theater, Literatur, Küche und anderen Artefakten, dem sichtbaren und bewussten Teil einer
Kultur. Die indischen Völker sind untereinander
mindestens so verschieden wie jene Europas.
Trotz der Vielzahl an Kulturen, Sprachen, Ethnien,
Religionen
und
regionaler
Unterschiede
auf
sozialer und wirtschaftlicher Ebene, liegt gerade in
der Vielfalt die Stärke der indischen Nation. Man
beschreibt das Wesen der Indischen Union auch oft
sehr treffend mit Unity in Diversity.
In 30 Jahren wird Indien in absoluten Zahlen die
zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Schon
A
bbildung 3: Indien und Europa sind multiethnische Kontinente
heute ist Indien als Unionsstaat eine der führenden
Wirtschaftsmächte und nach Kaufkraftparität im Jahr 2012 sogar die Nummer drei der Welt.
Wirtschaftlich ist die Indische Union also ein absolutes Erfolgsmodell und mittlerweile eine globale
Macht, die keiner mehr ignorieren kann.
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Indovation: Die indische Gesellschaft
Wenn die indischen Bundesstaaten unabhängig wären, hätte sich wohl kaum eine solche
wirtschaftliche Dynamik entwickeln können. Maharashtra, der wirtschaftlich stärkste Staat Indiens
mit der Finanzmetropole Mumbai als Hauptstadt, hat mit USD 370 Mrd. ein Bruttoinlandsprodukt
vergleichbar mit Österreich, das im Ranking der Nationen an 34. Stelle liegt. Die Wirtschaft von
Andhra Pradesh mit der IT- & Software-Hochburg Hyderabad ist gleich groß wie jene von
Norwegen. Die meisten indischen Staaten sind in ihrer Wirtschaftskraft vergleichbar mit den
Ländern der Europäischen Union: Tamil Nadu mit Dänemark, Gujarat mit Finnland, Rajasthan mit
der Slowakei.
India does not fit in an Excel-Sheet!
Wie Sie sicherlich wissen hat Indien eine streng hierarchische Gesellschaftsstruktur. Doch diese ist
nicht wie Sie vielleicht vermuten, bloß eine steile Pyramide, basierend auf Kastenwesen und
Einkommensverteilung. Ich würde die indische Gesellschaft als dreidimensionale Matrix
beschreiben, definiert durch die drei Dimensionen
•
Religion/Kaste
•
Herkunft/Region
•
Einkommen (vormals Bildung)
Abbildung 4: Die
indische Gesellschaft als
Die Hindus stellen mit 80 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung. Dabei Matrix
kann man aber keinesfalls von einer homogenen Gruppe sprechen. Die Hindus wurden seit
Jahrtausenden durch ein strenges Kastensystem in unzählige Gruppen unterschieden, wobei sich
jede Sub-Kaste durch eigene Bräuche, Einstellungen, Riten, Ernährungsvorschriften etc.
auszeichnet. So entstanden hunderte Subkulturen, die aber jeweils sehr hohen Wert auf Bewahrung
ihres jeweiligen kulturellen Erbes sowie ihrer Blutreinheit leg(t)en. Eine Durchmischung, also
Eheschließung zwischen Kasten, ist auch heute noch fast immer ein gesellschaftliches Tabu. Hindus
all dieser unterschiedlichen Kasten leben und arbeiten wiederum mit Muslimen, Sikhs, Christen,
Jainas etc. zusammen. Durch die Religion und Kaste manifestiert sich klassischerweise das
hierarchische Verhältnis zueinander. Damit bildet die Religions- bzw. Kastenzugehörigkeit die erste
Dimension der indischen Gesellschaftsmatrix.
Wie schon beschrieben ist Indien viel mehr ein Kontinent und weniger ein Land. Ein Bengale hat
mit einem Gujarati genau so viel, oder besser gesagt wenig, zu tun wie ein Italiener mit einem
Deutschen. Trotzdem leben die Angehörigen verschiedener Ethnien ziemlich bunt gemischt mit16
Indovation: Die indische Gesellschaft
und nebeneinander in Delhi, Bombay, Bangalore oder in jeder anderen Großstadt. Wie ein Italiener,
der in Stuttgart lebt, seine kulturelle Identität nicht verbergen will und kann, wird auch ein Gujarati
in Kolkata ein Gujarati bleiben und auch so reden, essen, handeln und denken. Indien ist ein
föderaler Staat und seine Gesellschaft sehr mobil. Daher sind die indischen Metropolen kulturelle
Sammelbecken des Subkontinents. Die regionale Komponente ist daher die sekundäre Dimension
meiner Matrix.
Früher bestimmte die Bildung den gesellschaftlichen Status. Seit der offiziellen Einführung des
Kapitalismus im Jahre 1991 definiert sich der Status zunehmend über Vermögen und Einkommen.
Natürlich resultiert Bildung in einer gewissen Form immer auch in Einkommen. Aber gerade der
Kapitalismus macht es möglich, dass auch Bildungs-fernere Schichten durch Spekulation und
Handel gewaltige Vermögen akkumulieren können. Der Reichtum bestimmt letztendlich die dritte
Dimension der indischen Gesellschaft.
In dieser komplexen drei-dreidimensionalen Matrix ergeben sich sehr feine gesellschaftliche
Segmente, die alle jeweils anders zu handhaben sind. Das ist wichtig für die tägliche
Kommunikation in der Zusammenarbeit zwischen Europäern und Inder und natürlich im Marketing.
Das indische Wertesystem
Trotz aller Unterschiede zwischen den indischen Communities gibt es einen gemeinsamen
kulturellen Kern in Form von geteilten Wertvorstellungen jenseits von Religion, Kaste, Herkunft
und Vermögen.
Um die indische Kultur zu verstehen, muss man sich mit dem ihr zu Grunde liegenden Wertesystem
auseinandersetzen. Erst dann werden gewisse Verhaltensweisen der Inder im geschäftlichen Leben
verständlich. Lassen Sie mich hier einige der wichtigsten Prinzipien vorstellen. Überlegen Sie schon
mal parallel, wie diese Werte Ihre Produkt-Entwicklung und Ihren Vertrieb in Indien beeinflussen
könnten.
1. Statusdenken: In einer so hierarchischen Gesellschaft wie der Indischen impliziert Status
Macht, Wertschätzung und Möglichkeiten. Egal ob in der Stadt oder am Land, egal ob arm
oder reich, Statusdenken liegt allen Indern sozusagen „im Blut“. Wenn sich zwei Inder
treffen, wissen beide innerhalb von Sekunden, wer gesellschaftlich über beziehungsweise
unter dem anderen steht.
Statussymbole und Luxusprodukte verkaufen sich in Indien daher äußerst gut, weil sie dem
Käufer einen vermeintlich höhren Status verleihen. Berücksichtigen Sie unbedingt diesen
17
Indovation: Die indische Gesellschaft
Wert in der Markenkommunikation und Positionierung Ihrer Produkte. Siehe Kapitel Fehler:
Referenz nicht gefunden.
2. Familie: Die eigene (Groß-)Familie, der Clan, die Community hält zusammen. Hochzeiten
gelten traditionell als Allianz und Zusammenschluss zweier Familien - weniger als eine
Beziehung der beiden Brautleute. Typischerweise leben drei Generationen unter einem Dach
und wirtschaften gemeinsam. Daraus ergeben sich größere Haushalte als im Westen mit
mitunter anderen Bedürfnissen und Entscheidern.
3. Religion: Familien sind in Indien tendenziell traditionell und wertkonservativ geprägt. Ihre
Produkte müssen jedenfalls mit Kultur und Religion im Einklang stehen. Nur ein Beispiel:
Alkohol zu konsumieren ist verpönt - Dessous zu kaufen gilt als beschämend. Daher trinken
die Männer gemeinsam heimlich im Hotelzimmer und Frauen kaufen ihre Unterwäsche
lieber diskret online.
Dharma bedeutet so viel wie Pflichterfüllung und impliziert, die von der Gesellschaft,
Familie, Organisation, Unternehmen, Religion vorgegebene Rolle zu erfüllen. Dieser Wert
prägt insbesondere den Umgang mit Ihren Mitarbeitern und Kunden.
4. Vertrauen: Die persönliche Beziehung zu einer Person steht immer über der Sache. Im
Geschäftsleben heißt das: Beziehungsaufbau, längere Sales-Cycles, Markenaufbau, ServiceOrientierung und Vertrieb über traditionelle lokale Strukturen wie Tante Emma Läden.
5. Nationalstolz & Tradition: Das Bewusstsein, Angehörige/r eine der ältesten Kulturen der
Welt zu sein, die so hart erkämpfte nationale Unabhängigkeit, sowie das durch die
wirtschaftliche Entwicklung erlangte Selbstvertrauen erfüllen das indische Volk mit
unglaublich viel Stolz. Daher kauft man oft als Patriot lokale Produkte oder bekannte
Marken.
6. Gastfreundschaft, die wirklich sprichwörtlich ist: In Indien ist der Gast König, wenn nicht
sogar Gott. Kundenorientierung und aufmerksamer Service gegenüber dem Gast sind eine
Ausprägung von Gastfreundschaft und werden vom Kunden erwartet.
Obwohl man in Indien generell nichts verallgemeinern soll, kann man diese Werte für alle
Gesellschaftsschichten als universal gültig betrachten. Berücksichtigen Sie diese Werte unbedingt
bei Produkt-Design, Marken-Kommunikation, Marketing und Vertrieb. Mehr dazu in den nächsten
Kapiteln.
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Indovation: Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
Um mit Menschen aus anderen Kulturen ins Geschäft zu kommen, muss man das Verhalten seines
Geschäftspartners, respektive Kunden vor dem Hintergrund dessen eigener kultureller Prägung
verstehen. Diese basiert auf der Summe aller Werte, Normen, Denkweisen und Weltanschauungen,
welche letztendlich auf die jeweilige Mythologie und Religion zurückgehen.
Kultur
Werte, Normen,
Religion, Mythologie
Verhalten
Kunden-Bedürfnisse
und Wünsche
Geschäft
Verkauf von Produkten
& Dienstleistungen
Zeichnung 1: Kultur prägt Verhalten, prägt Geschäft
Je besser Sie die fundamentalen kulturellen Unterschiede verstehen zwischen der linearen,
strukturierten, logischen und (vermeintlich) eindeutigen „westlichen Welt“ und der indischen
Kultur, die durch Zyklen, Relativität, Komplexität, Mehrdeutigkeit und Chaos geprägt ist, desto
mehr werden Sie Ihre indischen Kunden und ihre Bedürfnisse verstehen und für Ihre Produkte
begeistern können, also letztendlich ins Geschäft kommen.
Video-Tipp!
Dr. Devdutt Pattanaik ist einer der führenden Mythologen Indiens. Er hat 23 Bücher veröffentlicht, ist gefragter
Redner auf Konferenzen und Trainer für Unternehmen, die in Indien Geschäft machen wollen. Er dekodiert
hinduistische Mythen; niemand kann das Wechselspiel zwischen indischer Religion und Kultur also so gut
erklären wie er. Sein TED-Talk „East vs West“ könnte auch Sie erleuchten. Meiner Meinung nach ein absolutes
MUST für jeden, der sich mit Indien beschäftigt: http://www.youtube.com/watch?v=I7QwxbImhZI
Um mit Menschen aus anderen Kulturen ins Geschäft zu kommen, muss man das Verhalten seines
Geschäftspartners verstehen. Dieses basiert aber auf der Summe aller Werte, Normen, Denkweisen
und Weltanschauungen, sowie das tausende Jahre alte kulturelle Erbe, das letztendlich auf die
jeweilige Mythologie (und Religion) zurückgeht.
So is(s)t Indien
Denn in Indien gelten andere Gesetze. Kunden und Organisationen agieren anders als Sie es aus
Ihren bisherigen Märkten gewohnt sind. Um Ihnen die kulturellen Unterschiede zwischen Indien
und der westlichen Welt näher zu bringen, möchte ich Sie auf zwei kulinarische Reisen entführen:
Nehmen wir an, wir gehen heute Abend in unserer Stadt zur Feier eines Geschäftsabschlusses fein
Essen - zum Beispiel zum Italiener ums Eck oder in das nette kleine französische Restaurant. Wir
werden uns vermutlich an einem fein gedeckten Tisch wieder finden: weiße Tischdecke, gestärkte
Stoffservietten, Wein- und Wasserglas sowie mehrere Sets Essbesteck, die wir von außen nach
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Indovation: Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
innen verwenden werden.
Wir nehmen Platz, die Atmosphäre ist gediegen. Es ist ruhig, nur im Hintergrund hören wir
angenehme harmonische Klaviermusik. Wir entscheiden uns für das sechs-gängige Menü. In den
kommenden zwei Stunden bringt uns der Kellner einen Gang nach dem anderen: zuerst den „Gruß
aus der Küche“, dann eine Vorspeise, die Suppe, weiter geht es mit ausgewählten Salaten und der
exquisiten Hauptspeise, gefolgt von einer unwiderstehlichen Nachspeise und Käse zum Abschluss.
Jedes Gericht ist wunderschön angerichtet … Fleisch, Soße, Beilagen … alles farblich abgestimmt
– jede Speise ist ein kleines Kunstwerk. Dazu trinken wir jeweils den passenden Wein. Wir werden
vom Küchenchef Schritt für Schritt durch seine kulinarische Welt geführt und genießen
nacheinander verschiedene Geschmäcker.
Versetzen wir uns nun nach Indien. Wir betreten ein Restaurant in Mumbai, Delhi oder Bangalore.
Tausende exotische Gerüche begrüßen uns in einer anderen Welt. Es herrscht Hochbetrieb und es
ist laut. Wir müssen erst einmal zehn Minuten warten. Schließlich bekommen wir einen engen SitzPlatz in der Ecke und bestellen sofort das „Menü“, ein so genanntes Thali. Im Gegensatz zu Europa
bekommen wir in Indien das gesamte Menü auf
einmal serviert - alles gleichzeitig auf einer großen
Platte, im Süden eventuell sogar auf einem
Bananenblatt. Da finden wir nun an die zwanzig
verschiedene
Gerichte:
zahlreiche
Soßen,
so
genannte Currys: vegetarisch oder mit Fleisch,
Gebackenes, Gebratenes, Geschmortes, Gegrilltes
sowie verschiedene Linsen-Gerichte und Suppen.
Dazu kommen diverse Fladenbrote, mehrere Sorten
Abbildung 5: Indisches Thali
Reis, rohes Gemüse / Salat und Desserts auf den
Tisch - und so weiter und so fort. Die jeweiligen Geschmäcker reichen von mild und scharf über
salzig, von sauer bis zu süß. Es gibt Heißes und Kaltes, Rohes und Gekochtes, Fettiges und Bitteres
– in allen Konsistenzen - und alles auf einem einzigen Teller: gleichzeitig, durcheinander und
chaotisch - also typisch indisch.
Unser Mahl kann nun beginnen. Sie mischen mit Ihren Fingern (!) je nach Ihren Vorlieben den Reis
mit diversen Soßen und essen Currys mit Fladenbroten. Was Sie schmecken, bestimmen nun Sie –
je nachdem wie Sie die einzelnen Komponenten Ihres Thali kombinieren. Obwohl ich das gleiche
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Indovation: Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
Menü bestellt habe, werde ich meine Soßen anders mischen und damit auch ein anderes
Geschmackserlebnis haben als Sie. Nach einer kurzen Weile finden wir uns vor unseren mehr oder
weniger leer gegessenen Platten, die nun aussehen wie ein Schlachtfeld. Damit bekommt der
Begriff Schlachtplatte eine ganz neue Bedeutung.
Essen ist ein integraler Teil jeder Kultur und bildet viele spezifische kulturelle Eigenheiten ab. Das
„Candle-Light-Dinner“ ist ein sehr schönes Abbild unserer westlichen Kultur. Das Mahl ist
strukturiert, gediegen, inszeniert; es läuft organisiert ab und sieht obendrein auch noch großartig
aus. Das Geschmackserlebnis ist für jeden absolut und eindeutig, so wie es der Koch vorgibt.
In Indien ist alles anders: alles kommt auf einmal, nicht unbedingt schön präsentiert aber absolut
köstlich. Man isst mit den Fingern. Obwohl die Zutaten für alle gleich sind, schmeckt jeder etwas
anderes.
Wenn Sie nun das Candle-Night-Dinner und das indische Thali aus Marketing-Sicht betrachten,
finden Sie zwei gänzlich unterschiedliche Produkte vor.
Das westliche Menü ist ein vom Küchen-Chef definiertes Standard-Produkt, qualitätsgesichert und
reproduzierbar, Prozess-orientiert und so gut wie nicht an die Kundenbedürfnisse angepasst. In
Europa ist der Chef eben der Chef.
Im Gegensatz dazu repräsentiert das Thali die höchste Stufe der Kundenanpassung (=
Customization). Jede Produktausprägung ist einzigartig und individuell. Qualität heißt nichts
anderes als dem Kundenanspruch gerecht zu werden. Ein Thali hat für alle, die es essen eine
individuelle Qualität und ist damit der Inbegriff eines erfolgreichen indischen Produktes. In Indien
ist eben der Kunde König.
Viele Wahrheiten und ein ewiger Kreislauf
Dieser ausgeprägte Anspruch von Customization ist für westliche Unternehmer kaum zu verstehen.
Die Amerikaner haben die Massenproduktion erfunden und die Mitteleuropäer sind von ihren
eigenen Ingenieurswissenschaften und absoluten Qualitäts-Ansprüchen besessen.
„Wenn westliche Unternehmen glauben, ihre eigene Vorgehensweise sei die einzig richtige, dann
Fangen die Probleme an“, sagt Dr. Devdutt Pattnaik, Mythologe und Buchautor im Interview.
Denn hier beginnt bereits der Unterschied zwischen hinduistischen und westlichen, monotheistisch
geprägten Kulturen: Europäer sind geprägt von der Idee, dass es nur eine Wahrheit gibt – in der
Religion gilt das geschriebene Wort als wahr, und an die Gesetze muss sich Jeder halten. In Indien
hingegen gibt es viele Wahrheiten: Das Göttliche kann sich in verschiedenen Gottheiten
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Indovation: Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
manifestieren – je nachdem, ob gerade eine Göttin des Geldes oder ein Gott der Weisheit gebraucht
wird. Im Gegensatz zur „objektiven Wahrheit“ des Westens gibt es in Indien die „subjektive
Wahrheit: Hinduistische Mythen werden unterschiedlich interpretiert, jeder kann seine eigenen
Rückschlüsse ziehen.
Ampeln
und
Zebrastreifen
werden
ignoriert,
Motorradfahrer tragen keinen Helm, Rikschas fahren
gegen die Einbahn – und dennoch passieren nur
relativ wenige Unfälle. Westliche Kulturen vermeiden
Fehler, indem sie sich an Regeln halten, sagt
Mythologe Pattanaik. In Indien macht Jeder seine
Abbildung 6: Dr. Devdutt Pattnaik
(TED)
eigenen Regeln – und achtet, wachsam wie ein
Soldat, permanent auf sich und sein Umfeld. Das
sehen Sie auch am Straßenverkehr. Es macht den Anschein, die dass alle Verkehrsteilnehmer in
enger Kommunikation mit den anderen Fahrern stehen. Sie stimmen sich sekündlich durch
Blickkontakt aber auch das für uns nervige Gehupe ab – und reagieren dann blitzschnell auf die
Ergebnisse der Abstimmung. Auf westliche Beobachter mag dieser Ameisenhaufen aus Individuen
chaotisch wirken – für Inder macht er Sinn.
„Entsprechend befindet sich unsere Welt in konstantem Wandel“, sagt Pattanaik: „Und deswegen
planen wir so ungern - im starkem Gegensatz zu planungsverliebten Managern aus dem deutschen
Sprachraum. Hintergrund (dieser indischen Eigenheit) ist der grundsätzliche Gedanke, dass jede
Situation bestimmt wird durch den Menschen und sein Umfeld“ so Pattanaik: „Beide beeinflussen
einander.“ So erschafft jeder Kunde in Indien seine eigene Wahrheit – basierend auf dem, was er
erlebt und gehört hat. Was der Kunde gestern noch wollte, kann heute schon wieder ganz anders
sein. Es hat sich ja möglicherweise das Umfeld verändert.
Wer in Indien Geschäfte machen möchte, sollte dies entsprechend im Hinterkopf halten – und sich
auf eine vollkommen andere Denkweise einstellen.
Mythen und Werte im Vergleich
Die Europäische Kultur und unser heutiges Wertesystem entwickelten sich aus der griechischen und
römischen Antike und wurden ganz wesentlich durch das Christentum geprägt. Die abendländische
Tradition Europas fußt auf der Annahme von Linearität, Logik, Ratio und Evolution. In den großen
europäischen Epen ging es immer um einen wagemutigen Helden, der in seinem (meist) kurzen
Leben eine heroische Mission zu erledigen hatte: Achilles, Odysseus oder Aeneas bis hin zu
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Indovation: Die Indische Kultur verstehen und Geschäfte machen
historisch belegbaren „Helden“ wie Alexander den Großen - und wenn Sie so wollen auch Jesus.
Selbst Hollywood Blockbuster basieren immer auf einer Heldenfigur - von Batman bis Terminator.
In Indien geht es weder in den alten Mythen noch in den neuesten Bollywood-Streifen um den
großartigen Weltretter. Es geht im weitesten Sinne immer um Tod und Wiedergeburt, Karma und
Dharma (Pflichterfüllung), Glück und Leid, die Ergebnisse der guten und der schlechten Taten
sowie Opferbereitschaft und die Liebe zur Familie. Schon das erste indische Epos, das
Mahabharata, war ein Familien-Drama. Im weitesten Sinne hat sich bis zum heutigen Tage daran
nichts geändert. Sehen Sie sich einfach einen Bollywood-Film an.
So wie die westliche Kultur überwiegend linear, monochron (einzelne Arbeitsschritte erfolgen
nacheinander), eindeutig (richtig/falsch), logisch und standardisiert sowie Prozess-orientiert ist, ist
im Gegensatz dazu die indische Kultur zyklisch/polychron (mehrerer Handlungen laufen
nebeneinander, ohne zwingende Einhaltung eines Zeit- oder Ablaufplans), kontextuell (es kommt
drauf an), beziehungsorientiert und vor allem mehrdeutig.
Das äußert sich natürlich auch im jeweiligen Geschäftsleben und im Verhalten der Kunden.
Während wir Kunden segmentieren, Produkte positionieren, Prozesse einführen und optimieren,
Strategien vorgeben, Strukturen schaffen, detaillierte Pläne erstellen und überwachen, verhalten
sich die Dinge in Indien wesentlich dynamischer. Was gestern noch galt, ist heute schon wieder
anders – immerhin haben sich ja in der Zwischenzeit die Rahmenbedingungen geändert. Vielleicht
liegt es auch einfach nur daran, dass der Hinduismus keine (zehn) Gebote kennt, nach denen sich
die Menschen zu orientieren haben.
Vergessen Sie alles was Sie bisher über Marketing gelernt haben. Indien tickt nach anderen Regeln!
23
Indovation: Über Kunden und Märkte
Über Kunden und Märkte
Nachdem wir uns im ersten Teil des Buches mit der indischen Gesellschaft und Wirtschaft im
Allgemeinen auseinander gesetzt haben, wollen wir unsere Aufmerksamkeit nun auf Kunden und
Märkte richten.
Um Ihre Geschäftspotentiale in Indien besser einschätzen zu können, sollten wir die letzten
Jahrzehnte der globalen wirtschaftlichen Entwicklung in Bezug auf Indien Revue passieren lassen.
Dann werden Sie sehen, wo Indien technologisch steht und welche Produkte dort heute überhaupt
gefragt sind.
Indien übernimmt Innovationsführerschaft
Eine Betrachtung der letzten fünfzig Jahre in vier Akten und ein Ausblick in die Zukunft.
Globalisierung
Wenn wir das letzte Jahrhundert betrachten, gingen Innovationen und deren Vermarktung immer
von der westlichen Welt aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die europäischen und
amerikanischen Volkswirtschaften gut zu tun, die enorme Binnennachfrage zu stillen. Erst nach den
ersten wirtschaftlichen Stagnationserscheinungen sahen sich die Unternehmen nach neuen
Absatzmärkten um. Dort wo die Kundenbedürfnisse ähnlich waren, konnten sie ihre Produkte
ebenfalls vertreiben. Die USA exportierte nach Japan und Europa. Die westeuropäischen
Unternehmen expandierten nach der Öffnung nach Osteuropa. Es entstanden multinationale
Konzerne, die Globalisierung nahm Fahrt auf.
In Indien waren solche Export-Produkte nur sehr begrenzt erfolgreich. Bis 1991 Jahre war der
indische Markt sogar geschlossen und es war sehr schwierig Waren einzuführen. Es durfte nur
importiert werden, was von der Regierung genehmigt wurde – meist Hoch-Technologie im
industriellen Bereich. Mit der wirtschaftlichen Öffnung wurden dann auch langsam westliche
Luxusgüter und Markenprodukte eingeführt. All das war natürlich nur für eine Einkommens-starke
Elite leistbar, vielleicht zwei Prozent der Bevölkerung.
Localisation & Glocalization
Ab der Jahrtausend-Wende gewann die wirtschaftliche Entwicklung in Indien an Dynamik. Damals
entstanden zum ersten Mal im großen Stil Jobs in der organisierten Privatwirtschaft und damit
Einkommen für vergleichsweise viele Menschen. Befeuert durch die entstehende neue Mittelklasse
wuchsen auch die Nachfrage und der private Konsum. Diese Chance wollten sich die westlichen
24
Indovation: Indien übernimmt Innovationsführerschaft
Unternehmen natürlich nicht entgehen lassen. Um für die breite Masse attraktiver zu werden und
höhere Marktanteile zu erzielen, versuchten internationale Unternehmen ihre Produkte an die
Bedürfnisse des neuen Zielmarkts anzupassen. Für den indischen Markt musste allerdings ziemlich
viel angepasst werden. Zu unterschiedlich sind die Konsumbedürfnisse und Preisvorstellungen hier
und dort.
Abbildung 7: McDonalds Speisekarte in
Zum Beispiel hat McDonalds für Indien eine komplett andere Speisekarte entwickelt - ohne
Rindfleisch dafür mit vielen vegetarischen Gerichten und einem Delivery-Service. Heute gibt es
sogar schon Fastfood-Filialen, die ganz ohne Fleisch auskommen. Aber auch in den „gemischten“
Filialen werden die Non-Veg Gerichte zumindest in eigenen abgeschlossenen Küchen zubereitet.
Etwas anderes ist den streng vegetarischen Kunden in Indien nicht zuzumuten.
Die meisten globalen Unternehmen, die in Indien aktiv sind, haben mittlerweile recht gut gelernt
ihre Produkte und Dienstleistungen auf den indischen Markt abzustimmen. Die Produktentwicklung
unterliegt eher einer Evolution, denn einer Revolution.
Erfolgreiche Beispiele finden Sie unter anderem in der Automobil-Industrie, wo japanische
(Suzuki-Maruti) und koreanische (insbesondere Hyundai) Unternehmen den indischen KleinwagenMarkt (5.000 bis 8.000 EUR) aufmischen. Auf jeden neu verkauften Volkswagen kommen
mindestens zehn Hyundais.
Die deutschen Automobilanbieter sind nicht nur teurer als die asiatische Konkurrenz – sie haben
ganz einfach (noch) keine ideale Lösung für den indischen Markt! Der deutsche Polo kommt bei
den sonst so germanophilen Indern absolut nicht an. Wahrscheinlich liegt es am überwiegend – und
vielleicht auch an den traditionell weniger dynamischen Strukturen deutscher Konzerne. Am
Beispiel Volkswagen sieht man auch sehr gut, dass ein Markterfolg in China noch lange keinen
Vorteil in Indien garantiert.
25
Indovation: Indien übernimmt Innovationsführerschaft
Europäer haben auf diesem Markt gegenüber den Asiaten fast immer das Nachsehen. Wie zum
Beispiel bei Haushaltsgeräten. LG und Samsung verstehen die indischen Kunden und bringen
attraktive Produkte auf den indischen Markt, die sich wie die warmen Semmeln verkaufen. Geräte
von Philips, Siemens oder Bosch sind dagegen in Indien unattraktive, teure Ladenhüter.
Lokale Innovation
Nach diesen Beispielen von erfolgreicher Glocalization, also Produkt-Anpassung internationaler
Unternehmen für den indischen Markt, möchte ich Ihnen nun ein Beispiel dafür geben, dass in
gewissen Branchen die besten indischen Unternehmen heute den Europäern, Amerikanern, Japanern
und Koreanern in ihrem Heimatmarkt sogar ein gutes Stück weit voraus sind. Als indische
Organisationen verstehen sie die indischen Kunden natürlich einfach noch besser und können deren
Probleme effizienter lösen als andere Konzerne. Sie produzieren revolutionäre Produkte, zu
wesentlich günstigeren Preisen. Von den indischen Branchen-Führern können Sie sich mit
Sicherheit einiges abschauen.
In Indien sind die nominalen Einkommen – auch der Middle Class – wesentlich geringer als die
Einkommen der Mittelklasse in Europa. Daher kommt der kleine Mann für importierte wie auch
lokal angepasste Produkte auf Grund des Preises als Käufer nicht in Frage. Trotzdem strebt heute
jeder Inder nach einem Individualverkehrsmittel (Auto oder Moped), einem Smartphone, nach
Haushaltgeräten oder Healthcare-Services. Um den Massenmarkt zu gewinnen, reicht bloße
Glocalization heute nicht mehr aus – vielmehr können nur technologische Quantensprünge und
bahnbrechende Innovationen in Entwicklung und Produktion, im Geschäftsmodell und im Vertrieb
den Weg zum indischen Kunden ebnen. Produkte müssen nicht lediglich angepasst, sondern für
den indischen Markt absolut maßgeschneidert werden –
funktional und preislich.
Indische Innovations-Prozesse führten beispielsweise zum
weltweit billigsten Auto, dem Tata Nano, der umgerechnet
nicht einmal 2.000 Euro kostet. Vielleicht haben Sie auch
schon von Aakash, dem von Indiens Regierung zu
Bildungszwecken ins Leben gerufenen billigsten Tablet-PC
(USD 50) der Welt, gehört..?
Abbildung 8: Tata Nano, das
billigste Auto der Welt
Indische Handy-Produzenten á la Micromax trafen mit
zahlreichen Bollywood-Features, Musik und vorinstallierten nützlichen Programme, extra-langer
Akku-Laufzeit, hoher Robustheit (Hitze, Staub, Regen), Dual-SIM und integrierter Taschenlampe
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Indovation: Indien übernimmt Innovationsführerschaft
genau den Geschmack ihrer Kunden. Zudem waren diese indischen Handys für Analphabeten und
Non-English-Speakers benutzerfreundlicher als die klassischen Nokias - und obendrein noch
billiger.
Abbildung 9: Micromax sucht Verleich mit dem iPhone
Aber auch im Healthcare-Bereich kann Indien mit einigen wirklich beeindruckenden Innovationen
aufwarten. So wurden in den letzten 36 Jahren in Südindien in den Aravind Eye Care Hospitals fast
vier Millionen Augenoperationen durchgeführt. Durch extreme Optimierung, Prozess-Innovationen
unter Beibehaltung von hohen Qualitäts-Standards können Operationen so kostengünstig
durchgeführt werden, dass diese selbst für die Ärmsten erschwinglich sind.
Auch deutsche Technologie-Konzerne á la Siemens investieren seit Jahren Millionen in Forschung
und Entwicklung von so genannten low-cost / high-quality Produkten für die Emerging Markets. So
arbeiten in Indien hunderte Siemens-Ingenieure an über vierzig Produkt-Innovationen, von
solarbetriebene Röntgen-Maschinen, Herz-Monitoren für Neugeborene, Dampfturbinen und vielen
mehr. Selbst Konzern-Chef Peter Löscher erklärte in einem FT-Interview während seines IndienBesuchs im Jahre 2010 „... diese Produkte erfordern eine andere Art von Innovation. Was hier
zählt, ist die Einfachheit, nicht Perfektion.“
Zahlreiche Gastautoren gehen im Kapitel Fehler: Referenz nicht gefunden auf erfolgreiche
Innovationen aus Indien (Indovationen) ein. Lesen Sie auch dort rein.
Reverse Innovation
Im Jahre 2009 erschien im Harvard Business Review der Artikel „How GE Is Disrupting Itself“.
GE-Chef Jeffrey Immelt und Vijay Govindarajan sowie Chris Trimble von der Tuck School of
Business am Dartmouth College beschrieben zwei Produkte - ein 1.000 US Dollar Handheld EKGGerät und ein tragbares Ultraschall-Gerät für weniger als 15.000 US Dollar - als revolutionär. Die
Geräte waren klein und äußerst kostengünstig und ursprünglich für die Märkte in den
Schwellenländern entwickelt, dann aber auch in den USA verkauft worden. Damit fand der Begriff
27
Indovation: Indien übernimmt Innovationsführerschaft
„Reverse Innovation“ Eingang in die Wirtschaftswissenschaften und beschreibt wie lokale
Innovationen - zum Beispiel aus Indien - auch Anwendung im Westen finden.
Video-Tipp!
Vijay Govindarajan spricht auf der TEDxBigApple über Reverse- & Frugal Innovation und wie Produkte aus
den Emerging Economies auch die entwickelten Märkte verändern. Auch dieser TED Talk verspricht
einzigartige
Einblicke
in
die
Innovationen
Indiens
und
deren
Anwendung
im
Westen:
http://www.youtube.com/watch?v=ztna1lt_LZE
Indien hat ideale Voraussetzungen dafür, die nächste industrielle Revolution auszulösen. Indische
Firmen finden im eigenen Land genug Probleme und Kundenbedürfnisse vor, welche einzigartige
und
ganz
neuartige
Lösungen
verlangen,
insbesondere
in
der
Energieversorgung,
Telekommunikation, Mobilität oder im Gesundheitswesen. Indische Produktinnovationen werden in
Zukunft auch im Westen reüssieren, womit sich schlussendlich die Globalisierung umdreht.
Das ist aber nicht nur Zukunftsmusik oder ein Zufallstreffer von GE, sondern es passiert bereits
häufig. Tata überlegt, seinen Nano als verbessertes (Upgrade) Elektroauto in Europa auf den Markt
zu bringen. Die Grameen Bank von Nobelpreisträger Prof. Yunus bietet Mikrokredite in New York
City an.
Volkswagen strebt nach letzten Informationen die Gründung einer neuen Billigmarke bis Mitte
2015 an. Der Konzern habe einen konkreten Fahrplan für drei sogenannte Low-Budget-Modelle.
Demnach könnten die Varianten Limousine, Kombi und Mini-Van in drei Jahren zu Preisen
zwischen 6000 und 8000 Euro auf den Markt kommen, auch in Europa.
Die Zahl der Autobesitzer in Indien wächst rasant. Damit entwickeln sich zugleich auch der
gesamte Markt sowie seine Zulieferindustrien. Die Entwicklung verbesserter Motoren und eine
immer
schärfere
Gesetzgebung
schaffen
Bedarf
für
Test-Dienstleistungen
rund
um
Abgasuntersuchungen und Kraftstoffverbrauch.
Das österreichische Unternehmen AVL List GmbH ist weltweit Marktführer im Bereich Simulation
und Prüftechnik für Antriebssysteme. Typischerweise verkaufte die AVL ihre hoch-funktionellen
Prüfbänke und Mess-Anlagen in die klassischen Automotive-Märkte Europa, die USA sowie Japan.
Ursprünglich versuchte das Grazer Unternehmen die gleichen Anlagen auch in Indien einzuführen –
vergeblich. Obwohl die indischen Fahrzeug- und Motorenbauer auch keine mittellosen Amateure
sind, waren die AVL Produkte für Indien viel zu teuer. Die AVL musste einen Weg finden, die
Kosten für Fahrzeug-Tests in Indien auf gut die Hälfte zu reduzieren. In der indischen
Niederlassung in Gurgaon entwickelten die österreichischen Ingenieure gemeinsam mit ihren
indischen Kollegen ein viel billigeres und leicht zu bedienendes System, das schnellere Testabläufe
28
Indovation: Indien übernimmt Innovationsführerschaft
ermöglicht und gleichzeitig weniger Serviceaufwand benötigt. Diese Art von Innovationen ist für
Indien notwendig. Denn Einfachheit und Kostenersparnis sind die kritischen Determinanten für den
Wachstumsmarkt. Natürlich kann die AVL ihre indischen Entwicklungen nun auch in anderen
Märkten der Welt nutzen.
Das sind einige konkrete Beispiele für erfolgreiche Reverse Innovation. Im letzten Abschnitt des
Buches (Gastbeiträge) finden Sie weitere Fallstudien zu Reverse Innovation, zum Beispiel in
Fehler: Referenz nicht gefunden von Dr. Wido Menhardt, CEO Philips Innovation Campus
Bangalore.
Ich bin jedenfalls überzeugt, dass wir in Europa in den kommenden Jahren viele Produkte aus
Indien sehen werden. So wie uns heute schon die Namen der indischen IT-Dienstleister Infosys,
Wipro oder TCS geläufig sind, werden wir in Zukunft zahlreiche indische Brands in Europa finden.
In der IT-Branche ist die Welt naturgemäß etwas flacher. Indische Software-Produkte á la inMobi
oder Zoho gehören schon zu den Besten und Erfolgreichsten ihrer Kategorie und werden weltweit
von Millionen Benutzern verwendet.
Westliche Unternehmen müssen langsam (oder auch sehr bald) diesen Paradigmenwechsel
akzeptieren. Die Welt hat sich verändert. Heute kommen bahnbrechende Innovationen auch aus den
Entwicklungsländern. Unser Technologie-Vorsprung schmilzt wie ein Gletscher im Sommer.
Während wir noch versuchen, den Lebenszyklus unserer bestehenden Produktlinien zu verlängern,
in dem wir sie in Indien anbieten, greifen uns die Inder mit ihren neuesten Innovationen in unseren
eigenen Heimat-Märkten an.
Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass die Inder auf Ihre Produkte warten. Um am indischen
Markt Erfolg zu haben, müssen Sie ein paar richtig intelligente Produkte entwickeln.
Haben Ihnen die ersten Seiten dieses Buches gefallen?
Ja, dann kaufen Sie die Vollversion auf
http://www.indische-
wirtschaft.de/index.php/download-ebook
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Indovation: Über den Autor
Über den Autor
Wolfgang Bergthaler ist Blogger, Berater und Unternehmer.
Er arbeitet seit 2004 mit/in Indien. Er verbindet sein Wissen über die indische Kultur und
Geschäftsmentalität mit profunder Marktkenntnis und seinem betriebswirtschaftlichen und
technischen Hintergrund.
Sein Beratungsschwerpunkt liegt auf Innovation und Produktentwicklung für den indischen Markt
sowie Business Development von Technologie-Produkten und Dienstleistungen.
Auf www.indische-wirtschaft.de schreibt er täglich über den Wachstumsmarkt in Südasien und
seinen Möglichkeiten und Eigenheiten.
www.indische-wirtschaft.de - das Online Medium zum Wachstumsmarkt
Wolfgang Bergthaler
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