Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV

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Heft 2
Jahrgang 31
Herbst 2014
Zeitschrift des deutsch-indischen Dialogs
Deutsch-Indische Beziehungen im Wandel · Wahl in Indien · Sozial- und
umweltverträgliches Reisen · Wasser als Instrument der Macht · Filmrezension: „Translated Lives“ · Gedicht · Erzählung · Seminarbericht · Buchinfo · etc.
I I N H A LT I
Herausgeber
Diözesan-Caritasverband
für das Erzbistum Köln e.V.
Abteilung Integration und Migration
Georgstr. 7, 50676 Köln
Tel. 0221/2010-287
www.caritasnet.de
Vertreter des Herausgebers:
Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV
E-Mail: heinz.mueller@caritasnet.de
Redaktion:
Jose Punnamparambil (verantwortlich),
Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224 / 7 53 17
E-Mail: punnam@t-online.de
Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln,
Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: tchakkiath@yahoo.de
Editorial ....................................................................................................................... 3
Die deutsch-indischen Beziehungen im Wandel ..................................................... 4
Dr. Hans-Georg Wieck
Wahlslogan 2004: „Strahlendes Indien“;
Wahlslogan 2014: „Bessere Zeiten sind in Sicht“.................................................... 9
Gopal Kripalani
Bankkonten für jedermann – mehr als ein PR-Erfolg? ........................................11
Georgy Koottummel
50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln .............................................13
Jose Punnamparambil
Auszeichnung der DIG-Bonn/Köln für das Lebenswerk von:..............................16
Jose Punnamparambil, Dr. Hem Chandra Jha; Dr. med. Nabendu Sircar;
Dr. Amaresh Gupta und Prof. Dr.Jürgen Ernst
Nisa Punnamparambil,
Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224/9897690;
E-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de
Die Qual der Wahl......................................................................................................18
Jana Koshy, Bielefeld
Email: j.koshy@gmx.de
Kabani – sozial- und umweltverträgliches Reisen .................................................21
Georgy Koottummel, Dürener Str. 12,
53332 Bornheim, Email: koottummel@web.de
Indorama.....................................................................................................................24
Redaktionelle Mitarbeit:
Walter Meister, Öhringen
Wasser als Instrument himmlischer und irdischer Macht in Indien.................... 26
Unterstützung und Beratung:
Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel,
Berlin; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien;
Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen;
Pfarrer Dariusz Glowacki, Königswinter;
Dr. Claudia Warning, Lohmar
Gestaltung und Satz:
Alexander Schmid, Nohn
Layout:
Jose Punnamparambil; Jose Ukken
Herstellung und Vertrieb:
Jose Ukken, Im Rheingarten 21,
53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49;
E-Mail: joseukken@googlemail.com
Druck:
Siebengebirgs-Druck,
Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef
Erscheinungsweise: dreimal jährlich
Eine Spende von mindestens 13 Euro
wird von den Lesern erwartet.
Konto-Nr.: 106 3205,
Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00),
Diözesan-Caritasverband Köln
IBAN: DE08 370 205 000 001 063 205
BIC: BFSWDE33XXX
Titelbild
Indische Weihnachten
(Schw. Claire, siehe S. 20 und S. 54)
Rückseite
Ein Derwish in Ajmer (Foto: Walter Meister)
2 MEINE WELT 2/2014
Dr. George Arickal
Nisa Punnamparambil-Wolf
A. Khaliq Kaifi
Gisela-Bonn-Preis 2014 geht an Rainer Hörig ......................................................29
In meinen Gesängen gibt es Salz (Gedicht) ...........................................................31
O. N. V. Kurup
Coalgate – der oberste indische Gerichtshof hat entschieden .............................32
Georgy Koottummel
Kölner Indienwoche 2014 .........................................................................................33
Dr. Julius Reubke
Der positive Umgang mit dem „Anderen“.............................................................34
Ludwig Ring-Eifel
Tribals zerrissen von Religion ..................................................................................35
Griechische und indische Epen der Antike: Geniale Kopfgeburten ...................36
Gopal Kripalani
Tanslated Lives (Filmrezension)...............................................................................38
Jana Koshy
Eine Filmemacherin auf den Spuren von Migranten in Deutschland .................40
Jana Koshy
Das siebte Haus (Erzählung) ...................................................................................42
R. K. Narayan
Frauen und Gewalt in Indien ...................................................................................47
Jana Koshy
Christliche Kunst von Schwester Claire ..................................................................54
I EDITORIAL I
Die Deutsch-Indische Gesellschaft
und die indische Diaspora
Die Deutsch-Indische Gesellschaft
(DIG) ist eine der mitgliedsstärksten
und aktivsten bilateralen Freundschaftsorganisationen in Deutschland.
Gegründet 1953 hat die DIG heute
33 Zweiggesellschaften mit über
3 500 Mitgliedern, zerstreut über die
ganze Bundesrepublik. Durch ihre
zahlreichen Kultur- und Informationsveranstaltungen hat die DIG über
die Jahre den Diaspora-Indern das
aktuelle Indien erlebbar gemacht und
die Verständigungsgrundlage für ein
friedliches und freundschaftliches
Zusammenleben mit den Deutschen
geschaffen. Nach 61 Jahren seit ihrer
Gründung ist deshalb die DeutschIndische Gesellschaft heute ein fester
Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der kleinen indischen Diaspora
hier.
Zwei der großen und aktivsten Zweiggesellschaften der DIG haben neulich
ihr Jubiläum gefeiert. Die DIG-Köln/
Bonn hat ihr 50-jähriges Jubiläum am
11.10.14 im Brückenforum Bonn gefeiert. Die Geschichte der Entwicklung
der DIG-Bonn/Köln sowie Informationen über die Jubiläumsveranstaltung
haben wir anderswo in diesem Heft
abgedruckt. Die DIG-Aachen, eine der
Spitzenreiter bei Mitgliederzahl (zur
Zeit 400) und Veranstaltungen unter
den Zweiggesellschaften hat auch ihr
25-jähriges Jubiläum am 27.09.14 im
Aachener Rathaus gefeiert. Hierüber
haben wir auch einen Kurzbericht in
diesem Heft abgedruckt.
In den Anfangsjahren stellten die indischen Akademiker, die in den 1950er
und 1960er Jahren zwecks Studium
nach Deutschland kamen und sich
später hier niedergelassen haben,
die große Mehrheit der Mitglieder
der DIG. Auch viele Deutsche, die in
enger Verbindung zu Indien standen
(Diplomaten, Indologen, etc.), unter-
stützten die Aktivitäten der DIG sehr
stark. So hatte das Programmangebot
der DIG immer eine gehobene, elitäre
Ausrichtung. Es war deshalb zielgruppengerecht und zeitgemäß, dass die
Gesellschaft in den 1980er und 1990er
Jahren den Programmschwerpunkt
auf klassischen indischen Tanz und
klassische indische Musik legte. Ergänzend wurden auch andere Programme
wie Vorträge, Podiumsdiskussionen,
Kino-Filme etc. angeboten.
Diese erste Generation der Inder und
deren deutsche Freunde, die aktiv im
Rahmen der DIG gearbeitet haben,
befinden sich altersbedingt auf dem
Weg in den Ruhestand. Ihre Zahl wird
immer geringer, eine Tatsache, die man
bei Jahresversammlungen feststellen
kann. Leider hat die DIG aber es noch
nicht geschafft, die neue Generation
der hier geborenen Inder/Inderinnen
und die Neuankömmlinge aus Indien
an der Arbeit der DIG zu interessieren.
Laut Statistik gibt es zur Zeit 67 481
indische Staatsbürger und über 42 000
deutsche Staatsbürger indischer Abstammung in Deutschland. Unter
den indischen Staatsbürgern gibt es
eine Vielzahl von IT Fachleuten und
Professionals. Alleine die Zahl von
Studenten beträgt heute über 7 000.
Dazu kommen Beschäftigte bei den
mehr als 120 Vertretungen der indischer Wirtschaft in Deutschland. Es
ist anzunehmen, dass viele der indischen Studenten und IT-Professionals
langfristig in Deutschland bleiben, da
sie wegen des Fachkräftemangels hier
dringend gebraucht werden. Diese
Inder zusammen mit denen, die hier
den Eltern der ersten Generation der
indischen Einwanderer geboren und
hier aufgewachsen sind, bilden heute
den Kern der neuen indischen Diaspora in Deutschland. Ihnen zu dienen,
ihren Bedürfnissen und Erwartungen
entsprechend ein Programmangebot
zu machen, brauchen wir eine etwas
andere DIG, als dies heute der Fall
ist. Eine Umgestaltung des Vereins ist
daher das Gebot der Stunde.
Um langfristig wirksame größere, zukunftsträchtige Projekte zu realisieren,
braucht die DIG Zugang zu entsprechend hohen Fördermitteln, was heute
nicht der Fall ist. Projekte wie Förderung indischer Regionalliteraturen und
Sprachen in Deutschland sowie erweiterter Schüler- und Studentenaustausch
werden die Schnittmenge der Verständigung zwischen den Deutschen
und Indern erweitern, die natürlich
den existierenden deutsch-indischen
Beziehungen neue Substanz verleihen
werden. Hier zu investieren ist eine
Investition in die Zukunft.
Die indische Diaspora in Deutschland
ist verhältnismäßig wohlhabend. Es
wird ihr nicht wehtun, wenn sie die
enorm wichtige zivilgesellschaftliche
Arbeit der Freundschaftsorganisationen wie die Deutsch-Indische Gesellschaft mit einem kleinen Teil ihrer
Ersparnisse unterstützen. Sie können
vermehrt Mitglieder des Vereins werden, als Sponsoren für Projekte auftreten und einfach die Aktivitäten der
Gesellschaft mit großzügigen Spenden
unterstützen. Auch die indischen Firmen, die in Deutschland vertreten sind,
sowie die große Zahl der deutschen
Firmen, die in Indien tätig sind, sollten
zunehmend bereit sein, für sinnvolle
Projekte der Vereine wie die DIG
Fördermittel zu Verfügung zu stellen.
Die Dividenden eines solchen Engagements kommen für alle Beteiligten
zweifellos zurück.
Herzlichst Ihr
J O S E P U N N A M PA R A M B I L
MEINE WELT 2/2014 3
I POLITIK I
Die deutsch-indischen
Beziehungen im Wandel
DR. HANS-GEORG WIECK
Indien nahm diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland 1952 auf. Wie haben sich diese
Beziehungen davor und danach entwickelt? Dr. Hans-Georg Wieck, ehemaliger Botschafter Deutschlands in Indien
und langjähriger Vorsitzender der
Deutsch-Indische Gesellschaft versucht
im folgenden Beitrag die Entwicklung
der deutsch-indischen Beziehung
nachzuzeichnen. Dieser Beitrag basiert auf dem Festvortrag, den Herr Dr.
Wieck anlässlich des 50-jährigen Gründungsjubiläums der Deutsch-Indischen
Gesellschaft, Bonn-Köln am 11.Oktober
2014 im Brückenforum Bonn gehalten
hat.
DIE REDAKTION
Die Modernisierung Indiens –
ein neuer Anlauf
Am 26. Mai gewann Narendra Modi mit
der Nationalen Volkspartei (BJP) und
seiner Koalition in überzeugender Weise
bei sehr hoher Wahlbeteiligung die Nationalwahlen zum Unterhaus – der Lok
Sabha. Große Erwartungen werden an
seinen Wahlsieg geknüpft.
Am 24. September trat das von Indien entwickelte, gebaute und in den Weltraum gestartete Raumfahrzeug seine Umlaufbahn
um den Mars-Planeten an und zieht neben
dem amerikanischen Raumfahrzeug seine
Bahnen um den roten Planeten. Neben
diesen beiden Ländern sind es Russland
und die Europäische Weltraumorganisation, die das erfolgreich geschafft haben.
China und Japan blieben bislang erfolglos.
Beflügelt von dieser von der indischen
Öffentlichkeit mit großem Enthusiasmus
verfolgten technischen Leistung lanciert
der neue Ministerpräsident seine an die
4 MEINE WELT 2/2014
Landsleute und an die ausländischen Investoren gerichtete wirtschaftspolitische
Kampagne „Make in India“ – eine Anspielung auf die Erfolgsgeschichte von
„Made in Germany“.
Modi verkündet einen neuen
wirtschaftlichen Aufbruch!
Der Weg zum Erfolg seiner wirtschaftspolitischen Ziele ist steil und voller Tücken.
Im globalen Zeitalter und der stürmischen
See, die mit Gegenströmungen aus dem
Lager der Kämpfer für den Freihandel und
dem der Schutzzoll-Apologeten in Unruhe
gehalten wird, ist es nicht leicht, Anteile
am Welthandel zu gewinnen.
Ein wirtschaftlicher Aufschwung muss alle
Teile des vielschichtigen Bevölkerungsprofils des Landes erreichen und von allen
Teilen des Landes und der Bevölkerung
mit erarbeitet werden. Die weiterhin finanziell unterstützte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland
und Indien hat daher als Förderer von
Innovation auf den Feldern der Überwindung der Armut in Indien, der Gestaltung
der Umweltpolitik und des Klimaschutzes
sowie bei der Förderung von kleinen und
mittleren Unternehmensgründungen vor
allem im ländlichen Raum weiterhin große
Bedeutung.
Erst die Öffnung der eigenen Märkte
wird die Industrieproduktion in Indien,
die 16 Prozent des Bruttoinlandprodukts
ausmacht, auf Weltniveau bringen können.
In sechs der sieben führenden Länder der
Welt (G7) kann China mit seiner Industrieproduktion auf 13 von 22 Produktfeldern
konkurrenzfähig am Markt mitwirken,
Indien nur auf einem Feld (Buntmetalle). In Deutschland ist die chinesische
Produktion nicht konkurrenzfähig, stellt
die Zeitschrift „Contemporary Economic
Dr. Hans-Georg Wieck
Policy“ im Jahre 2014 fest und fügt hinzu,
dass die deutsche Industrie erfolgreicher
als die anderen Industriestaaten auf dem
chinesischen Markt präsent ist.
Modi steht vor der Wahl, die eigene Industrie durch Schutzzölle zu fördern und
ihren Erfolg auf dem heimischen Markt
weiter zu entwickeln oder aber über die
Freihandelsabkommen, zum Beispiel mit
der Europäischen Union, über das seit langem verhandelt wird, aber auch über die
Abkommen der Welthandelsorganisation
– WTO – die eigenen Märkte zu öffnen
und dem internationalen Wettbewerb zu
stellen. Das bedeutet Modernisierung und
Beteiligung Indiens am globalen Wettbewerb. Es scheint, dass sich Modi für den
ersten Weg entschieden hat – zum Schaden
der Modernisierung der indischen Volkswirtschaft. Die von Modi angekündigte
Öffnung des Markts für internationale
Investitionen hat nur begrenzte Relevanz.
Der eindrucksvolle Wahlsieg von Narendra
Modi darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass nicht alles Gold ist, was glänzt:
Wegen des in Indien geltenden einfachen
Mehrheitswahlrechts kann eben eine Siegerpartei mit einem Stimmenanteil von
30 Prozent 280 Direktmandate von 543
Sitzen im Parlament gewinnen und die
Koalition insgesamt 340 Sitze, während
die Kongress-Partei, also die Verliererin
der Wahlen, mit einem Stimmenanteil
von 24 Prozent der abgegebenen Stimmen weniger als zehn Prozent der Sitze
im Unterhaus gewann. Die für die BJP
ungünstige Zusammensetzung des Oberhauses – Raja Sabha – kann erst im Jahre
2018 verändert werden. Narendra Modi
I POLITIK I
– belastet mit der Verantwortung für die
Pogrome gegen die Muslime in Gujarat im
Jahre 2002, hat Gujarat wirtschaftlich vorangebracht und eine weitgehend saubere
Verwaltung durchgesetzt. Anstrengungen
auf diesen beiden wichtigen Feldern der
Regierungsarbeit können wir auch als
Hauptpunkte seiner Regierungsarbeit in
New Delhi erwarten. Damit wäre schon
eine Menge gewonnen – aber es stehen
Entscheidungen über Reformen mit weitreichenden Folgen für das Land auf der
Tagesordnung, bei deren Umsetzung die
Bundesländer mitwirken müssen. In vielen
Länderparlamenten ist die Stellung der
BJP weit davon entfernt, dominant zu sein.
Narendra Modi wurde gewählt, weil sich
die Kongress-Koalition unter der unvermeidbaren, aber doch abträglichen Doppelführung von Sonja Gandhi und Manmohan Singh am Ende als ein Fehlschlag
erwiesen hat bzw. so im Lande gesehen
wird.
Vor dem Hintergrund der doch nicht so
günstigen Machtverhältnisse und dem
spezifischen Charakter der Führungspraktiken von Narendra Modi, dem ein
autoritärer und populistischer Führungsstil
nachgesagt wird und nicht die Bereitschaft
zu einer kooperativen Regierungsarbeit
mit verschiedenen wichtigen und unverzichtbaren Schwergewichten in politischer
und sachlicher Hinsicht, können wir eine
im wesentlichen pragmatische Regierungsarbeit mit guten Ergebnissen auf einzelnen Feldern der anstehenden Probleme
erwarten – aber nicht die Reform an Haupt
und Gliedern, die nach Auffassung vieler
Beobachter für Indien angezeigt ist.
Aufschwung für die deutschindischen Beziehungen
Der hier skizzierte und in allen Fachkreisen
erwartete Aufschwung in Indien – jedenfalls in einigen Bereichen - kann, ja wird
auch den deutsch-indischen Beziehungen
neue Impulse geben.
Vor dem Hintergrund der von der leidvollen Kolonialherrschaft geprägten Geschichte des südasiatischen Raums hat
sich gleichwohl eine enge Verknüpfung
des Landes und seiner Bewohner mit den
englischsprachigen Zivilisationen ergeben,
die sich in Millionen von Menschen mit
Wurzeln in Südasien widerspiegelt, die
heute in Großbritannien und den USA,
aber auch anderen englischsprachigen
Ländern leben oder dort ihre Berufsausbildung erhielten.
Die Verknüpfung Südasiens – nun also
Indien und Pakistan sowie von Bangladesch – mit dem deutschsprachigen Raum,
darunter mit Deutschland, beruht fast
ausschließlich auf Entscheidungen, die
sich für die Beteiligten nicht aus dem
„Mainstream“ des sozialen, beruflichen
und politischen Bewusstseins ergeben,
sondern aus jeweils besonderen sozialen,
wirtschaftlichen oder beruflichen Konstellationen. Der deutschsprachige Raum
Europas mag aus verschiedenen Gründen in den Ländern Südasiens ein hohes
Ansehen genießen. Er stellt aber in der
Regel schon aus sprachlichen, aber auch
aus gesellschaftlichen Gründen nicht die
erste Wahl im Falle von Ausbildung und
beruflicher Tätigkeit im Ausland dar. Die
große Mehrheit der heute in Deutschland
lebenden Menschen mit indischen Wurzeln kam in den fünfziger und sechziger
Jahren zum Studium oder zur Aufnahme
einer beruflichen Tätigkeit im gesundheitsdienstlichen Bereich nach Deutschland
und schlug hier Wurzeln.
Die Deutsch-Indische Gesellschaft, im Jahre 1953 in Stuttgart gegründet und heute
mit mehr als dreißig meist eigenständigen
Gesellschaften in allen Teilen des Landes
vertreten, ist ohne die Begegnung und Verständigung zwischen Deutschen und den
zu uns gekommenen und hier heimisch
gewordenen Menschen mit Wurzeln in
Südasien gar nicht denkbar.
Diese Form zivilgesellschaftlichen Engagements im Austausch mit anderen Kulturen bedarf neuer Impulse und neuer
Zuströme aus der Bevölkerung – sei es
auf Grund globaler Problemstellungen, sei
es im Wege der Interaktion im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich, in
Bereichen also, in denen mit gemeinsamen Handelskammern und Zentren für
Regionalstudien innerhalb und außerhalb
der Universitäten schon Einrichtungen
von gemeinsamem Interesse geschaffen
worden sind. In diesem Zusammenhang
dürfen die grenzüberschreitenden, von
gemeinsamen Glaubensinhalten gepräg-
ten Strukturen nicht übersehen werden,
die von den christlichen Kirchen getragen
und gefördert werden und Verbindungen
zwischen Menschen unterschiedlichen zivilisatorischen Hintergrunds schaffen, die
seit Jahrhunderten besonders im Schul-,
Bildungs- und Fürsorgebereich eine feste
Größe im indischen Erziehungs-, Bildungsund Fürsorgebereich geworden sind.
Ohne dass damit in jedem Fall Verlagerungen des Lebensmittelpunkts verbunden
waren, gibt es zwischen Deutschland und
Indien eine Jahrhunderte alte Verknüpfung zivilisatorischer Natur, die sich aus
der Begegnung der Kulturen entwickelt
hat – wie bei den Missionaren, die 1706
auf Geheiß des dänischen Königs aus den
vom aufgeklärten Pietismus geprägten
Franke‘schen Stiftungen in Halle aufbrachen, um in Tranquebar/Tamil Nadu,
einer dänischen Kolonie, den christlichen
Glauben zu verbreiten. Sie erlernten als
erstes die Landessprache, um mit den
Menschen ins Gespräch kommen zu
können. Protestantische Missionare aus
vielen Teilen Europas haben auf diesem
Wege viele der in Indien gesprochenen
Landessprachen erlernt, systematisiert
und in andere Sprachen übersetzt. So entstand ein wissenschaftliches Interesse am
Studium Südasiens und seiner Kulturen.
Das war die Geburtsstunde der deutschen
Indologie, die mit Max Müller, dem aus
Dessau stammenden Sanskrit-Gelehrten
in Oxford, weltweite Bedeutung und Anerkennung erfuhr.
Auf das sechzehnte Jahrhundert gehen
Handelsbeziehungen zurück, bei denen
die Fugger aus Augsburg eine große Rolle
spielten.
Dies alles ist bekannt. Es wird in Erinnerung gerufen, um zu erklären, dass
deutsch-indische Beziehungen sich nicht
aus dominierenden geschichtlichen und
politischen Prozessen ableiten, sondern
in spezifischen Konstellationen und Zusammenhängen aus Einzelimpulsen oder
besonderen wirtschaftlichen und sozialen
Anlässen entstanden sind und daher in
beiden Ländern – in Indien wie in Deutschland – in quantitativer Hinsicht von geringerer Bedeutung waren, sind und bleiben
werden, als etwa im Fall Indiens die Verknüpfungen mit der angelsächsischen Welt
MEINE WELT 2/2014 5
I POLITIK I
und im Falle Deutschlands die Vernetzung
mit der europäischen Nachbarschaft einschließlich Russlands, mit Nordamerika,
ja selbst mit China, das sich im Umgang
mit Europa vor allem auf die Vertiefung
der Beziehungen und des Austausches mit
Deutschland abstützt.
Im Jahre 2013 erreichte der fast ausgeglichene Handelsaustausch zwischen
Deutschland und China ein Volumen von
140 Mrd. Euro, der Austausch mit Indien
weniger als 20 Mrd. Euro – nämlich etwas
mehr als 16 Mrd. Euro. Damit mag es unter den EU-Mitgliedstaaten im Handel
mit Indien an erster Stelle stehen – aber
in der indischen Handelsbilanz steht es
nur an 8. bzw. 10. Stelle. Im chinesischen
Außenhandel nimmt Deutschland den
fünften Platz ein.
Seit Jahren wird im deutsch-indischen
Austausch die Marke von 20 Mrd. Euro
für den jährlichen Handelsaustausch angestrebt – bislang ohne Erfolg.
Es mangelt nicht an der organisatorischen
Infrastruktur für einen blühenden Handel:
Die Deutsch-Indische Handelskammer,
die schon über sechzig Jahren besteht,
hat etwa 7 000 Mitglieder – die mitgliederstärkste unter allen deutschen Auslandskammern mit Hauptsitz in Mumbai
und Verbindungsbüros in vielen Städten
in Indien, in Asien und in Deutschland.
Gelegentlich des Besuchs von Premierminister Manmohan Singh in Deutschland
– im Jahre 2013 – hieß es dann auch in
der deutschen Presse: „Deutschland von
Dynamik Indiens enttäuscht“.
Im Interesse der Beschleunigung der Modernisierung der indischen Industrie dürfte
vor allem der Abschluss des angestrebten Freihandelsabkommens zwischen der
Europäischen Union und Indien liegen.
Zölle und Handelshindernisse müssten im
Interesse von Innovation, Qualitätssteigerung und der Verbesserung von Ausbildung
und Infrastruktur abgebaut werden. Mit
verbessertem Wettbewerb wird auch die
Position der indischen Produkte auf den
Weltmärkten, einschließlich der wettbewerbsintensivsten wie in Europa, verbessert werden können.
Mit dieser Botschaft ist es nicht leicht, in
Indien Gehör zu finden und entsprechende
Folgemaßnahmen zu erreichen.
Treffen mit Indira Gandhi: der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte Indien 1983.
6 MEINE WELT 2/2014
Mit dem „West-östlichen Diwan“ hat
Goethe das Morgenland in das Kulturbewusstsein der Deutschen eingebracht.
Mit seiner Dichtung und seinen Besuchen
in Deutschland hat Rabindranath Tagore
sein indisch geprägtes Bild der Welt und
des Menschen wie auch des Universums
zu einem Bestandteil unserer Wahrnehmung der Welt und ihrer Kulturen werden
lassen. Mahatma Gandhi und Jawaharlal
Nehru, aber auch Subhas Chandra Bose
prägen im deutschsprachigen Raum die
deutsche Erinnerungskultur, die Wahrnehmung Südasiens, Indiens und des Unabhängigkeitskampfes gegen die britische
Vorherrschaft im vergangenen Jahrhundert - unterbrochen im Falle Deutschlands
von den tragischen Irrwegen Hitlers und
seiner Helfer.
In der Zeit der „Weimarer Republik“
(1919-1933) begleitete das politische
Deutschland das Ringen Indiens um seine nationale Unabhängigkeit mit großer
Sympathie. Die Kongress-Unabhängigkeitsbewegung unterhielt Informationsund Verbindungsbüros in Washington D.C.
und in Berlin. Im September 1942 aner-
I POLITIK I
kannten Berlin und Tokyo die nationale
Befreiungsbewegung von Subhas Chandra
Bose. Es war auch eine militärische Einheit
indischer Soldaten zusammengestellt worden (Indische Legion), die unter den britischen Kriegsgefangenen rekrutiert wurde
und die sich am Unabhängigkeitskampf
in Asien beteiligten sollte. Hitler lehnte
in Übereinstimmung mit seinem Weltbild
die Unterstützung der Unabhängigkeit
Indiens ab. Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru hatten keinerlei Vertrauen
zum Hitler-Regime.
1947 wurde Indien unabhängig – zusammen mit Pakistan. In dem besiegten
Deutschland wurden unter dem Vorbehalt
der Siegermächte und unter der Wirkung
des kurz nach dem Kriege aufbrechenden
Kalten Krieges im Jahre 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR
gebildet, letztere unter sowjetischer
– ebenso die Entwicklungskooperation
zwischen den beiden Ländern, für die das
Stahlwerk in Rourkela und die deutsche
Unterstützung bei der Errichtung der Technischen Universität in Madras (Chennai)
lange Zeit hindurch Symbolkraft hatten.
Ungeachtet anhaltenden politischen
Drucks hielt sich Indien an die Zusage,
die Premierminister Nehru bei seinem
ersten Deutschlandbesuch im Jahre 1956
gegeben hatte, den anderen Teil Deutschlands als zweiten Staat in Deutschland nur
mit Zustimmung der Bundesregierung
anzuerkennen und erst dann diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Mit dem
deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von
1972 wurde die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen
möglich. Folglich konnte auch Indien den
zweiten deutschen Staat in Deutschland
anerkennen und Botschafter austauschen.
Ungeachtet anhaltenden politischen Drucks hielt
sich Indien an die Zusage, die Premierminister Nehru
bei seinem ersten Deutschlandbesuch im Jahre 1956
gegeben hatte, den anderen Teil Deutschlands als
zweiten Staat in Deutschland nur mit Zustimmung
der Bundesregierung anzuerkennen und erst dann
diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
Anleitung – vor dem Hintergrund der
von der Sowjetunion verhängten BerlinBlockade in den Jahren 1948/49. Wenige
Jahre später – am 17. Juni 1953 – zwang
ein Volksaufstand das DDR-Regime in
die Knie. Die Sowjetunion stellte mit der
blutigen Unterwerfung des Aufstands das
sowjetisch gestützte Regime wieder her
und musste im Jahre 1961 eine Mauer
durch das geteilte Berlin errichten, um
die wachsende Flucht der Menschen aus
der DDR zu stoppen. Am 9. November
1989 fiel die Mauer als Ergebnis des friedlichen Aufstands der Bevölkerung gegen
das verhasste Regime.
Im Jahre 1952 nahmen die Bundesrepublik Deutschland und Indien diplomatische
Beziehungen auf. Handelsbeziehungen erreichten rasch ein bedeutendes Volumen
Mit den unter dem Namen „Max Müller-Bhavan“ eingerichteten Goethe-Instituten in Indien wurde das Spektrum
der politischen und der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit um die unverzichtbare
Dimension der kulturellen Kooperation
ergänzt. Später wurden diese Fragen in
einem Kulturabkommen kodifiziert (1969).
Die Zusammenarbeit auf den Feldern von
Forschung und Wissenschaft ist zu einem
bedeutenden Pfeiler der Beziehungen geworden und nimmt weiter an Bedeutung
und Gewicht zu.
Unter den Stipendiaten der HumboldtStiftung ist das indische Kontingent eines
der zahlenmäßig größten. In Indien besteht
seit 2012 eines der sechs weltweit errichteten „Deutschen Häuser für Wissenschaft
und Innovation.“
Heute spielt bei den
deutschen kulturellen
Aktivitäten in Indien der
Sprachunterricht an den
Goethe-Instituten und die
Förderung von indischen
Einrichtungen, in denen
Deutsch vermittelt wird,
die wichtigste Rolle.
Heute spielt bei den deutschen kulturellen
Aktivitäten in Indien der Sprachunterricht
an den Goethe-Instituten und die Förderung von indischen Einrichtungen, in denen Deutsch vermittelt wird, die wichtigste
Rolle. Dies geschieht beispielsweise im
Rahmen der nicht nur mit Indien, sondern
auch mit vielen anderen Ländern kooperierende Initiative „PASCH“ „Schulen –
Partner der Zukunft“. Die Nachfrage ist
groß - im Vergleich zur Vergangenheit-,
bleibt aber natürlich ein Randphänomen
in der indischen Wirklichkeit – aufs Ganze
betrachtet.
Mit einer indischen Schulkette ist die Ausbildung von indischen Schullehrern für
den Deutschunterricht vereinbart worden.
Entsprechende akademische Abschlüsse
können an indischen Hochschulen erworben werden. An den 1.000 Schulen dieser
„Schulkette“ soll Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden.
Es wird nicht bei diesem „Pilotprojekt“
bleiben.
Seit Jahren wächst auch der Schüleraustausch zwischen deutschen und indischen
Schulen. Indien gehört zu den Ländern, in
denen junge Deutsche in großer Zahl und
gerne nach dem eigenen Schulabschluss
ein Freiwilligenjahr absolvieren.
Von Zeit zu Zeit verdichten die beiden
Länder ihre kulturellen Aktivitäten zu
einem „Indien-Jahr in Deutschland“
und einem „Deutschlandjahr in Indien“
(„Deutschland und Indien 2011/12 – Unendliche Möglichkeiten“; „2012/13 „Days
of India – Connecting Cultures“).
Im Rahmen der Tätigkeit des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
MEINE WELT 2/2014 7
I POLITIK I
(DAAD) wird auch das Studium indischer
Studenten in Deutschland gefördert, ein
Bereich von großer Bedeutung für die
Zukunftsperspektiven in Kommunikation
und Zusammenarbeit. Seit einigen Jahren
wächst die Zahl indischer Studenten in
Deutschland und dürfte jetzt bei etwa 7000
liegen. Zum Anstieg hat gewiss der Umstand beigetragen, dass viele Studiengänge
heute auch in Deutschland auf Englisch
angeboten werden. Aus China kommt das
größte Kontingent ausländischer Studenten in Deutschland. Es sind jetzt jährlich
etwa 25 000 Studierende. Rund 200 000
ausländische Studenten sind heutzutage
jährlich an deutschen Universitäten immatrikuliert. In Indien studieren jährlich etwa
1 000 deutsche Studenten.
Bis zu den liberalen Wirtschaftsreformen
im Jahre 1992, d.h. bis zum Ende der Sowjetunion verfolgte Indien eine staatlich
gelenkte Wirtschafts- und Industriepolitik, die dem privaten Sektor mit dem
System der Bindung der Produktion an
staatliche Lizenzen enge Grenzen setzte.
In dieser Zeit wies die indische Regierung
das Ansinnen des berühmten deutschen
Wirtschaftsministers Ludwig Erhard nach
Durchführung einer Liberalisierung des
Wirtschaftsgeschehens schroff zurück.
Mit den Ländern des sowjetisch geführten Wirtschaftsblocks (RGW) bestanden
Handels- und Zahlungsabkommen auf der
Basis von Weichwährungen. Nach der Auflösung der Sowjetunion – ja schon vorher
– wurden auch in Indien die Außenwirtschaftsbeziehungen auf harte Währung
umgestellt. Die neue Wirtschaftspolitik,
die Indien in den Welthandel zurückführen sollte, begann mit einer erheblichen
Abwertung des Außenwerts der Rupie.
Die Mitwirkung am weltwirtschaftlichen
Geschehen war in der Wirtschaftspolitik
des Landes an die Stelle der Bindung an
den nun zusammengebrochenen sowjetisch geführten Wirtschaftsblock getreten.
Bilanz und Ausblick
Mit der „Agenda für die Deutsch-Indische
Partnerschaft im 21. Jahrhundert“, die im
Mai 2000 von den Außenministern der beiden Länder unterzeichnet wurde und die
regelmäßig mit Zusatzerklärungen „weiter
entwickelt wird“, dokumentieren beide
8 MEINE WELT 2/2014
Bundespräsident Johannes Rau streut Rosenblätter auf die Einäscherungsstätte Mahatma Gandhis
während seines Indienbesuchs im März 2003.
Länder die in Jahrzehnten gewachsene
Vertrauensgrundlage, auf der ihre Zusammenarbeit und ihr Wirken auch auf
der internationalen Bühne beruht, eine
Vertrauensgrundlage, die auch bei den
gemeinsamen Bemühungen um die Reform der Vereinten Nationen, vor allem
des UN-Sicherheitsrates sichtbar wird und
die schon wiederholt mit Initiativen zu
Rüstungskon-troll- und Abrüstungsfragen
weltweit gezeigt und bestätigt wurde. Die
bilaterale Agenda schließt auch strategische Fragen sowie den Verteidigungs- und
den Rüstungsbereich ein. Dabei kann nicht
übersehen werden, dass sich Deutschland
zur Überraschung der Inder mit der Ausfuhr von Rüstungsgut politisch sehr schwer
tut. In geostrategischen Fragen lässt sich
Indien von seiner Lage in der weltpolitischen Konstellation und der Relevanz des
eigenen nuklearen Abschreckungspotenzials in Krisensituationen und weniger von
einem Konzept der vernetzten Sicherheit
oder kollektiven Sicherheit leiten – Konzepten, die im Denken der Bundesrepublik
Deutschland großes Gewicht haben.
Die Zusammenarbeit beim Internationalen Krisenmanagement ist noch in den
Kinderschuhen, wird aber immer dringender – angesichts der Spannungen, die im
vorderasiatischen Raum mit immer neuen
Krisenherden aufgebrochen sind und auch
Rückwirkungen auf die innere Sicherheit
in Indien haben. Al Kaida hat zu Attentaten in Indien aufgerufen.
Deutschland und Indien sind Partner einer
besonderen Art. Diese Partnerschaft bedarf der ständigen Reflexion und Pflege, ja
Erneuerung. Sie beruht auf beiderseitigem
Vertrauen und entbehrt machtpolitischer
Zielsetzungen. In ihr spiegelt sich die Innovationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft und die globale Orientierung
und Vernetzung der deutschen Wirtschaft
wider. Auf dem Wege in eine sozial gerechte und wirtschaftlich auch global
konkurrenzfähige Zukunft sieht Indien
in Deutschland einen vertrauenswürdigen,
ja unverzichtbaren Weggefährten. j
I POLITIK I
Wahlslogan 2004:„Strahlendes Indien“
Wahlslogan 2014:„Bessere Zeiten sind in Sicht“
G O PA L K R I PA L A N I , B R A U N S C H W E I G
Einführung
2004, also vor 10 Jahren, regierte noch die
BJP in Indien. Vor den anstehenden Nationalwahlen gab sie den Marketing-Slogan
„Shining India“ heraus, um die Aufmerksamkeit der Weltwirtschaft auf die erfolgreich gedeihende Wirtschaft des Landes
zu lenken. Bei dem Weltirtschaftsforum in
Davos trat Indien als ein Wirtschafts-Held
auf. Aber die BJP verlor die Wahlen und
Indien wurde in den folgenden 10 Jahren
von der National Kongress Partei regiert.
Der Premierminister hieß Manmohan
Singh, ein brillanter Fachmann der Wirtschaftswissenschaften, der bei der LandesBankrottkrise 1991 als Finanzminister mit
genialen Reformen das Land gerettet hatte.
Singh ist auch ein gradliniger Politiker. In
einer Koalition mit vielen Splitterparteien
aus den Bundesländern konnte er seine
politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ziele nicht immer souverän
durchsetzen. Die Infrastruktur wurde noch
desolater, die Bürokratie wuchs hochgradig
und die Korruption in den Landes- und
Bundesbehörden nahm schädliche und
schändliche Formen an. Die Wirtschaftswachstumsraten sanken erheblich.
Bei den diesjährigen Nationalwahlen errang die BJP eine eindrucksvolle Mehrheit
und stellte die Regierung, geführt von dem
neuen Premierminister Narendra Modi.
BJPs neuer Slogan heißt „Achhe din anne
wale hain“ (Bessere Zeiten sind in Sicht).
Dazu kann man Modi und seiner Regierung nur das Allerbeste wünschen. Neben
den nicht wenigen eindrucksvollen Erfolgen liegen leider auch viele menschliche
Tragödien, die einer dringenden Lösung
bedürfen.
Als unmittelbarer Nachbar des mit diktatorischer Härte regierten China ist es
verständlich, dass Indien als „die größte
Demokratie der Welt“ einen gewissen
Stolz hegt. Dieser ist auch berechtigt, ist
Indien doch bevölkerungszahlenmäßig die
weltweit größte parlamentarische Demokratie mit freien Bürgerwahlen. Dieser
Essay befasst sich nicht vorwiegend mit
der ökonomischen Euphorie Indiens, die in
vielem lobenswert ist, aber auch behaftet
mit groben gesellschaftlich-moralischen
Defiziten. An einigen wenigen konkreten Beispielen sollen diese Mängel zur
Diskussion gestellt werden. Davor allerdings müssen wir anerkennen, dass es eine
100%ig vollendete Demokratie, gemessen an den Idealen der Aufklärung des
18. Jh. wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit,
Menschenrechte, Volkssouveränität etc.
nirgends in der Welt gibt. Auch wir in den
westlichen Ländern haben unsere Ärgernisse und Erschwernisse und bemühen uns
mehr oder minder aufrichtig, dem Leitbild
näher zu kommen.
Frauenerniedrigung
In einem Land, in dem die Hindu Religion
Gott bi-geschlechtlich, also als Mann und
als Frau darstellt, und tagtäglich millionenfach Göttinnen wie Durga, Kali, Gauri,
Ânnapurna etc. an den Hausaltären wie
in den öffentlichen Tempeln angebetet
werden, ist es beschämend, wie Frauen
im Alltag gedemütigt werden. Der Staat
macht Gesetze zum Schutz der Frauen,
setzt sie aber nicht konsequent durch. Da
über die bestialischen sog. Massenvergewaltigungen junger Frauen in den letzten
Jahren in Indien hinreichend berichtet und
kommentiert worden ist (auch in Meine
Welt Heft 3/Herbst 2013), wird hier darauf
nicht näher eingegangen. Zwei Bemerkungen sind dennoch wichtig. 2011 wurden
in Indien 24206 Frauenvergewaltigungen
polizeilich angezeigt (die Dunkelziffer mag
höher sein), davon ca. 85% warten immer
noch auf ein gerichtsfestes Urteil und nur
ca. ein Viertel der Männer bei den abgeschlossenen Fällen wurden verurteilt.
2012 sagte der Bollywood-Filmemacher
Mahesh Bhatt: „Shut all temples where
you pretend to worship the female form.
Cry India! Your hands are drenched with
the blood of your own daughters“.
Die Beispiele der Frauendiskriminierung
sind zahlreich. Die eklatantesten werden
im Folgenden in knapper Form erwähnt.
c Verheiratung Minderjähriger: Zwar
ist seit 1929 die Kinderheirat verboten,
wird aber immer noch bei ca. der Hälfte
der Frauen im Kindesalter praktiziert,
berichtet die UNESCO. Davon etwa ein
Drittel ca. 15jährig. Diese illegale Praxis
wird gesellschaftlich akzeptiert. Viele dieser Mädchen werden nach der Zwangsheirat gleich schwanger und sterben bei
der Geburt infolge der Unterernährung.
Laut Statistik sterben jedes Jahr alleine
im Bundesstaat Madhya Pradesh 68 000
Frauen in gebärfähigem Alter.
c Abtreibung weiblicher Föten: Seitdem in Indien Ultraschallgeräte zur Erkennung des Kindesgeschlechts während
der Schwangerschaft eingesetzt werden,
werden erheblich weniger Mädchen geboren. Die schwangeren Frauen werden
von ihren Familien zu Ultraschalluntersuchung gezwungen. Familien wollen Söhne
haben, die später bei Hochzeiten reiche
MEINE WELT 2/2014 9
I POLITIK I
Mitgift einbringen und keine finanziell
belastende Töchter. Experten meinen,
dass in Indien in den vergangenen ca. 20
Jahren mehr als 12 Millionen Mädchen
abgetrieben worden sind, und zwar trotz
des Geschlechtbestimmungsverbotes (erlassen in 1996). Gerade die Hauptstadt
Delhi ist der Gipfel der Mädchenmorde
dieser Art. Pro 1 000 Jungen werden hier
nur um etwa 850 Mädchen geboren. Die
Religionszugehörigkeit scheint irrelevant
zu sein. Hier muss der Gesetzgeber rigoros
durchgreifen, um den kriminellen Gynäkologen zur Rechenschaft zu ziehen.
c Töchter sind benachteiligt gegenüber
den Söhnen: Weit und breit, insbesondere
auf dem Lande, werden die Töchter als
Schmach und Last angesehen und erheblich schlechter behandelt als die Söhne:
weniger Essen, schlechtere Kleidung, mehr
Hausarbeit, Schulverbot, kaum Arztbehandlung bei Krankheiten etc.
c Brautverbrennungen: Häufig kommt es
vor, dass Ehemänner von den Eltern ihrer
Frauen immer wieder nach der Hochzeit
mehr finanzielle oder Güterzuwendungen
fordern. Sind die Eltern zu arm und nicht
in der Lage, dem nachzukommen, werden
die jungen Frauen durch Hinzufügung von
Brandverletzungen bestraft. Die Nachbarn
bejahen entweder diese barbarischen Taten
oder schauen schlicht weg.
c Witwenentehrung: Die Witwenverbrennung ist gesetzlich verboten. Also werden die Witwen aus der Familie vertrieben.
Sie leben dann auf der Straße, schuften
wie Kulis oder werden zur Prostitution
gezwungen.
Kinderschändung
Nur knapp 60 Millionen Euro hat es das
zu Recht stolze Indien gekostet, um eine
unbemannte Sonde erfolgreich zum Mars
zu schicken, was nicht einmal China oder
Japan bislang geschafft haben. Die gleichen
Projekte kosteten die USA und Russland
fast das Zehnfache. Im Kommandozentrum
der indischen Weltraumforschungsorganisation Isro in Bangalore brach Jubel aus,
als die indische Sonde in die Umlaufbahn
des Mars einschwenkte. Premierminister
Narendra Modi sagte, Indien gehöre nun
zum Eliteklub der Nationen. Auch wir in
Deutschland zollen Respekt und gratulie10 MEINE WELT 2/2014
ren den erfolgreichen Wissenschaftlern in
Bangalore zu diesem außergewöhnlichen
Triumph.
Indes vegetieren und betteln in der Hauptstadt Delhi schätzungsweise 50.000 Kinder
auf den Straßen (andere gehen eher von
500.000 aus) und werden Opfer krimineller
Banden. Alleine im Bundesland Maharashtra verschwanden zwischen 2010 und
2012 gemäß behördlicher Recherche über
26000 Straßenkinder. Junge Mädchen im
Alter 10-12 Jahren werden entführt, durch
Schläge gefügig gemacht und vergewaltigt.
Verkaufte Mädchen werden in Haushalten
wie Sklavinnen gehalten.
Laut UNESCO starben in Indien im Jahr
2012 ca. 1,4 Millionen Kinder, also jeden
Tag 3835 an Unterernährung. Besitzlosigkeit der Eltern, Kastendiskriminierung und
vor allem Korruption sind Gründe dafür.
Der Staat gibt jährlich ca. 1,4 Milliarden
Dollar für die Lebensmittelhilfen an die
Armen aus. Aber das Geld kommt bei den
Hungernden nicht an. Der Nobelpreisträger für Wirtschaft Amartya Sen verlangt
von den Politikern eine Erklärung, warum
Kinder täglich sterben müssen, bis gewährleistet ist, dass die Politik die Hilfen auch
bis ans Ziel bringt.
Bestechung, Bestechlichkeit und
Betrug
Indische ausufernde Bürokratie ist der
Nährboden für Korruption. Die indische
Gesellschaft – Arme und Reiche, Politiker und Polizisten, Ärzte und Autobauer,
Journalisten und Verleger, Bankiers und
Beamten, Parlamentarier und Minister –
scheint geradezu auf Bestechung geeicht
zu sein. Mit einer Hand wird geschmiert
und mit der andern kassiert. Es ist der
indische Alltag. Gegen ein Drittel bis
zu einer Hälfte der vom Volk gewählten Parlamentsmitglieder im Bund und
in den Ländern laufen sehr schleppend
Strafverfahren. Verurteilte kommen mit
milden Strafen davon und behalten in den
meisten Fällen ihre Ämter.
Ausufernde Slums
Schätzungsweise leben ca. 70 Millionen
Inder in den Slums an den Rändern der
Mega-Metropolen, und die Zahl steigt
Ayurveda - Heilung ohne Nebenwirkung
von Jahr zu Jahr. Während der nächsten
drei Jahre schätzt man, dass weit über 100
Millionen Inder in dem Gestank der Slums
leben werden. Den trostlosen Zuständen
auf dem Lande entflohen, reisen die Menschen in die nächst liegende Großstadt
in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Ihnen bleiben dort nur die Slums als elende
Unterkunft wegen fehlender Verdienstmöglichkeit. Aber auch da werden sie von
der Slum-Mafia schonungslos geschröpft,
wenn sie dort ein paar Quadratmeter Erde
zum Schlafen zugewiesen bekommen. Die
fehlende Hygiene dort fördert Krankheiten und chronische Leiden. Daher ist die
Kindersterblichkeit in den Slums besonders hoch.
Schlussfolgerung
Wie schon erwähnt, hat auch Europa 200
Jahre nach der Aufklärung noch manchen
Korrekturbedarf bezüglich der Verwirklichung und Verfestigung von Demokratie,
Gewaltenteilung, Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit, Trennung
von Staat und Kirche etc. Mit erst 67 Jahren
ist die moderne parlamentarisch-demokratische Tradition Indiens relativ jung.
Auch wenn auf dem asiatischen Kontinent
Indien wohl als die mit Abstand „demokratischste“ Nation angesehen wird, zeigt sie
einige großflächige hässliche Wunden, die
es unbedingt und so schnell wie möglich
zu heilen gilt.
Fraglos ist Indien eine alte Kulturnation.
Schon vor ca. 5 Tausend Jahren blühte hier
eine beachtliche Zivilisation. Seitdem ist
das indische Volk vielen Herausforderungen siegreich begegnet und hat viele der
Härten erfolgreich bewältigt. Es verfügt
über einen Reichtum an philosophischen
Werken, Dichtung, Poesie, Musik, Architektur und Malereien. Indien ist ein Land
der Veden und Upanischaden, weil die
Bürger Aufsteher und Macher gewesen
sind. In der sich nun rasch globalisierenden
Welt muss diese Gesellschaft die Verve entwickeln, um sich von den dunklen Makeln
zu befreien. Die Zeit drängt. Wir von hier
wünschen den Gestaltern des Fortschritts
viel Erfolg! j
http://gopal-kripalani.beepworld.de
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
Bankkonten für jedermann –
mehr als ein PR-Erfolg?
GEORGY KOOT TUMMEL
Hitzige Debatten sind in aller Regel vorprogrammiert, sobald es um die Person
Narendra Modi geht. Einigkeit unter allen Lagern herrscht jedoch wohl in einem
Punkt: Der neue indische Premierminister
ist ein Meister der Öffentlichkeitsarbeit.
Am Tag der indischen Unabhängigkeit
verkündet er, dass bis zum Jahr 2018 jeder
indische Haushalt ein Bankkonto haben
wird. Kurz danach hatte er den ersten
medienwirksamen Erfolg. Innerhalb der
ersten 24 Stunden der Kampagne wurden nach offiziellen Angaben in 77.000
eigens errichteten „Camps“ landesweit
1.5 Millionen neue Bankkonten eröffnet
und dabei gleich noch ebenso viele Unfallversicherungen abgeschlossen.
Nach Angaben der Weltbank besitzen lediglich 35% der indischen Erwachsenen
Zugang zum offiziellen Bankensektor. Der
Rest ist bei finanziellen Angelegenheiten
auf die Schattenwirtschaft angewiesen. In
RuPay Karte
zum Jahr 2018 in sechzig Millionen ländlichen sowie 15 Millionen städtischen Haushalten jeweils ein Bankkonto mit einer
Bankkarte (RuPay Debit Card) und einer
Unfallversicherung kostenlos zur Verfügung gestellt wird. In diesem Zusammenhang wurden auch die Ausweispflichten
durch die Indische Zentralbank gelockert,
um ein Konto zu eröffnen. Begleitet wird
die Kampagne durch ein Aufklärungsprogramm („Financial Literacy Programme“),
um die neuen Bankkunden an den offiziellen Finanzsektor heranzuführen. Und
schließlich ist vorgesehen, dass schrittweise
die Bankeninfrastruktur unter Nutzung
innovativer Technologien im ländlichen
Raum ausgebaut wird.
Financial Inclusion
Die Kampagne steht unter dem großen
Schlagwort der „Financial Inclusion“, dem
Ziel, einem bisher ausgegrenztem Teil der
Die Kampagne sieht vor, dass bis zum Jahr 2018
in sechzig Millionen ländlichen sowie 15 Millionen
städtischen Haushalten jeweils ein Bankkonto
mit einer Bankkarte (RuPay Debit Card) und einer
Unfallversicherung kostenlos zur Verfügung gestellt
wird.
Modis Augen liegt genau hier der Grund
für das Versanden vieler Entwicklungsmaßnahmen der Vergangenheit. Und an
dieser Stelle soll Pradan Mantri Jan Dhan
Yojana, das ist der Name der neuen Kampagne (frei übersetzt: „Programm des Premierministers für den Volkswohlstand“)
ansetzen. Die Kampagne sieht vor, dass bis
Bevölkerung auch offiziell die Basis für die
Teilnahme am heutigen Wirtschaftsleben
zu ermöglichen. Hinzu kommen entscheidende Effizienzgewinne, die für das indische Wohlstandswachstum unabdingbar
sind. So bleibt heute beispielsweise Wanderarbeitern in Mumbai oder Delhi keine
andere Wahl, als illegale Schatten(bank)
systeme zu nutzen, um über Mittelsmänner
Geld an ihre Verwandtschaft im ländlichen
Indien zu überweisen (Stichwort: Hawala
und Benami Systeme). Ebenso führt mangels Alternativen auch bei Privatkrediten
kein Weg an inoffiziellen Kanälen vorbei.
Angespartes verweilt heute noch unter
dem Kopfkissen und verliert vor dem
Hintergrund der hohen Inflationsraten
ohne Zinsgewinne an Wert und wird der
übrigen Wirtschaft als Investitionskapital
genommen. Bankkonten für jedermann
würden helfen, diese Effizienzeinbußen
zu reduzieren. Perspektivisch könnten ferner z.B. Pensionszahlungen und staatliche
Unterstützungsleistungen ohne Umwege
direkt dem Berechtigten zur Verfügung
gestellt werden und wären damit weniger
korruptionsanfällig. Die Liste der Vorteile lässt sich fortführen, und deshalb ist
nicht ohne Grund in vielen westlichen
Gesellschaften das Recht auf ein Bankkonto staatlich garantiert. Indien zieht in
diesem Sinne nach.
Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass eine
indische Regierung die Bedeutung der „Financial Inclusion“ erkannt hat. Was aber
die aktuelle Kampagne von den früheren
unterscheidet, ist, dass sie unmittelbar beim
Individuum ansetzen möchte und ihm ein
Instrument an die Hand gibt, um es selbst
für seinen Fortschritt zu nutzen. Alleine
schon der Besitz einer Bankkarte wird
vielen Ausgegrenzten ein wenig mehr
das Gefühl geben, Teil der Gesellschaft
zu sein und an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen zu können. Die Kampagne
reiht sich so gesehen nahtlos in das ModiNarrativ ein, nach der es ein Teeverkäufer
zum Premierminister schaffen kann, wenn
ihm die Möglichkeiten dafür gegeben werden. Nicht zufällig verkündete Modi am
MEINE WELT 2/2014 11
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
Unabhängigkeitstag auch zeitgleich das
Ende der altehrwürdigen Planning Commission, einer zentralen elitären Behörde,
die mit der Wirtschaftsplanung betraut
war und für das zentralistische von Nehru propagierte Wirtschaftsmodell stand.
Nichtsdestotrotz ist die Zielsetzung der
Kampagne mit gesunder Skepsis zu sehen.
Kritiker der Kampagne mahnen bereits
den möglichen Subventions- und Versicherungsbetrug an, der durch vorgetäuschte
Kontoeröffnung ermöglicht wird. Zudem
ist auch die Finanzierung der Kampagne und vor allem der Versicherungsprämien noch nicht abschließend geklärt.
Entscheidend wird wohl auch die Frage
sein, wie mit den bisherigen Betreibern
der Schattenbankensysteme umgegangen
wird. Gibt es neue Tätigkeitsfelder für sie
bzw. werden sie kampflos ihr bisheriges
Geschäftsmodell aufgeben?
Sollte es wirklich bis zum Jahr 2018 für
jeden indischen Haushalt mindestens ein
Bankkonto geben, wäre die Kampagne ein
wichtiger Schritt hin zur erstrebenswerten „Financial Inclusion“. In diesem Sinne
bleibt zu hoffen, dass Pradan Mantri Jan
Dhan Yojana nicht nur als eine weitere
erfolgreiche PR-Maßnahme der ModiRegierung in Erinnerung bleibt, sondern
tatsächlich den heute noch Ausgegrenzten
zu Gute kommt. j
NACHRUF
Heinz-Horst Deichmann
ist mit 88 Jahren gestorben
Deichmann hat aus einer kleinen Schuhmacherei in Essen Europas größten Schuhhändler gemacht. Jedes fünfte Paar Schuhe,
das in Deutschland verkauft wird, stammt
nach Unternehmensangaben inzwischen
aus einem Deichmann-Laden. Doch für
den Unternehmer und gläubigen Christen
war geschäftlicher Erfolg nie Selbstzweck.
„... ob ich wie ein wahrer Christ
gelebt habe“
„Am Ende meines Lebens wird Gott mich
nicht fragen, wie viele Schuhe ich verkauft
habe. Er wird wissen wollen, ob ich wie
ein wahrer Christ gelebt habe“, sagte der
Unternehmer einmal in einem Interview.
Und so spielte für den 1926 im Essener
Arbeiterviertel Borbeck geborenen Unternehmer neben dem Geschäft Zeit seines
Lebens der Glaube und die Hilfe für die
Ärmsten der Armen eine wichtige Rolle.
Mit dem Geld aus dem florierenden Schuhimperium schuf er quasi nebenbei das
Missionswerk „wortundtat“, das in Indien
und Tansania Schulen und Krankenhäuser
betreibt und weltweit nach eigenen Angaben rund 200 000 Menschen unterstützt.
Auch in Deutschland ist das Hilfswerk bei
der Betreuung von sozial benachteiligten
Kindern aktiv.
12 MEINE WELT 2/2014
Trauer um Heinz-Horst Deichmann Theologie und Medizin studiert
Wie viele Millionen er aus seinem Vermögen dafür gespendet habe, wisse er selbst
nicht, sagte Deichmann vor einigen Jahren.
„Im Jahr ist die untere Grenze wohl fünf
Millionen Euro. Es können aber auch zehn
Millionen sein – je nach Bedarf.“
Deichmann war eine der herausragenden
Unternehmerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit. Dabei deutete anfangs wenig
auf eine derartige Karriere hin. Der Sohn
eines Schuhhändlers studierte nach seiner
Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg erst
einmal Theologie und Medizin und hatte
nebenher noch ein Auge auf das elterliche
Schuhgeschäft.
Doch als er Mitte der 50er Jahre die Medizin an den Nagel hängte und das kleine
Unternehmen komplett übernahm, ging es
steil aufwärts. Mit dem Anspruch, breiten
Käuferschichten gute Schuhe zu einem
(Quelle: imago/ epd)
günstigen Preis anzubieten, und modernen
Verkaufsmethoden traf Deichmann den
Nerv der Zeit.
„Ein Unternehmen muss den
Menschen dienen“
Im Jahr 1974 öffnete bereits die 100. Filiale
ihre Tore, 1982 das 200. Geschäft.
Heute gibt es rund 3500 Geschäfte in 23
Ländern Europas und den USA. Die Leitung des Konzerns hat bereits 1999 Sohn
Heinrich Deichmann übernommen.
Das „Manager Magazin“ schätzte das Vermögen der Familie Deichmann 2013 auf
rund 3,6 Milliarden Euro. Doch allein am
Geld wollte Deichmann nie gemessen werden. „Ein Unternehmen muss den Menschen dienen“, betonte er immer wieder.
Quelle: Pressemitteilung
I JUBILÄUM I
50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln
Faszinierende Jubiläumsfeier im Brückenforum, Bonn
technologisch mehr zusammenarbeiten und in die Modernisierung des
Landes investieren“.
Bei der Veranstaltung wurden folgende Mitarbeiter der DIG Köln/Bonn für
ihre jahrelange treue und engagierte
Arbeit geehrt: Herr Dr. Amaresh Gupta,
Prof. Dr. Jürgen Ernst, Herr Jose Punnamparambil und die bereits verstorbenen Herren Dr. Hemchandra Jha und
Dr. N. Sircar.
Es folgt eine kurze Zusammenfassung
der Arbeit der Deutsch-Indischen Gesellschaft Bonn/Köln von den Anfangsjahren bis heute, verfasst von Heinz
Niedrig, Jürgen Ernst und Tobias GroteBeverborg.
Die Zweigstelle Bonn/Köln ist eine
der ältesten, mitgliederstärksten und
aktivsten der 33 Zweigstellen der
Deutsch-Indischen Gesellschaft in
der Bundesrepublik. Am 11. 10. 2014
feierte sie ihr 50-jähriges Jubiläum im
Brückenforum Bonn.
Der Bonner Generalanzeiger schreibt
über die Jubiläumsveranstaltung:
„Die Zweigstelle Köln/Bonn der
Deutsch-Indischen Gesellschaft (DIG)
hüllte das Brückenforum anlässlich
ihres 50-jährigen Jubiläums in ein indisches Gewand. Rund 500 Gäste folgten
der Einladung des DIG und ließen sich
auf eine kulturelle und kulinarische
Reise ein. ‚Es war einfach hypnotisierend‘, sagte eine Besucherin über den
Odissi Tanz der Tänzerin Monalisa
Ghosh und ihr neunköpfiges Ensemble.
Neben dem Musik- und Tanzprogramm
‚Spirit of India‘ wurde im Foyer alte
und zeitgenössische Kunst ausgestellt
sowie Stände mit typischer Kleidung
wie den farbenfrohen Sari präsentiert.“
Die Festrede hielt der ehemalige Botschafter in Indien und langjährige
Vorsitzende der Deutsch-Indischen
Gesellschaft, Herr Dr. Hans-Georg
Wieck. Er referierte über den Wandel in
den deutsch-indischen Beziehungen
und betonte: „Die deutsch-indische
Welt ist eine Welt der Wissenschaft und
Forschung. Indien fehlt allerdings die
Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen
J O S E P U N N A M PA R A M B I L
Die 1964 gegründete Zweiggesellschaft
Bonn-Köln erschien in ihrer Gründungsphase vielen im Vergleich zu anderen
Zweiggesellschaften als ‚elitär‘. Das war
vor allem durch die Lage in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn und durch
die große Nähe zu bundespolitischen und
bi-lateralen Institutionen begründet. Auch
waren über lange Zeiträume bekannte
Politiker, wie beispielsweise der damalige
Erste Vorsitzende, Alexander Werth, der
Referatsleiter im Auswärtigen Amt bzw.
Referent in der Indienabteilung des früheren Reichsaußenministeriums gewesen
war, im Vorstand aktiv.
In den Anfangsjahren fanden nur wenige
offizielle Veranstaltungen statt, die überwiegend politisch ausgerichtet waren, etwa
Vorträge über Mahatma Gandhi und Subhash Chandra Bose oder über die junge
indische Demokratie. Daneben gab es noch
vereinzelt Filmabende.
Mitte der 1970er Jahre belebte Heinz
Niedrig die Zweiggesellschaft neu. Schnell
zeigten frühere Mitglieder ihr Interesse an
den verschiedenen Aktivitäten. Die DIG
Bonn-Köln konnte sich so rasch in der
Kulturlandschaft der Bundeshauptstadt
als feste Größe etablieren.
Mit dazu beigetragen haben sicherlich
auch die stark in der Bundespolitik verankerten Vorsitzenden, darunter bekannte
Bundestagsabgeordnete, wie etwa Werner Marx (1977-1979) und Botho Prinz zu
Sayn-Wittgenstein (1979-1982). Ihnen zur
Seite standen im Vorstand Jürgen Ernst
und indische Wissenschaftler wie etwa Dr.
Amaresh Gupta und Dr. Chandra Jha.
Es wurden enge Kontakte zur DeutschIndischen Parlamentariergruppe, zur
Indischen Botschaft, zur Deutsch-Indischen Handelskammer in Düsseldorf, zur
Indisch-Deutschen Gesellschaft in Indien,
zum Tagore-Institut in Bonn-Bad Godesberg und insbesondre zur Indo-German
Cultural Association (IGCA) in Bonn,
die1980 völlig in der Zweiggesellschaft
aufging, geknüpft.
So erinnern sich viele Mitglieder gerne
an zahlreichen Einladungen und Emp-
fänge der Indischen Botschaft unter den
indischen Botschaftern A.M. Kusro und
A. Madhavan. Auch mit dem Indischen
Kulturzentrum unter der Leitung von Usha
Malik, das von 1984 bis 1987 versuchsweise in Bonn eingerichtet war, gab es viele
gemeinsame Veranstaltungen.
Ab 1985 übernahm Klaus Kübler den
Vorsitz, Stellvertreterin war Michaela
Geiger bzw. Peter Höffkes. 1988 traten
Georg Schlaga und Tarun Bhattacharya
in den Vorstand ein.
Ende der 1980er Jahre wurde auch das
Engagement in Köln wieder verstärkt.
Ab 1987 fanden viele Veranstaltungen
im Caritas-Zentrum Köln statt, andere
im Tobiashaus oder im Belgischen Haus.
Diese gingen v.a. von der Initiative der
Vorstandsmitglieder Megh Nath Sur, Claudia Parmar und dem Ehepaar Oomen aus.
Daneben gab es regelmäßige Programmpunkte, wie der gemeinsam mit der indischen Botschaft in Bonn begangene
Indische Nationalfeiertag am 26. Januar.
Auch fanden jährlich ein bis zwei klassi MEINE WELT 2/2014 13
I JUBILÄUM I
50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln
Bilder aus der Jubiläumsfeier
Bücherstand von Literaturforum Indien e.V.
Tanzgruppe von Mona Lisha
r
Besucher im Foye
Zuschauer im Foyer
Zuschauer im Saal
14 MEINE WELT 2/2014
Fotos: Biraj Wadhwa (Indian Association Bonn e.V.)
I JUBILÄUM I
sche indische Tanz- und Musikabende mit
Künstlern von internationalem Rang statt,
in Bonn häufig mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt.
Vorträge zu aktuellen politischen und
wirtschaftlichen Fragen mit Blick auf Indien wie auch philosophisch-religiöse und
medizinische Themen gehörten zum regelmäßigen Programm. In Autorenlesungen
wurden bekannte indische Schriftsteller
und Dichter vorgestellt und indische Filme, teilweise in Zusammenarbeit mit der
Bonner Kinemathek, vorgeführt.
Das bunte Spektrum, mit der sich die
DIG Bonn-Köln um die Begegnung von
Deutschen mit Indern sowie um die Vermittlung der reichen Kultur des indischen
Subkontinents in der Bundeshauptstadt
bemühte, wurde durch verschiedene Fotound Gemäldeausstellungen zu indischen
Themen abgerundet.
Die DIG Bonn-Köln war bis zur Übersiedlung des Deutschen Bundestags und
der Regierung nach Berlin weiter stark
mit dem politischen Bonn und damit auch
der Indischen Botschaft verbunden – bis
2010 waren unter den Vorsitzenden stets
Bundestagsabgeordnete wie K. Kübler, A.
Köster-Lossack und Josef Winkler. Auch
der jetzige Vorsitzende, Günther Koenig,
kommt als Botschafter i.R. aus dem politischen Bereich.
Neben dem Engagement in Bonn nehmen
in den letzten Jahren auch die Aktivitäten in Köln deutlich zu, vor allem seit der
Einführung der einmal jährlich stattfindenden „Kölner Indienwoche“ im Jahr
2009 und dem inzwischen auch jährlich
stattfinden „Indientag“ im RautenstrauchJoest-Museum für Völkerkunde. Dabei
wird in Köln wie auch in Bonn verstärkt
mit anderen indischen Kulturvereinen wie
Indien Association Bonn, Bharat Samiti
und Kerala Samajam kooperiert.
Das Angebot in Köln umfasst u. a. Besuche
in Hindu- und Sikh-Tempeln mit Vorträgen über die jeweilige Religion, Tanz- und
Musikdarbietungen bzw. -workshops, indische Kinoabende, Kunstausstellungen indischer Künstler oder indische Kochkurse.
Das politische und soziale Leben Indiens
wird durch Vorträge und Diskussionsveranstaltungen ausführlich beleuchtet und
die Jugend, hier vor allem die sogenannte
zweite und dritte Generation, stark mit
einbezogen.
Mit knapp 200 Mitgliedern zählt die DIG
Bonn-Köln zu den zahlenstärksten Zweiggesellschaften in Deutschland und gewinnt
insbesondere durch das zunehmende Engagement von jungen Mitgliedern deutlich
an Attraktivität. Das Interesse an dem Angebot der Deutsch-Indischen Gesellschaft
stößt so im Köln-Bonner Raum weiterhin
auf ungebrochenes Interesse, so dass die
DIG Bonn-Köln voll Zuversicht in die
Zukunft blickt. j
Pinar Atalay mit türkischen Wurzeln ist
Tagesthemenmoderatorin
Hautfarbe und Herkunft spielen keine Rolle mehr bei Besetzung
von Spitzenpositionen im deutschen Fernsehen
Menschen ausländischer Abstammung
kommen zunehmend zu Spitzenpositionen im deutschen Fernsehen, wie der
Fall von Pinar Atalay zeigt. Alleine ihre
Professionalität und Erfahrung waren
ausschlaggebend bei ihrer Wahl als
Tagesthemenmoderatorin. Die Zeiten,
in der Menschen mit ausländischen
Wurzeln, egal wie hoch qualifiziert
und kompetent sie sein mögen, nur
zu Unterhaltungssendungen Zugang
fanden, ist vorbei. Trotz dieses Wandels
zeigen die Biographien von Kindern
mit ausländischen Eltern, mit welchen
Vorurteilen und Rassismus-Erfahrung
sie hier groß geworden sind. Zwei Beispiele aus dem Beitrag „Sie sprechen
aber gut Deutsch“ von Alina Fichter in
„Die Zeit“ von 18.09.2014:
Pinar Atalay: Atalays Eltern sind
Anfang der siebziger Jahre als türkische Gastarbeiter von Istanbul nach
Deutschland gezogen, der Zufall führte sie ins kleinstädtische NordrheinWestfalen. Als Mädchen half Pinar ihrer
Mutter - einer Schneiderin - manchmal
beim Nähen und sah sich mit ihrem
Vater, einem Tischler, abends um acht
Uhr die Tageschau an.„Das war Teil
unseres Tagesablaufs“, sagte Atalay.
Als die Eltern eine Wohnung suchten,
wurden sie von den Vermietern gefragt, wie viele neben den Familienmitgliedern einziehen würden - so, als
bewohnten alle Nichtdeutschen ein
Zimmer zu Dutzenden. Auch weniger
subtilen Rassismus hat Atalay erlebt.
Mit 14 sei sie mit Freunden auf einer
Kirmes gewesen, da sei ein Neonazimob auf sie zugestürmt gekommen. Es
half nur: wegrennen.
Ranga Yogeshwar: Von Ranga Yogeshwar, 55, Wissenschaftsjournalist
im deutschen Fernsehen, stammt die
Geschichte vom Neger, er hat sie 2013
für den Spiegel aufgeschrieben: Als
der Luxemburger mit dem indischen
Vater vor gut 30 Jahren zu moderieren
begann, wollte er in den Sendungen
keine Krawatte tragen. Der Aufnahmeleiter muss vergessen haben, das
Mikrofon auszuschalten, denn Yogeshwar hörte ihn später sagen:„Er sieht
aus wie ein Neger, doch mit Krawatte
glaubt man ihm wenigstens.“ So
dachten manche deutsche Fernsehmacher in den achtziger Jahren noch;
je ungewöhnlicher der Name und die
Hauptfarbe, desto unglaubwürdiger
der Mensch.
J O S E P U N N A M PA R A M B I L
MEINE WELT 2/2014 15
I AUSZEICHNUNG I
Auszeichnung der DIG-Bonn/Köln
für das Lebenswerk von:
Jose Punnamparambil
Jose Punnamparambil, geboren 1936 in
Kerala, kam als Stipendiat des Bundespresseamtes nach Deutschland. Aus einem
einjährigen Aufenthalt wurden 48 Jahre in
Deutschland, das zu seiner zweiten Heimat wurde. Zuletzt war er Abteilungsleiter
für Sprachen bei der Deutschen Stiftung
für Entwicklungshilfe in Bad Honnef. Er
wurde Mitglied der Deutsch-Indischen
Gesellschaft Bonn-Köln, war stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand
und dort anschließend Beiratsmitglied.
Herr Punnamparambil ist eine Persönlichkeit voller Ideen und seit seiner Ankunft
in Deutschland gesellschaftlich sehr aktiv.
Er setzte sich ehrenamtlich unermüdlich
für die deutsch-indische Verständigung
ein, vor allem zwischen den in Deutschland lebenden Indern und den Deutschen.
1984 gründete er die Zeitschrift „Meine
Welt“ als Forum für den deutsch-indischen
Dialog. 1988 verlieh ihm der damalige
Bundespräsident Richard von Weizsäcker
den „Journalistenpreis für Entwicklungspolitik“.
Für sein Lebenswerk im Dienste der
deutsch-indischen Verständigung mit dem
Ziel der integrativen Verbindung zweier
Kulturen erhält er die Auszeichnung der
Deutsch-Indischen Gesellschaft.
Dr. Hem Chandra Jha †
Dr. Hem Chandra Jha, geboren 1939 in
Bihar, kam 1966 als DAAD Stipendiat
nach Deutschland. Er war bereits ein
promovierter Chemiker und im gleichen
Fach erhielt er in Bonn seinen zweiten
Doktortitel. Von Anfang an interessierte er
sich für die Intensivierung der kulturellen
Beziehungen zwischen Deutschland und
Indien. Er war zunächst Vorsitzender des
indischen Studentenvereins der Universität Bonn und trat 1978 in die DeutschIndische Gesellschaft Bonn-Köln ein, in
der er für mehrere Jahre als Geschäftsführer tätig war. Unter seiner Regie fan16 MEINE WELT 2/2014
Foto von DIG-Bonn/Köln (H. Wadhwa)
den zahlreiche Veranstaltungen statt, die
dem Publikum die Kultur Indiens näher
brachten und zur Vertiefung der Beziehungen zwischen Deutschland und Indien
beitrugen. Er war Mitgründer des DeutschIndisch-Pakistanischen Forums, das sich
für den Frieden in Südasien einsetzt.
Nach einer langen Krankheit starb er am
18. September 2013. In Dankbarkeit für
seine Dienste wird ihm posthum eine Auszeichnung für sein Lebenswerk von der
Deutsch-Indischen Gesellschaft verliehen.
Dr. med. Nabendu Sircar †
Dr. Nabendu Sircar, geboren 1939 in Westbengalen, kam 1962 nach Deutschland und
absolvierte sein Medizinstudium an der
Universität Würzburg. Seit 1979 arbeitete
er in Euskirchen an einem Krankenhaus
als Oberarzt in der Gefäßchirurgie und
erhielt mehrere Auszeichnungen für die
Entwicklung von neuen chirurgischen
Verfahren. Er wurde aktives Mitglied der
Deutsch-Indischen Gesellschaft BonnKöln und gründete ebenfalls den indischen
Kulturverein „Bharat Samiti“ in Köln.
Unermüdlich widmete er sein Leben dem
Wohl und der Gesundheit der Armen. In
seinem Heimatdorf Kondolia in Indien
rief er 1994 ein Krankenhaus für die Armen ins Leben und führte es mit großem
Engagement. Heute werden dort jährlich
ca. 10.000 Patienten kostenlos behandelt.
Die Deutsch-Indische Gesellschaft stellte
finanzielle Mittel für die Ausbildung von
Krankenschwestern dort zur Verfügung.
Am 15. September 2012 starb er nach kurzer schwerer Krankheit.Wir werden ihn für
seinen großen Dienst an der Menschheit, seiner Humanität und Hilfsbereitschaft in
Erinnerung behalten. Die Deutsch-Indische Gesellschaft verleiht ihm posthum
eine Auszeichnung für sein Lebenswerk.
Dr. Amaresh Gupta
Er wurde am 02. Januar 1941 in Jhansi, UP
(Indien) geboren. Sein Studium der Physik
in Indien (Abschluss MSc) setzte er 1960
in Bonn fort und schloss dort mit einem
Hauptdiplom und einer Promotion ab und
war dort auch im Rahmen verschiedener
Forschungsvorhaben der BMFT und DFG
als Assistent tätig. Nachdem seine berufliche Rückkehr nach Indien erfolglos blieb,
I AUSZEICHNUNG I
wurde Deutschland zu seiner Wahlheimat.
Er heiratete und wurde Vater von zwei
Töchtern.
Dr. Amaresh Gupta wechselte 1980 beruflich zu einer nachgeordneten Behörde des
Wirtschaftsministeriums, die im Jahr 1983
dem Verteidigungsministerium zugeordnet wurde. Seitdem war er als Beamter
im Verteidigungsministerium tätig. Er ist
seit 1978 Mitglied der Zweiggesellschaft
Bonn/Köln und war viele Jahre auch im
Bundesvorstand aktiv. Zunächst im Kulturbeirat und später im Vorstand der Bundesgesellschaft, die er als 1. stellvertretender
Vorsitzender von 1990 bis 1996 vertrat.
Für seinen herausragenden Einsatz für die
Völkerverständigung und sein langjähriges Engagement für die Zweiggesellschaft
Bonn/Köln und den Bundesverband erhält
Dr. Gupta die Ehrennadel der DeutschIndischen Gesellschaft.
Prof. Dr. Jürgen Ernst Er wurde am 17. Juni 1936 in Nürnberg
geboren. Er studierte in Erlangen und Heidelberg Physik. 1965 folgte die Promotion
am Max-Planck-Institut für Kernphysik in
Heidelberg. Seinem Doktorvater folgend,
arbeitete er ab 1966 am Helmholtz-Institut
für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn und wurde dort 1980 zum Professor C3 ernannt. Als Experimentalphysiker
unternahm er mit seiner Arbeitsgruppe
Experimente zur Kernspektroskopie und
zur Untersuchung des Ablaufs von Kernreaktionen an Teilchenbeschleunigern in
Deutschland, den USA und Kanada.
Prof. Dr. Jürgen Ernst ist seit 1978 Mitglied
der DIG und seitdem ununterbrochen im
Vorstand tätig. Er wurde unter dem damaligen 1. Vorsitzenden Bodo Prinz zu
Sayn-Wittgenstein Geschäftsführer und
übte dieses Amt bis in die 1990iger Jahre
aus. Auch das Amt des Kassenwarts und
kurz das Amt des Schriftwarts hatte er inne,
um danach erneut zwei Jahre als Geschäftsführer aktiv die Geschicke der Gesellschaft
zu leiten. Seit der letzten Vorstandswahl
ist er wieder als stellvertretender Schatzmeister und Beisitzer tätig.
Neben seinem Wirken für die DeutschIndische Gesellschaft e.V. war er 2004 auch
Gründungsmitglied des Deutsch-IndischPakistanischen Forums e.V. und für die-
Gestohlene Kindheit –
Zur Situation der Kinder in Indien
JOSEPH CHRISTENSON,
Leiter des Regionalbüros der Andheri-Hilfe in
Nordindien
Joseph Christenson, der Leiter unseres
Regionalbüros in Nordindien, berichtet
über die Lage der Kinder in seiner Heimat.
„Jedes sechste Kind weltweit nennt Indien
seine Heimat – insgesamt leben 430 Millionen Kinde in Indien. Auch wenn Kinder ein Drittel der indischen Bevölkerung
ausmachen, stehen ihre Interessen nicht
an oberster Stelle der politischen Agenda
und ihre Rechte werden tagtäglich verletzt.
Traurigerweise steht Indien für 40% der
unterernährten Kinder in Entwicklungsländern sowie für 20% der Sterbefälle bei
Kindern weltweit. Jährlich sterben 1,83
Millionen Kinder in unserem Land, bevor
sie ihren fünften Geburtstag erleben – eines von elf Kindern! 88% dieser Todesfälle werden durch Durchfallerkrankungen
verursacht, die zu verhindern wären durch
bessere sanitäre Anlagen, sauberes Trinkwasser und die Aufklärung über vorbeugende Hygienemaßnahmen.
Die Bildungssituation in unserem Land ist
erschreckend: Trotz genereller Schulpflicht
scheiden 70 von 100 Kindern vor Beendigung der Grundschule wieder aus dem
Unterricht aus. 66% hiervon sind Mädchen.
Indien hat auch die höchste Rate von Kinderarbeitenr weltweit. Man schätzt, dass
rund 28 Millionen Kinder im Alter von
5-14 Jahren regelmäßig arbeiten müssen.
Während Probleme wie physischer, sexueller und emotionaler Missbrauch im
ganzen Land anzutreffen sind, gibt es einige Problemfelder, die speziell in meiner
sen Verein zwei Jahre als Schatzmeister
tätig. Des Weiteren ist er u. a. Mitglied bei
Greenpeace, Amnesty International und
dem Universitätsclub Bonn.
Prof. Ernst erhält die Ehrennadel für sein
35-jähriges unermüdliches Engagement
für die Deutsch-Indische Gesellschaft.
Projektregion, den Bundesstaaten Uttar
Pradesh, Bihar, Madhya Pradesh und Rajasthan, verstärkt auftreten. Es gibt hier
eine steigende Zahl von Kindersoldaten,
Flüchtlingskindern, Straßenkindern und
Kindern, die von Menschenhändlern verschleppt werden. Fast 65% der Kinder in
diesen Bundesstaaten kommen mit Menschenhändlern in Kontakt. Häufig getarnt
als Jobvermittler treten sie mit den Familien in Verbindung und versprachen ihnen
gute und leichte Arbeit für ihre Kinder.
Die Realität sieht oft anders aus: Viele
Kinder werden in die Städte gebracht, um
dort zu betteln. Bis zu 1.500 Rupien (rund
18 Euro) kann so pro Tag mit einem Kind
verdient werden.
Ein neuer erschreckender Trend in Nordindien ist der Brauthandel – eine furchtbare Auswirkung des Frauenmangels in
Indien. Junge Mädchen werden von ihren
Eltern, die sich für sie eine gute Zukunft
erhoffen, an Vermittler abgegeben oder gar
gewaltsam entführt. Männer können diese
Mädchen gegen eine Vermittlungsgebühr
kaufen und unter dem Deckmantel der
Eheschließung in ihre Familie bringen. Im
schlimmsten Falle werden die Mädchen
weiterverkauft, sind ihre „Ehemänner“ mit
ihren Diensten nicht zufrieden.
Millionen von Kindern werden täglich ihrer Kindheit beraubt. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, ihre Rechte zu stärken
und ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen
zu ermöglichen!“
Quelle: Forum, Andheri-Hilfe Bonn, Sept. 2014
In unzähligen Veranstaltungen brachte
er die Vielfalt der indischen Kultur in
all ihren Facetten der Öffentlichkeit im
Raum Bonn-Köln näher und gab durch
seine Arbeit auch dem Bundesverband
bedeutende Impulse. j
MEINE WELT 2/2014 17
I MEINUNG I
Die Qual der Wahl
DR.GEORGE ARICKAL
„Sein oder Nichtsein, das ist die Frage”;
William Shakespeare ließ durch den
weltberühmten Monolog in der Tragödie
„Hamlet“ diese existenzielle Fragestellung
stellvertretend für uns alle dramatisch
formulieren. Jede Person in unserer Gesellschaft hat unterschiedliche Rollen zu
spielen und damit Entscheidungen zur Erfüllung vielfältiger Aufgaben zu treffen. In
der Stellung als einmalige, unverwechselbare und mit unteilbarer Menschenwürde ausgestattete Person, als Angehörige
in diversen Funktionen der Familie und
gesellschaftlicher Gruppierungen, in der
Rolle als Lernende, Berufstätige sowie
aktive Teilnehmer in wirtschaftlichen,
kulturellen und politischen Prozessen
und nicht zuletzt als einfacher Bürger in
dieser globalisierten Welt befinden wir uns
ständig in Entscheidungsprozessen. Sehr
oft wird die Wahl für Handlungen unreflektiert, spontan und automatisch getroffen; in
vielen Fällen jedoch erst nach gründlicher
Reflektion und Abwägung von Vor- und
Nachteilen. Der Reflektionsrahmen umfasst vielfältige Dimensionen des menschlichen Zusammenlebens, einschließlich der
eigenen Verflechtung mit der Natur und
der Schöpfung.
Das Recht, in vielen Bereichen des Handelns zwischen Alternativen wählen zu
dürfen, ist ein wunderbares und zugleich
verpflichtendes Geschenk des Lebens.
Die Freiheit zu entscheiden, ob etwas
unternommen oder unterlassen werden
soll, bereitet zumeist Freude; bei einer
Bejahung folgt dann die weiterführende
Frage nach dem „Wie”. Auch die Freiheit,
die Art und Weise des Handelns selbst zu
bestimmen, erweitert den Spielraum für
eigene Entfaltung. Die Freude ist umso
grösser, wenn die für die Wahl zur Verfügung stehenden Alternativen den Erwartungen und der Absorbtionskapazität
des Akteurs entsprechen. Sonst könnte
18 MEINE WELT 2/2014
sich in vielen Fällen die Wahl zur Qual
entwickeln. Unzählige Beispiele gibt es
für solche qualvollen Entscheidungen, sei
es in der Familie, Berufswelt, Religion,
Gesellschaft oder in der Politik. Wir sind
Zeitzeugen der aktuellen Geschehnisse
auf unserem gemeinsamen Globus. Hunger, Vertreibung, Flüchtlingswellen, sich
ausweitende Krankheiten, Völkermord,
Umweltkatastrophen u.a.m. fordern unser Gewissen heraus. Wir spüren oft die
Ohnmacht, zu handeln, da eine nachhaltige
Lösungsstrategie trotz allen technischen
Fortschritts und Überflusses in der Welt
nicht in Sicht ist. Trotzdem wäre es fatal,
wenn wir die Wahl treffen würden, die
Rolle des schweigenden Zuschauers anzunehmen; wir können durchaus gemeinsam
mit anderen Solidaritätspartnern unsere
Stimme erheben. Diese schwierige Entscheidung liegt bei uns selbst.
Kriegerische Auseinandersetzungen
Die gesamte Welt steht fassungslos gegenüber den kriegerischen Auseinandersetzungen in den Kriegsregionen wie Ukraine, Irak, Syrien, Palästina und Israel. Bei
solchen lebensvernichtenden Menschenrechtsverletzungen wäre das Schweigen
praktisch mit einer Zustimmung gleichzusetzen. Für die Wahl einer Einmischung
zur Rettung des Lebens fehlen uns jedoch
adäquate Mittel. Die externen Mächte wie
die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union befinden sich im Dilemma,
zumal sie selbst Teil des Problems sind,
indem sie durch ihre bisherige Politik zur
Zuspitzung dieser Krisen beigetragen haben. Weder die Vereinten Nationen, noch
die anderen Bündnisse der Nationen sehen
eine realistische und glaubwürdige Strategie, das Feuer der Konfliktherde zu löschen.
Die Bereitschaft vieler Staaten, dem brutalen Morden ein Ende zu setzen, ist klar
erkennbar. Präsident Barack Obama, der
Dr. George Arickal
das unheilvolle militärische Engagement
im Irak schleunigst benden wollte, hatte die
Qual der Wahl zu entscheiden, den Eingriff
in anderen Formen wieder aufzunehmen.
Der Entschluss der deutschen Bundesregierung, abweichend zu ihrer bisherigen
Politik Militärhilfe außerhalb der NATO
zu leisten, ist m.E. angesichts des Genozides im Irak nachvollziehbar. Wir spüren,
dass solche Entscheidungen schmerzlich
und bitter sind, doch in manchen Ausnahmesituationen sind sie bitter nötig.
Nicht alle Entscheidungen sind so qualvoll wie oben beschrieben. Es gibt auch
erfreuliche Ereignisse. Das Recht der
Bürger, die politischen Repräsentanten
des Landes gemeinsam durch die Wahl
bestimmen zu können, ist eine große Errungenschaft der Demokratie; dieses Recht
ist sicherlich eine verantwortungsvoll zu
gestaltende Aufgabe. Das Wahlvolk der
größten Demokratie der Welt stand im
April/Mai dieses Jahres vor der Aufgabe,
sich über die Zusammensetzung des gesamtindischen Parlaments (Lok Sabha) zu
entscheiden. 815 Millionen Wahlberechtigte, darunter 120 Millionen Erstwähler,
hatten die Aufgabe und Chance, an der
Wahl teilzunehmen. Dies ist mehr als die
Wahlbevölkerung der gesamten Europäischen Union, der Vereinigten Staaten
von Amerika und von Russland zusammen. 543 Mitglieder des Parlaments (MP)
waren vom Volk direkt zu wählen, zwei
Mitglieder wurden vom Bundespräsidenten nominiert. Im Unterschied zu vielen
anderen Instanzen ist die Wahlkommission
Indiens bekannt für ihre Unbestechlichkeit und effiziente Funktionsweise. Sie
I MEINUNG I
sorgte dafür, dass 900 000 Wahllokale mit
930 000 elektronischen (batteriebetriebenen) Wahlmaschinen bereit standen. Die
Namen der Kandidaten/innen und ihre
Parteisymbole waren auf den Automaten
klar gekennzeichnet. Damit wurde auch
den Leseunkundigen ermöglicht, die gewünschte Partei zu wählen. Diesmal stand
auch ein Knopf für Enthaltung funktionsbereit. Die Wahl erfolgte per Knopfdruck,
und dies ermöglichte später auch eine beschleunigte Auszählung.
Die zur Wahlurne gerufene Bevölkerung
stand vor einer würdigen Aufgabe, doch sie
hatte die Qual der Wahl zwischen lauter
bitteren Pillen. Das Wachstum der indischen Wirtschaft sank von 8 auf 5%; der
Wert der indischen Rupie nahm kontinuierlich ab, die Inflationsrate blieb über 8%.
Die Hoffnung der Armen, irgendwann an
den Früchten des langjährigen Wirtschaftsbooms durch einen „Trickle Down Effect”
partizipieren zu können, wurde enttäuscht.
Das Vertrauen der breiten Bevölkerung,
im Schutz und Schirm der einst mächtigen
Kongresspartei zu Brot, Wasser, Bildung,
Gesundheit, Freiheit und Gerechtigkeit zu
gelangen, wurde verspielt. Die Verwicklung vieler Machthaber, insbesondere aus
der Kongresspartei, in Korruptionsskandale raubte die verbliebene Sympathie gegenüber einer Partei, die das Land durch
die längste Periode der Unabhängigkeit
Das Wahlvolk der größten Demokratie der Welt stand
im April/Mai dieses Jahres vor der Aufgabe, sich
über die Zusammensetzung des gesamtindischen
Parlaments (Lok Sabha) zu entscheiden. 815 Millionen
Wahlberechtigte, darunter 120 Millionen Erstwähler,
hatten die Aufgabe und Chance, an der Wahl
teilzunehmen. Dies ist mehr als die Wahlbevölkerung der
gesamten Europäischen Union, der Vereinigten Staaten
von Amerika und von Russland zusammen.
regierte. Der übergroße Bonus, der der
Kongresspartei wegen ihrer besonderen
Rolle im Unabhängigkeitskampf Indiens
und wegen ihrer charismatischen Führer
wie Gandhi und Nehru zuteil wurde, schien
aufgebraucht; die Zeiten haben sich eben
geändert, die Zeitzeugen des Entkolonialisierungsprozesses sterben aus, junge
Wähler sehnen sich nach neuen Ufern.
Die Kongresspartei und damit ihre Koalitionspartner in der „United Progressive
Allianz” (UPA) machten den Wählern und
Wählerinnen damit die Entscheidung
leicht; die Wähler nutzten den Wahlzettel,
die regierende Koalition durch Abwahl
abzustrafen.
Fast 815 Millionen Menschen wurden aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Foto: dpa (Quelle: Internet)
BJP als Alternative
Die Wahl verursachte dennoch dem Wahlvolk Kopfschmerzen. Als die Alternative
auf der Nationalebene stand die Nationaldemokratische Allianz (NDA) unter der
Führung der als hindunationaltisch eingestuften Bharatya Janatha Partei (BJP). Im
Wahlkampf wurde sie von Narendra Modi
geführt, der das in seinem Bundesland Gujarat praktizierte Industrialisierungsmodell
für die Entwicklung Indiens als Vorbild
propagierte. Dabei erntete er Lob und Kritik zugleich. Viele Wähler, insbesondere
Jugendliche, waren fasziniert, dass Modi in
der Lage war, große Investoren wie Tata
nach Gujarat zu holen. Die Kritiker behaupten, dass Modi’s Entwicklungsmodell
mit Fokus auf Wirtschaftswachstum nur die
Unternehmer und die Reichen begünstige.
Der Ausbau der Infrastruktur werde unter
Hinnahme erheblicher Nachteile für die
Marginalisierten durchgesetzt. Sichtbar
seien in Gujarat ausgebaute Infrastruktur, Industriegelände, boomende Städte,
arme ländliche Regionen und mangelnde
Verwirklichung der Sozialindikatoren der
Entwicklung. Auch die BJP stand im Ruf
der Korruption; sie hatte allerdings den
Vorteil, die indische Union kürzere Zeit
regiert und damit weniger Korruption
betrieben zu haben. Sie hatte allerdings
mit dem Stigma zu kämpfen, dass sie Minderheiten in Indien vernachlässigen und
die säkulare Orientierung der indischen
Politik gefährden würde. Die Pulleffekte,
d. h. die Anziehungsfaktoren, die die BJP
wählbar gemacht hätten, waren mangel MEINE WELT 2/2014 19
I MEINUNG I
haft und daher nicht ausschlaggebend; die
Pusheffekte (Verdrängungsfaktoren) aus
dem Kreis der Kongresspartei und ihrer
Koalition scheinen den Wählern zur Flucht
zur BJP verholfen zu haben.
Gestempelt mit dem Siegel der Korruptionsbekämpfung und euphorisch gestimmt
durch den unerwarteten Sieg bei der Landtagswahl in Delhi im letzten Jahr mischte
die neue junge Partei unter dem Namen
Aam Admi Party (AAP) im Wahlkampf
mit. Mit neuem Elan und viel utopisch
klingenden Versprechen zur politischen
Teilhabe des „kleinen Mannes” bewarb
sich die Partei unter Führung von Arvind
Kejrival mit dem Symbol des Kehrbesens
an vielen Wahlbezirken in Indien, obwohl
sie über keine dafür notwendige Organisationsstruktur verfügte. Ihr Ziel war
es anscheinend, sich in vielen Regionen
Indiens zunächst vernehmbar zu machen
und sich möglichst mit viel Engagierten aus
der Sozial- und Antikorruptionsbewegung
zu vernetzen.
Erdrutschsieg für die BJP
Trotz aller Qual der Wahl schien dem
Wahlvolk die Frage des Wahlverzichts
weniger relevant gewesen zu sein; mit
mehr als 66% Wahlbeteiligung bewies
die indische Bevölkerung ihr demokrati-
sches Bewusstsein. Am 16. Mai wurden die
Ergebnisse veröffentlicht; sie bescherten
einen unerwartet hohen Erdrutschsieg für
die BJP mit dem Symbol der Lotusblüte.
Die Kongresspartei erlitt eine vernichtende Niederlage. Für die BJP votierten
zwar nur 31% der Wähler und Wählerinnen, sie bekam damit jedoch, begünstigt
durch das Mehrheitswahlrecht in Indien,
die absolute Mehrheit von fast 52% an
Sitzen (282 von 543). Der Kandidat mit
der höchsten Stimmenzahl gewinnt nämlich den Wahlkreis. Die Kongresspartei
bekam 19,3% an Stimmen, doch nur 44
Sitze im Parlament. Sie verlor damit 162
Sitze. Auch die anderen Parteien auf der
Bundesebene wie die der Kommunisten
oder der Regionen wurden abgestraft. Der
neue Ministerpräsident Narendra Modi
könnte mit der absoluten Mehrheit seiner
Partei allein regieren, doch er bildete eine
Koalition.
Es ist zu früh, eine Prognose zur weiteren
Entwicklung Indiens unter der neuen Regierung zu wagen. Im Bereich der Außenpolitik und damit in den deutsch-indischen
Beziehungen ist keine signifikanten Änderungen zu erwarten. Es ist wahrscheinlich,
dass Modi die Rahmenbedingungen für
ausländische Investitionen in Indien erweitern wird. Das Klima für Wirtschafts-
wachstum wird verbessert und die indische
Börse sendet entsprechende Signale. Die
Inflationsrate konnte allerdings bis jetzt
kaum beeinflusst werden, obwohl dies als
ein prioritäres Ziel im Wahlkampf proklamiert wurde. Es ist abzuwarten, wie
die Minderheiten, insbesondere die Marginalisierten in Indien an den politischen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen partizipiert werden. Spätestens in
fünf Jahren werden die indischen Wähler
und Wählerinnen wieder zur Wahlurne
gerufen. Bis dahin hat Ministerpräsident
Narendra Modi viele schwierige weichenstellende Entscheidungen zu treffen. Die
Kongresspartei hat die Zeit für Reflektion,
Neuaufbau, Erneuerung und konstruktive
Opposition. Bei Nutzung dieser Chance
in der Krise hätte sie die Aussicht, wiederzukommen; der Unterschied von 19
und 31% an Stimmen scheint nicht unüberwindbar zu sein.
Good governance der NDA unter der Führung der BJP und eine effektive Opposition der UPA geführt von einer gründlich
erneuerten Kongresspartei könnten die
Wähler nächstes mal vor das erfreuliche
Problem stellen, zwischen zwei perspektivreichen Alternativen zu wählen. Diese
Qual der Wahl wäre dem Souverän sicherlich zu wünschen. j
Schwester Claire – eine christliche Künstlerin der Inkulturation
Schwester Claire, eine bekannte indische Künstlerin, malt christliche
Themen im Stil der Volkskunst. Sie
war geboren als zweites Kind von
Hindu-Eltern in Andhra Pradesh.
Während ihrer Schulzeit in einer
christlichen Schule in Bangalore
begann sie sich für das Christentum zu interessieren. Durch frühzeitige Heirat versuchten die Eltern
sie von einer Annäherung an das
Christentum abzubringen. Drei
Tage vor der Hochzeit aber verschwand sie vom Elternhaus und
20 MEINE WELT 2/2014
landete im Kloster der Salesianischen Missionarinnen der unbefleckten Maria. Dort
wurde sie trotz des Widerstands der Eltern
zum Christentum konvertiert und zu einer
Nonne. Sie lernte sechs Jahre lang Kunst an
der staatlichen Kunstschule und wurde bekannt für ihren spezifischen Volkskunststil.
1971 traf sie den deutschen Jesuit Pater
Mathew Lederle, der eine Organisation
namens „Art India“ (in Pune) zur Förderung
christlicher Kunst in Indien leitete. Schw.
Claire wurde ein Mitglied seines Teams.
(siehe auch Seite 54)
JP
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
Kabani – sozial- und umweltverträgliches Reisen
N I S A P U N N A M PA R A M B I L - W O L F
„Mama, Indien finde ich Klasse, was
ich aber nicht so gut finde, ist, dass der
ganze Müll überall in der Natur und auf
den Straßen rumliegt, und manchmal
stinkt es auch ganz schlimm. Dann
kommen irgendwann keine Leute mehr
hierher!“ Leider musste ich meinem
Sohn da zustimmen.
Zum ersten Mal traten wir 2013 in der
Monsunzeit unsere Reise nach Kerala
und Karnataka an. Die Jahre vorher waren wir meistens in den Weihnachtsferien
unterwegs. Wegen der Schulferien war der
Sommer die einzige Zeit, in der wir als
Familie zusammenhängend drei Wochen
am Stück Urlaub machen konnten. Wie
bei jedem Indien-Urlaub verbrachten wir
eine gewisse Zeit in den Dörfern meiner
Verwandtschaft mütterlicher- und väterlicherseits. Die restliche Zeit verbrachten
wir am Meer und in einem Nationalpark.
Immer wieder waren unsere Kinder hin und
her gerissen von den vielen unterschiedlichen Eindrücken in der Stadt, auf dem
Land und in der Natur. Besuche der touristischen Sehenswürdigkeiten in Karnataka
wechselten ab mit mehrstündigen Wanderungen im Nationalpark auf den Spuren
des Tigers, des Rieseneichhörnchens, und
auf der Suche nach Reptilien, insbesondere Schlangen, die für unseren ältesten
Sohn von besonderer Attraktion waren.
Doch immer wieder mussten wir in den
letzten Jahren feststelle, dass vielerorts
die touristischen Orte mit Müll übersät
waren, dass sogar Angestellte der örtlichen
Dammverwaltung, die für die Sauberkeit
eines Stausees verantwortlich waren, vor
den Augen ihrer Vorgesetzten den umherliegenden Plastikmüll in den See warfen.
Sumesh Mangalasseri (Director) und Subini S.
Nair (Director Operations) zu Besuch in Unkel
am Rhein/Oktober 2014
Wunderschöne Orte in den Nationalparks sind auch von diesem wenig
nachhaltigen Verhalten betroffen, und
die Schönheit und das Überleben indischer Natur wird vom Müll überschattet.
Ein indischer Freund Santoshkumar, Physiker und Schriftsteller, der uns auf einer
Wanderung begleitete und Deutschland
auch schon bereist hatte, bedauerte dies
sehr und wünscht sich mehr Engagement
seitens der Eltern und der Schulen im Bereich Umwelterziehung. Er betonte, dass
der innerindische Tourismus in den letzten
Jahren extrem zugenommen habe. Dies sei
zwar erfreulich, aber auch mit negativen
Entwicklungen verbunden. Viele Menschen aus dem Norden bereisten den Süden, aber es sei jetzt auch schick, mal über
das Wochenende aus den dicht besiedelten
Städten des Südens in die Berge zu fahren.
Die reiche Mittelklasse des Südens ließe
sich die Kurztrips gerne etwas kosten. Man
buche teure Hotels in den Bergen oder
sehr strandnah, Wellness sei auch angesagt und Freizeitparks stark nachgefragt.
Fast food sei modern und Shopping in der
Lulu Mall ein unbedingtes Muss. Viele
Entwicklungen, die mit wachsendem Tourismus drastische Folgen für die Flora und
Fauna sowie für die Landwirtschaft und
das einheimische kulturelle Gut in Kerala
und Karnataka mit sich bringen.
Dass bereits seit einigen Jahren ein Umdenken in bestimmten Kreisen stattgefunden hat, insbesondere in Kerala, war uns
nicht nur aus der Presse bekannt. Immer
wieder gab es auch Absichtserklärungen der Landesregierung, sich die Ziele
des „Ökotourismus“ und „verantwortungsvollen Tourismus“ auf die Fahnen
zu schreiben. Doch inwieweit dies Lippenbekenntnisse sind, wird die Zukunft
zeigen. Unsere erste Begegnung mit dem
Aktivisten Sumesh Mangalserry kam
durch eine befreundete Journalistin vor
knapp 8 Jahren zu Stande. Seine Ideen von
nachhaltigem Tourismus in Kerala beindruckten uns und wir nahmen uns vor, die
Umsetzung vor Ort kennenzulernen, und
buchten unsere erste Reise zu Kabani in
die Nilgiri Mountains.
Wir verbrachten drei Tage in einem Zimmer, das uns Sumeshs Eltern in ihrem
Haus vermieteten. Das Konzept lautete
„Community Tourism“ und „Home-Stay“.
Die Dorfbewohner sollten direkt erreicht
werden, klobige Hotelneubauten und die
dadurch bedingte Zerstörung von Naturund Kulturlandschaft verhindert, sowie
MEINE WELT 2/2014 21
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
lokale Produkte direkt vermarktet werden. Wir wurden begleitet von Freunden
der Familie. Die einen kannten sich mit
Vogelarten aus, andere zeigten uns die Seidenraupenproduktion. Wir aßen einfaches
vegetarisches Essen und fühlten uns gut
betreut. Unsere Kinder fühlten sich wohl.
Die Unterkunft einfach gehalten und sauber. Die Dörfer nicht übersät mit bunten
Polythene Bags und anderem Müll. Das
Gefühl von Ferien auf dem Bauernhof
in Kerala stellte sich schnell ein. Schnell
kamen wir ins Gespräch Sumesh überlegte
schon damals, neben den Reiseangeboten
NACHRUF
Zum Tode des Autors
U. R. Ananthamurthy
In einer Zeit, in der Filmhelden und
Fernsehpersönlichkeiten die öffentlichen
Diskurse der indischen Mittelklasse beherrschen, war die Wirkung von Udupi
Rajagopalacharya Ananthamurthy eine
Ausnahme: Er konnte als Schriftsteller die
Gefühle breiter Bevölkerungsschichten
beeinflussen. Als Prosaautor in seiner südindischen Muttersprache Kannada wurde
er berühmt, und er tat mehr als viele andere Autoren für die Bedeutung der Regionalsprachen in der indischen Literatur.
Sein bedeutendster Roman „Samskara“,
1994 auch in deutscher Übersetzung erschienen, und seine Novelle „Ghatasraddha – Totenritual für eine Lebende“ (1997
in der Zeitschrift „die horen“ gedruckt)
handelten vom Zusammenprall alter hinduistischer Traditionen mit dem modernen
Leben. Familienbräuche reiben sich an den
Ansprüchen von Individuen, ungerechte
Konventionen am Erwachen eines neuen
Bewusstseins.
U. R. Ananthamurthy wurde 1932 in der
Provinz Karnataka geboren, studierte in
Mysore und dann in Birmingham. Jahrzehnte unterrichtete er englische Literatur
in Mysore, setzte sich aber zugleich vehement für den Gebrauch der Muttersprache
ein. Er bekleidete viele öffentliche Ämter,
so die des Rektors der Universität von
Kottayam, des Vorsitzenden des National
Book Trust und des Präsidenten der Sahitya Akademi, der indischen Literatur-
22 MEINE WELT 2/2014
akademie. Er war das heute immer seltenere Beispiel eines poeta doctus und wirkte
gleichzeitig als intellektueller Aktivist, der
mit seinem Ruhm zahlreiche kulturelle
und gesellschaftliche Anlässe unterstützte.
Staat und Gesellschaft dankten ihm dieses
Engagement mit vielen Preisen, so mit der
höchsten literarischen Auszeichnung in Indien, dem Jnanpith-Preis, und mit großer
Medienaufmerksamkeit. Mehrere seiner
Romane wurden verfilmt.
Auch in Deutschland war Ananthamurthy
bekannt, so als Gastprofessor in Tübingen und Teilnehmer an Seminaren und
Schriftstellerbegegnungen. Am vergangenen Freitag starb er im Alter von 81
Jahren in Bangalore, jener Stadt, die auf
sein Betreiben wieder ihren ursprünglichen Namen Bengaluru erhalten hat. MARTIN KÄMPCHEN
zeitgleich pädagogische Trainingsprogramme für die lokalen Reiseleiter zu ergänzen
und für Kinder Aktivitäten anzubieten.
Über die Jahre wurde das Angebot immer
professioneller und ergänzt durch zahlreiche neue Programme und Fortbildungen
für die lokalen Fachkräfte.
Heute ist aus der Nichtregierungsorganisation ein wirklich beeindruckendes soziales
Unternehmen und eine Umweltbewegung
erwachsen, die über Keralas Grenzen hinaus bis in die ganze Welt Unterstützer
findet. Kabani bewegt sich nun auf zwei
Ebenen.
Zum einen wurde Kabani als NGO erhalten, zum anderen wurde ein soziales Unternehmen gegründet. Sumesh bekleidet
zurzeit das Amt des Direktors der NGO
Kabani und organsiert Kampagnen, forscht
über den negativen Einfluss von Tourismus
auf Völker und die natürlichen Ressourcen und nimmt an internationalen Konferenzen und Fachgremien zum sozial- und
umweltverträglichen Tourismus teil.
Kabani – Community Tourism & Services – ist eine private Aktiengesellschaft,
die im Jahr 2013 gegründet wurde. Das
Unternehmen betreibt sein Geschäft
und Aktivitäten in ethischer, sozialer
und umweltverträglicher Weise. Sie sind
bestrebt, den „ökologischen und sozialen
Fußabdruck“ der Waren und Dienstleistungen zu minimieren. Dazu gehören faire Löhne und Arbeitsbedingungen, fairer
Einkauf und Operationen, Produkte aus
nachhaltigen Quellen, die gerechte Verteilung von Nutzen und die Achtung der
Menschenrechte, Kultur und Umwelt.
Unternehmens­philosphie ist: Der Schutz
der Umwelt geht Hand in Hand mit dem
Schutz der Lebensgrundlagen zukünftiger
lokaler Gemeinschaften.
Auf dem Weg zum sozialen Unternehmen
gab es viele Hürden zu nehmen, aber auch
viel Ermutigung zieht Sumesh aus seinem
letzten Besuch in Frankreich und Deutschland im Oktober. Viele Gruppen in Europa, die sich mit Aspekten des nachhaltigen
Tourismus befassen, laden ihn ein,Vorträge
zu halten. Einige reisen über das Kabani
Network nach Südindien. Sumesh und seine Mitarbeiterin Subini berichten, dass
die Möglichkeit, Freiwilligenarbeit in den
Programmen von Kabani zu leisten, sehr
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
„KABANI –
The other direction“
„KABANI“ ist eine neue Initiative mit Arbeitsschwerpunkt im Wayanad Distrikt in
den Bergen des südindischen Bundesstaates Kerala an der Grenze zu Karnataka. Die
Organisation leitet ihren Namen von dem
Fluss Kabani ab, der im Gegensatz zu fast
allen anderen 43 Flüssen in Kerala ostwärts
statt nach Westen fließt. So wie sich der
Fluss entgegengesetzt bewegt, will „KABANI“ ebenfalls eine andere Richtung für die
Tourismusentwicklung der Region aufzeigen. In der Nähe des Ortes Pulpalli teilt sich
der Fluss und bildet die Insel Kuruva. Wie
die beiden Flussarme hat die Arbeit der
Organisation zwei Standbeine. Einerseits
entwickelt „KABANI“ ein einheimisches
Tourismusmodell, das auf „Home stay“-Programme setzt, die der Bevölkerung direkt
zugutekommen und den Gästen Alltagserfahrungen vermitteln. Andererseits hat die
Initiative eine deutliche Kampagnen-Ausrichtung, mit der Fehlentwicklungen aufgedeckt und verhindert werden sollen. So
wie auch das Wasser der Kabani-Flussarme
eine Einheit bildet, sind beide Arbeitsbereiche der Organisation eng miteinander
verbunden. Unter anderem in Trainingsprogrammen fließen sie zusammen.
Kabani Community Tourism & Services
(P) Ltd.
Address: 27/1044 G, Kuthiravattom P.O.,
Parayanchery, Kozhikode, Kerala -673016, India
Phone: +91 495 274 3842
Mobile Phone: +91 964 514 4252
Email: contact@kabanitour.com or
sumesh@kabanitour.com
http://www.kabanitour.com
Fair unterwegs in
Kerala
Reiseführer,
herausgegeben von
Kabani
nachgefragt ist. Mittlerweile beschäftigt
Kabani fünf Vollzeit-Kräfte und mehrere
Ehrenamtliche. In diesem Jahr arbeiteten
sie mit sieben Freiwilligen aus aller Welt.
Sumesh erinnert daran, dass alles seinen
Ursprung darin hatte, dass die Dorfbewohner die negative Auswirkungen des
Tourismus zu spüren bekamen, während
die staatlichen Organe der Regierung von
einem stetigen Wirtschaftswachstum durch
den Tourismus sprachen. Eine völlig konträre Haltung, die die Situation der Dorfbewohner keineswegs berücksichtigte. Seine
sozial- und umweltpolitische Haltung ist
den lokalen Behörden oftmals ein Dorn
im Auge, aber er lässt sich nicht beirren.
„In den meisten Tourismusorten geht die
Entwicklung an den Menschen vorbei“, erklärt Sumesh Mangalassery, KampagnenKoordinator von „Kabani“, in einer Präsentation über aktuelle Tourismustrends
im Land. Die Auswirkungen seien dagegen
deutlich zu spüren: Abfallberge an den
Stränden, Wasserverschmutzung der
Backwaters durch die steigende Zahl von
Hausbooten, Verdrängung traditioneller
Wirtschaftszweige, Prostitution und die
zunehmende Konkurrenz um TouristenDollars und -Euros. „Eine solche Entwicklung wollen wir hier in Wayanad nicht“,
betont der Tourismus-Aktivist. „Wir glauben, dass ein anderer Tourismus möglich
ist. Dafür setzen wir uns ein“.
Mittlerweile erstrecken sich die Programme von Kabani auf die Staaten Karnataka,
Kerala, Pondicherry, Tamil Nadu und Rajasthan. Für 2015 sind Touren und Programme bereits geplant in Goa, Uttarkhand,
Himachal Pradesh, North East India, Sri
Lanka und Nepal.
Für die Zukunft sind auch spezielle Programme für den Urlaub von Familien mit
Kindern geplant. Workshops mit Naturmaterialien, lokale Spiele und Kindertouren.
Sumesh und sein Team sind unermüdlich
kreativ, sein Enthusiasmus ist ansteckend
und stimmt nachhaltig hoffnungsfroh! Wir
wünschen ihm mit seiner Bewegung und
seinem Unternehmen viele weitere Unterstützer/innen! j
Initiativen gegen
die Wegwerfkultur
Menschenrechtsverletzungen und ökologisch kritische Herstellungsprozesse von
Handys, Computern & Co. sowie geplante Obsoleszenzen empören immer mehr
Vebraucher(-innen). Dadurch getrieben
entstanden innerhalb kürzester Zeit unzählige Initiativen, die der Wegwerfkultur
gezielt entgegentreten. Hier sind einige
Ansätze:
Wiederverwendungen:
Netzwecke wie alles-und-umsonst.de
bieten die Möglichkeit, nicht genutzte
Gegenstände zu verschenken. Auch das
Tauschen in lokalen Tauschringen oder
auf tauschticket.de ermöglicht die (Wieder-)Nutzung nicht mehr gebrauchter
Gegenstände.
Wieder verkaufen:
Bei Unternehmen wie wirkaufens.de oder
dem Gemeinschaftsprojekt weee-return.de
bekommen VerbraucherInnen für funktionstüchtige Geräte noch einen angemessenen Erlös.
Kollektivnutzen:
Auf den Online-Plattformen leihdirwas.
de, fairleihen.de und frents.com steht eine
gemeinsame Nutzung im Vordergrund.
Recyceln:
Kommunale Sammelstellen sind die richtige Adresse für eine fachgerechte Entsorgung. Viele Mobilfunkanbieter nehmen
überdies Handys zurück, recyceln sie und
spenden die Erlöse an gemeinnützige Organisationen.
JOYCE-ANN SYHRE
Weitere Infos und Link zu den Initiativen gibt es
auf unserer Webseite: www.germanwatch.org/de/
it-recycling
(Quelle: Germanwatch 1/2014)
MEINE WELT 2/2014 23
I INDORAMA I
Yoga-Meister B.K.S. Iyengar
stirbt mit 95 Jahren
Einer der bedeutendsten Yoga-Gurus
der Gegenwart und Wegbereiter der
Yoga-Therapie, Bellur Krishnamachar
Sundararaja Iyengar, starb in der Nacht
zum 20. August 2014 mit 95 Jahren in
Pune, Maharashtra. Fast 80 Jahre seines
Lebens widmete er der Lehre und machte
Yoga im Westen bekannt. In seiner Kindheit litt er an schweren Krankheiten wie
Malaria, Tuberkulose und Typhus. Diese
schwächten ihn sehr, doch sein Schwager
unterrichtete ihn in Yoga und sein Gesundheitszustand besserte sich. Mit 19 Jahren
gründete Iyengar im westindischen Pune
seine eigene Schule und entwickelte seinen speziellen Stil. Iyengar-Yoga gilt als
eine Form des Hatha-Yoga und arbeitet
mit Asanas (Körperstellungen), die lange
und bewusst gehalten werden. In seinem
Leben gab er mehr als 15 000 öffentliche
Vorführungen. Sein Buch „Licht auf Yoga“
gilt als Standardwerk des Hatha-Yoga und
verhalf dem Meister zu internationaler
Berühmtheit. Heute gibt es in rund 50
Ländern Iyengar-Yoga-Schulen.
(Quelle: Südasien, 3-4/2014)
INDISCHE KÜCHE
Schon vor 2 000 Jahren entstanden die ersten christlichen Gemeinden in Indien, als
der Sage nach der Apostel Thomas im südlichen Kerala landete. „Viele Brahmanen
nahmen damals unseren Glauben an, und
so gehören wir zu Indien wie die Hindus“,
erklärt Prof. Joseph Pathrapankal, der ein
spirituelles Zentrum nahe Kottayam leitet.
Thomas‘ Nachfolger grenzen sich daher
von jenen Christen ab, die erst viel später von Europäern missioniert wurden.
In Kerala stellen Christen 20 Prozent der
Bevölkerung: ihre Kirchen und Seminarhäuser sind dort unübersehbar, während
ihre Glaubensbrüder im übrigen Land ein
Schattendasein führen und in manchen
Bundesstaaten wie dem armen Orissa
häufig auch Opfer von Verfolgung werden.
KLEMENS LUDWIG
(Quelle: „Indien Verstehen“, Sympathie Magazine, 2014. Aus dem Beitrag: „Religiöse Toleranz“
von Klemens Ludwig)
Indische Wirtschaft
heute
Daten aus der offiziellen Wirtschaftsstudie
des Finanzjahres 2013-2014
- Wirtschaftswachstum: Unter 5% (davon Landwirtschaft 4,7%)
- Inflation: 9,49%
- Exportwachstum: 4,1% (Im Finanzjahr
2012-2013: -1,8%)
- Import: -8,3%
Zahlungsbilanzdefizit: $ 32,4 Milliarden
(1,7% des Bruttoinlandprodukts). Im Finanzjahr 2012-2013 war dies $ 88,2 Milliarden (4,7% des Bruttoinlandprodukts)
Pakoras
Zutaten
500 Gramm Gemüse:
Kartoffeln, Blumenkohl, Spinat, Paprikaschoten, Auberginen etc.
2 Tassen Mehl
1 Ei
1 Tasse Wasser
2 Teelöffel Currypulver
Salz nach Geschmack
1 Zwiebelring
Zubereitung
Gemüse in kleine Stücken schneiden.
Aus Mehl, Ei und Wasser einen dicken
Pfannkuchenteig herstellen. Currypulver
dazu geben. Nach Geschmack salzen. Den
Zwiebelring in den Teig tauchen. Falls der
Christen in Indien
Teig nicht haftet, tropfenweise Pflanzenöl
hinzufügen. Nacheinander die kleingeschnittenen Gemüsestücke in den Teig
eintauchen und in heißem Öl (200 Grad)
goldbraun backen. Heiß servieren.
(Quelle: Indische Küche von Syed Abdullah,
Wilhelm Heyne Verlag, München)
Starke Zunahme von Subventionen war
ein ausschlaggebender Grund, warum die
notwendigen Mittel fehlten, um Wachstumsimpulse freizusetzen durch notwendige
Investitionen, zum Beispiel in die Infrastruktur. Die Studie empfiehlt strenge fiskalische Maßnahmen, um die Wirtschaft
auf den Wachstumspfad zurückzuholen.
(Quelle: Berichte in indischen Zeitungen)
24 MEINE WELT 2/2014
I INDORAMA I
Gefährlicher Gang
Es ist ein Thema, über das man lieber
nicht spricht, denn es stinkt sprichwörtlich zum Himmel: In Indien haben
immer noch zwei von drei Menschen
keinen Zugang zu einer Toilette. Männer und Kinder gehen deshalb nach
draußen und verrichten meist auf
Feldern oder an Bahngleisen ihre Notdurft.
Doch für Indiens Frauen ist es nicht so
einfach. Scham und Anstand verbieten
es ihnen, sich in aller Öffentlichkeit zu
entblößen. Deshalb müssen sie auf die
Dunkelheit warten, die allerdings in einem Land, in dem statistisch alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt wird, keinen
Schutz gewährleistet. Im Gegenteil: Für
zwei Mädchen im nordindischen Bundes-
staat Uttar Pradesch endete der Gang aufs
Feld Ende Mai tödlich; sie wurden vergewaltigt und an einem Baum erhängt.
Nur ein Verbrechen von vielen dieser Art.
Nach einem Polizeibericht geschehen in
Uttar Pradesch 95 Prozent aller Fälle von
Vergewaltigung und sexueller Belästigung,
wenn die Frauen ihre Notdurft im Freien
verrichten. Da wundert es kaum, dass bei
einer Befragung nur ein Prozent Toiletten
aus gesundheitlichen Gründen wollten, 40
Prozent hingegen aus Sicherheitsgründen.
Im vergangenen Wahlkampf wurde die
Toilettenfrage zum Thema. Die Frauen
können hoffen, denn der neu gewählte Premierminister Narendra Modi versprach:
„Toiletten zuerst, Tempel später!“ N O
(Quelle: Kontinente, Sept./Oktober 2014)
Indisch-deutsche Forschungsinitiative
arbeitet an Papiersolarzellen
Gemeinsam mit dem Institut für Print- und
Medientechnik der Technischen Universität Chemnitz (TUC) arbeitet das Manipal
Institute of Technology in einem eigens
dafür eingerichteten Print and Media India
Innovation Lab (pmIndia) in der Nähe
von Jaipur in Rajasthan an gedruckten Papiersolarzellen, die in naher Zukunft kostengünstig und recyclebar auf den Markt
kommen sollen. Indien bietet sich aufgrund
der klimatischen Bedingungen und der
Anzahl an Haushalten ohne Stromversorgung als Test- und Weiterentwicklungsort
für diese neue Technologie besonders an.
Die Papiersolarzellen, die im Fachjargon
3PV (printed paper photovoltaics) genannt
werden, konnte die TUC durch die Zusammenlegung der Forschungsfelder des
traditionellen Druckereimaschinenbaus
mit denen der Elektronik und Medientechnologie entwickeln. Langfristig sollen „normale“ Druckereien in der Lage
seien, Solarzellen auf Standardpaper
auszudrucken und lokal zu vertreiben.
An der Technologie wird bereits seit 2008
Gothas
Stadtschreiber
für 2015
kommt aus Indien
Traditionell gibt die Stadt Gotha jedes Jahr
am 25. Oktober bekannt, wer im folgenden
Jahr das Kurd-Laßwitz-Stipendium erhält.
Für 2015 fiel die Wahl der vom Stadtrat
berufenen Jury unter Vorsitz von Gothas
Oberbürgermeister Knut Kreuch (SPD)
auf Anant Kumar, einen Inder, der jetzt in
Kassel lebt, informierte Maik Märtin, Pressesprecher der Stadt. Geboren im östlichen
indischen Bundesstaat Bihar, studierte
Anant Kumar in Kassel, Wien (Österreich)
und Montpellier (Frankreich) Germanistik,
Soziologie und International Protection
of Human Rights. Seine Magisterarbeit
schrieb er über Alfred Döblins Epos „Manas“. Er ist Verfasser von 17 Titeln, darunter
von drei Kinderbüchern.
CLAUDIA KLINGER,
Gotha
(Quelle: Türinger Allgemeine vom 25.10.2014)
gearbeitet. Die Zusammenarbeit der beiden Forschungsinstitute wird durch das
BMBF (Bundesministerium für Bildung
und Forschung)-Programm zur Etablierung gemeinsamer deutsch-asiatischer
Forschungsstrukturen gefördert, das seit
2009 läuft.
Quelle: Sudasien, 3-4/2014
Foto: www.klima-wandel.com
„Meine Welt“ ist im Internet
Die alten Ausgaben von MEINE WELT (seit
ihrer Gründung im Jahr 1984) sind im Internet abrufbar und herunterzuladen.
Unter http://caritas.erzbistum-koeln.de/
dicv-koeln/hilfe_beratung/migration_vielfalt/veroeffentlichungen/meine_welt
MEINE WELT 2/2014 25
I U M W E LT I
Wasser als Instrument himmlischer
und irdischer Macht in Indien
A. KHALIQ KAIFI
Welche Rolle hat Wasser in der Entwicklung von menschlicher Geschichte
gespielt? Dieser Frage geht Herr Dr.
Kaifi im folgenden Beitrag nach.
DIE REDAKTION
Die ewige Rolle des Wassers als sakrale
Macht und wesentlicher Bestimmungsfaktor zur Legitimierung der herrschaftlichen
Despotie zeigt sich vor allem in der Geschichte des Lebens der Völker Afrikas
und Asiens, hier insbesondere in Indien.
Etwa drei Viertel der Erdoberfläche sind
vom Wasser bedeckt. Es liegt daher nahe,
sich unsere Welt als eine auf dem Wasser
schwimmende Scheibe oder als einen aus
dem Wasser herausragenden Erdhügel vorzustellen. 98,77 Prozent des Wassers auf der
Erde sind in den Weltmeeren enthalten.
Nur 1,23 Prozent verteilen sich auf das Eis
der Polargebiete, auf die Hochgebirge, die
Süßwasserseen, Flüsse, das Grundwasser
und den Wasserdampf der Atmosphäre.
Die verhältnismäßig geringen Süßwassermengen bilden die Grundlage des gesamten Lebens auf der Erde. Wasser ist der
Klimafaktor, ein lebenswichtiger Kreislauf
ohne Anfang und ohne Ende.
Der menschliche und tierische Körper
besteht zu 60 bis 70 Prozent aus Wasser,
die Pflanzen haben einen Wasseranteil von
gar über 90 Prozent. Die täglich vom erwachsenen Menschen aufgenommene und
ausgeschiedene Wassermenge beträgt etwa
2,5 bis 4 Liter. Bei einem Wassermangel
von 10 Prozent treten empfindliche Störungen ein, ein 20 prozentiger Wasserverlust
führt bereits zum Tod.
Kulturgeschichtlich hat das Wasser eine
unermesslich faszinierende Rolle gespielt.
Wo es Wasser gab, entwickelten sich die
menschlichen Siedlungen, der Ackerbau,
die Viehzucht und der Reichtum. Die uns
26 MEINE WELT 2/2014
bisher bekannten Hochkulturen, die Jahrtausende vor der christlichen Zeit liegen,
sind am Euphrat,Tigris, Nil, Indus, Ganges, Hwangho und am Yangste entstanden. Auch die Ursprünge der ältesten
deutschen Städten liegen an den Ufern
von Rhein, Donau und Mosel. Karl der
Große (747-814), Gründer des römischen
Reiches deutscher Nation, ließ sich bei den
Thermalquellen in Bad Aachen, was Urgermanisch „ahwo, Wasser“ heißt, nieder.
Das Wasser ist, wie wir wissen, ein unverzichtbarer Bestandteil des menschlichen Daseins und des Universums. Die
unfassbare Dimension der Ozeane, die
unkalkulierbare Flutung, das Ausbleiben
von Regen, die Austrocknung der Wasserquellen und damit verbundener Hunger
und Tod haben auf die Menschen seit ihrer
Entwicklung entscheidend eingewirkt. So
ist verständlich, dass die Menschen das
Wasser in seiner Gesamtheit als göttliche
und auch diabolische Kraft ansehen.
Dabei ist zu betonen, dass das Wasser seit
der Urzeit im Hinduismus eine sehr bedeutende sakrale Rolle gespielt hat. Fast
alle Flüsse Indiens werden von den Hindus
als mütterliche Gottheiten betrachtet. Der
Ganges wäscht die Sünden der Gläubigen ab, deren Asche oder Leichen seinem
Wasser anvertraut werden. Der Fluss gewährt ihnen Wiedergeburt in einem Reich
himmlischer Seligkeit. Auch die allergrößten Pilgerfeste der Welt, wie die Kumbh
Mela, gleichbedeutend mit „Zum Krug
des Unsterblichkeitsnektars“, finden am
Ufer des Ganges statt.
Fast alle hinduistischen Großtempel
liegen in Bergen oder an Küsten und
Flussufern wie in Gangotri, Haridwar,
Rishikesh,Varanasi (Ganges), Mathura
(Jamuna), Allahabad am Treffpunkt (Sangam) von Jamuna mit dem Ganges und mit
dem mythologischen Fluss Saraswati, Maheshwar, Omkreshwar (Narmada), Puri,
Konark, Mahabaleshwar, Mahabalipuram,
Rameshwaram (Golf von Bengalen), Kap
Komorin am indischen Ozean, um nur einige davon zu nennen.
Die in Indien später entstandenen Reformreligionen wie Buddhismus und Sikhismus
betrachten Flüsse auch als etwas Heiliges. Einige der heiligsten buddhistischen
Tempel und Klöster liegen am Ganges
oder an Lotusteichen wie u. a. in Bodh
Gaya, Patliputra, Nalanda, Rajgirih (Bihar), Sarnath (Uttar Pradesh), etc. Auch
die namhaften Orte und Gurdwaras der
Sikhs befinden sich an Flüssen wie Takht
Sri Patna Saheb am Ganges in Patna (Bihar), Takht Sri Hazur Saheb am Godaveri
in Nanded (Maharashtra) und Takht Sri
Keshgarh Saheb in Anandpur am Sutlej
(West Punjab). Der wohl bekannteste ist
der Goldene Tempel, Takht Sri Harmandir
Saheb in Amritsar (Nektar-Stadt), welcher
um einen Teich herum gebaut wurde, der
der Sage nach aus Nektar (Amrit) und
Gangeswasser besteht.
Magische Kräfte von Wassergöttern
Alle Völker der Welt glaubten an die magische Kräfte von Wassergöttern und Wassergeistern. Hierzu zählen die sumerischen
Wassergottheiten „Enki“, babylonischen
„Ea“, iranischen „Anahita“, keltischen
„Manannan mac“, finnischen „Ahti“ und
indischen „Asparas“. In Altägypten war
der Nil sowohl Gottheit als auch heiliger
Strom. Der ägyptische Sonnengott Re, dargestellt auf dem alten Tempel, vollzieht
eine Reinigung, indem er im kosmischen
Wasser untertaucht und in das Totenreich
hinabsteigt. Die Flüsse werden in der Antike als männliche Gottheit betrachtet. Der
bedeutendste griechische Flussgott war
I U M W E LT I
Acheloos mit langem fließenden Bart und
Haar, der auf einem Vasenbild aus dem
Wasser steigt.
Zu Gottheiten von Römern zählten auch
Meere und Flüsse. Zum Huldigen des
Wassers bauten die Römer im 3. Jh. v.
Chr. einen Tempel für den Aesculapius,
den griechischen Gott für Medizin, auf
der Isola Tiberina (Insel Tiber), Ort der
antiken Mythologien, in Rom.
Nach der Legende hören wir bei den nordeuropäischen Völkern insbesondere am
Rhein im Nibelungenlied von den Gottheiten, Drachen, von Liebe, Heldentaten,
verborgenen Schätzen und von der Nixe,
die vom Felsen Loreley die Schiffer am
Rhein mit ihrem Gesang anzog, oder von
der männlichen Nixe in Dänemark und
Schweden, die die Menschen durch seine dem Ruf eines Ertrinkenden ähnliche
Stimme anlockt1.
Die Gläubigen der monotheistischen Religionen von Judaismus, Christentum und
Islam lehnen die Naturelemente wie Wasser als Gott ab, dennoch verehren sie das
Wasser als eine der Manifestationen des
Allmächtigen. Das Christentum bewahrt
in seinem Glauben Wasser als Element der
Reinheit und Reinigung. Im Alten Testament finden wir umfangreiche Vorschriften
über das, was als rein und unrein gilt, sowie über die Riten des Reinwaschens von
Sünden. Johannes der Täufer taufte die
Gläubigen im Jordan. Das Untertauchen
entsprach einem von der Sünde reinigenden Bad, also wie ein Ashnan (Bad) im
Ganges bei Hindus. Darüber hinaus sind
uns die feierliche Weihe des Taufwassers
in der Osternacht, die Taufe von Kindern,
das Weihen des Altars, der Glocken, von
Personen und Objekten mit Weihwasser
bekannt. Es ist üblich, dass der gläubige
Christ beim Eintreten in die Kirche seine
Finger in das Weihwasser taucht und sich
bekreuzigt. Die Form des Taufbeckens ist
überdies eine Halbkugel, die mit einem
Wellenornament versehen ist – Symbol
für den kosmischen Ozean. An Wallfahrtsorten sieht man immer wieder die Heilbrunnen, Wasser aus dem Jordan brachten
Kreuzfahrer und bringen heute noch die
Pilger mit2.
Auch der Islam verehrt das Wasser als
Symbol der Reinigung von Körper und
Seele. In der Welt des Islam spielen die
rituellen Waschungen bei der Geburt und
beim Tod eine zentrale Rolle. Der Nimaz
(Gebet) wird durch eine strikt vorgeschriebene Waschung (Wadu) vollzogen. Fast alle
Grabstätten der Heiligen, der Sufis und
Derwische liegen an Wasserquellen, die
durch ihre Wundertaten das Wasser zum
Sprudeln brachten. Das dortige Wasser
wird von Gläubigen als heilig und Heilmittel angesehen. Das Wasser des Brunnens
Zam Zam in Mekka wird von Pilgern als
Heilmittel in ihre Heimat mitgebracht. Die
islamische Erzählung bringt den Ursprung
dieses Brunnens mit Abraham zusammen.
Der Engel Gabriel soll ihn geöffnet haben,
um Hagar und ihren Sohn Ismail zu retten, die vor Durst in der Wüste gestorben
wären. Das Weihwasser als Heilmittel ist
unter dem moslemischen Volk weltweit
verbreitet. Millionen von Moslems im
indischen Subkontinent lassen das mitgebrachte Wasser von den Predigern (Mullahs) insbesondere nach dem Freitagsgebet
(Juma) weihen3.
Im indischen Subkontinent wird die Wassertherapie zur Beruhigung und Anregung
des Kreislaufs, Nervensystems und Stoffwechsels häufig verwendet (Ayurveda und
Unanimedizin). Auch in der neuzeitlichen
zentraleuropäischen Kultur sind Kurstätten zur Genesung von Krankheit noch immer mit der Heilungskraft des Wassers in
Form der Bäderkultur verbunden.
Hier sei erwähnt, dass die monotheistischen Religionen in Wüsten entstanden
sind, wo das Wasser äußerst knapp war. Es
ist daher auch nicht verwunderlich, dass
Flüsse und Bäche in die Paradiesvorstellung der Gläubigen dieser Religionen eingegangen sind. Der Symbolik vom Garten
Eden mit seinen vier Strömen begegnen
wir dort. Die sakrale Bedeutung des
Wassers geht bei den monotheistischen
Glaubensrichtungen eindeutig auf die noch
älteren Religionen des Orients zurück.
Wasser als Machtinstrument der
Despotie
Nach diesem knappen Abriss über Wasser
als heilige Macht betrachten wir das Wasser als einen der Bestimmungsfaktoren
zur Entwicklung der Despotie im Leben
der Völker.
Wie wir wissen, bauten schon die Herrscher
an Euphrat, Tigris und Nil die Dämme
und Kanäle zur Bewässerung der Landwirtschaft. Bereits um die Wende des 7.
Jahrtausends v. Chr. ist uns in Assyrien das
großangelegte Kanalsystem zur Wasserversorgung der Stadt Ninive bekannt. Die
Induskultur Harappa und Mohenjedaro
(zwischen 2300 und 1700 v. Chr.) verfügte
über eine aufwändige Wasserleitung und
ein Kanalsystem. Im römischen Reich
wurden große Fortschritte bei der Wasserleitung und Wasserverteilung gemacht.
Mit dem Bau von Bewässerungsanlagen
und der Wasserzuteilung erreichten die
Herrscher die absolute Kontrolle über ihre
Untertanen. Dem Mauryakönig (350-283 v.
Chr.) empfahl sein Kanzler Kautilya (350283 v. Chr.) in dessen Buch Arthasastra
(Staatslehrbuch), das künstlich bewässerte Land um den dritten oder den vierten
Teil des Ertrages zu besteuern und den
Schuldner hart zu bestrafen.4
Die chinesische Bewässerungsgeschichte
erzählt in vielen Beispielen, dass Wasser
als Mittel zur Verknechtung des Volkes
diente. Das Hauptgebiet der chinesischen
Agrikultur liegt im Flussbecken des Hoangho (Gelber Fluss). In dieser nordöstlichen Region gibt es geringe Niederschläge,
aber genügend Löß, eine Art kalkhaltiges
Düngemittel, das zusammen mit künstlicher Bewässerung sehr geeignet ist,
den Ackerbau zu fördern. So ließ dort in
Altchina Kaiser Yu der Große vor 2000
Jahren v. Chr. Bewässerungsanlagen mit
Millionen von Fronarbeitern bauen, deren
Ausweitung noch im 7. Jahrhundert n. Chr.
von Kaiser Yang Ti mit einer ähnlichen
Menschenmenge fortgesetzt wurde.5
Der Aufbau der Bewässerungsanlagen,
die Säuberung dieser von Schlamm und
Schlick, die Reparatur und Wartung,
die Wasserspeicherung für regenarme
Zeiten, die Zuteilung von Wasser an
die Bevölkerung, Wasser- und Ertragsbesteuerung konnte nur mit Hilfe eines
zentralistischen Staatsapparates bewältigt
werden. Dadurch erzielten diese Staaten
ihre Haupteinnahmen. So ist es nicht verwunderlich, dass neue Eroberer erst die
Wasseranlagen besetzten und zerstörten,
um die Kapitulation zu erzwingen. Von
Ägypten bis China sind noch Ruinen von
MEINE WELT 2/2014 27
I U M W E LT I
solchen Bewässerungsanlagen zu sehen.6.
Karl Marx, der sich ausführlich mit der
asiatischen Produktionsweise auseinandersetzte, sah das Entstehen der staatlichen Bewässerung der Landwirtschaft als
einen der entscheidenden Faktoren zur
Entwicklung der Despotie in Asien und
Afrika. Er begründete dies damit, dass
„klimatische und territoriale Verhältnisse...
künstliche Berieselung durch Kanäle und
Wasserwerke die Grundlage der orientalischen Wirtschaft“ bedingten... und eine
zentralisierende Staatsgewalt erforderlich“
machten.7
Karl August Wittfogel leitet daraus den
Ursprung der orientalischen Despotie in
ihrem „hydraulisch agrarwirtschaftlichen
Charakter“ ab.8
Es wird vielfach die Meinung vertreten,
dass dadurch der Orient eine andere wirtschaftspolitische Entwicklung genommen
hat als der Okzident. Die westliche Gesellschaft entwickelte sich von der bäuerlichen
zum Feudalismus römischer Prägung mit
Eigentumsrecht. Daraus ergab sich eine
Adels- und Kaufmannsschicht, freie Zünf-
te, Handelsstädte mit Bürgertum. Diese
Klasse legte den Grundstein zur kapitalistischen Entwicklung, zu industriellen,
wissenschaftlichen, geistigen Revolutionen
und zur individuellen Freiheit und zum
Säkularismus. Dagegen blieb der Orient
weitgehend auf der Stufe der Stammesgesellschaft, die auf archaischen Strukturen
und absoluten weltlichen und religiösen
Herrschern basiert.9
Es ist eine Tatsache, dass die Herrscher
Asiens und Afrikas nach ihrer Unabhängigkeit zur Wiederstellung ihrer alten despotischen Strukturen den Bau von Großprojekten wie Staudämmen förderten. Die
damit entstandenen Folgen für Mensch
und Natur sind uns hinlänglich bekannt.
Allein in Indien sind nach der Unabhängigkeit 1947 über 1.500 große Staudämme
errichtet worden und demzufolge wurden
über 15 Millionen Menschen zwangsweise
vertrieben und umgesiedelt. Einer dieser
Dämme, Narmada, ist durch die Bewegung
Narmada Bachao (Rettet Narmada) unter der engagierten Führung von Medha
Patkar und der Schriftstellerin Arund-
INDISCHE WEISHEITEN
„Der Schlüssel zu einer guten Beziehung zum Anderen ist,
ihm weder dein eigenes Ego aufzuzwingen, noch das Ego des
Anderen abzulehnen“
S W A M I P R A J N A N PA D
(Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag
2014)
28 MEINE WELT 2/2014
hati Roy auch in Deutschland bekannt
geworden. Zur Realisierung des Projekts
sind bisher aus den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Maharashtra und Gujarat
250.000 Personen aus über 245 Dörfern
vertrieben worden, davon allein 120.000
Adivasi, Ureinwohner, die die schwächste und die ärmste Bevölkerung Indiens
darstellen.10
Die in letzter Zeit gebauten und geplanten Staudämme dienen auch zur wasserwirtschaftlichen Erpressung der Anrainerstaaten wie Irak, Syrien, Bangladesh
und Indien durch den Bau der Ilisu und
Izre Dämme an Euphrat und Tigris in der
Türkei, des Farakka Damms im indischen
Teil des Ganges und des Yarlang Tsampo
Damms von China in Tibet; in Indien heißt
der betroffene Fluss Brahmaputra.
Arundhati Roy vergleicht die Staudämme
mit Atomwaffen. Beide seien nach ihrer
Auffassung Massenwaffen, mit denen der
Staat die Kontrolle über die Bevölkerung
aufrechterhalten will.11
Unsere Gegenwart ist ein Spiegelbild der
Vergangenheit, das sich in die Zukunft
fortsetzen wird. So wird das Wasser ein
Instrument himmlischer und irdischer
Macht bleiben. j
Literatur:
1. Germanische Altertumskunde. Berlin 2000
2. Die Taufe. Hrsg. Christian Lange. Darmstadt
2008
3. Nabavi, Mir-Hossein. Hygiene und Medizin
im Koran. Stuttgart 1967
4. Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthacastra des Kautilya. Leipzig
1926. S. 372-373
5. Guter, Josef. Lexikon zur Geschichte Chinas.
Wiesbaden 2004
6. Kaifi. A. Khaliq. Wasser als Bestimmungsfaktor der sakralen Macht und Despotie im
Leben der Völker. In: Rundbrief. Jg. 7 (2).
Göttingen. S. 25-28
7. Karl Marx . Die britische Herrschaft in
Indien. In: Marx Engels Werke. Bd. 9 (1960).
Berlin. S. 218
8. Wittfogel, Karl August. Die orientalische
Despotie. Köln 1962
9. Misra. B. B. The Indian Middle Classes.
London 1961
10.Dietrich, Christopher. Widerstand gegen das
Narmada Projekt. In: Geographische Rundschau. 56 (12). Hannover 2004. S. 10-15
11.Roy, Arundhati. Das Ende der Illusion. Bremen 1999 Kalpana. Bild aus dem Film
I GESELLSCHAFT I
Gisela-Bonn-Preis 2014
geht an Rainer Hörig
Der alljährlich von der indischen Regierung in Zusammenarbeit mit der
Deutsch-Indischen Gesellschaft vergebene Gisela-Bonn Preis geht in diesem
Jahr an den in Indien lebenden deutschen Journalisten Rainer Hörig. Der
Preis wurde im Rahmen der Jahresversammlung der Deutsch-Indischen Gesellschaft und des 25-jähriges Jubiläumsfestes der DIG-Zweigegesellschaft
Aachen am Freitag, dem 26.09.2014 im
Ratssaal des Aachener Rathauses von
Herrn Hans-Joachim Kiderlen, Vorsitzender der Deutsch-Indischen Gesellschaft, verliehen. Die Laudatio hielt
Herr Tobias Grote-Beverborg, langjähriger Journalist und Mitarbeiter der
Deutschen Welle, Bonn. Nachfolgend
drucken wir die Laudatio von Herrn
Tobias Grote-Beverborg ab.
DIE REDAKTION
Laudatio: Rainer Hörig „GiselaBonn-Preis 2014“
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Dr. Kiderlen, sehr geehrte Gäste, liebe Freunde,
es ist mir eine große Freude und Ehre,
für den diesjährigen Gisela-Bonn Preisträger, Rainer Hörig, die Laudatio halten
zu dürfen.
Persönlich kenne ich Rainer Hörig durch
meine Tätigkeit für die Deutsche Welle,
den deutschen Auslandsrundfunk. Anfang
2000 war ich Verantwortlicher Redakteur
für den Weltspiegel-Asien. Rainer Hörig gehörte zu unserem Stab von festen
Auslands-Korrespondenten. Regelmäßig
lieferte er aktuelle Beiträge, Reportagen
und Kolumnen für unsere sehr beliebte
und erfolgreiche Sendung.
Besonders beeindruckte mich seine umfassende und fundierte Kenntnis der politischen und sozialen Verhältnisse des
indischen Subkontinents. An dieser ließ
Der Preisträger Rainer Hörig mit Hans-Joachim Kiderlen, der Vorsitzende der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Foto von Roland Krause
er das Publikum – mitunter schonungslos
– teilhaben.
Jedem Hörer – und Leser – seiner Beiträge wurde sofort klar, hier spricht und
schreibt jemand, der Indien aus eigener
Anschauung und persönlicher Erfahrung
kennt und nicht – wie leider so häufig –
aus der bequemen Position eines Schreibtischs im fernen Deutschland und allein
aus Agenturberichten.
Deshalb freue ich mich ganz besonders,
dass seine Arbeit durch die Verleihung
des Gisela-Bonn-Preises eine weitere,
öffentliche Würdigung erhält.
Zu einer Laudatio gehört natürlich auch,
einige Worte zur Vita des Preisträgers zu
sagen:
Geboren 1956 in Bonn am Rhein wurde
Rainer Hörig, durch den leider frühen Tod
seines Vaters bedingt, zu großer Eigenständigkeit erzogen. Sein Abitur machte er in
einem evangelischen Internat in Gütersloh,
auf das ihn seine Mutter während seiner
rebellischen Jugend schickte. Es folgte das
Studium der Publizistik, Ethnologie und
Theaterwissenschaft an der Freien Uni-
versität Berlin, welches er 1982 mit dem
Magister abschloss. Diesem schloss sich
ein zweisemestriges Aufbaustudium der
Indologie an.
Bereits während seines Studiums begab
er sich auf ausgedehnte Reisen, die ihn
sowohl nach Südamerika und Nordafrika
als auch nach Asien führten. Dort wurde
offensichtlich die Saat für seine lebenslange Begeisterung für den indischen Subkontinent geweckt. Und auch die tiefe
Faszination für die historischen Figuren
Buddha und Gandhi, die ihm bis heute eine
andauernde Quelle der Inspiration sind.
Mitte der Achtziger Jahre (1984) erhielt
Rainer Hörig Gelegenheit durch ein
Stipendium der der damaligen „CarlDuisberg-Gesellschaft“ (heute „inwent“),
drei Monate lang in Südindien über die
Situation tamilischer Flüchtlinge aus Sri
Lanka zu forschen und die Ergebnisse zu
publizieren.
Damit wurde die Saat für seine inzwischen
schon 30 Jahre lang währende Berufung
gelegt:
Indien war damals ein Land für Aussteiger und Spinner. Die deutschen Medien
MEINE WELT 2/2014 29
I GESELLSCHAFT I
reproduzierten stets dieselben Klischees
von heiligen Kühen, ausgeflippten Gurus
und bettelarmer Not. Doch dieses Bild entsprach ganz und gar nicht Rainer Hörigs
Wahrnehmung, und nach seiner Auffassung bedurfte es dringend einer Korrektur.
Und so sollte Rainer Hörig seine Lebensaufgabe als Journalist finden!
Neben seiner Berufung aber fand Rainer
Hörig noch etwas in Indien, nämlich die
große Liebe:
Ende der Achtziger (1988), während eines
Aufenthaltes am Goethe-Intitut in Pune,
im Bundesstaat Maharashtra, lernte er die
südindische Deutschlehrerin Rajashree Tirumalai kennen, die dort beschäftigt war.
1989 heirateten die beiden und Rainer
Hörig wurde in Pune sesshaft.
1992 wurde Tochter Vanessa geboren.
Seitdem arbeitet Rainer Hörig von Pune
aus als freier Korrespondent für deutschsprachige und indische Medien. Hörigs
Artikel erscheinen regelmäßig in der
Frankfurter Rundschau, Die Presse, die
tageszeitung (taz), dem General-Anzeiger
und Le Monde, wie auch in der Times of
India und weiteren Zeitungen.
Radiohörer kennen Beiträge von und
mit Rainer Hörig u.a. aus dem Deutschlandfunk, dem Westdeutschen und Norddeutschen Rundfunk sowie der Deutschen
Welle.
In seiner langjährigen Arbeit beschäftigte
sich Rainer Hörig mit einer großen Bandbreite von Indienthemen. Ein Schwerpunkt
seiner Arbeit liegt auf Umweltthemen wie
beispielsweise das umstrittene NarmadaStaudammprojekt. Für seine engagierte
Berichterstattung über Umweltzerstörung
und Vertreibung am Narmada-Fluss erhielt
Rainer Hörig 1992 den vom Bundesminister für Zusammenarbeit und Entwicklung
ausgeschriebenen ‚Medienpreis Entwicklungspolitik in der Kategorie Hörfunk‘.
Leider führte diese Auszeichnung jedoch
für Rainer Hörig zu einem einjährigen
Landesverweis aus Indien.
Der Landesverweis war schmerzhaft, bedeutete dieser doch Trennung von seiner
indischen Familie und große Ungewissheit
über die weitere Zukunft in seinem ‚geIndu
Varma.
Bild aus dem Film
liebten‘
Indien.
30 MEINE WELT 2/2014
Doch Rainer Hörig ließ sich auch nach
Ende des Landverweises nicht einschüchtern und widmet sich weiterhin unerschrocken brisanten Themen wie etwa Menschenrechte und die Situation der indischen Ureinwohner, die noch immer einen
großen Teil seiner journalistischen Arbeit
ausmachen. Auch wenn er sich damit – bis
heute – nicht immer nur Freunde schafft.
Hörigs hoher journalistischer Anspruch
führt ihn auf ausgedehnte Reisen quer
durch den Subkontinent. In seinen Reportagen und Features lässt er nicht nur
Betroffene und Akteure zu Wort kommen,
sondern räumt auch der Gegenseite breiten Raum ein.
Seine ausgeglichene Berichterstattung
wird nicht nur von den bereits erwähnten Publikationen und Sendern gewürdigt,
sondern auch von anerkannten Magazinen wie GEO, EPD-Entwicklungspolitik,
Südasien, und den bekannten SympathieMagazinen, die er seit 2009 als Redakteur
verantwortet.
Seine umfassende Indiensicht komplettieren seine Arbeiten über indische Religionen und Politik, sein Reisejournalismus
sowie zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Seine dokumentarischen Fotografien runden sein Portfolio ab.
Der Deutsch-Indischen Gesellschaft ist
Rainer Hörig bestens durch seine regelmäßigen Vortragsreihen bekannt, wie etwa
in diesem Jahr (2014) zu den „Wahlen in
Indien“.
Wie Sie sehen, ist die Anerkennung, die
Rainer Hörig nun durch die Verleihung des
diesjährigen Gisela-Bonn Preises erfährt,
mehr als gerechtfertigt.
Der Indische Kulturrat – Indian Council for Cultural Relations – New Delhi
– zeichnet mit dieser Entscheidung Rainer Hörigs herausragende Leistungen im
Bereich Journalismus und Fotojournalismus aus. Der Preis würdigt ausdrücklich
seine Berichterstattung, die sich vor allem
mit alternativen Themen wie Ökologie,
Nachhaltigkeit und Menschenrechten
beschäftigt.
Rainer Hörig hat durch sein journalistisches Werk, seiner Arbeit als Autor und
Fotograf und seinem Engagement für
soziale und ökologische Themen, Außer-
ordentliches für das Verständnis Indiens
in Deutschland beigetragen.
Sein ganzes Leben hat er Indien und
der Beschreibung der indischen Wirklichkeit in all ihren Facetten gewidmet.
Somit möchte ich ihm aus ganzem Herzen,
als Journalistenkollege und Mitglied der
Deutsch-Indischen Gesellschaft, zu der
heutigen Auszeichnung gratulieren. j
„Herzenswarme
Gastfreundschaft“
Der Preisträger Rainer Hörig schreibt in seinem Beitrag „Atem der Geschichte“ in der
neusten Ausgabe des Sympathie Magazins
„Indien“ (2014):
„Mit der Zeit gelingt es mir, meine europäische Zurückhaltung im menschlichen
Miteinander abzulegen. Hier, im Süden
Indiens, sprechen sich alle mit Vornamen
an, ganz gleich, ob sie miteinander verwandt sind oder sich erst seit wenigen
Minuten kennen. Ein Händler lädt mich zu
einer Tasse Tee ein, weil er mir ein Souvenir
verkaufen will. Ein Rikschafahrer fragt ohne
Umschweife meine Familienverhältnisse ab
und lässt mich wissen, er lebe mit Frau und
fünf Kindern in einem winzigen Ziegelhaus
am Rande der Großstadt Cochin.
Ich werde mich auch wieder daran gewöhnen, dass Zeit in Indien ein dehnbarer
Begriff ist und Zuspätkommen keineswegs Ärger verursacht. Liegt es vielleicht
am Glauben an die Wiedergeburt der
menschlichen Seele, dass Menschen mit
ihrer Zeit so locker umgehen? Oder ist es
das feuchte Klima, das rasche Bewegung
und körperliche Anstrengung mit heftigen
Schweißausbrüchen bestraft? Ich lerne also
wieder eine langsamere Gangart, übe mich
in Geduld und Toleranz.
So kann ich mich öffnen für die herzenswarme Gastfreundschaft, die die Einheimischen Besuchern aus Europa auch heute
noch entgegenbringen.“
I GEDICHT I
In meinen Gesängen gibt es Salz
O . N . V. K U R U P
In meinen Gesängen gibt es Meeressalz,
Salz aus den Tränen der Erde,
das weiß ich.
Steigt nicht
aus meinen Gesängen
der Geruch von Lagunen mit
vermodernden Kokosschalen
oder der Geruch verfaulender
Menschengeburten?
in meinen Gesängen verbreiten sich
als heißer Wind
die brennend-schmelzenden Herzenswehen
meiner Schwestern
wie Feuerfunken entflammende Flüche,
die aus den erlittenen Qualen
des Frauengeschlechts von Geburt zu
Geburt hervorbrechen.
In meinen Gesängen ist da Blut,
das aus dem Stumpf des
gefällten Baumes Topfen für Tropfen
heraussickert.
Von den giftigen Früchten ernährt,
verstummte Nachtigallen
gibt es in meinen Gesängen.
Die Leiche des verstorbenen Flusses
wird Stück für Stück beerdigt –
ebenso die Trauer der Erde, der Gebärerin.
wenn die Kinder sich den Geschmack
der Muttermilch
und der heiligen Mutterworte nicht
einverleiben
wie das ungelöste Salz in der Reissuppe,
wenn sie wie Fremde vor die eigene
Mutter treten,
der tiefe Schmerz, den dann das
Mutterherz empfindet,
er geht in meine Gesänge ein!
Das Schluchzen des Kindes
vor der sterbenden Mutter Erde,
das sich noch nach ihrem Antlitz sehnt,
der rauchende Zorn der Menschen,
die alles im Leben verloren haben,
sie alle sind in meinen Gesängen!
(Aus „Ein Tropfen Licht“, Gedichte von O. N. V.
Kurup. Herausgegeben und aus dem Malayalam
ins Deutsche übersetzt von Annakutty Valiamangalam K. Findeis. Draupadi Verlag 2012)
O. N. V. – jetzt auf Spanisch
In der globalen Welt voller Spannungen und Konflikte bewähren sich die
Dichter, Literaten und Übersetzer als
Brückenbauer über Grenzen hinweg.
Gerade sind drei Gedichte von O. N.
V. Kurup in einer spanischen Anthologie internationaler Dichtung erschienen. Die deutsche Übersetzung der
Malayalam-Gedichte von O. N. V. aus
dem Band „Ein Tropfen Licht“ (Draupadi
Verlag, 2012) hat den spanischen Dichter
Santiago Aguaded Landero inspiriert, die
drei „Feuer“-Gedichte (Feuer I, Feuer II,
Ave Phoenix) in spanischer Übertragung
in die Gedichtsammlung „Alquimia del
Fuego“ aufzunehmen.
Details für Interessenten: Fuego I, Fuego
II, Ave Féninx, übersetzt aus dem Deut-
schen ins Spanische von Sarah Schnabel
und Heike van den Bergh, S. 61-62; S.
252-253, in: Sarah Schnabel, Santiago Landero, Jack Landes, Alquimia
del Fuego. Antologiá heterogénea de
poesía, prosa poética y microrrelato.
Amargord ediciones, Madrid 2014.
A N N A K U T T Y V. K . F I N D E I S
MEINE WELT 2/2014 31
I D I E W E LT V O N M O R G E N I
Coalgate –
der oberste indische Gerichtshof hat entschieden
GEORGY KOOT TUMMEL
„... Gemeinwohl und öffentliches Interesse haben stark gelitten. Die Vergabe
von Kohleabbaulizenzen auf der Basis der
Empfehlungen der 36 Sitzungen der Auswahlkommission ist folglich illegal.“ – Ein
vernichtend eindeutiges Urteil des Supreme Court of India (Oberster Indischer
Gerichtshof) zu einem Umstand, der ein
gutes Jahrzehnt gängige Praxis der indischen Regierung war. Einen Monat später,
am 24.09.2014, folgt durch dasselbe Gericht der konsequente nächste Schritt: 214
von insgesamt 218 Kohleabbaulizenzen,
die Indien seit 1993 vergeben hat, werden schlichtweg für nichtig erklärt. Wenn
man bedenkt, dass Indiens Stromproduktion zu etwa 70% aus Kohlekraftwerken
stammt und ca. 80% der dafür benötigten Kohle heimisch abgebaut wird, dann
erschließt sich schnell die Tragweite der
Entscheidung.
Zum Hintergrund: 1992 begann die indische Regierung im Zuge der Liberalisierungswelle auch die Zugänge zu
Kohleminen an staatliche und private
Unternehmen zu veräußern - ein weltweit
gängiger Vorgang. Der Ablauf, so das hohe
Gericht, entsprach jedoch allem anderen
als internationalen Standards. Der Controller and Auditor General (CAG) of India, eine Behörde ähnlich dem deutschen
Bundesrechnungshof, bemängelte schon
seit mehreren Jahren, dass die Vergabe
der Minen nicht in einem wettbewerblichen Auktionsverfahren, sondern durch
eine Vergabekommission erfolgte. Diese
Kommission war frei in der Festlegung des
Lizenzpreises und der Wahl des Lizenzempfängers. Tatsächlich lagen die dadurch
erzielten Preise deutlich unterhalb der realisierbaren Marktpreise der Minen. Dies
32 MEINE WELT 2/2014
hatte zur Folge, dass dem indischen Staat
nach Schätzungen des CAG insgesamt 170
Mrd. US-Dollar an Einnahmen entgingen
– ein Skandal, der seinesgleichen sucht und
für den indische Medien in Anlehnung an
den amerikanischen Watergate-Skandal
den Begriff Coalgate geschaffen haben.
Intransparent und willkürlich
Über die Wahl des passenden Verfahrens
lässt sich streiten, und so trifft der Supreme Court auch kein Urteil über die Richtigkeit der Wahl des Vergabeverfahrens.
Allerdings prangert er unmissverständlich
die Umsetzung des Verfahrens durch die
Das Urteil weist
die Politik in ihre
Schranken und fordert
unmissverständlich
die Einhaltung von
rechtstaatlichen Regeln.
Auswahlkommission als intransparent
und willkürlich an. Zudem kommt er zum
Schluss, dass sich die Zentralregierung
durch die eigenmächtige Lizenzvergabe
in den Kompetenzbereich der Bundesländer eingemischt und bestehende Gesetze
verletzt hat. Auch wenn bis heute nur 40
der 214 betroffenen Minen den Betrieb
aufgenommen haben, kann das Urteil
Indien in eine Energiekrise führen, denn
vielen Kraftwerken stehen schon heute
lediglich Kohlevorräte von wenigen Tagen
zur Verfügung. Zudem sind die Kapazitä-
ten an den indischen Kohleimporthäfen
bereits weitestgehend ausgelastet. Aus
diesem Grund erlaubt das Gericht für
die bereits in Betrieb genommenen Minen
eine Übergangsfrist von sechs Monaten,
ohne dass neue Lizenzen erworben werden
müssen. Allerdings kommt diese Übergangsregelung nicht ohne zusätzliche Kosten für die Minenbetreiber. Jede metrische
Tonne, die aus diesen Minen stammt, wird
auch rückwirkend mit einer Strafzahlung
in Höhe von 295 Rupien belegt.
Es gibt nun zwei Lesearten des Urteils.
Die einen sehen darin erneut eine Bestätigung dafür, wie schlecht es im Land um
die Investitionssicherheit steht und dass
Indien wieder einmal als unberechenbarer
Partner auftritt. Dagegen spricht jedoch,
dass es in Folge des Urteils keine Verwerfungen an den Aktienmärkten gab und die
indische Börse das Urteil weitestgehend
unbeeindruckt verarbeitet hat. Denn der
langfristige positive Effekt des Urteils
könnte viel schwerer wiegen. Das Urteil
weist die Politik in ihre Schranken und
fordert unmissverständlich die Einhaltung von rechtstaatlichen Regeln. Dass
das Land in der Lage ist, einen Skandal
dieser Größe offenzulegen, kann ein erster
Schritt dahin sein, das belastete Vertrauen
der Bevölkerung und der Investoren in
wichtige staatliche Institutionen wieder
herzustellen. Wenn die neue Regierung
intelligent ist, greift sie diesen Ball auf
und implementiert nun ein transparentes
Vergabeverfahren, das auch die umweltund gesellschaftspolitischen Aspekte des
Minenbetriebs berücksichtigt. j
I BERICHT I
Kölner Indienwoche 2014
DR. JULIUS REUBKE
Schon der Besucherstrom zum Eröffnungsabend der 6. Kölner Indienwoche
überzeugte die Veranstalter davon, dass
diese Einrichtung nun ein etabliertes und
beliebtes Ereignis für sehr viele Interessierte geworden ist. 650 Besucher folgten
dem zügig ablaufenden Programm von
Musik und Tanz, Grußworten und Reden
der Bürgermeisterin, des Generalkonsuls
der Republik Indien und Vertretern der
Deutsch-Indischen Gesellschaft. Im Foyer
herrschte fröhliches Gedränge und reger
Austausch an den Ständen. Die indischen
Snacks vom Restaurant „Ginti“ und die
von Kerala Samajam Mitgliedern zubereiteten Speisen fanden großen Anklang
und reißenden Absatz.
Die Feststimmung der Eröffnung war der
richtige Auftakt für ein so abwechslungsreiches und vielseitiges Programm, bei dem
Indien von allen, nicht nur den unglaublich
schönen („Incredible India“) Seiten erlebt
werden konnte, sodass es nicht möglich ist,
auf alle Veranstaltungen, die dies verdienten, ausführlich einzugehen. Der Samstag
brachte einen weiteren faszinierenden Beitrag zur Religionsvielfalt Indiens. Waren
wir in der fünften Indienwoche bei der
Kölner Sikh-Gemeinde zu Gast, so gab es
dieses Jahr einen Besuch im Afghanischen
Hindu Tempel nach einem brillanten und
fundierten Einführungsvortrag von Frau
Prof. Dr. Niklas.
Ein ganz besonderes Ereignis war die
Premiere des Films „Translated Lives“ in
Gegenwart der Regisseurin Shiny Jacob
Benjamin und vieler Akteure dieses absolut bewegenden Dokumentarfilms über
ein sehr wesentliches, aber bisher wenig
beachtetes Kapitel Köln-RheinländischBundesdeutscher Geschichte. Was wurde
aus den 5000 ganz jungen Frauen, die in
den späten 60iger Jahren nach Deutschland geholt wurden, um den sich damals
schon abzeichnenden Pflegenotstand in
Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu mindern? 4 000 etwa blieben in
Deutschland, sie heirateten Deutsche oder
Landsleute, die zwar zum Zwecke der Heirat einreisen, 3 bis 4 Jahre lang aber nicht
arbeiten durften. Was für Schicksale gab es
in dieser inzwischen auf 14 000 Menschen
angewachsenen Menschengruppe, die in
erster, zweiter und dritter Generation
hier leben und arbeiten und Mitbürger
geworden sind und doch noch die alten
Kräfte der indischen Wurzeln spüren? Die
Podiumsdiskussion „Goethe, Gandhi und
Gewürze“ war eine perfekte Ergänzung
zu diesem Filmereignis. Junge Künstler
und Wissenschaftler mit indischen Wurzeln, die sich selbst zur „2. Generation“
rechnen, debattierten über das Indienbild
in Deutschland und dessen Wandel. Das
Bild von Indien in der Öffentlichkeit färbt
auf ihr Leben ab, während sie selbst aktiv
ihre Farben mit in dieses Bild zu bringen
versuchen. Diese beiden Veranstaltungen wurden als hautnahe und konkrete
Beiträge zum Thema Integration durch
Teilnehmerzahl und Applaus lebhaft wahrgenommen und geschätzt.
Wie vollkommen in die globale Welt integriert, ohne die Wurzeln zu verleugnen, indische Kunst heute sein kann, zeigte die Ausstellungseröffnung der „Flächengedichte“
von Dr. Niteen Gupte am Samstag. Diese
Veranstaltung, eröffnet in der Kunsthalle
des Bürgerhauses Lindenthal durch Bezirksbürgermeisterin Blömer-Frerker, war
ein neues Ereignis in dieser Indienwoche
und führte auf eine neue, poetische Ebene
des Dialogs der Kulturen.
Zu einem Dialog der Kulturen regte auch
ein Podiumsgespräch zur Frage nach dem
Leben der indischen Landbevölkerung
zwischen Janine Langer von der bereits
seit über fünfzig Jahren in Indien aktiven
Andheri Hilfe Bonn e.V. und Julius Reubke vom vergleichsweise jungen Verein
Freunde von Ekta Parishad e.V. an. Wer
verfügt, wer besitzt, wer nutzt den Erdboden, von dem wir Menschen, sowohl
die Armen Indiens wie auch wir Reichen,
überall auf der Welt leben? Er wird immer
stärker in verschiedenster Weise technisch
und finanz-spekulativ genutzt und auch im
„internationalen Jahr der kleinbäuerlichen
Landwirtschaft“ können sich Millionen
von Menschen auf dem Land dennoch
nicht ausreichend ernähren.
„Bombay Diaries“ war ein andersartig
erfreuliches, gut besuchtes Filmereignis
dieser Woche. Zu sehen war ein indischer
Erzählfilm mit Originalschauplätzen und
ohne Studioshow-Aufnahmen. Dieser
Film, dessen Geschichte nicht bedeutend
sein will, war wie ein Tag in Mumbai. Man
glaubte Indien zu riechen, so original waren die Schauplätze, das Gedränge, der
Lärm.
Indische Küche, ein Kochkurs, war sofort ausgebucht, indischer Tanz, ein
Bollywood-Workshop und traditionelle
indische Medizin, ein gut verständlicher
und wissenschaftlich fundierter Vortrag
MEINE WELT 2/2014 33
I RELIGION I
über Ayurveda von Syal Kumar, der mit
viel Unsinn zu diesem Thema aufräumte,
wurden in diesem umfassenden Programm
für viele begeisterte Hörer und Besucher
geboten.
Wenn es auch nicht möglich ist, alles zu
würdigen, so muss doch unbedingt noch auf
den ganz außergewöhnlichen Besuch von
Dr. K. Veeramani von der Periyar Universität in Chennai eingegangen werden. Es
war Frau Prof. Dr. Niklas gelungen, diesen
lebhaften alten Herrn nach Köln einzuladen. Das Thema der Dravida-Kultur und
der damit verbundenen politischen Kraft
in Indien ist in Deutschland vollständig
unterbelichtet. Hier gab es die Möglichkeit, sich aus erster Hand zu informieren.
Alle, die diesen Abend besuchten, waren
beeindruckt.
Mehrfach wurde ein Dank an die Organisatoren und Sponsoren der Indienwoche ausgesprochen, und dem ist nur hinzuzufügen, dass sich in den Dank immer
auch der Wunsch mischt, noch manche so
informativ-unterhaltende Indienwoche in
Köln zu erleben. j
Ein Mensch
ist ein Mensch
ist ein Mensch …
Seit mehr als drei Jahrzehnten wird in
Deutschland über die Globalisierung
diskutiert. Dabei geht es um Klima, um
Wettbewerbsfähigkeit, Reisen und das
Internet. Aber wenn jetzt die Amerikaner in
Syrien bombardieren, wenn die Deutschen
den Kurden Waffen liefern, dann ist das
auch ein Gesicht der Globalisierung. Und
wenn sich Europa zu einem Kontinent für
Flüchtlinge umbaut, so wäre das eben auch
nichts anderes als eine rationale, realpolitische und moderne Reaktion auf die Erfordernisse einer globalisierten Welt. Und, wie
gesagt: Ein Mensch ist ein Mensch ist ein
Mensch ist ein Mensch.
(Quelle: „Das neue Gesicht der Globalisierung“
von Bern Ulrich, DIE ZEIT von 26.9.2014)
34 MEINE WELT 2/2014
Der positive Umgang
mit dem „Anderen“
Ergebnisse der Familiensynode in Rom
Familiensynode in Rom 2014
Mit jedem Tag der Versammlung wurde
deutlicher: Die freie Debatte, die schon
Benedikt XVI. anstelle der sterilen Abfolge verlesener Stellungnahmen gewünscht
hatte, kam endlich in Gang. Dazu trug auch
die Bitte des Papstes bei, man solle nichts
sagen, um ihm zu gefallen. Auch die Tatsache, dass zu Beginn jeder Sitzung erst
eine Bibellesung und dann ein Referat
von Laien stand, veränderte das Klima.
Doch die wirklich spannende Wende ergab
sich nicht durch die neue Geschäftsordnung. Auch nicht durch die Lockerheit
eines Papstes, der Schokokekse verteilte. Sie bestand vielmehr in einem lautlos
eingefädelten und offenbar gut vorbereiteten Kurswechsel. Drei Schlüsselbegriffe wurden eingeführt, die alles änderten:
neue Sprache, seelsorgerische Begleitung
und schrittweise Annäherung. Bei allen
drei Begriffen geht es um den positiven
Umgang mit dem „Anderen“. Es ist ein
Ansatz, der tief im jesuitischen Denken
verwurzelt ist.
Historisch weithin bekannt ist der Versuch
der Jesuitenmissionare im 17. und 18. Jahrhundert, die Menschen in China und Indien
dadurch für die Kirche zu gewinnen, dass
sie ihre Riten und Gebräuche duldeten und
teilweise sogar adaptierten – anstatt sie als
„heidnisch“ und „götzendienerisch“ abzukanzeln. Nach einem ähnlichen Schema
soll nun das Vorgehen der Kirche in der
Kultur der Postmoderne unter dem ersten
Jesuitenpapst funktionieren: Anstatt etwa
homosexuelle Partnerschaften als sündhaft
oder naturrechtswidrig zu verurteilen, wird
gefragt, ob nicht auch in ihnen (zumindest
ansatzweise) Gutes verwirklicht wird. Das
heißt nicht, sie mit der sakramentalen Ehe
von Mann und Frau gleichzustellen – denn
das würde die Lehre der Kirche im Kern
berühren. Aber es bedeutet, das Positive
in ihnen zu benennen.
Der Papst ist Jesuit. Und dies ist eine jesuitische Wende. Er öffnet die Tür zur seelsorgerischen Begleitung der Menschen – trotz
ihrer „irregulären“ Situation. Anstatt bei
Geschiedenen, die eine zweite Zivilehe
eingegangen sind, von einer „Situation
des fortgesetzten Ehebruchs“ zu sprechen,
schaut man erst auf das Gute in den neuen
Beziehungen und auf die oft leidvollen
Erfahrungen der Betroffenen. Man sucht
Wege, wie die neue Partnerschaft schrittweise ins kirchliche Leben eingebunden
werden kann – freilich ohne eine zweite
Ehe im Vollsinn zu erlauben, weil auch
dies den Kern der Lehre berühren würde.
j
LUDWIG RING-EIFEL,
Chefredakteur, KNA
(Auszug aus: „Jesuitische Wende“, DIE ZEIT,
23.10.2014)
I RELIGION I
Tribals zerrissen von Religion
Jharkhand wurde am 15. November
2000 aus dem südlichen Teil des Bundesstaats Bihar gebildet. Nach der
Volkszählung 2011 hat Jharkhand
32 966 238 Einwohner. Unter der Bevölkerung des Bundesstaats machen
Angehörige der Stammesbevölkerung
(Adivasi) mit 26,3% (Volkszählung
2001) eine bedeutende Minderheit aus.
Nach der Volkszählung 2001 sind 68,6%
der Einwohner Jharkhands Hindus, daneben gibt es Minderheiten von Muslimen
(13,8%) und Christen (4,1%). Ein nicht
unbeträchtlicher Anteil von 13,3% entfällt
auf übrige Religionen (vor allem animistische Glaubensformen). Ein großer Teil der
Stammesbevölkerung praktiziert Animismus oder ist zum Christentum konvertiert.
In der Region operieren mehrere maoistische Untergrundorganisationen, die
angeben, für die Rechte armer Bauern
zu kämpfen.
Die Tribals oder Stammesangehörigen von
Jharkhand folgen Sarma Dharm, einer
animistischen Naturreligion. Seit Jahrhunderten beten sie die Natur, vor allen
Dingen die Bäume an. Mit der Ankunft
von christlichen Missionaren in Indien
wurden Tausende von Stammesangehörigen zum Christentum bekehrt. Im vorigen Jahrhundert führten die religiösen
Konversionen zu Spannungen zwischen
den neu-konvertierten und den im alten
Glauben verbliebenen Tribals. Die Kluft
zwischen christlichen und nichtchristlichen
Tribals sah man bereits 1947-48 kommen.
Eine Ursache für die Kluft könnten die
ökonomischen Unterschiede sein. Ein andere könnte sein, dass die Religionsführer
auf beiden Seiten die Parteien gegeneinander aufhetzen und unter den beiden Hass
und Intoleranz schüren, um daraus eigenes
Kapital zu schlagen. Jedenfalls steht eins
fest: Die Kluft wird nur noch größer. Eine
Marienstatue – dunkelhäutig, im traditionellen Sari und das Jesuskind in einer
Schlinge tragend – führte in Jharkhand
zu Massenprotesten von Anhängern der
Stammesreligion. Das Central Sarna Committee unter der Führung von Herrn Ajay
Tirkey fordert den Minderheitsreligionstatus für Sarna und rechnet dabei mit der
Unterstützung von Narendra Modi, dem
Führer der hindunationalistischen Partei
BJP und vor kurzem gewählten neuen Premierminister Indiens. Herr Tirkey und sein
Committee verlangt eine Reinigung der
Konvertierten, bevor sie zurück in den
Sarna Dharm aufgenommen werden. Bei
der Rekonversionszeremonie werden der
betroffenen Person die Füße gewaschen
und ihr ein Tropfen Blut eines frisch geopferten Hahns zu trinken gegeben.
Alle hindu-nationalistischen Parteien haben bis jetzt versucht, Christen und Missionare von dem Gebiet fern zu halten. Ihre
Strategie: In „konvertierungsgefährdeten
Gebieten“ die eigene Präsenz früh genug
stärken.
Die Sarnas führen die Rekonversion
heute selber aus.
Obwohl die Sarnas ihre Ahnen und Bäume
anbeten, sind sie auch Hindus, denn auch
die Hindus haben vor 2000 Jahren Bäume
und die Natur angebetet, behaupten die
Hindunationalisten.
Trotz ihrer relativ geringeren Anzahl haben die Stammesangehörigen christlichen
Glaubens besseren Zugang zur Arbeitswelt
und zum höheren Bildungswesen. Dies ist
die allgemeine Wahrnehmung.
Die Spannungen zwischen Stammesangehörigen christlichen und animistischen
Glaubens (Sarnas) spitzten sich zu, als
der Telephore Kardinal Toppo, der örtliche Bischof, letztes Jahr die Statue einer
„tribal“ Maria Mutter Gottes – dunkelhäutig, Sari tragend und das Jesuskind
im Baby-Tragetuch tragend – enthüllte
und der Öffentlichkeit vorstellte. Die
nicht-christlichen Stammesangehörigen
protestierten vehement und räumten dem
Kardinal drei Monate Zeit ein, die Statue
zu entfernen. Sie betrachteten die Aufrichtung der Statue nur als eine KonversionTaktik. Im August 2014 marschieren 3.000
Sarna Stammesangehörigen zu der Stelle,
einer kleinen katholischen Kirche in den
Vororten von Ranchi, und drohten, die Kirche und Statue niederzureißen. Daraufhin
verhängte die Polizei ein Ausgehverbot auf
dem gesamten Krisengebiet. Inzwischen
war ein polizeiliches Ermittlungsverfahren
gegen Sarna-Gruppierungen eingeleitet,
die einige zum Protestantismus konvertierten Sarnas mit Mord bedrohten. Häuser
wurden beschädigt.
Vor sechs Jahren gab es eine Kontroverse
um die von der Lutheran Church durchgeführten Bibelübersetzungen in die Sprache
der Stämme, weil bestimmte Textstellen angeblich Aussagen enthielten, die gegen den
animistischen Glauben gerichtet waren.
Es ist insgesamt ein bedrohliches Szenario.
Die einfachen und gutmütigen Stammesangehörigen werden durch skrupellose
Politiker ausgenutzt und auf ihre Identität
hin derart sensibiliert, dass in ihren Köpfen
Hass, Feindseligkeit und Feindbilder entstehen. Säkularismus ist für Indien ein sehr
teures Gut, das um jeden Preis geschützt
werden soll. j
Deutsche Bearbeitung: Thomas Chakkiath
(Quelle: Indische Presseberichte)
Meine Welt
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Das nächste Heft von „Meine Welt” erscheint
im Winter/Januar 2015
MEINE WELT 2/2014 35
I
MYTHOLOGIE I
Griechische und indische Epen der Antike:
Geniale Kopfgeburten
G O PA L K R I PA L A N I , B R A U N S C H W E I G
Einführung
Was macht epische Dichtungen so besonders? Es sind geniale Kopfgeburten kreativer Menschen mit außergewöhnlicher
Imagination. Epen haben oft einen mythologischen oder historischen Hintergrund,
können aber auch reine Fantasiewerke
sein. Die Mythologien der alten Kulturvölker Indiens und Griechenlands enthalten
Geschichten über Götter und Helden und
deren Taten. Epen sind oft Dokumente
der metaphysischen Vorstellungskraft
dieser Völker. Die altgriechischen Epen
Ilias und Odyssee sowie die altindischen
Epen Mahabharata und Ramayana bilden
ein hohes Kulturgut der Menschheit mit
starker Symbolkraft. Es sind Wegweiser gewesen für Dichtkunst, Philosophie, klassische Literatur und sogar für die alltägliche
Lebensführung. Die Wirkungsgeschichte
in ihren jeweiligen kulturellen Welten ist
beachtlich gewesen; denn sie haben als
Inspirationsquellen gedient für zahlreiche
Dramen, Romane, Theateraufführungen
sowie auch für Werke der Bildenden Kunst.
Umstritten sind für alle vier Epen die Identität ihrer Verfasser wie auch ihre Entstehungsgeschichte, nicht aber die historischen Wurzeln in ihrer jeweiligen Kultur.
Alle vier Epen sind in Versform verfasst.
Doch lange bevor sie niedergeschrieben
wurden, haben Barden sie dem Adel sowie
dem Volk als Gesang vorgetragen. Der Sieg
des Guten über das Böse ist die zentrale
moralische Aussage indischer Dichtungen.
In Homers Illias wird die ideale Moral des
Edlen als Ehrenkodex durch die zentrale
Figur Achilleus ereignisreich vertreten.
36 MEINE WELT 2/2014
Indische Epen
Mahabharata
Dieses ist das bekannteste indische Heldenepos und zugleich ein religiös-philosophisches Werk. Verfasst in 18 Bänden
mit ca. 100 000 Versen ist Mahabharata das
längste bekannte Epos der Menschheit1.
Es beschreibt die Heldentaten der zwei
verwandten aber verfeindeten Königsfamilien, der Kauravas und der Pandavas
in einem großen Krieg, der angeblich im
12. oder 13. Jh. v. Chr. geführt wurde. Das
Schlachtfeld ist der Ort, wo die Helden
beider Seiten ihren „edlen“ Pflichten, das
Wahre und das Gute zu retten, nachkommen. Krishna2, nach dem Hindu Glauben
eine Inkarnation des Gottes Vishnu, lenkt
den Kriegswagen des Pandava Arjuna. Der
Dialog zwischen den beiden ist unter dem
Namen Bhagavad-Gita3 (der Gesang des
Erhabenen) bekannt und ist eine philosophische Dichtung über die menschlichen
Pflichten mit Schwerpunkt auf selbstlosem
Dienst am Guten. Die zentrale Botschaft
der Gita ist, dass man Gott durch liebevolle
Hingabe (Bhakti) erreichen kann. Dieses
Epos ist „eine riesige und zusammengewürfelte Sammlung vieler Geschichten
aus mehreren Zeitperioden“4, obwohl es
im Kern auch um bestimmte historische
Ereignisse gehen soll. Eindrucksvoll exemplarisch werden Themen wie Leben,
Tod, Wiedergeburt, Glück, Leid, Ehrenhaftigkeit, Triumph der Rechtschaffenheit
über das Übel etc. abgehandelt, die für den
rauen Alltag der Menschen Bedeutung
haben. Der Verfasser, Vyasa, soll auch
einer der Autoren der Veden gewesen
sein. Die Entstehung des Mahabharata
in Schriftform wird ungefähr auf das 11. Jh.
v. Chr. datiert.
Ramayana
Dieses Epos besteht aus 24 000 Versen in
sieben Büchern und 500 Gesängen. Es ist
das zweite Epos der hinduistischen Literatur und behandelt die vierzehnjährige Verbannung des Prinzen Rama aus Ayodhya
in die Einsamkeit des Waldes. Er wird begleitet von seiner Ehefrau Sita und seinem
Bruder Lakshmana. Sita wird vom bösen,
tyrannischen König Ravana entführt und
gefangen gehalten. Rama besiegt Ravana
und tötet ihn, befreit Sita sowie die geknechtete Bevölkerung. Nach 14 Jahren
kehren sie nach Ayodhya zurück, wo Rama
den Thron besteigt. Als Symbol der Tugend
hat er schließlich gesiegt. Wie Krishna im
Mahabharata so wird auch Rama in diesem
Epos als Inkarnation Vishnus verehrt.
Griechische Epen
Ilias
Die Ilias ist das ältere der beiden epischen
Werke Homers5, verfasst sehr wahrscheinlich in 7. oder 8. Jh. v. Chr. mit 15 693 Versen
in 24 Gesängen. Die Handlung beginnt im
letzten Jahr des seit zehn Jahren andauernden Trojanischen Krieges, der in dem Epos
die zentrale Rolle spielt. Im Mittelpunkt
steht der Zorn des griechischen Helden
Achilleus gegen seinen Heeresführer
Agamemnon. Dieser hat Achilleus seine
Sklavin und Mätresse Briseis geraubt, weil
er seine eigene Sklavin ihrem Vater zurückgeben musste, um die zornigen Pfeile des
Apollon abzuwenden. Achilles verlässt die
Armee, woraufhin die Griechen gegen die
Trojaner eine schwere Niederlage erleiden.
Die Haupthandlung aus frühgeschichtlichen Mythen und zeitgenössischen Erzählungen ist mit etlichen Nebenhandlungen
verwoben.Verschiedene Götter des Olymp
I
und die von ihnen favorisierten Helden
beteiligen sich an den Kampfhandlungen.
Odyssee
Im Folgewerk, der Odyssee, ebenfalls aus
24 Büchern bestehend, steht die zehnjährige Irrfahrt des griechischen Helden Odysseus nach Ende des Trojanischen Krieges
im Mittelpunkt. Erst nach 20 Jahren kehrt
er zu seiner Gattin Penelope nach Ithaka
heim. Dort findet er Haus und Hof von
einer Horde von Freiern besetzt, die um
die Gunst seiner Frau buhlen. Nicht nur
durch seine körperliche Stärke, sondern
auch mit intellektueller Raffinesse gelingt
es ihm, blutige Rache an den Freiern zu
nehmen und sein Recht zu behaupten.
Moral der Geschichten
In den Epen beider Völker mischen sich
die Götter des Himmels mit den irdischen
Helden und Königen, sorgen für Ordnung
und bieten dem Bösen Einhalt.
Die beiden indischen heroischen Geschichten heben insbesondere die hohe
religiös-moralische Aufgabe des Menschen
hervor. Sie ermahnen zum Festhalten an
Wahrheit, Treue, selbstloser Aufopferung
und Demut. Der Mensch soll Wissen, Handeln und Glauben miteinander in Einklang
bringen und seine Taten ohne Rücksicht
auf die Folgen vom Geist des Über-denDingen-Stehens leiten lassen.
In den beiden homerischen Epen geht es
um menschliche Regungen und Schwächen
wie Trotzhaltung, Zorn und Rachedurst
nach verletztem Ehrgefühl. Es wird dramatisch dargestellt, wie Maßlosigkeit und
Hybris in den Untergang führen. Auch die
teilnehmenden Götter werden mit allzu
menschlichen Attributen wie Zwist, Eifersucht, Falschheit, Betrug, aber auch
Mitleid, Hilfsbereitschaft und Verzeihen
dargestellt. In der Summe sind die beiden
Epen ziemlich grausame Darstellungen
menschlicher Leidenschaften und sollten
als Warnung dienen. Hervorzuheben ist
die Lebendigkeit und Darstellungsnatürlichkeit beider Erzählungen.
Es gibt Spekulationen, wonach die spirituelle Kultur Indiens, insbesondere ihre
Symbole, Metaphern und Mythen sowie
die mathematischen und astronomischen
Codes aus den Hymnen der Rig-Veda die
MYTHOLOGIE I
griechische Götterwelt und Philosophie
stark beeinflusst hätten6. So wird zum Beispiel angeführt, Dionysos sei aus Shiva
hervorgegangen und Herkules aus Hare
Krishna. Auch was bei den Griechen Logos
ist, ist den Indern das vedische Ur-Wort
Vac, die ewige Weltvernunft. Beweisen lassen sich derartige Spekulationen nach so
viel tausend Jahren nicht. j
Anmerkungen
1 James G. Lochte (2002), Die Illustrierte Enzyklopädie des Hinduismus, AM, Die Rosen
Publishing Group, S. 399
2 Krishna ist nach der Hindu Mythologie die
8. Inkarnation des Gottes Vishnu. Im HinduGlauben ist das transzendente Brahma der
Urgrund der Welt und ist unpersonifiziert
(gleich zu setzen mit dem Griechischen Logos). Seine drei Funktionen sind das ständige
Schaffen (Brahman), Begleiten (Vishnu) und
Überwinden oder Zerstören (Shiva) der Welt.
Mit der Zeit wurden aus diesen drei Funktionen drei personifizierte Gottheiten als
emotionale Brücken zu den irdischen Gläubigen. Auch heißt es im Hindu-Glauben, dass
3
4
5
6
Vishnu, der Erhalter oder Begleiter der Welt,
von Zeit zu Zeit sich als Mensch inkarniert,
um gegen das Böse zu kämpfen und die
Tugend zu verbreiten.
Bhagavadgita, abgekürzt Gita, hat für Hindus den gleichen Rang wie die Bergpredigt
für die Christen. In Krisenzeiten suchen
Hindus Zuflucht zur GITA und finden dort
Trost und Führung. Wilhelm von Humboldt
schrieb: Die Bhagavad-Gita ist „der schönste,
vielleicht der einzige wirklich philosophische
Gesang, der in irgendeiner bekannten Sprache besteht“.
Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens,
Rütten & Loening 1959, S. 128-129
Homer gilt als der älteste bekannte EposVerfasser des Abendlands und als Vorbild
vieler Epiker nach ihm. Er soll blind gewesen
sein und als Rhapsode an ionischen Höfen
aufgetreten sein, aber historisch ist dies nicht
überprüfbar.
Georg Feuerstein, Subhash Kak & David
Frawley, In Search of the Cradle of Civilization: New Light on Ancient India, Quest
Books, 1995
http://gopal-kripalani@beepworld.de
INDISCHE WEISHEITEN
„Vor allen anderen Überlegungen sollte man zuerst den
Menschen im Blick haben“
M A H AT M A G A N D H I
(Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag
2014)
MEINE WELT 2/2014 37
I FILMREZENSION I
Translated Lives
Ein Film auf den Spuren einer
besonderen Vergangenheit
JANA KOSHY
In den 60er Jahren kamen die ersten indischen Krankenschwestern nach
Deutschland. Sie konnten die Sprache kaum und hatten niemals ein anderes
Land als ihr Heimatland gesehen.
50 Jahre später erzählen uns die Protagonistinnen dieser Migration von ihren
Erfahrungen, Freuden und Ängsten der damaligen Zeit und den heutigen Lebenswelten, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten.
Der Film „Translated Lives – A Migration Revisited“ begleitet diese Krankenschwestern auf eine Reise in ihre Vergangenheit und lädt den Zuschauer ein,
sich auf diese spannende Welt einzulassen. Dabei sind Trauer und Komik, Tragik und Freude stetige Begleiter.
Eine Migration und ihre Facetten
Die jungen Krankenschwestern hatten
eine Reise ins Ungewisse gewagt. Sie waren eine Gruppe junger Frauen, die gerade
ihre Heimat verlassen hatten, angekommen in einem Land, das ihnen völlig fremd
war ebenso wie dessen Gepflogenheiten,
und einer völlig anderen Umgebung, Flora
und Fauna.
Heute haben sie sich auf vielfältige Weise
ein Leben in Deutschland aufgebaut. Sie
haben Familien gegründet, haben sich oft
häuslich niedergelassen und sind nun selbst
Großeltern.
Als sie kamen, schien es nur eine temporäre Migration zu sein: Das Ziel vieler
war doch, sich nach dem Erarbeiten einer
gewissen ökonomischen Sicherheit wieder zurück nach Kerala zu begeben. Doch
im Laufe der Jahrzehnte festigte sich das
Fundament dieser zweiten Heimat und
die Distanz zur alten Heimat wuchs. Mit
der Familiengründung verlagerte sich der
Fokus noch stärker nach Deutschland und
heute, mit dem Heranwachsen der zweiten Generation, die sich selbst doch oft in
Deutschland verwurzelt sieht, wächst die
Distanz zu Kerala.
„Translated Lives“ berichtet von all dem,
immer in einer sehr persönlichen Nähe
zu den Protagonistinnen. Wir begleiten
38 MEINE WELT 2/2014
Chinnamma, Sosamma, Grace, Theresa,
die mit der damaligen Migrationswelle in
Deutschland ankamen, durch die Zeit ihrer
Ankunft, ihren ersten Anlaufschwierigkeiten und bekommen Einblick in die vielfältigen Lebenswelten, die sie sich im Laufe
der Jahrzehnte geschaffen haben. Dabei
bleibt der Dokumentarfilm stets nahe an
seinen Protagonistinnen, filmt in minutiöser Präzision ihre Erzählungen, folgt
ihnen zu den Orten ihrer Erinnerung und
ihres heutigen Lebens. Die Regisseurin
Shiny Benjamin wählt dabei keine theatralischen Auftritte, keine übertriebenen
Deutungen der Umgebung der Kamera
oder sonstige Stilmittel. Der Fokus bleibt
stets auf die erzählenden Frauen und auf
ihre Kontexte gerichtet. Das macht diesen
Film so einfach und so bewegend zugleich.
Der Betrachter wird so Teil von Freude
und Leid der Protagonistinnen, bleibt stets
nah an ihrer Gestik und Mimik, lacht mit
ihnen und weint mit ihnen.
Die Protagonistinnen erzählen von dem
Kummer, den es ihnen bereitet hat, die
Eltern, Großeltern und Geschwister zurückzulassen, ohne zu wissen, wann man
sie wiedersehen würde; sie erzählen von
ihren ersten Momenten der Irritation, von
ihrer Ankunft im tiefsten Winter in einem
schneebedeckten Deutschland und in eine
Welt ohne „Blättern an den Bäumen“. Von
den ersten Erfahrungen in ihrem Beruf als
Krankenschwester, den Schwierigkeiten
und Konflikten. Sie trugen viel Verantwortung, diese jungen Frauen aus Kerala, da
viele von ihnen ihre Familien in Kerala
unterstützen mussten. Später kamen Verantwortungen in der neu gegründeten eigenen Familie hinzu. Familie, Kinder, Beruf,
die stetige Aushandlung eines Lebens in
zwei Welten – all dies waren die Themen,
die diese Frauen begleiteten und in die der
Betrachter behutsam und doch bewegend
eingeführt wird.
Der Film weiß ebenso die Umgebung
dieser starken Frauen zu umreißen, die
Welt ihrer Ehemänner und ihrer Kinder
oder Enkelkinder.
Die zweite Generation wird über Beiträge
von Sascha Joseph, Prince Otthayil Joy,
Nisa Punnamparambil-Wolf und andere
eingeführt. Es wird gezeigt, wie sich diese
in ihrer Heimat Deutschland verortet haben, wo sie ihre Verwurzelung sehen und
wie ihre Aushandlung mit einem Aufwachsen und Leben in zwei so unterschiedlichen
Welten aussieht.
Auf Grund der unverblümten Ehrlichkeit seiner Protagonistinnen und seiner
Fähigkeit, stets auf die unterschiedlichen
Ebenen ihrer Aushandlungen und ihres
I FILMREZENSION I
Lebens in beiden Welten zu verweisen,
wird „Translated Lives“ somit zu einem
starken Dokument der keralesischen Diaspora in Deutschland.
Eine besondere Vergangenheit
Die Migration dieser jungen Krankenschwestern ist auf vielfache Weise eine
ungewöhnliche Geschichte. Diese Frauen
waren sehr jung, als sie sich aufmachten
in ein völlig unbekanntes Land und eine
völlig unbekannte Zukunft. Viele waren
erst fünfzehn oder sechzehn und waren
das erste Mal weg von Zuhause. Viele waren niemals außerhalb Keralas gewesen.
Andere noch nicht mal außerhalb ihres
Heimatdorfes. Eine der Ordensschwestern,
die die jungen Frauen in Heidelberg empfangen hatte und sie in der Anfangsphase
betreute, erzählt hierzu: „Diese Mädchen
waren so unglaublich jung. Wir hatten
direkt das Gefühl, dass wir uns um sie
kümmern mussten.“ Und tatsächlich, die
jungen Krankenschwestern berichten von
einem direkten Gefühl des Wohlbefindens.
Einerseits durch die Unterstützung, die sie
in Deutschland erfuhren, dann wiederum
durch den Zusammenhalt, der die Gruppe
der jungen Frauen zusammenschweißte.
Die jungen Frauen begegneten gemeinsam
den Tücken der unbekannten Welt, den
ersten Missverständnissen, dem Heimweh und der großen Verantwortung, die
sie trugen. Hier begegnet uns der zweite
charakteristische Aspekt dieser Migration.
Diese jungen Frauen wurden oft zu zentralen Instanzen wirtschaftlicher Stärke in
ihren Familien – sowohl in Indien als auch
in ihren eigenen Familien, die sie später
gründen sollten. Es entstand eine Verschiebung traditioneller Geschlechterverhältnisse1 in Indien wie in Deutschland und
die Basis für eine spannende Geschichte.
An dieser Stelle wird auch deutlich, wo
die Stärken des Films liegen und wo seine
Schwächen. „Translated Lives – A Migration Revisited“ ist ein Film, der sich der
Geschichte der Migration von Keralesen
nach Deutschland verschrieben hat, die
die weibliche Domäne betreffen. In dieser wiederum jener Migration, die bereits
sehr früh stattfand. Es gab noch spätere
Migrationen, die wiederum andere Cha-
rakteristika hatten, andere Geschichten,
die zu anderen Ausgängen führten. Dass
es niemals eine vollständige Migrationsgeschichte ist, ist selbstverständlich, doch
wie sehr dies emotional geladen sein kann,
zeigte eine der Publikumsreaktionen während der Diskussion nach der Deutschlandpremiere im Kölner Rautenstrauch-Joest
Museum. Es meldete sich ein Ehemann
einer jener Krankenschwestern zu Wort,
die in einer der Migrationswellen nach
Deutschland gekommen waren. Was denn
mit der Situation der Männer sei, wollte er
wissen. Warum jene nicht deutlicher herausgearbeitet worden sei und wieso nicht
gezeigt worden sei, wie viele von ihnen
mit großen Problemen zu kämpfen hatten. Mit Arbeitserlaubnis, Stellenfindung
und dem Alltag, der sich völlig von dem
unterschied, was sie sich für ihre Zukunft
vorgestellt hatten. Für unzählig von ihnen
war es unmöglich, in dem Bereich ihrer
Qualifikation eine Anstellung in Deutschland zu finden. Zunächst scheiterte es an
der Arbeitserlaubnis, dann daran, dass die
meisten indischen universitären Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurde.
Es sei eine schreckliche Zeit gewesen, eine
Zeit in der sich viele wenig unterstützt und
allein gelassen gefühlt hätten.
Wenn „Translated Lives“ also die Geschichte der weiblichen Migration fokussiert, dann ist genau dies der Aspekt, der
tatsächlich wenig thematisiert wird. Die
Geschichte der männlichen Migration ist
eine andere. Und sie ist auch eine andere
für jene Männer, die mit solchen Umständen zu kämpfen hatten als für jene, die
entweder zum Studieren nach Deutschland
migrierten oder aber in ansprechenden
Berufen unterkamen. Aber eben auch eine
so vielschichtige, dass sie anderen Raum
finden muss, um dargestellt zu werden. Was
„Translated Lives“ jedoch nicht versäumt
zu umreißen ist die Konsequenz für die
Geschlechterverhältnisse: Frauen begegnen uns hier als autarke Agens, als ökonomische Oberhäupter zweier Familien,
der Kernfamilien in Deutschland und der
erweiterten Familie in Indien. Sie haben
Beruf, Kindererziehung und Haushalt erfolgreich kombiniert und nebenbei auch
eine stille Revolution vollzogen: Sie sind
zu schillernden Beispielen dafür geworden,
dass es sie gibt, die starken Frauen Indiens. Es gibt sie zu Genüge, nur begegnen
uns ihre Geschichten nicht so oft wie jene
der Ohnmacht indischer Frauen. Filme wie
„Translated Lives“ werden somit zu einer
Plattform für alternative Erzählung.
Die Regisseurin Shiny Benjamin erklärt
in einem Interview mit „Meine Welt“, dass
sie in diesen Tendenzen auch ein Spezifikum der keralesischen Geschlechterverhältnisse sieht und diese ebenso darstellen
möchte. „Keralesische Frauen waren schon
immer stark“, betont sie. „Kerala hatte
schon immer andere Verhältnisse für Frauen. Sie hatten dort mehr Möglichkeiten
und mehr Rechte.“ Auch ist es spannend,
dass sie darauf verweist, wie wichtig es ihr
war, auf die Migration dieser Frauen als
Geschichte der „Anstrengung“ hinzuweisen. In Kerala selbst hat Migration einen
besonderen Stellenwert in der Ökonomie
und ist im Laufe der letzten Jahrzehnte
über die Migration nach Europa, Nordamerika, Malaysia und Singapore sowie
den Arabischen Staaten als ihrem Epizentrum zu einem essentiellen Bestandteil der
Wirtschaft des Landes geworden. Migration ist somit zu einer ernsthaften Option
für eine berufliche Zukunft geworden. Für
viele ist es die einzig realistische. Einhergehend mit diesen Bewegungen sind aber
ebenso auch starke Narrative entstanden,
die diese Migrationen mit Konstrukten,
mal realistische, mal fiktive versehen. Das
Narrativ des „gelobten Landes“ ist dabei
natürlich eines von diesen. Während z.B.
die arabischen Staaten eine große Transparenz aufwiesen und auf Grund der hohen
Zahl an Migranten ein „offenes Buch“
sind, verlief dies mit der Migration nach
Deutschland anders. Diese war weniger
transparent und wurde mit der Fiktion
des einfachen Erwerbs von „schnellem
Reichtum“ belegt. Dass die Realität jedoch
ganz anders aussieht, wurde dabei kaum
beachtet. Shiny Benjamin verwies in unserem Gespräch darauf, dass sie mit ihrem
Film auch eben jenen Missstand aufheben
möchte. Sie möchte Migration auch als
einen anstrengenden Akt aufzeigen. Als
einen Akt der stetigen Aushandlung mit
den jeweiligen Lebenswelten und ihren
MEINE WELT 2/2014 39
I GESPRÄCH I
Herausforderungen. Auch hier schafft sie
ein starkes Dokument für jene Verhältnisse
der Vergangenheit und Gegenwart.
Resümee
Die Protagonistinnen dieses Films sind
stark und emotional zugleich. Sie bewegen
sich jenseits einer einfachen schwarz-weiß
gefärbten Darstellung ihrer Motivationen
und Emotionen. Der Film ist so vielfarbig
wie das Leben seiner Protagonistinnen
selbst und versäumt es nicht, auch viele
dieser Farben wiederzugeben. Das Narrativ der starken Frauen bleibt dabei stets die
zentrale Linie. Entstanden ist eine große
visuelle Ethnografie jener Gruppe von
Frauen, die sich vor 50 Jahren aufmachten
in ein neues Land, mit nichts Geringerem
ausgestattet als ihrem Mut, ihrer Kreativität und ihrem Vermögen, sich den Herausforderungen einer solchen Migration
zu stellen. Er referiert darauf, dass Migration keine abgeschlossene Handlung ist,
sondern eine stetige Auseinandersetzung
mit den unterschiedlichen Lebenswelten
der Akteure und der Personen, die diese
umgeben. Eine Auseinandersetzung, die
in der Generation der Kinder und Enkelkinder fortgeführt wird und das Leben
vieler auf unwiderrufliche Weise prägt.
„Translated Lives“ nimmt uns mit auf
eine Reise in die Vergangenheit und wird
damit zu einem vielschichtigen Dokument
kultureller Begegnungen: ihrer Reibungen
und Konflikte, aber ebenso ihrer Freuden
und Möglichkeiten. Was sie dazu motiviert
habe, diesen Film zu machen, frage ich die
Regisseurin. Und sie entgegnet lächelnd:
„Ich war fasziniert von der Geschichte dieser besonderen Migration.“ j
1 Die Geschlechterverhältnisse in Kerala sind im
Vergleich zu den Verhältnissen in den anderen
Regionen Indiens gesondert zu betrachten. Dies
ergibt sich einerseits aus der kontinuierlichen
zentralen Position von Frauen in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
und ihrem großen Handlungsraum. Dennoch
bilden die Veränderungen, die durch die Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse und
die Verteilung ihres Erwerbs, wie sie im Kontext
dieser Migration entstehen, wichtige Parameter
für eine Ausweitung dieses Handlungsraums
und zu einer großen finanziellen und sozialen
Unabhängigkeit und Stärke.
40 MEINE WELT 2/2014
Eine Filmemacherin
auf den Spuren von Migranten
in Deutschland
Ein Gespräch
Shiny Jacob Benjamin hat sich in ihrem
Dokumentarfilm nichts Geringeres
zum Ziel gemacht, als eine Generation
mutiger Frauen zu portraitieren, die
einst in eine ungewisse Zukunft auszogen: im zarten Alter von 16 Jahren,
fernab ihrer Familien in ein fremdes
Land. Ihre Geschichte ist eine alternative Erzählung zur ewig unterdrückten
Frau Indiens. Meine Welt traf die Filmemacherin und Journalistin in Köln.
Die Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms „Translated Lives“ ist bereits einige Tage her, als ich mich in die Kölner
Innenstadt begebe, um die Filmemacherin
Shiny Benjamin Jacob zu treffen. In dieser
Zeit konnten sich die ersten Eindrücke
setzen, erste Ideen und Assoziationen festigen und sich ebenso ein Grundgefühl
dafür bilden, was dieser Film für einen
weiteren Diskurs bedeuten könnte und in
welchem er entstanden sein mag. Doch als
weibliches Mitglied der zweiten Generation keralesischer Migranten in Deutschland bin ich auch einfach gespannt auf
die Person, die hinter diesem Film steht.
Auf jene Frau, die sich auf den Weg von
Kerala nach Deutschland machte, um die
Geschichte einer Migration zu erzählen.
Shiny Jacob Benjamin ist auch eine dieser
starken Frauen, von denen sie selbst gerne
berichtet, keine Frage. Sie behauptet sich in
der Männerdomäne des Journalismus und
des Dokumentarfilms und verliert ihren
Blick für den Realismus dabei nicht: „Es
ist auch angenehm, eine Frau zu sein“, erzählt sie schmunzelnd. Man wird auch viel
unterstützt und nimmt schnell eine zentrale
Position durch diese Unterstützung und
Protektion ein. Das ist ein Privileg des
Frau-Seins in diesem Bereich.“
Ihr Schaffen ist durchzogen von Topoi
des Sozialen, von Geschichten sozial Benachteiligter oder von Figuren, die sonst
keinen Platz in den Erzählungen der Massen finden. Dennoch sagt sie, würde sie
sich selbst nicht als Aktivistin bezeichnen.
„Ich portraitiere diese Menschen lediglich.
Meist fasziniert mich ihr Leben.“ Ihre Protagonisten sind Bildhauer,
Migranten, männliche Prostituierte und
Frauen, die Opfer sexueller Ausbeutung
sind. Ihre Themen orientieren sich stets an
der Verortung dieser Personen in einem
System von Ungerechtigkeit, patriarchischer und ökonomischer und/oder struktureller Gewalt. Ihr Dokumentarfilm über
die männlichen Prostituierten in Kerala ist
ein sensibles Portrait einer sozialen Sphäre,
die sonst in den Tiefen des Informellen
verschwunden ist. Diese Männer leben ein
Leben der sexuellen Ausbeutung. Dabei
sind ihre Dienste meist homosexueller Art,
was in einem Land, dass geprägt ist von
einer sehr konservativen bis militanten
Heteronormativität mehr als kontrovers
I GESPRÄCH I
ist. Das Leben dieser Männer bleibt jedoch im Dunkeln, in der Peripherie des
Schweigens.
2010 erschien ihr Dokumentarfilm „Ottayal“ (Eine Frau allein) über die aus Kerala
stammende Aktivistin Daya Bai, die seit
1995 für die Rechte der Adivasi in Madhya
Pradesh kämpft. Mit Liebe zum Detail und
einer stetigen Rücksicht auf Authentizität
portraitiert Shiny Benjamin das mutige
Leben dieser besonderen Person.
Für „Translated Lives“ wurde sie von
Meine Welt Redakteur Jose Punnamparambil, der beratend tätig sein sollte, und
Mathew Jospeh, der als Produzent fungieren sollte, auf eine Zusammenarbeit hin
angesprochen. Direkt fühlte sie sich von
der Thematik inspiriert. „Ich wollte wissen,
was diese jungen Mädchen dazu bewegt
hat, nach Europa zu gehen. Wie sie den
Mut dazu aufgebracht haben, in ein völlig
unbekanntes Land zu gehen.“ Sie nahm
sich des Projektes an und es begann eine
Zeit interessanter Erfahrungen. Um sich
auf die Spuren dieser Migration zu begeben, führte Shiny Jacob Benjamin nichts
Geringeres als eine kleine Forschungsreise
durch: Sie lebte bei den Protagonistinnen
ihres Films und ihren Familien, lernte sie
im Laufe dieser Zeit kennen und begann
sie dann zu portraitieren. Daher wohl auch
die intime Nähe, die immer wieder die
emotionale Stärke und den Tiefgang dieses
Films darstellt. Die Regisseurin schafft es,
dass die Protagonisten keine Angst davor
haben, ihre Gefühle mit dem Betrachter
zu teilen. Sie gibt ihnen Raum, sich zu
entfalten, und verfällt gleichzeitig nicht
in künstliches Pathos.
Diese intime Bindung zu ihren Protagonisten baue sie während jedes Drehs
auf, erklärt Shiny Benjamin weiter. „Ich
gehe jedes Mal so vor, dass ich zunächst
viel Zeit mit den Protagonisten verbringe,
bevor ich die Kamera ins Spiel bringe. Das
verringert die Scheu vor der Kamera.“
Auch „Translated Lives“ bearbeitet die
Frage um die Geschlechterverhältnisse
auf eindrucksvolle Weise (siehe hierzu
die Rezension zu „Translated Lives – A
Migration Revisited“). „Der Film verweist
darauf, wie stark diese Frauen sind“, erläutert Shiny. „Sie schaffen es, Beruf, Eheleben
und Familie zu vereinen. Ein Leben in
Indien und in Deutschland. Das macht sie
zu unglaublich starken Persönlichkeiten.“
Sie verweist ebenso darauf, wie dieses Bild
von der weit verbreiteten Vorstellung der
nicht-emanzipierten, einer patriarchalen
Gewalt ohnmächtig gegenüber stehenden
indischen Frau entgegen steht und es mit
weiteren Facetten versieht und sogar teilweise aufhebt. „Diese Frauen haben nichts
mit einem solchen Bild zu tun. Sie sind das
ökonomische Oberhaupt ihrer Familien.“
So hätten diese Frauen auch bei sonstigen
Fragen eine große Entscheidungsgewalt
und wären somit gleichwertige, wenn nicht
sogar höher gestellte Individuen in ihren
Familien. Ihr Film wird dabei tatsächlich
zu einem wichtigen Dokument dieser Verhältnisse. „Translated Lives“ wurde bisher
auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt und
erfreut sich großer Beliebtheit.
Doch Shiny Jacob Benjamin bleibt niemals
untätig: aktuell arbeitet sie an einem neuen
Projekt, in dem sie auf die Situation von
Migranten in Kerala hinweisen will: „Seit
ein paar Jahren gibt es eine starke Migration aus Bengalen, Assam und anderen
Staaten des Nordostens nach Kerala.“ Dies
sei sehr spannend, wenn man bedenke,
dass Kerala selbst ein sehr migrantischer
Staat ist. „Mich interessiert nun, wie diese
Migranten in Kerala leben. Wie sie sich
dort ein Leben aufbauen und vor allem: wie
geht die Mehrheitsbevölkerung mit ihnen
um?“ Shiny beschreibt, wie die Bürger
Keralas, die ja eigentlich am besten
wissen müssten, dass Migranten in konfliktreichen und anstrengenden Umständen leben, wenig Verständnis für diese
Bevölkerungsgruppe zeigen. „Negative
Schlagzeilen und Geschichten darüber,
wie gefährlich diese Gruppen seien, gibt
es bereits zu genüge. Es wird Angst und
Fremdenhass geschürt.“ Und so begibt sich
diese faszinierende Filmemacherin auf die
Spur einer weiteren Geschichte um die
Frage nach Heimat, Zugehörigkeit und der
stetigen Aushandlung von Identitäten. j
JANA KOSHY
Quellen:
1. „Face of Compassion“, 2010. B. Sunnetha. In:
The Hindu
2. „Nursing big dreams“, 2014. Liza George. In:
The Hindu
Granth Rakesh
Thakkar ist
Weltmeister
im Kopfrechnen
Bei der Weltmeisterschaft im Kopfrechnen (World Mental Arithmetic Competition), die am 11. bis 12. Oktober 2014
in Dresden stattfand, hat der 13-jährige indische Schüler Granth Thakkar
den ersten Platz erreicht. An dem Wettbewerb nahmen 40 Kandidaten von 10
bis 80 Jahren aus 18 Ländern teil.
Thakkar stammt aus Vapi im indischen
Bundesstaat Gujarat und ist Schüler an
der Mother of Hope Schule dort. Sein
Berufswunsch: Wissenschaftler in der
Raumfahrt zu werden.
(Bild: MDR-Sachsen, 12-10-2014)
MEINE WELT 2/2014 41
I ERZÄHLUNG I
Das siebente Haus
R . K . N A R AYA N
Krischna fuhr mit dem Finger über den
Eisblock, um die Schicht Sägemehl wegzuwischen, meißelte ein Stück ab, zerkleinerte es und füllte den Gummieisbeutel.
Diese Beschäftigung in der schattigen Ecke
der rückwärtigen Veranda diente ihm als
Entschuldigung, um vom Krankenzimmer
wegzukommen, doch durfte er sich dabei
nicht verweilen, denn nach Anordnung des
Arztes musste ständig ein Eisbeutel auf der
Stirn seiner Frau liegen. In diesem Kampf
zwischen Eis und Quecksilbersäule war es
das Eis, das seine Eisigkeit verlor, während
die Quecksilbersäule auf einhundertdrei
Grad Fahrenheit stehen blieb.
Der Arzt hatte triumphierend dreingeblickt an dem Tag, an dem er die Krankheit als typhusartig diagnostizierte und
fröhlich verkündete:
„Wir wissen jetzt, mit welchem Stock wir
sie schlagen müssen. Er heißt Chloromycetin! Sie brauchen sich keine Sorgen mehr
zu machen.“
Er war ein guter Arzt, doch einem kläglichen Humor und dem Schwätzen ergeben!
Die Chloromycetin-Tabletten wurden der
Patientin wie angeordnet verabreicht, und
als der Arzt das nächste Mal kam, wartete
Krischna schon auf ihn, um erst einmal
Atem zu holen und dann loszuplatzen:
„Das Fieber ist nicht heruntergegangen!“,
wobei er das Fieberkurvenblatt hochhielt.
Der Arzt warf einen knappen, distanzierten Blick auf das Blatt und setzte seine
Rede fort:
„Die Stadtverwaltung hat mich aufgefordert, eine Steinplatte über die Wasserablaufrinne vor meinem Haustor zu legen,
doch mein Anwalt meinte …“
„In der vergangenen Nacht wollte sie
nichts essen“, unterbrach ihn Krischna.
„Gut für das Land mit seiner Nahrungsmittelknappheit! Wissen Sie, was der dicke
Getreidehändler auf dem Markt zu mir
gesagt hat? Als er mich aufsuchte, um mir
42 MEINE WELT 2/2014
seinen Hals zu zeigen, fragte er mich, ob ich
ein Dr. med. sei! Ich habe keine Ahnung,
wo er etwas über Dr. med.s erfahren hat.“
„Sie war unruhig und zerrte an ihrem
Bettzeug“, sagte Krischna, wobei er die
Stimme senkte, als er bemerkte, dass seine
Frau die Augen aufschlug.
Der Arzt berührte ihren Puls mit der Spitze seines Fingers und sagte unverfroren:
„Vielleicht mag sie ein andersfarbiges
Laken – warum auch nicht?“
„Ich habe irgendwo gelesen, dass das Zerren am Bettzeug ein schlechtes Zeichen
ist.“
„Ach, Sie und Ihre Lektüre!“
Die Patientin bewegte ihre Lippen. Krischna beugte sich dicht über sie und richtete
sich dann auf, um zu erklären:
„Sie fragt, wann Sie sie wieder aufstehen
lassen.“
„Rechtzeitig zu den Olympischen Spielen!“, versetzte der Arzt und lachte über
seinen eigenen Witz. „Ich würde selber
liebend gern zu den Olympischen Spielen
gehen.“
Krischna sagte: „Ihre Temperatur war
einhundertdrei letzte Nacht um Eins …“
„Haben Sie das Eis nicht ständig erneuert?“
„Bis meine Finger starr wurden!“
„Wir werden Sie demnächst auf Starre
behandeln, doch zunächst wollen wir zusehen, dass die Dame des Hauses wieder
zurück in die Küche kommt!“
So fand sich Krischna immerhin in einem
Punkt einig mit dem Arzt. Er brauchte seine Frau sehr dringend in der Küche. Jeden
Tag kochte er den Reis auf andere Weise
verkehrt, schlang ihn zu den Essenszeiten
mit Joghurt hinunter und eilte zurück ans
Lager seiner Frau.
Am Nachmittag kam die Dienerin herein, um Patientin und Bett herzurichten.
Sie entlastete Krischna für nahezu eine
Stunde, die er damit verbrachte, von der
Tür aus die Straße zu beobachten: Ein
R. K. Narayan (1906-2001) war einer der bekanntesten Belletristik-Autoren Indiens, die in
englischer Sprache schrieben. Er gehörte zu
dem Trio (die anderen zwei sind: Raja Rao und
Mulk Raj Anand – die beiden sind inzwischen
gestorben), die durch ihre Werke die indische
Literatur zur Weltgeltung brachten. Viele seiner
Geschichten spielen in einem einfachen südindischen Dorf namens „Malgudi“ Einige seiner
bekanntesten Werke sind: „The English Teacher“
(1945), „The Financial Expert“ (1952), „The
Guide“ (1958), „The Man Eater of Malgudi“
(1961) und „The Grandmother’s Tale“ (1993).
R. K. Narayan war eingeladener Gast bei der
Frankfurter Buchmesse 1986.
vorbeifahrender Radfahrer, heimrennende
Schulkinder, Krähen, die in einer Reihe
nebeneinander auf dem gegenüberliegenden Dach hockten, ein Straßenhändler, der
lauthals seine Waren feilbot – alles schien
ihm interessant genug, seine Gedanken
vom Fieber fortzulenken.
Eine zweite Woche verstrich. Da saß er,
neben ihrem Bett, achtete auf die Lage
des Eisbeutels und grübelte über sein
Eheleben nach, von Anfang an.
Als er an der Albert Mission studierte,
sah er sie häufig. Sie schwänzten den
Unterricht, saßen am Flussufer, führten
ernsthafte Gespräche über Gegenwart und
Zukunft und beschlossen schließlich zu
heiraten.
Beider Eltern fanden, dass sie es hier mit
einem Beispiel der Übel moderner Erziehung zu tun hatten: Junge Leute wollten
nicht mehr warten, bis die Eltern ihre
Heirat arrangierten, sondern nahmen die
Sache selbst in die Hand, wobei sie westliche Sitten und Film-Stories nachäfften.
I ERZÄHLUNG I
Den Mangel an Anstand ausgenommen,
sollte sich der Heiratsantrag aber in jeder
Beziehung als annehmbar herausstellen.
Der finanzielle Hintergrund der beiden
Familien, die Erfordernisse von Kaste und
Gruppe, Alter und alles Übrige waren in
Ordnung.
Die Eltern ließen sich schließlich erweichen, und eines schönen Tages wurden
die Horoskope des jungen Mannes und
des Mädchens ausgetauscht und als nicht
zueinander passend gefunden. Beim Horoskop des jungen Mannes stand Mars im
siebenten Haus, was Unheil für die Braut
bedeutete.
Der Vater des Mädchens weigerte sich,
den Heiratsantrag weiterhin in Erwägung
zu ziehen. Die Eltern des jungen Mannes
waren empört über die Haltung der Seite
der Braut. Der Vater einer Braut war doch
der Suchende und der eines Bräutigams
der Gebende! Wie wagen sie es da, sich
zu zieren?
„Unser Sohn wird eine Braut bekommen,
die hundertmal besser ist als dieses Mädchen. Was ist an ihr im Grunde Besonderes? Alle College-Mädchen machen sich
zurecht, um hübsch auszusehen, aber das
ist doch nicht alles!“
Das junge Paar fühlte sich elend und sah
entsprechend aus, was die Eltern bewog,
die Verhandlungen wieder aufzunehmen.
Ein weiser Mann empfahl, sie könnten,
wenn alle übrigen Dinge in Ordnung seien,
um ein Zeichen bitten und dann in der
Angelegenheit fortfahren. Die beiden
Parteien einigten sich auf ein Blütenorakel.
An einem glückverheißenden Tag versammelte man sich im Tempel. Die Öllampe im
Sanktum verbreitete ringsum ein sanftes
Licht. Der Priester entzündete ein Stück
Kampfer und bewegte es kreisförmig vor
dem Götterbildnis im Sanktum. Beide Elternpaare und ihr Anhang, die ehrerbietig
in der Säulenhalle standen, blickten auf
das Götterbildnis und flehten um Beistand.
Der Priester winkte einen etwa vierjährigen Jungen heran, der zu einer anderen
Gruppe von Andächtigen gehörte. Als er
zögerte, lockte er ihn mit einem Stück Kokosnuss. Der Junge näherte sich begierig
der Schwelle des Sanktums. Der Priester
pflückte eine rote und eine weiße Blüte aus
der Girlande des Götterbildnisses, legte sie
auf einen Teller und forderte den Jungen
auf, eine zu wählen.
„Warum?“, fragte der Junge, der sich, von
so vielen Leuten beobachtet, unbehaglich
fühlte. Sollte die rote Blüte gewählt werden, so würde dies Gottes Billigung anzeigen. Der kleine Junge griff nach dem Stück
Kokosnuss und versuchte zu entschlüpfen,
doch der Priester hielt ihn an der Schulter
zurück und befahl: „Nimm eine Blüte!“,
worauf das Kind in Tränen ausbrach und
nach seiner Mutter jammerte.
Die Erwachsenen waren verzweifelt. Das
Weinen des Kindes zu diesem Zeitpunkt
war von übler Vorbedeutung. Lachen hätte
da sein sollen – und die rote Blüte!
Der Priester sagte: „Unnütz, auf ein weiteres Zeichen zu warten! Das Kind hat
uns den Weg gewiesen“, und alle gingen
stumm auseinander.
Ungeachtet der Astrologen heiratete
Krischna das Mädchen, und Mars im siebenten Haus war schließlich vergessen.
Die Patientin schien zu schlafen. Krischna
verließ auf Zehenspitzen das Zimmer und
sagte zur Dienerin, die auf der Veranda
wartete:
„Ich muss in die Stadt, Medikamente kaufen. Gib ihr um Sechs Orangensaft und
schau nach ihr, bis ich wieder zurück bin!“
Er trat aus dem Haus und fühlte sich wie
ein entlassener Gefangener.
Er spazierte dahin, freute sich an der Menschenmenge und dem geschäftigen Treiben
der Market Road, bis ihm der Gedanke an
das Fieber seiner Frau wieder in den Sinn
kam. Er brauchte dringend irgendeinen
Menschen, der ihm die ungeschminkte
Wahrheit über den Zustand seiner Frau
sagen konnte. Der Arzt berührte alle möglichen Themen, nur das nicht. Als Chloromycetin es nicht vermochte, das Fieber
herabzusenken, sagte er fröhlich:
„Das zeigt nur, dass es nicht typhusartig ist,
sondern irgendetwas anderes. Wir werden
morgen weitere Tests durchführen.“
Und ehe er an diesem Morgen ging, meinte
er noch:
„Warum beten Sie eigentlich nicht, anstatt mich andauernd ins Kreuzverhör zu
nehmen?“
„Was soll ich denn beten?“, hatte Krischna
naiv gefragt.
„Nun, Sie könnten sagen: ‚O Gott!
Wenn du existierst, so rette mich, wenn
du kannst!’“ und lachte schallend über
seinen eigenen Witz.
Der Humor des Arztes war äußerst anstrengend.
Es war Krischna schon klar, dass der Arzt
früher oder später die richtige Diagnose
finden könnte – doch würde das noch zu
Lebzeiten der Patientin geschehen? Er
war entsetzt über die Aussicht eines Verlustes. Sein Herz schlug rasend bei diesem
schrecklichen Gedanken.
Mars, der im Schlummer gelegen hatte,
hatte sich nun erhoben. Mars und eine
nicht identifizierbare Mikrobe hatten ihre
Streitkräfte vereinigt. Die Mikrobe war
Sache des Arztes, wie verwirrt er auch
immer dreinschauen mochte. Aber die
Erforschung des Mars war eine andere.
Krischna mietete sich ein Fahrrad und ra-
GEDICHT
Indische Balsaminen*
Verzaubert ist heute die Luft.
Von segnender Sonne beschienen
verströmt ihr betörenden Duft,
oh, indische Balsaminen.
Hoch ragt ihr am Ufer, umsäumt
des Stromes spiegelndes Glänzen
und taumelt träge, verträumt
zu glitzernden Wellentänzen.
Aus lockendem Sehnsuchtsland
seid ihr gekommen, aus Fernen,
erleuchtet das silberne Band
mit euren rosa Laternen.
Verzaubert von dir schwingt mein Herz.
So hold hat der Fluss nie gesungen.
Oh, komm, wir gehen uferwärts,
wir beide, zärtlich umschlungen.
H. SMITZ
*Drüsiges Springkraut, ursprünglich aus dem
Himalaya-Gebiet Indiens
MEINE WELT 2/2014 43
I ERZÄHLUNG I
delte davon in Richtung auf den Kokospalmenhain, wo der alte Astrologe wohnte,
der damals das Horoskop erstellt hatte.
Er traf den alten Mann in der Diele sitzend
an, wie er gelassen einer Horde Kinder
zuschaute, die durch Fenster, über Mauern, Mobiliar und in einer Ecke gestapelte Reissäcke kletterten und genug Lärm
vollführten, um jegliche Unterhaltung
zu ersticken. Er breitete eine Matte aus,
auf der Krischna Platz nehmen solle, und
brüllte, den Lärm der Kinder übertönend:
„Ich habe euch gleich zu Anfang gesagt,
wie das noch werden würde, doch ihr Bengel wolltet ja nicht auf meine Worte hören! – Ja, Mars hat nun angefangen, seinen
unheilvollen Einfluss geltend zu machen.
Unter diesen Umständen ist ein Überleben
der betroffenen Person fragwürdig.“
Krischna stöhnte. Die Kinder hatten geschlossen ihre Aufmerksamkeit Krischnas
Fahrrad zugewandt, betätigten fortwährend die Klingel und waren fieberhaft bemüht, die Maschine von ihrem Standort
fortzuschieben. Nichts schien mehr von
Bedeutung zu sein. Einem Mann, der im
Begriff war, seine Frau zu verlieren, sollte der Verlust eines gemieteten Fahrrads
einerlei sein.
Sollen doch die Kinder alle Fahrräder in
der Stadt demolieren! Krischna würde
sich nichts daraus machen. Alles lässt sich
ersetzen, nur menschliches Leben nicht.
„Was soll ich nur tun?“, fragte er, während
er sich das Bild seiner im Bett schlafenden
und nie wachenden Frau vor Augen rief. Er
klammerte sich verzweifelt an diesen alten
Mann, denn in seiner fieberhaften Gemütsverfassung glaubte er, dass der Astrologe
Fürsprache einlegen könnte bei einem
Planeten hoch droben am Himmel, dass
er ihn beeinflussen oder sich gar bei ihm
in seinem Namen entschuldigen könnte.
Er erinnerte sich des rötlichen Mars, den
man ihm am Himmel zu zeigen pflegte,
als er Pfadfinder war – rötlich infolge der
Bösartigkeit, die wie Lava aus seinem Busen hervorbricht.
„Was würden Sie mir zu tun raten? Bitte,
helfen Sie mir!“
Der alte Mann blickte Krischna drohend
über seinen Brillenrand hinweg an. Seine
Augen waren auch rot. Alles ist rot, dachte
Krischna. Er hat teil an der Färbung des
44 MEINE WELT 2/2014
Deutsch-Indische Gesellschaft,
Zweigstelle Aachen,
feierte 25-jähriges Jubiläum
Eine der aktivsten und mitgliedstärksten Zweiggesellschaft der DeutschIndischen Gesellschaft ist Aachen. Sie
feierte am 27.09.2014 ihr 25-jähriges
Jubiläum. Aus diesem Anlass fand auch
die diesjährige Jahresversammlung
der 33 Deutsch-Indischen Zweiggesellschaften in Aachen statt.
die Pflege kultureller, wirtschaftlicher und
zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Indien einsetzt“.
Im Mittelpunkt der Aktivitäten von DIG
Aachen stehen Kulturprogramme wie
Tanz, Musik, Vorträge etc. und Studienreisen. Diese Reisen eröffnen einen ganz
Bei der Feier waren unter anderem auch
Bürgermeisterin Hilde Scheidt sowie der
Städteregionsrat Helmut Eschenberg dabei. Zusätzlich zu den Vertretern anderer
Indigo MasalaAcoustic Asian
World Fusion
Thar Rhythms
Zweiggesellschaften kamen auch viele
Aachener Bürger zu den Feierlichkeiten.
Das Fest klang am Abend in der Kammer
des Theaters Aachen mit einem Konzert
der Band „Indigo Masala-Acoustic Asian World Fusion“ und einem Auftritt der
Tanzgruppe „Thar Rhythms“ aus.
Die Aachener Zeitung von 8.10.14 schrieb:
„Die DIG Aachen ist mit 400 Mitgliedern
eine der größten und erfolgreichsten bilateralen Gesellschaften Deutschlands. So
wachsen konnte sie nur dank eines Teams,
das sich mit Engagement und Herzblut für
neuen Blick auf die indische Lebensweise
und Traditionen, da sie es ermöglichen,
die Kultur hautnah zu erleben. Außerdem
bilden Hilfsprojekte in Indien und Nachbarländern ein wichtiger Schwerpunkt der
Arbeit von DIG Aachen. Sie konzentrieren
sich auf Gesundheitsfürsorge, Aus- und
Weiterbildung von Kindern und Jugendlichen und Betreuung von Waisenkindern.
JP
(Quelle: Berichte in der Aachener Zeitung)
Fotos von Johannes Sequeira
I ERZÄHLUNG I
Mars. Ich weiß nicht, ob dieser Mann mein
Freund oder mein Feind ist. Mein Arzt hat
auch rote Augen. Ebenso die Dienerin.
… Rot überall.
„Ich weiß“, sagte Krischna, „dass der Herrscher des Tierkreiszeichens, in dem Mars
steht, gütig ist. Ich wollte, ich wüsste, wie
ich ihn günstig stimmen und sein Mitgefühl
erlangen könnte.“
Der alte Mann sagte: „Warten Sie!“
Er trat vor einen Schrank, nahm einen
Stapel Palmblattstreifen heraus, auf denen
Verse, vier Zeilen je Blatt, eingeritzt waren.
„Das ist eine der vier Urhandschriften des
Brihad-Dschataka, von dem sich die gesamte Wissenschaft der Astrologie herleitet. Das ist es, was mir mein Leben gegeben
hat. Wenn ich spreche, so spreche ich mit
der Autorität dieser Palmblatthandschrift.“
Der alte Mann hielt das Palmblatt ins
Licht nahe der Tür und las einen SanskritAphorismus vor:
„Man kann auf keinen Fall dem Geschick
entrinnen, doch kann man bis zu einem
gewissen Grad seine Unerbittlichkeit
mindern.“
Dann fügte er hinzu:
„Hören Sie: ‚Wo Angaraka (Mars) übelwollend ist, beschwichtige ihn mit dem
folgenden Gebet … und begleite es mit
einer Gabe von Reis und Hülsenfrüchten und einem Stück roter Seide! Gieße
vier Tage lang unablässig reine Butter als
Opfergabe in ein mit Sandelholzstäbchen
entfachtes Feuer und speise vier Brahmanen!‘ … Können Sie das tun?“
Krischna war von panischem Schrecken
erfasst. Wie könnte er dieses komplizierte Ritual organisieren (was eine Menge
Kosten verursachen würde), wo jeder
Augenblick und jede Rupie zählte? Wer
würde in seiner Abwesenheit seine Frau
pflegen? Wer würde das rituelle Festmahl
für die Brahmanen zubereiten? Er würde
einfach nicht in der Lage sein, dies ohne
die Hilfe seiner Frau zu bewerkstelligen.
Er lachte über die Ironie all dessen, worauf
der Astrologe meinte:
„Warum lachen Sie über diese Dinge? Sie
halten sich wohl für sehr modern?“
Krischna entschuldigte sich für sein Lachen
und erklärte seine hilflose Lage.
Der alte Mann schloss ungehalten das Manuskript, wickelte es in seine Hülle und
legte es weg, wobei er brummte:
„Diese einfachen Schritte können Sie
noch nicht einmal unternehmen, um einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen!?
Gehen Sie, gehen Sie! … Ich kann Ihnen
nicht von Nutzen sein.“
Krischna zögerte, nahm zwei Rupien aus
seiner Geldbörse und hielt sie dem alten
Mann entgegen.
Der aber winkte ab.
„Lassen Sie erst einmal Ihre Frau gesund
werden! Dann können Sie mir das Honorar
geben. Nicht jetzt!“
Und als sich Krischna zum Gehen wandte,
sagte er:
„Das Schlimme ist, dass Ihre Liebe Ihre
Frau umbringt. Wären Sie ein gleichgültiger Ehemann, so könnte sie überleben.
Die Bösartigkeit des Mars könnte dann
und wann bei ihr ein Leiden hervorrufen,
eher psychisch als physisch, doch es würde
sie nicht umbringen. Ich habe Horoskope
gesehen, die das Ihre und das Ihrer Frau exakt widerspiegelten, und die Ehefrau lebte
bis ins hohe Alter. Wissen Sie, warum? Weil
der Ehemann untreu oder gefühllos war,
und das minderte irgendwie die Unerbittlichkeit des Planeten im siebenten Haus.
Ich sehe, dass es um Ihre Frau wirklich
schlimm steht. Retten Sie sie, ehe etwas
geschieht! Wenn Sie sich dazu überwinden
können, ihr untreu zu sein, so versuchen
Sie es! Jeder Mann, der eine Geliebte hat,
hat eine Ehefrau, die lange lebt …!“
Eine sonderbare Philosophie, doch sie
klang durchführbar.
Krischna wusste nichts von den Techniken
der Untreue und wünschte, er hätte die
Raffinesse seines alten Freundes Ramu,
der sich, als sie beide noch jünger waren,
mit seinen sexuellen Heldentaten zu brüsten pflegte. Es würde jetzt aber unmöglich
sein, Ramus Beistand zu suchen, obwohl
er ganz in der Nähe wohnte. Er war jetzt
ein höherer Regierungsbeamter und ein
Mann mit Familie und dürfte wohl kaum
Lust haben, sich für Erinnerungen dieser
Art herzugeben.
Krischna hielt Ausschau nach einem Zuhälter, der die Prostituierten in der Golden
Street vertrat, konnte aber keinen einzigen
erspähen, obgleich das Markttor angeblich
von ihnen nur so wimmeln sollte.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Sechs Uhr. Mars müsste noch vor Mitternacht beschwichtigt werden. Irgendwie legte er in Gedanken Mitternacht als Grenze
fest. Er wandte sich heimwärts, lehnte das
Fahrrad gegen einen Laternenmast und
eilte die Stufen seines Hauses empor.
Als die Dienerin ihn erblickte, schickte sie
sich an zu gehen, doch er bat sie, dazubleiben. Dann warf er einen kurzen Blick ins
Schlafzimmer, sah, dass seine Frau schlief
und sagte zu ihr in Gedanken:
Neuer Vorstand
der Deutsch-Indischen Gesellschaft
Bei der Jahresversammlung der DeutschIndischen Gesellschaft in Aachen am
27.09.2014 wurde ein neuer Vorstand
gewählt. Praktisch wurde der alte Vorstand
in seinen Ämtern bestätigt. Frau Dr. IckeSchwalbe und Frau Dr. Lutz kandidierten
nicht mehr zum Vorstand. Aus Kostengründen wurde entschieden, die Zahl der
Vorstandsmitglieder auf fünf zu reduzieren.
Neu in den Vorstand kam Herr Christian
Winkle der Indien Stiftung als Schatzmeister.
Dies ist der neu gewählte Vorstand:
Vorsitzender:
Botschafter a.D. Hans-Joachim Kiderlen
1. Stellv.Vorsitzender:
Prof. Dr. Anand Srivatsav
2. Stellv.Vorsitzender: Manfred Krause
Schatzmeister: Christian Winkle
Mitglied: Herbert Lang
Vorsitzender des Beirats: Sven Andreßen
JP
MEINE WELT 2/2014 45
I ERZÄHLUNG I
„Dir wird es bald wieder besser gehen.
Aber es wird etwas kosten. Macht nichts.
Alles nur, um dein Leben zu retten.“
Er wusch sich hastig und zog ein Nylonhemd an, einen Dhoti mit Borte und ein
seidenes Obergewand; trug flüchtig etwas
Körperpuder auf und ein ungewohntes
Parfum, das er im Schrank seiner Frau entdeckt hatte. Er war bereit für den Abend.
Er hatte fünfzig Rupien in seiner Börse,
und das sollte genügen für den wildesten
Abend, den man sich nur wünschen konnte.
Einen Augenblick lang, als er vor dem
Spiegel innehielt, um einen letzten Blick
auf sich zu werfen, war er gepackt von einer
unermesslichen Vision von Leidenschaft
und Verführung.
Er lieferte das gemietete Fahrrad ab und
schlenderte um Sieben die Golden Street
hinauf. In seiner Phantasie hatte er wunderschöne Frauen erwartet, die ihm von
ihren Balkonen aus zuwinkten. Die alten
Häuser hatten Veranden, Säulen und Geländer und waren in grellen Farben gestrichen, wie es die Häuser der Prostituierten
in früheren Zeiten angeblich waren, doch
die Schilder an den Häusern verkündeten, dass hier Rechtsanwälte, Kaufleute
und Lehrer wohnten. Das einzige Überbleibsel aus alten Tagen war ein kleiner
Laden in einer düsteren Ecke, wo Parfums
in farbigen Fläschchen und Girlanden aus
Jasminblüten und Rosen verkauft wurden.
Krischna ging die Straße hinauf und wieder herunter und starrte hie und da angestrengt einige Frauen an, doch waren das
wahrscheinlich gewöhnliche, uninteressierte Hausfrauen. Keine einzige von ihnen
beanwortete seinen starren Blick. Keine
einzige schien sein seidenes Obergewand
und seinen Borten-Dhoti wahrzunehmen.
Er hielt inne, um darüber nachzudenken,
ob er vielleicht in irgendein Haus stürzen,
irgendeine Frau packen, die erforderliche
Tat begehen, seine fünfzig Rupien hinwerfen und wieder herausstürzen sollte.
Vielleicht könnte er bei einem solchen
Vorgehen verprügelt werden. Wie in aller
Welt sollte man herausfinden, welche unter
all den Frauen, die er auf den Terrassen
und Veranden der Häuser bemerkt hatte,
seinem Appell folgen würde?
46 MEINE WELT 2/2014
Nachdem er zwei Stunden lang auf und
ab gegangen war, wurde ihm klar, dass
die Sache unmöglich war. Er seufzte und
sehnte sich nach der Freiheit unter den Geschlechtern in den europäischen Ländern,
über die er gelesen hatte. Man brauchte
dort nur um sich zu blicken und seine Absichten zu offenbaren und könnte genug
Frauen bekommen, um den bösartigsten
Planeten im Universum zu verwirren.
Er erinnerte sich plötzlich daran, dass hier
irgendwo die Tempeltänzerin wohnte. Er
kannte eine Menge Geschichten über die
Rangi vom Tempel, die tagsüber vor dem
Götterbildnis tanzte und zur Nachtzeit
Liebhaber empfing.
Er blieb an einem Laden stehen, um sich
mit einer Banane und einem Fruchtgetränk
zu stärken, und fragte den kleinen Jungen,
der ihn bediente:
„Welches ist das Haus der Tempeltänzerin
Rangi?“
Der Junge war zu klein, um den Inhalt von
Krischnas Erkundigung zu begreifen, und
antwortete nur: „Ich weiß nicht!“
Krischna fühlte sich beschämt und ging.
Unter der Straßenlaterne stand eine Pferdedroschke. Das Pferd bewegte seinen
Schwanz hin und her, und der alte Kutscher wartete auf einen Fahrgast.
„Sind Sie frei?“, fragte Krischna.
Der Kutscher war augenblicklich zur Stelle.
„Wo möchten Sie hingefahren werden,
mein Herr?“
„Ich würde gern wissen, ob Ihnen bekannt
ist, wo die Tempeltänzerin wohnt“, sagte
Krischna verlegen.
„Warum wollen Sie sie?“, fragte der Kutscher, ihn von oben bis unten musternd.
Krischna murmelte irgendeine Antwort
dahingehend, dass er sie tanzen sehen
wollte.
„Zu dieser Stunde!?“, rief da der Kutscher
aus. „Mit so viel Seide und so viel Parfum
am Leib!? Versuchen Sie ja nicht, mich
zu täuschen! Wenn Sie aus ihrem Haus
wieder herauskommen, sind Sie all Ihre
Seide und all Ihr Parfum los. Aber sagen
Sie mir doch zuerst: Warum nur Rangi?
Da gibt es andere, sowohl Erfahrene als
auch Anfängerinnen. Ich werde Sie fahren,
wohin Sie wollen. Ich habe Hunderte wie
Sie in einer solchen Mission gefahren.
Aber sollte ich Sie nicht zuerst zu einem
Milchladen fahren, wo man Ihnen heiße
Milch und kleingehackte Mandeln geben
wird, um Ihnen Durchhaltekraft zu verleihen? Nur so als Routine, mein Lieber …!
Ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen.
Jedenfalls nicht meine Sache.
Irgendjemand hat Ihnen wohl mehr Geld
gegeben, als Sie brauchen? Oder ist Ihre
Frau schwanger und fort im Haus Ihrer
Mutter? Ich habe alle Tricks kennen gelernt, die Ehemänner ihren Frauen vorspielen. Ich kenne die Welt, mein Herr! Steigen
Sie schon ein! Was für einen Unterschied
macht es schon, wie Sie aussehen, wenn
Sie dort wieder herauskommen? Ich werde
Sie fahren, wohin Sie wollen.“
Gehorsam stieg Krischna in die Droschke
und füllte ihr Inneres mit Parfum und dem
Rascheln seines seidenen Gewandes. Dann
sagte er: „In Ordnung! Fahren Sie mich
nach Hause!“
Er nannte seine Adresse mit so trauriger
Stimme, dass der Kutscher, während er
sein Pferd anspornte, zu ihm sagte:
„Seien Sie nicht niedergeschlagen, mein
junger Herr! Sie verpassen gar nichts. Irgendwann werden Sie noch einmal an den
alten Kutscher denken.“
„Ich habe meine Gründe“, begann Krischna schwermütig.
Da versetzte der Droschkenkutscher:
„Das habe ich doch alles schon einmal
gehört! Erzählen Sie mir nichts!“
Und er fing an, über das Eheleben zu
predigen.
Krischna gab alle Erklärungsversuche auf,
lehnte sich zurück und ergab sich in sein
Schicksal. j
Aus dem Indoenglischen von Dieter B. Kapp
(Quelle: A Horse and Two Goats. Stories by R.
K. Narayan. Mysore: Indian Thought Publications, ²1974; S. 133-143.)
I TAG U N G S B E R I C H T I
Frauen und Gewalt in Indien
Die Tagung des Literaturforums Indien e.V. und die ewigen
Fragen nach den Geschlechterverhältnissen in Indien
JANA KOSHY
Einleitung
Die Gewalt gegen Frauen in Indien ist ein
allgegenwärtiges Thema. Seit im Dezember 2012 eine junge Frau der Mittelklasse
mit unerhörter Grausamkeit vergewaltigt
und getötet wurde, sind Fragen nach der
Position der Frau in der indischen Gesellschaft, ihren Handlungsraum und um ihre
Vulnerabilität, stetig präsent.
Auch das Literaturforum Indien widmete
sich in seiner diesjährigen Tagung dieser
komplexen Thematik. Den Teilnehmenden
boten sich drei spannende Tage mit vielfältigen Vorträgen, die die unterschiedlichen
Aspekte dieser Thematik behandelten, mit
vertiefenden Workshops und anregenden
Diskussionen.
Vorträge
Sich dem Themenkomplex „Frauen und
Gewalt in Indien“ zu nähern, ist keine
einfache Aufgabe. Es gilt, nicht in orientalisierte Vorstellungen zu verfallen: Die
ewig marginalisierte indische Frau, die
fernab einer Selbstständigkeit agiert - in
einem vollumfänglich patriarchalen System. Gleichzeitig zeigen gerade die Geschehnisse (oder deren Berichterstattung)
der sexuellen Gewalt der letzen Jahre, wie
wichtig es ist, eben jene Verhältnisse um
Geschlecht und Sexualität zu taxieren und
zu reflektieren, um einen angemessenen
Umgang mit der Thematik in der Politik, im
Sozialaktivismus und im sozialen Alltag zu
erreichen. Diese Parameter des Umgangs
sollten dabei ebenso für die lokalen und
nationalen Verhältnisse in Indien oder Südasien gelten wie auch für die Perspektive
von außen.
Foto von Ahmadudin Wais
Nicht einfach also, was das Literaturforum und seine Gäste sich so vornahmen,
umso erstaunlicher, dass es funktioniert
hat. Quelle der anregenden Vorträge
und Diskussionen war dabei die reiche
Literatur Indiens selbst und die Darstellung und Reflexion von und über Gewalt,
Frauen und den Geschlechterverhältnissen
in dieser. Die Literatur blieb also stets
Ausgangs- und Bezugspunkt.
Zu Beginn der Tagung jedoch sollte zunächst eine Perspektive zu Wort kommen,
die soziologische und ethnologische Belange als Ausgangspunkt nimmt. Natürlich eine zentrale Perspektive, wenn man
bedenkt, wie sehr die einzelnen Sphären
miteinander in Verbindung stehen.
Der Vortrag von Dr. Karin Polit basierte
auf Daten aus ihrer wissenschaftlichen
Arbeit zum Bereich der Ehre und Pflicht,
die als zentrale Handlungsmotivatoren
gelten können, und behandelte die Prozesse, die hinter gewalttätigen Handlungen an Frauen stehen. Dabei betonte sie,
dass Zuschreibungen wie „Kultur“ oder
„Lokalität“ tatsächlich nicht im Zentrum
stehen sollten. Relevanter sei zu betrachten, welche Machtkonstellationen zu der
jeweiligen Ausführung der Gewalt führten. Gewalt an Frauen sei also nicht das
Produkt einer spezifischen kulturellen
Konstellation, sondern einer spezifischen
Konstellation um Akteure, denen Macht
zugänglich ist und die diese auszuüben beabsichtigen. Dies ermögliche eine Analyse
von Gewalt in unterschiedlichen Kontexten von Macht.
Bereits diese Aussage bringt uns in der Betrachtung der Geschlechterverhältnisse in
Indien und ihrem Verhältnis zu Gewalt ein
ganzes Stück weiter: Sie verweist darauf,
dass es Kontexte gibt, in denen Gewaltausübung als Praxis von Macht eine konkrete
Präsenz erhält, und dass es andere gibt,
in denen eine solche Ausübung keinerlei
Handlungsmotivation beinhaltet. Gewalt
ist kein spezifisches Problem, das auf Indien beschränkt ist. Ebenso ist es nicht
auf eine spezifische Sphäre des Genders
beschränkt. Gewalt an Frauen gibt es auch
anderenorts und ebenso gibt es auch Gewalt gegen Akteure anderer Gender oder
anderer Distinktionsgruppen. Wichtig ist
es zu analysieren, in welchen Kontexten
diese Gewalt auftritt, welches ihre Legitimationen sind, woher diese Legitimationen ihre inhärente Logik ableiten und
ihre Handlungsmacht erhalten.
Der Vortrag von Karin Polit bot somit auf
ansprechende Weise eine Einführung in die
Thematik: Die folgenden zwei Tage sollten
mit ihren Ausführungen zu den verschiedenen Kontexten solcher Gewalt und den
anregenden Diskussionen eben solche Fra MEINE WELT 2/2014 47
I TAG U N G S B E R I C H T I
gestellungen erörtern. Denn natürlich liegt
der Fokus einer solchen Tagung auf der
Repräsentation von Gewalt an Frauen
in der Literatur, ihrer Artikulation der
Möglichkeit der Literatur als Sprachrohr,
oder eben ihren Einfluss auf Prozesse der
Konstruktion von Narrativen und Konzepten, die eine solche Machtausübung
begünstigen oder ihr evtl. entgegenwirken.
Hans-Martin Kunz von der Universität
Heidelberg behandelte in seinem Vortrag
die Erzählung von Mahasweta Devi „Unter der Bluse“, in dem er diese auf den
Aspekt der „voyeuristischen Lust“ hin
betrachtete. Er verknüpfte diesen Aspekt
mit Gewalt und ihren Repräsentationsformen in Medien und Literatur. Im Anschluss an die jeweiligen Vorträge wurden
spezifische Fragestellungen ergänzt und
andere Themenbereiche, die vielleicht im
Vortrag selbst nur kurz tangiert wurden,
zur Diskussion gestellt.
Arbeitsgruppen
Der arbeitsintensive zweite Tag der Tagung, der Samstag, gestaltete sich weiter
mit der Aufteilung der Teilnehmenden
in drei Workshops, die über ergänzende
Perspektiven noch einmal Einblick in weitere Aspekte dieser komplexen Thematik
geben sollten. So befasste sich einer der
drei Workshops mit dem Thema „Frauen und die christlichen Kirchen in Indien“. Er behandelte Gewalt im Kontext
christlicher Vorstellungen in der sozialen
Sphäre konservativer und traditionsorientierter Christen in Südindien. Dies ist
eine wichtige Perspektive, die sowohl auf
den Zusammenhang zwischen religiösen
Vorstellungen, Geschlechterverhältnissen
und der Gewalt gegen Frauen verweist als
auch auf die Nähe zu anderen kulturellen
Kontexten jenseits des indischen Subkontinents. Ein weiteres Argument dafür, dass
diese Gewalt in unterschiedlichen Faktoren begründet ist und nicht determinierend
nach Regionen zu unterscheiden ist.
Kulturprogramm
Am Abend sorgte ein anregendes Abendprogramm für etwas Entspannung von der
Schwere der Themen des Tages. Sandra
Ludwig begeisterte hier mit ihrer Aufführung von Tanzstücken aus dem Bharata-
INDISCHE WEISHEITEN
natyam. Sie bewies, dass sie eine Kennerin der südindischen Tanzkunst ist, und
bezog auch das Publikum mit ein, indem
sie vor dem jeweiligen Stück die Mudras
(Fingergestik) und Abhinayas (Mimik),
sowie die Bedeutung der einzelnen Stücke
erläuterte. Neben den Darbietungen der
begabten Künstlerin gab es zum Ausklang
des Abends eine Lesung von Erzählungen
aus dem Tamil von Prof. Dr. Dieter Kapp.
Die von ihm selbst übersetzen Texte der in
Deutschland leider unbekannten Schriftsteller wurden mit einer seltenen emotionalen Authentizität und gleichzeitigen
erzählerischen Leichtigkeit von Dieter
Kapp vorgetragen. Thematisch lagen diese
Geschichten dem Thema Frauen und Gewalt nicht fern und so ergaben sie noch mal
einen guten Anlass, um die Reflexionen des
Tages fortzuführen. Auch bot die Lesung
die Möglichkeit, sich mit tamilischer Literatur auseinanderzusetzen, die unter der
Hegemonie der nordindischen Literatur
nicht immer ihren Weg nach oben findet.
Eine weitere Perspektive auf die Zusammenhänge von dem Einfluss politischer
Diskurse und Bewegungen auf Geschlechterverhältnisse und die Verortung von
Akteuren in ihnen bot der Vortrag von
Nisa Punnamparambil-Wolf und dem
Künstler Axaram am dritten Tag der Tagung. In ihrem Vortrag zu „Frauen und die
Naxaliten-Bewegung in Indien“ stellten sie
die Funktion der Naxalitischen Bewegung
als Handlungsraum für Frauen dar und
zeigen, wie sich Frauen innerhalb dieser
Bewegung verortet zu Akteuren von Gewalt werden. Der Vortrag verdeutlichte auf
beeindruckende Weise, wie Frauen selbst
gewalttätig werden, wie sie sich aber auch
selbst ohnmächtig gegenüber den Mächten
eines patriarchalen Systems sehen.
Abschlussdiskussion
„Wenn dein Ziel groß ist und deine Mittel klein, handle trotzdem.
Allein durch dein Handeln werden auch deine Mittel wachsen.“
SRI AUROBINDO
(Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag
2014)
48 MEINE WELT 2/2014
In einer abschließenden Sitzung wurden
die Ergebnisse der letzten Tage zusammengefasst und im Plenum diskutiert. Es wurde
versucht, die unterschiedlichen Variablen
des Themenkomplexes „Frauen und Gewalt in Indien“ festzuhalten. Im Folgenden
kurz die wichtigsten dieser Variablen.
Es geht um die Frage nach den Akteuren,
nach ihrem Handlungsraum und nach den
Beweggründen ihrer gewaltvollen Hand-
I TAG U N G S B E R I C H T I
lung. So sind es nicht nur Männer, die Akteure von Gewalt werden. Das Beispiel
der naxalitischen Frauen oder unzählige
Beispiele der Literatur über das Verhältnis
von Schwiegermutter und Schwiegertochter zeigen, wie Frauen zu Akteuren von
Gewalt werden, insofern es die Machtkonstellation und der Handlungsraum erlaubt.
Die Schwiegermütter-Thematik ist im südasiatischen Raum das Thema unzähliger
Erzählungen und Geschichten und ist nicht
ohne Grund eines der spannendsten und
brisantesten Themengebiete: Heirat bildet
für das Leben einer Frau eine zentrale
Initiation, verändert aber ebenso das Leben einer Frau, die bereits einen Haushalt
führt und in den eine neue Frau in der
Person der Schwiegertochter eingeführt
wird. Diese neue, jüngere Frau muss sich
nun vielen Herausforderungen stellen. Sie
muss beweisen, dass sie dem Sohn eine
angemessene Ehefrau ist, anständig und
fleißig; bestenfalls wird sie irgendwann die
Nachfolge der Schwiegermutter als Leiterin des Haushalts übernehmen, was die
Situation mit noch mehr Konfliktpotenzial
belädt. Das beschriebene Szenario ist nach
wie vor eins, das viele Konflikte innerhalb
von erweiterten Familien birgt und eine
Ursache der häuslichen Gewalt. Ebenso
die nach wie vor gängige Praxis der Mitgift.
Viel zu oft berichten die Medien von den
„Haushaltunfällen“, bei denen junge verheiratete Frauen im Hause ihres Mannes
umkommen. Will man häusliche Gewalt
betrachten, ist also neben der Gewalt von
Männern gegen Frauen dies die häufigste.
Diese Problematik referiert ebenso auf
Geschlechterverhältnisse. So stehen die
Männer in diesen Konflikten, seien es
Söhne oder Ehemänner, zwischen den
weiblichen Konfliktparteien und müssen
sich zwischen Ehefrau und Mutter entscheiden. Doch die Sphären der Gewalt
trifft noch weitere Bereiche. So ist das
Abtreiben weiblicher Föten nach wie
vor Praxis und erinnert uns an eine implizite Form der Gewaltausübung: Frauen
und Gewalt kann nicht gedacht werden,
ohne die Betrachtung von struktureller
Gewalt. Dass Frauen von vornherein
nicht die gleichen Chancen erhalten wie
Männer ist eine sehr präsente Form der
Gewalt, wenn auch nicht so explizit wie
die physische Gewalt. Wenn sie mit einem
extremen Druck verübt wird, so lässt sich
von psychischer Gewalt sprechen. Ist sie
hoch formalisiert und über Institutionen
ritualisiert, so von institutioneller Gewalt.
Die Teilnehmer der Tagung diskutierten
an Hand von literarischen Beispielen und
Erörterungen jede dieser Gewaltformen
und erörterten ihre Verankerung in der
Sphäre Südasiens. Ein wichtiger Aspekt
dieser Region, dieser Sphäre der sozialen
Interaktion Südasien ist jedoch, wie bei
so vielen Themen auch, die Dichotomie
zwischen Stadt und Land. So gibt es Unterschiede zwischen dem „Frau-Sein“ auf dem
Land und dem „Frau-Sein“ in der Stadt.
Erwerbstätigkeit und die Reduktion auf
Kernfamilien führen in den Städten oft
dazu, dass Frauen sich mit einem größeren
Handlungsraum bereichert sehen. So führt
das zu einer Stärkung ihrer Möglichkeiten
und zu einer Reduktion von Gewalt gegen
sie. Sexuelle Gewalt, wie sie seit dem Dezember 2012 stetig in den Medien präsent
ist, begegnet uns natürlich in den Städten
genauso wie auf dem Land. Interessant ist
auch, dass die Kontinuität diskriminierender Praktiken gegenüber Frauen auf dem
Land eine größere Kontinuität aufweisen
als in den Städten, wo eine größere Fluktuation der Werte möglich ist.
Der Fall der Gruppenvergewaltigung vom
Dezember 2012 gab ebenso Anlass zur
Diskussion, ob es einen tatsächlichen Anstieg solcher Vergewaltigungsfälle in den
letzten Jahrzehnten gab oder ob es nicht
eher eine größere Möglichkeit für die Artikulation dieser Gewalttaten gibt. Vor allem
ist sexuelle Gewalt zwischen den Kasten
seit Jahrhunderten eine gängige Praxis gewesen und auch lange in den Augen der
Ausführenden über die Kastenhierarchie
legitimiert. Die Opfer dieser Übergriffe
sahen sich oft ohnmächtig der Obrigkeit
der hohen Kasten gegenüber und schweigen. Vielerorts sind die Vergewaltigungen
von Dalit-Frauen und Adivasi-Frauen in
Indien nur Fortführungen dieser Hierarchien und hinterlässt die Opfer ebenso
ohnmächtig. Suchen sie sich dann doch ein
Sprachrohr und gehen zur Polizei, kann
es zudem sein, dass sie von dieser ebenso
sexuell missbraucht werden. Die Frage um
die Artikulation und Präsenz von Gewalt
allgemein und Gewalt gegen Frauen in
der Öffentlichkeit ist auch eine Thematik, die in der Erzählung „Der goldene
Gürtel“ von Uday Prakash thematisiert
wird. Dort geht es um eine alte Frau, die
von ihrer Familie in eine Art Verließ gesteckt wird, um dort abgeschieden von der
Öffentlichkeit vor sich hin zu vegetieren.
Prakashs starkes Symbol des Verließ’ ist
eine zentrale Metapher für die Praxis des
Schweigens in der indischen Gesellschaft.
Diese Räume des Schweigens treten im-
Fleisch-Fakten
Planet der Nutztiere: Auf der Erde leben
etwa 7,1 Milliarden Menschen, die pro Jahr
mehr als 68 Milliarden Tiere schlachten
und verspeisen.
Mast-Doping: Ein Küken wiegt bei Geburt
etwa 42 Gramm und nach 30 Tagen bereits
1500 Gramm. Damit ist das Huhn schlachtreif.
Vom Acker zum Trog: Etwa 36 Prozent der
Weltgetreideernte geht in die Mastställe.
Es gibt jedoch große Unterschiede: In
den USA werden nur 35 Prozent der Ernte
direkt als Nahrungsmittel verwendet, in
China 58 Prozent und in Indien 90 Prozent.
Allein aus rund acht Prozent der US-Ernte
wird Biosprit hergestellt.
Mehr Menschen: Im Jahr 2050 werden
mehr als neun Milliarden Menschen leben.
Würde die gesamte Welternte direkt zu
Nahrungsmitteln verarbeitet, könnte die
Erde vier Milliarden Menschen mehr ernähren. Allein ein „Umstieg“ von Rind- auf
Hühnerfleisch könnte 357 Millionen Menschen mehr ernähren.
(Quelle: General Anzeiger, Bonn, 18.8.2014)
MEINE WELT 2/2014 49
I BÜCHER I
mer wieder in der indischen Literatur auf
und verweisen auf tatsächliche Räume des
Schweigens und auf ihre Abstraktionen,
auf Räume der Nicht-Artikulation. Fernab
der Öffentlichkeit geschehen Gewalttaten, Grausamkeiten und Folterungen. Die
Faktoren der öffentlichen Scham und die
Angst um die Ehre sind dabei zentrale
Motoren dieser Kultur des Schweigens1.
Gewalt an Frauen ist sicherlich oft in diesen Räumen des Schweigens verortet.
Resümee
Frauen und Gewalt ist also eine vielschichtige Begriffssphäre. Sie beinhaltet Akteure,
die sich selbst in diesen Konstellationen
von Macht und Handlungsraum wiederfinden, sie reproduzieren, sie modifizieren.
Der lokale Raum dieser Aushandlungsprozesse ist dabei nicht die dominante
Variable, sondern vielmehr die Summe
aus historischen, ideologischen und gesellschaftlichen Prozessen, die dazu führen,
dass Akteure auf diese Weise agieren. Der
Ausdruck dieser Machtausübung ist dabei allzu oft Gewalt. Gewalt, die in ihrer
Form, ihrem Ausmaß und Konsequenzen
variieren kann, wie auch im Grad ihrer
Explizitheit.
Die diesjährige Tagung des Literaturforum
Indien e.V. lässt sich also als durchweg
gelungene Veranstaltung festhalten. Die
drei Tage mit Vorträgen und Workshops
waren spannend
gestaltet. Und auch für eine Behandlung
unterschiedlicher Bereiche der komplexen
Thematik wurde gesorgt. Die Organisatoren Hans-Martin Kunz und Christian Weiß
sowie Frau Kerstin Grapher von der Ev.
Akademie Villigst haben eine spannende
Veranstaltung konzipiert, die die Teilnehmer zu vielen Diskussionen und Reflexionen angeregt hat – auf der Suche nach
den unzähligen Aspekten und Facetten,
die dieser Themenkomplex beinhaltet. j
1 siehe hierzu auch: „Die Kultur des Schweigens
- wenn Wahrheit zu einer Frage der NichtArtikulation wird “ von Jana Koshy, 2013
50 MEINE WELT 2/2014
Neuerscheinungen im Draupadi Verlag
Gayatri Devi:
Erinnerungen
einer Prinzessin.
Die Memoiren
der Maharani
von Jaipur.
Aus dem Englischen übersetzt
von Veronika
Obst. 338 Seiten
Gayatri Devi, geboren 1919, war die Tochter des Maharajas von Cooch Behar. Aufgewachsen in einem Palast mit fünfhundert
Dienern, heiratete sie 1940 den Maharaja
von Jaipur und wurde als seine dritte Frau
die Maharani, die Gattin des Großfürsten.
Mit ihrer Mutter reiste sie vielfach nach
Europa und gehörte in ihrer Jugendzeit zu
den zehn schönsten Frauen der Welt. Nach
der Unabhängigkeit Indiens engagierte
sich Gayatri Devi in sozialen Belangen und
war als Mitglied der liberal-konservativen
Swatantra-Partei fünfzehn Jahre lang im
indischen Parlament vertreten. Die Maharani von Jaipur verstarb 2009 in Jaipur/
Rajasthan.
Die Memoiren von Gayatri Devi gewähren einen sehr persönlichen Einblick in
eine Welt, die es heute nicht mehr gibt.
Die „Erinnerungen einer Prinzessin“
beleuchten die Geschichte der indischen
Fürstenstaaten auf dem Zenit ihrer Macht
während der britischen Kolonialzeit bis
zu ihrer Auflösung im Zug der Unabhängigkeit und ihrem aktuellen Status in der
indischen Gesellschaft.
wwww
Rabindranath
Tagore: Der Ruf
der weiten Welt.
Erzählungen
Aus dem Bengalischen übersetzt
von Nirmalendu
Sarkar.
Rabindranath Tagore (1861-1941) wurde in
Deutschland zunächst als Lyriker bekannt.
Für die Gedichtsammlung „Geetanjali“
erhielt er 1913 den Literaturnobelpreis.
Kurze Zeit später erschien eine deutsche
Übersetzung dieser Anthologie. In den Jahren danach wurden vor allem seine Romane und Essays ins Deutsche übersetzt.
Von seinen Erzählungen ist bisher nur ein
kleiner Teil in Deutschland erschienen.
Dabei sind es gerade diese bewegenden
Geschichten, die die Menschen des 21.
Jahrhunderts ansprechen. Die zehn Kurzgeschichten dieses Bandes sollen dabei
helfen, den großen indischen Künstler neu
zu entdecken.
wwww
Nabarun
Bhattacharya:
Herbert. Ein
Kalkutta-Roman.
Aus dem Bengalischen übersetzt
von Hans Harder.
Nabarun Bhattacharyas Erstlingsroman Herbert von 1994 ist eins der
erfolgreichsten bengalischen Bücher der
letzten Jahrzehnte und wurde mit verschiedenen indischen Literaturpreisen
ausgezeichnet. Auch die gleichnamige
Verfilmung 2005 durch Suman Mukhopadhyay erregte Aufsehen.
Herbert erzählt die Lebensgeschichte
Herbert Sarkars, eines vernachlässigten
Jugendlichen und Ange­hörigen der unteren Mittelschicht im Zentrum Kalkuttas.
Auf­grund spiritistischer Lektüren und vermeintlicher Visionen gelangt Herbert zur
Überzeugung, Kontakt mit dem Jenseits
herstellen zu können. Er eröffnet ein Büro
und bietet „Gespräche mit den Toten“ an,
was sich eine Zeitlang als erfolgreiches
und lukratives Unternehmen erweist. Bis
ihm die Rationalistische Gesellschaft auf
die Schliche kommt …
I BÜCHER I
Neue Bücher
Scar City von Shreyas Rajgopal, Roman,
aus dem Englischen von Simone Jakob,
Ullstein Verlag, Berlin 2014
WerteDialog
der Religionen
durch die ganze Landschaft der sozialen
Übel Indiens führen werden.
Shreyas Rajgopal ist ein 28-jähriger Großstadtautor, das Produkt einer geradezu
schmerzhaft zeitgenössischen Oberschichtjugend in der 18-Millionen-Metropole
Mumbai; seine stärkste literarische Inspiration war der New Yorker DekadenzHorrorklassiker American Psycho von
Bret Easten Ellis. Rajgopals Indien ist
nicht der Schauplatz einer Ethno-Soap,
sondern ein Labor des 21. Jahrhunderts.
Seine Romanfiguren interessieren sich für
Drogen, Partys und Designermarken, obwohl „interessieren“ kaum das richtige
Wort ist; im Grunde interessieren sie sich
für gar nichts.
Delhi. Im Rausch des Geldes von Rana
Dasgupta, Großreportage, aus dem
Englischen von Barbara Heller u. Rudolf
Hermstein, Suhrkamp Verlag, Berlin
2014
Die wundersame Beförderung
von Vikas Swarup, Roman, aus dem
Englischen von Bernhard Robben,
Kiepenhauer & Witsch Verlag, Köln, 2014
Indien. Ein Land und seine
Widersprüche von Jean Drèze/
Amartya Sen, aus dem Englischen von
Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn,
C.H.Beck Verlag, München 2014
Vikas Swarup, hauptberuflich Diplomat
in Neu Delhi, ist der Autor des Romans,
der die Grundlage für den berühmten
Film „Slumdog Millionaire“ lieferte. In
seinem neusten Roman „Die wundersame
Beförderung“ handelt es sich um die Verkäuferin Sapna Sinha, die an einem sonst
vollkommen gewöhnlichen Tag von einem
geheimnisvollen Fremden ein gigantisches
Erbe angetragen bekommt, die Führung
einer weitverzweigten Unternehmensgruppe. Die Bedingung: Sapna muss sieben Prüfungen bestehen, moralische Tests, über
die sie vorab nichts erfährt, die sie jedoch
Das Delhi, das der Autor beschreibt, ist
ein kalter, von Immobilienspekulation und
Konsumzwang beherrschter Platz, ein Ort
der seelischen und moralischen Verwüstung, wo Geschäftsleute die Konkurrenz
wie einen Krieg betreiben und wo Kranke
in den Privatkliniken bis an die Schwelle
des Todes mit überflüssigen Therapien
gequält werden, um ihren Angehörigen
ruinöse Honorare abzunehmen.
Drèze und Sen haben ihr Buch gegen den
Hype um das Wirtschaftswunderland und
die kommende Supermacht Indien geschrieben, der vor ein paar Jahren große
Mode geworden ist. Kindersterblichkeit
und Unterernährung, Analphabetismus
und mangelnde Sanitätsversorgung sind
nach ihrer Analyse immer noch schwere
Handicaps, manchmal schlimmer als in berüchtigten Elendsländern wie Bangladesh.
Die Verständigung über die zentralen und
unser Handeln bestimmenden Werte ist
für den interreligiösen Dialog zwischen
Christentum, Judentum und Islam von
immenser Bedeutung. Einen besonderen
Akzent setzt dieser Band mit 12 Beiträgen
zur Wertebildung und zum Wertedialog
in der Praxis. Berichtet wird von neun
Lernorten: Kindergarten und Schule, Jugendarbeit, Universität, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit, Krankenhaus, Pilgern,
Museum und Dialoginitiativen.
Bei Rückenschmerzen
hilft keine Bettruhe
bereichern würde. Der quasi Einweg-Monolog „Meine Welt zum Leser“ würde sich
in einen fruchtbaren Dialog umwandeln.
Also bitte ich, nein fordere ich die Aktivleser hiermit auf, ihre Wünsche an die
Redaktion zu melden.
Herzlich Ihr,
Mehr als 70 Prozent aller Menschen in den
Industrienationen leiden irgendwann im
Leben einmal an Rückenschmerzen. Einige
von ihnen gehen damit zum Arzt, und der
hat, neben viel Mitgefühl natürlich, oft
auch den Rat parat, sich zu schonen und
am besten mal ins Bett zu legen. Das aber
ist grundfalsch, es macht die Beschwerden
oft nur noch schlimmer. Richtig wäre das
genaue Gegenteil: aktiv bleiben, Gymnastik
machen, joggen oder spazieren gehen.
Dabei kann man sich immer wieder zwei
Zahlen aufsagen, die die Schmerzen vielleicht eine Zeit lang vergessen lassen: 90
und 6. Sie bedeuten, dass bei 90 Prozent
der Betroffenen akute Rückenschmerzen
innerhalb von sechs Wochen ganz von
allein verschwinden.
G O PA L K R I PA L A N I
Braunschweig
(Quelle: DIE ZEIT, 16.10.2014)
(Aus: „Die Zukunft kommt aus Indien“ von Jan
Ross, Die Zeit Literatur 2014)
LESERBRIEF
Meine Welt hat über die Jahrzehnte
hinweg den Lesern ein dickes Paket an
Information über Indien geboten. Wenn
aber die Leser auch noch Themen setzen
und ihre Redaktion mit der Recherche
beauftragen würden, entstände eine
neue Partnerschaft, welche Meine Welt,
die Leser und die Verfasser der Beiträge
Freise, Josef / Khorchide, Mouhanad
(Hrsg.)
Überlegungen und Erfahrungen zu
Bildung, Seelsorge, Sozialer Arbeit und
Wissenschaft, Herder Verlag 2014
MEINE WELT 2/2014 51
I NOBELPREIS I
Friedensnobelpreis
für Malala Yousafzai und
Kailash Satyarthi
Der diesjährige Friedensnobelpreis geht an
die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Malala Yousafzai und an den indischen
Kinderrechtsaktivisten Kailash Satyarthi.
Damit wurde ihr Eintreten gegen die Unterdrückung von jungen Menschen und
für deren Recht auf Bildung gewürdigt.
Kinder müssten die Möglichkeit haben,
zur Schule zu gehen, und müssten vor
Ausbeutung geschützt werden, erklärte
das Nobelpreiskomitee in Oslo.
Die 17-jährige Malala Yousafzai ist die mit
Abstand jüngste Trägerin des Friedensnobelpreises. Die Pakistanerin war 2012
wegen ihres Einsatzes für Schulbildung für
Mädchen von Kämpfern der radikalislamischen Rebellenbewegung der Taliban auf
dem Weg zur Schule angeschossen worden.
Dabei erlitt sie schwere Verletzungen am
Kopf. Trotz des Attentats setzte sie ihren
Kampf für das Recht der Mädchen auf
Bildung fort. Diesen Einsatz würdigte das
Nobelkomitee. „Durch ihren heroischen
Kampf ist sie zu einer führenden Fürsprecherin für das Recht von Mädchen auf
Bildung geworden“, hieß es.
Kailash Satyarthi ist in der Öffentlichkeit
weniger bekannt. Er engagiert sich seit vielen Jahren mit friedlichen Protestaktionen
gegen Kinderarbeit und die Ausbeutung
von Kindern. Er hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Rechte von
Kindern in internationalen Konventionen
52 MEINE WELT 2/2014
festgeschrieben wurden. Er habe damit
in der Tradition von Gandhi großen Mut
bewiesen, betonte das Nobelkomitee.
Abhimanyu Singh, Direktor
und Vertreter UNESCO,
Ostasien, schrieb in einem
Beitrag „Hero oder persona
non grata?“, der am17.10.14
in der indischen Zeitung
„The Hindu“ erschien:
„Menschen wie Satyarthi riskieren ihr
Leben bei Konfrontationen mit unberechenbaren Bürokraten, die unschuldigen
und schutzlosen Kindern ihre Lebenschancen und Würde entziehen. Sie befreien die
Kinder von langjähriger Versklavung und
Knechtschaft und versuchen, Bildung für
sie möglich zu machen. Ihm zuzuhören alle
diese Jahre bei der UNESCO war sehr
bewegend und inspirierend, insbesondere
wenn er Geschichten erzählt von Kindern
aus unterschiedlichen Ecken dieser Welt,
wie sie von extremer Armut und Elend
durch die Arbeit von mutigen Menschen
und Organisationen wie Bachpan Bachao
Andolan (Die NGO von Satyarthi) gerettet werden.“ j
J O S E P U N N A M PA R A M B I L
(Quelle: Internet und verschiedene Pressemeldungen)
Die Geschichte
von MüllbergKindern
Malala, die Friedensnobelpreisträgerin, erzählt …
Eines Nachmittags, als meine Brüder nicht
zu Hause waren, bat mich meine Mutter,
die Kartoffel- und Eierschalen wegzuwerfen. Ich ging zum Müllberg und rümpfte
die Nase, wedelte die Fliegen vor meinem
Gesicht weg und achtete darauf, dass ich
mit meinen hübschen Schuhen nicht in
irgendwelchen Unrat trat. Wenn ich bloß
Sanjus Zauberstift gehabt hätte, um alles
auszuradieren: den Gestank, die Ratten,
den riesigen Berg voller verfaulender Essensreste. Als ich unseren Müll auf den
Berg warf, sah ich, wie sich etwas bewegte.
Ich sprang zurück.
Es war ein Mädchen in meinem Alter. Ihre
Haare waren strähnig, und ihre Haut war
mit Schorf bedeckt. Sie sortierte den Müll
in kleine Haufen, einen für Dosen und
einen für Flaschen. In der Nähe durchwühlten Jungen den Dreck auf der Suche nach
Metall. Sie benutzten dafür Magnete und
Schnur. Ich wollte etwas zu ihnen sagen,
aber ich hatte Angst.
Als mein Vater später am Nachmittag nach
Hause kam, berichtete ich ihm von meiner
Begegnung und schleifte ihn zum Müllberg.
Er sprach die Kinder freundlich an, aber
sie liefen weg. Ich fragte ihn, warum sie
nicht in der Schule waren. Er erklärte, dass
diese Kinder ihre Familien unterstützen
mussten, indem sie alles verkauften, was
sie fanden und was ein paar Rupien wert
war. Wenn sie in die Schule gehen würden,
müssten ihre Familien hungern. Als wir
nach Hause gingen, sah ich Tränen auf
seinen Wangen.
Aus: „Malala. Meine Geschichte“ von Malala
Yousafzai mit Patricia McCormick, aus dem
Englischen
I KIRCHE I
Rainer Maria Kardinal Woelki
ist Erzbischof von Köln
INDISCHE WEISHEITEN
„Wenn Frieden mehr sein soll als die bloße Abwesenheit von
Krieg, muss er auf der Stärke der Gerechten und darf nicht auf
der Unterdrückung der Schwachen beruhen.“
Ab dem 20. September 2014 ist
Rainer Maria Kardinal Woelki
Erzbischof von Köln.
Er wurde am 18. August 1956 in Köln
geboren. Die Priesterweihe empfing er
1985 in Köln, hier war er 2003-2011 auch
Weihbischof. 2000 wurde er in Rom zum
Doktor der Theologie promoviert. Von
2011 bis 2014 war er Erzbischof von Berlin.
2012 erhob ihn Papst Benedikt XVI. zum
Kardinal.
Der neue Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki sieht die Flüchtlingshilfe als
eine seiner wichtigsten Aufgaben für die
kommenden Monate. Es gehe um die
Unterbringung der Flüchtlinge, um Familienzusammenführung und Integration,
sagte Woelki am Mittwoch in Köln. Der
neue Erzbischof, Nachfolger von Kardinal Meisner, wurde am Samstag, dem 20.
September 2014 in sein Amt eingeführt.
JP
R A B I N D R A N AT H TA G O R E
(Quelle: Presseberichte)
(Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag
2014)
MEINE WELT 2/2014 53
I KUNST I
Christliche Kunst von Schwester Claire
(Kontakt: art.i, Office
for Social Communications, CBCI Centre,
1 Ashok Place, New
Delhi, India. Email:
cbcimogmail.com)
54 MEINE WELT 2/2014
I INDIEN I
Die Vielfalt Indiens
Fotos von Rainer Thielmann (Aus: „Indien von innen“, Reiselyrik Verlag)
MEINE WELT 2/2014 55