Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV
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Heft 2 Jahrgang 31 Herbst 2014 Zeitschrift des deutsch-indischen Dialogs Deutsch-Indische Beziehungen im Wandel · Wahl in Indien · Sozial- und umweltverträgliches Reisen · Wasser als Instrument der Macht · Filmrezension: „Translated Lives“ · Gedicht · Erzählung · Seminarbericht · Buchinfo · etc. I I N H A LT I Herausgeber Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. Abteilung Integration und Migration Georgstr. 7, 50676 Köln Tel. 0221/2010-287 www.caritasnet.de Vertreter des Herausgebers: Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV E-Mail: heinz.mueller@caritasnet.de Redaktion: Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224 / 7 53 17 E-Mail: punnam@t-online.de Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: tchakkiath@yahoo.de Editorial ....................................................................................................................... 3 Die deutsch-indischen Beziehungen im Wandel ..................................................... 4 Dr. Hans-Georg Wieck Wahlslogan 2004: „Strahlendes Indien“; Wahlslogan 2014: „Bessere Zeiten sind in Sicht“.................................................... 9 Gopal Kripalani Bankkonten für jedermann – mehr als ein PR-Erfolg? ........................................11 Georgy Koottummel 50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln .............................................13 Jose Punnamparambil Auszeichnung der DIG-Bonn/Köln für das Lebenswerk von:..............................16 Jose Punnamparambil, Dr. Hem Chandra Jha; Dr. med. Nabendu Sircar; Dr. Amaresh Gupta und Prof. Dr.Jürgen Ernst Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel, Tel. 02224/9897690; E-Mail: Daniel.Nisa@t-online.de Die Qual der Wahl......................................................................................................18 Jana Koshy, Bielefeld Email: j.koshy@gmx.de Kabani – sozial- und umweltverträgliches Reisen .................................................21 Georgy Koottummel, Dürener Str. 12, 53332 Bornheim, Email: koottummel@web.de Indorama.....................................................................................................................24 Redaktionelle Mitarbeit: Walter Meister, Öhringen Wasser als Instrument himmlischer und irdischer Macht in Indien.................... 26 Unterstützung und Beratung: Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel, Berlin; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen; Pfarrer Dariusz Glowacki, Königswinter; Dr. Claudia Warning, Lohmar Gestaltung und Satz: Alexander Schmid, Nohn Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken Herstellung und Vertrieb: Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49; E-Mail: joseukken@googlemail.com Druck: Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Erscheinungsweise: dreimal jährlich Eine Spende von mindestens 13 Euro wird von den Lesern erwartet. Konto-Nr.: 106 3205, Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00), Diözesan-Caritasverband Köln IBAN: DE08 370 205 000 001 063 205 BIC: BFSWDE33XXX Titelbild Indische Weihnachten (Schw. Claire, siehe S. 20 und S. 54) Rückseite Ein Derwish in Ajmer (Foto: Walter Meister) 2 MEINE WELT 2/2014 Dr. George Arickal Nisa Punnamparambil-Wolf A. Khaliq Kaifi Gisela-Bonn-Preis 2014 geht an Rainer Hörig ......................................................29 In meinen Gesängen gibt es Salz (Gedicht) ...........................................................31 O. N. V. Kurup Coalgate – der oberste indische Gerichtshof hat entschieden .............................32 Georgy Koottummel Kölner Indienwoche 2014 .........................................................................................33 Dr. Julius Reubke Der positive Umgang mit dem „Anderen“.............................................................34 Ludwig Ring-Eifel Tribals zerrissen von Religion ..................................................................................35 Griechische und indische Epen der Antike: Geniale Kopfgeburten ...................36 Gopal Kripalani Tanslated Lives (Filmrezension)...............................................................................38 Jana Koshy Eine Filmemacherin auf den Spuren von Migranten in Deutschland .................40 Jana Koshy Das siebte Haus (Erzählung) ...................................................................................42 R. K. Narayan Frauen und Gewalt in Indien ...................................................................................47 Jana Koshy Christliche Kunst von Schwester Claire ..................................................................54 I EDITORIAL I Die Deutsch-Indische Gesellschaft und die indische Diaspora Die Deutsch-Indische Gesellschaft (DIG) ist eine der mitgliedsstärksten und aktivsten bilateralen Freundschaftsorganisationen in Deutschland. Gegründet 1953 hat die DIG heute 33 Zweiggesellschaften mit über 3 500 Mitgliedern, zerstreut über die ganze Bundesrepublik. Durch ihre zahlreichen Kultur- und Informationsveranstaltungen hat die DIG über die Jahre den Diaspora-Indern das aktuelle Indien erlebbar gemacht und die Verständigungsgrundlage für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben mit den Deutschen geschaffen. Nach 61 Jahren seit ihrer Gründung ist deshalb die DeutschIndische Gesellschaft heute ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der kleinen indischen Diaspora hier. Zwei der großen und aktivsten Zweiggesellschaften der DIG haben neulich ihr Jubiläum gefeiert. Die DIG-Köln/ Bonn hat ihr 50-jähriges Jubiläum am 11.10.14 im Brückenforum Bonn gefeiert. Die Geschichte der Entwicklung der DIG-Bonn/Köln sowie Informationen über die Jubiläumsveranstaltung haben wir anderswo in diesem Heft abgedruckt. Die DIG-Aachen, eine der Spitzenreiter bei Mitgliederzahl (zur Zeit 400) und Veranstaltungen unter den Zweiggesellschaften hat auch ihr 25-jähriges Jubiläum am 27.09.14 im Aachener Rathaus gefeiert. Hierüber haben wir auch einen Kurzbericht in diesem Heft abgedruckt. In den Anfangsjahren stellten die indischen Akademiker, die in den 1950er und 1960er Jahren zwecks Studium nach Deutschland kamen und sich später hier niedergelassen haben, die große Mehrheit der Mitglieder der DIG. Auch viele Deutsche, die in enger Verbindung zu Indien standen (Diplomaten, Indologen, etc.), unter- stützten die Aktivitäten der DIG sehr stark. So hatte das Programmangebot der DIG immer eine gehobene, elitäre Ausrichtung. Es war deshalb zielgruppengerecht und zeitgemäß, dass die Gesellschaft in den 1980er und 1990er Jahren den Programmschwerpunkt auf klassischen indischen Tanz und klassische indische Musik legte. Ergänzend wurden auch andere Programme wie Vorträge, Podiumsdiskussionen, Kino-Filme etc. angeboten. Diese erste Generation der Inder und deren deutsche Freunde, die aktiv im Rahmen der DIG gearbeitet haben, befinden sich altersbedingt auf dem Weg in den Ruhestand. Ihre Zahl wird immer geringer, eine Tatsache, die man bei Jahresversammlungen feststellen kann. Leider hat die DIG aber es noch nicht geschafft, die neue Generation der hier geborenen Inder/Inderinnen und die Neuankömmlinge aus Indien an der Arbeit der DIG zu interessieren. Laut Statistik gibt es zur Zeit 67 481 indische Staatsbürger und über 42 000 deutsche Staatsbürger indischer Abstammung in Deutschland. Unter den indischen Staatsbürgern gibt es eine Vielzahl von IT Fachleuten und Professionals. Alleine die Zahl von Studenten beträgt heute über 7 000. Dazu kommen Beschäftigte bei den mehr als 120 Vertretungen der indischer Wirtschaft in Deutschland. Es ist anzunehmen, dass viele der indischen Studenten und IT-Professionals langfristig in Deutschland bleiben, da sie wegen des Fachkräftemangels hier dringend gebraucht werden. Diese Inder zusammen mit denen, die hier den Eltern der ersten Generation der indischen Einwanderer geboren und hier aufgewachsen sind, bilden heute den Kern der neuen indischen Diaspora in Deutschland. Ihnen zu dienen, ihren Bedürfnissen und Erwartungen entsprechend ein Programmangebot zu machen, brauchen wir eine etwas andere DIG, als dies heute der Fall ist. Eine Umgestaltung des Vereins ist daher das Gebot der Stunde. Um langfristig wirksame größere, zukunftsträchtige Projekte zu realisieren, braucht die DIG Zugang zu entsprechend hohen Fördermitteln, was heute nicht der Fall ist. Projekte wie Förderung indischer Regionalliteraturen und Sprachen in Deutschland sowie erweiterter Schüler- und Studentenaustausch werden die Schnittmenge der Verständigung zwischen den Deutschen und Indern erweitern, die natürlich den existierenden deutsch-indischen Beziehungen neue Substanz verleihen werden. Hier zu investieren ist eine Investition in die Zukunft. Die indische Diaspora in Deutschland ist verhältnismäßig wohlhabend. Es wird ihr nicht wehtun, wenn sie die enorm wichtige zivilgesellschaftliche Arbeit der Freundschaftsorganisationen wie die Deutsch-Indische Gesellschaft mit einem kleinen Teil ihrer Ersparnisse unterstützen. Sie können vermehrt Mitglieder des Vereins werden, als Sponsoren für Projekte auftreten und einfach die Aktivitäten der Gesellschaft mit großzügigen Spenden unterstützen. Auch die indischen Firmen, die in Deutschland vertreten sind, sowie die große Zahl der deutschen Firmen, die in Indien tätig sind, sollten zunehmend bereit sein, für sinnvolle Projekte der Vereine wie die DIG Fördermittel zu Verfügung zu stellen. Die Dividenden eines solchen Engagements kommen für alle Beteiligten zweifellos zurück. Herzlichst Ihr J O S E P U N N A M PA R A M B I L MEINE WELT 2/2014 3 I POLITIK I Die deutsch-indischen Beziehungen im Wandel DR. HANS-GEORG WIECK Indien nahm diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland 1952 auf. Wie haben sich diese Beziehungen davor und danach entwickelt? Dr. Hans-Georg Wieck, ehemaliger Botschafter Deutschlands in Indien und langjähriger Vorsitzender der Deutsch-Indische Gesellschaft versucht im folgenden Beitrag die Entwicklung der deutsch-indischen Beziehung nachzuzeichnen. Dieser Beitrag basiert auf dem Festvortrag, den Herr Dr. Wieck anlässlich des 50-jährigen Gründungsjubiläums der Deutsch-Indischen Gesellschaft, Bonn-Köln am 11.Oktober 2014 im Brückenforum Bonn gehalten hat. DIE REDAKTION Die Modernisierung Indiens – ein neuer Anlauf Am 26. Mai gewann Narendra Modi mit der Nationalen Volkspartei (BJP) und seiner Koalition in überzeugender Weise bei sehr hoher Wahlbeteiligung die Nationalwahlen zum Unterhaus – der Lok Sabha. Große Erwartungen werden an seinen Wahlsieg geknüpft. Am 24. September trat das von Indien entwickelte, gebaute und in den Weltraum gestartete Raumfahrzeug seine Umlaufbahn um den Mars-Planeten an und zieht neben dem amerikanischen Raumfahrzeug seine Bahnen um den roten Planeten. Neben diesen beiden Ländern sind es Russland und die Europäische Weltraumorganisation, die das erfolgreich geschafft haben. China und Japan blieben bislang erfolglos. Beflügelt von dieser von der indischen Öffentlichkeit mit großem Enthusiasmus verfolgten technischen Leistung lanciert der neue Ministerpräsident seine an die 4 MEINE WELT 2/2014 Landsleute und an die ausländischen Investoren gerichtete wirtschaftspolitische Kampagne „Make in India“ – eine Anspielung auf die Erfolgsgeschichte von „Made in Germany“. Modi verkündet einen neuen wirtschaftlichen Aufbruch! Der Weg zum Erfolg seiner wirtschaftspolitischen Ziele ist steil und voller Tücken. Im globalen Zeitalter und der stürmischen See, die mit Gegenströmungen aus dem Lager der Kämpfer für den Freihandel und dem der Schutzzoll-Apologeten in Unruhe gehalten wird, ist es nicht leicht, Anteile am Welthandel zu gewinnen. Ein wirtschaftlicher Aufschwung muss alle Teile des vielschichtigen Bevölkerungsprofils des Landes erreichen und von allen Teilen des Landes und der Bevölkerung mit erarbeitet werden. Die weiterhin finanziell unterstützte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland und Indien hat daher als Förderer von Innovation auf den Feldern der Überwindung der Armut in Indien, der Gestaltung der Umweltpolitik und des Klimaschutzes sowie bei der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmensgründungen vor allem im ländlichen Raum weiterhin große Bedeutung. Erst die Öffnung der eigenen Märkte wird die Industrieproduktion in Indien, die 16 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht, auf Weltniveau bringen können. In sechs der sieben führenden Länder der Welt (G7) kann China mit seiner Industrieproduktion auf 13 von 22 Produktfeldern konkurrenzfähig am Markt mitwirken, Indien nur auf einem Feld (Buntmetalle). In Deutschland ist die chinesische Produktion nicht konkurrenzfähig, stellt die Zeitschrift „Contemporary Economic Dr. Hans-Georg Wieck Policy“ im Jahre 2014 fest und fügt hinzu, dass die deutsche Industrie erfolgreicher als die anderen Industriestaaten auf dem chinesischen Markt präsent ist. Modi steht vor der Wahl, die eigene Industrie durch Schutzzölle zu fördern und ihren Erfolg auf dem heimischen Markt weiter zu entwickeln oder aber über die Freihandelsabkommen, zum Beispiel mit der Europäischen Union, über das seit langem verhandelt wird, aber auch über die Abkommen der Welthandelsorganisation – WTO – die eigenen Märkte zu öffnen und dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Das bedeutet Modernisierung und Beteiligung Indiens am globalen Wettbewerb. Es scheint, dass sich Modi für den ersten Weg entschieden hat – zum Schaden der Modernisierung der indischen Volkswirtschaft. Die von Modi angekündigte Öffnung des Markts für internationale Investitionen hat nur begrenzte Relevanz. Der eindrucksvolle Wahlsieg von Narendra Modi darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt: Wegen des in Indien geltenden einfachen Mehrheitswahlrechts kann eben eine Siegerpartei mit einem Stimmenanteil von 30 Prozent 280 Direktmandate von 543 Sitzen im Parlament gewinnen und die Koalition insgesamt 340 Sitze, während die Kongress-Partei, also die Verliererin der Wahlen, mit einem Stimmenanteil von 24 Prozent der abgegebenen Stimmen weniger als zehn Prozent der Sitze im Unterhaus gewann. Die für die BJP ungünstige Zusammensetzung des Oberhauses – Raja Sabha – kann erst im Jahre 2018 verändert werden. Narendra Modi I POLITIK I – belastet mit der Verantwortung für die Pogrome gegen die Muslime in Gujarat im Jahre 2002, hat Gujarat wirtschaftlich vorangebracht und eine weitgehend saubere Verwaltung durchgesetzt. Anstrengungen auf diesen beiden wichtigen Feldern der Regierungsarbeit können wir auch als Hauptpunkte seiner Regierungsarbeit in New Delhi erwarten. Damit wäre schon eine Menge gewonnen – aber es stehen Entscheidungen über Reformen mit weitreichenden Folgen für das Land auf der Tagesordnung, bei deren Umsetzung die Bundesländer mitwirken müssen. In vielen Länderparlamenten ist die Stellung der BJP weit davon entfernt, dominant zu sein. Narendra Modi wurde gewählt, weil sich die Kongress-Koalition unter der unvermeidbaren, aber doch abträglichen Doppelführung von Sonja Gandhi und Manmohan Singh am Ende als ein Fehlschlag erwiesen hat bzw. so im Lande gesehen wird. Vor dem Hintergrund der doch nicht so günstigen Machtverhältnisse und dem spezifischen Charakter der Führungspraktiken von Narendra Modi, dem ein autoritärer und populistischer Führungsstil nachgesagt wird und nicht die Bereitschaft zu einer kooperativen Regierungsarbeit mit verschiedenen wichtigen und unverzichtbaren Schwergewichten in politischer und sachlicher Hinsicht, können wir eine im wesentlichen pragmatische Regierungsarbeit mit guten Ergebnissen auf einzelnen Feldern der anstehenden Probleme erwarten – aber nicht die Reform an Haupt und Gliedern, die nach Auffassung vieler Beobachter für Indien angezeigt ist. Aufschwung für die deutschindischen Beziehungen Der hier skizzierte und in allen Fachkreisen erwartete Aufschwung in Indien – jedenfalls in einigen Bereichen - kann, ja wird auch den deutsch-indischen Beziehungen neue Impulse geben. Vor dem Hintergrund der von der leidvollen Kolonialherrschaft geprägten Geschichte des südasiatischen Raums hat sich gleichwohl eine enge Verknüpfung des Landes und seiner Bewohner mit den englischsprachigen Zivilisationen ergeben, die sich in Millionen von Menschen mit Wurzeln in Südasien widerspiegelt, die heute in Großbritannien und den USA, aber auch anderen englischsprachigen Ländern leben oder dort ihre Berufsausbildung erhielten. Die Verknüpfung Südasiens – nun also Indien und Pakistan sowie von Bangladesch – mit dem deutschsprachigen Raum, darunter mit Deutschland, beruht fast ausschließlich auf Entscheidungen, die sich für die Beteiligten nicht aus dem „Mainstream“ des sozialen, beruflichen und politischen Bewusstseins ergeben, sondern aus jeweils besonderen sozialen, wirtschaftlichen oder beruflichen Konstellationen. Der deutschsprachige Raum Europas mag aus verschiedenen Gründen in den Ländern Südasiens ein hohes Ansehen genießen. Er stellt aber in der Regel schon aus sprachlichen, aber auch aus gesellschaftlichen Gründen nicht die erste Wahl im Falle von Ausbildung und beruflicher Tätigkeit im Ausland dar. Die große Mehrheit der heute in Deutschland lebenden Menschen mit indischen Wurzeln kam in den fünfziger und sechziger Jahren zum Studium oder zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit im gesundheitsdienstlichen Bereich nach Deutschland und schlug hier Wurzeln. Die Deutsch-Indische Gesellschaft, im Jahre 1953 in Stuttgart gegründet und heute mit mehr als dreißig meist eigenständigen Gesellschaften in allen Teilen des Landes vertreten, ist ohne die Begegnung und Verständigung zwischen Deutschen und den zu uns gekommenen und hier heimisch gewordenen Menschen mit Wurzeln in Südasien gar nicht denkbar. Diese Form zivilgesellschaftlichen Engagements im Austausch mit anderen Kulturen bedarf neuer Impulse und neuer Zuströme aus der Bevölkerung – sei es auf Grund globaler Problemstellungen, sei es im Wege der Interaktion im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich, in Bereichen also, in denen mit gemeinsamen Handelskammern und Zentren für Regionalstudien innerhalb und außerhalb der Universitäten schon Einrichtungen von gemeinsamem Interesse geschaffen worden sind. In diesem Zusammenhang dürfen die grenzüberschreitenden, von gemeinsamen Glaubensinhalten gepräg- ten Strukturen nicht übersehen werden, die von den christlichen Kirchen getragen und gefördert werden und Verbindungen zwischen Menschen unterschiedlichen zivilisatorischen Hintergrunds schaffen, die seit Jahrhunderten besonders im Schul-, Bildungs- und Fürsorgebereich eine feste Größe im indischen Erziehungs-, Bildungsund Fürsorgebereich geworden sind. Ohne dass damit in jedem Fall Verlagerungen des Lebensmittelpunkts verbunden waren, gibt es zwischen Deutschland und Indien eine Jahrhunderte alte Verknüpfung zivilisatorischer Natur, die sich aus der Begegnung der Kulturen entwickelt hat – wie bei den Missionaren, die 1706 auf Geheiß des dänischen Königs aus den vom aufgeklärten Pietismus geprägten Franke‘schen Stiftungen in Halle aufbrachen, um in Tranquebar/Tamil Nadu, einer dänischen Kolonie, den christlichen Glauben zu verbreiten. Sie erlernten als erstes die Landessprache, um mit den Menschen ins Gespräch kommen zu können. Protestantische Missionare aus vielen Teilen Europas haben auf diesem Wege viele der in Indien gesprochenen Landessprachen erlernt, systematisiert und in andere Sprachen übersetzt. So entstand ein wissenschaftliches Interesse am Studium Südasiens und seiner Kulturen. Das war die Geburtsstunde der deutschen Indologie, die mit Max Müller, dem aus Dessau stammenden Sanskrit-Gelehrten in Oxford, weltweite Bedeutung und Anerkennung erfuhr. Auf das sechzehnte Jahrhundert gehen Handelsbeziehungen zurück, bei denen die Fugger aus Augsburg eine große Rolle spielten. Dies alles ist bekannt. Es wird in Erinnerung gerufen, um zu erklären, dass deutsch-indische Beziehungen sich nicht aus dominierenden geschichtlichen und politischen Prozessen ableiten, sondern in spezifischen Konstellationen und Zusammenhängen aus Einzelimpulsen oder besonderen wirtschaftlichen und sozialen Anlässen entstanden sind und daher in beiden Ländern – in Indien wie in Deutschland – in quantitativer Hinsicht von geringerer Bedeutung waren, sind und bleiben werden, als etwa im Fall Indiens die Verknüpfungen mit der angelsächsischen Welt MEINE WELT 2/2014 5 I POLITIK I und im Falle Deutschlands die Vernetzung mit der europäischen Nachbarschaft einschließlich Russlands, mit Nordamerika, ja selbst mit China, das sich im Umgang mit Europa vor allem auf die Vertiefung der Beziehungen und des Austausches mit Deutschland abstützt. Im Jahre 2013 erreichte der fast ausgeglichene Handelsaustausch zwischen Deutschland und China ein Volumen von 140 Mrd. Euro, der Austausch mit Indien weniger als 20 Mrd. Euro – nämlich etwas mehr als 16 Mrd. Euro. Damit mag es unter den EU-Mitgliedstaaten im Handel mit Indien an erster Stelle stehen – aber in der indischen Handelsbilanz steht es nur an 8. bzw. 10. Stelle. Im chinesischen Außenhandel nimmt Deutschland den fünften Platz ein. Seit Jahren wird im deutsch-indischen Austausch die Marke von 20 Mrd. Euro für den jährlichen Handelsaustausch angestrebt – bislang ohne Erfolg. Es mangelt nicht an der organisatorischen Infrastruktur für einen blühenden Handel: Die Deutsch-Indische Handelskammer, die schon über sechzig Jahren besteht, hat etwa 7 000 Mitglieder – die mitgliederstärkste unter allen deutschen Auslandskammern mit Hauptsitz in Mumbai und Verbindungsbüros in vielen Städten in Indien, in Asien und in Deutschland. Gelegentlich des Besuchs von Premierminister Manmohan Singh in Deutschland – im Jahre 2013 – hieß es dann auch in der deutschen Presse: „Deutschland von Dynamik Indiens enttäuscht“. Im Interesse der Beschleunigung der Modernisierung der indischen Industrie dürfte vor allem der Abschluss des angestrebten Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Indien liegen. Zölle und Handelshindernisse müssten im Interesse von Innovation, Qualitätssteigerung und der Verbesserung von Ausbildung und Infrastruktur abgebaut werden. Mit verbessertem Wettbewerb wird auch die Position der indischen Produkte auf den Weltmärkten, einschließlich der wettbewerbsintensivsten wie in Europa, verbessert werden können. Mit dieser Botschaft ist es nicht leicht, in Indien Gehör zu finden und entsprechende Folgemaßnahmen zu erreichen. Treffen mit Indira Gandhi: der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte Indien 1983. 6 MEINE WELT 2/2014 Mit dem „West-östlichen Diwan“ hat Goethe das Morgenland in das Kulturbewusstsein der Deutschen eingebracht. Mit seiner Dichtung und seinen Besuchen in Deutschland hat Rabindranath Tagore sein indisch geprägtes Bild der Welt und des Menschen wie auch des Universums zu einem Bestandteil unserer Wahrnehmung der Welt und ihrer Kulturen werden lassen. Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, aber auch Subhas Chandra Bose prägen im deutschsprachigen Raum die deutsche Erinnerungskultur, die Wahrnehmung Südasiens, Indiens und des Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Vorherrschaft im vergangenen Jahrhundert - unterbrochen im Falle Deutschlands von den tragischen Irrwegen Hitlers und seiner Helfer. In der Zeit der „Weimarer Republik“ (1919-1933) begleitete das politische Deutschland das Ringen Indiens um seine nationale Unabhängigkeit mit großer Sympathie. Die Kongress-Unabhängigkeitsbewegung unterhielt Informationsund Verbindungsbüros in Washington D.C. und in Berlin. Im September 1942 aner- I POLITIK I kannten Berlin und Tokyo die nationale Befreiungsbewegung von Subhas Chandra Bose. Es war auch eine militärische Einheit indischer Soldaten zusammengestellt worden (Indische Legion), die unter den britischen Kriegsgefangenen rekrutiert wurde und die sich am Unabhängigkeitskampf in Asien beteiligten sollte. Hitler lehnte in Übereinstimmung mit seinem Weltbild die Unterstützung der Unabhängigkeit Indiens ab. Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru hatten keinerlei Vertrauen zum Hitler-Regime. 1947 wurde Indien unabhängig – zusammen mit Pakistan. In dem besiegten Deutschland wurden unter dem Vorbehalt der Siegermächte und unter der Wirkung des kurz nach dem Kriege aufbrechenden Kalten Krieges im Jahre 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gebildet, letztere unter sowjetischer – ebenso die Entwicklungskooperation zwischen den beiden Ländern, für die das Stahlwerk in Rourkela und die deutsche Unterstützung bei der Errichtung der Technischen Universität in Madras (Chennai) lange Zeit hindurch Symbolkraft hatten. Ungeachtet anhaltenden politischen Drucks hielt sich Indien an die Zusage, die Premierminister Nehru bei seinem ersten Deutschlandbesuch im Jahre 1956 gegeben hatte, den anderen Teil Deutschlands als zweiten Staat in Deutschland nur mit Zustimmung der Bundesregierung anzuerkennen und erst dann diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Mit dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1972 wurde die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen möglich. Folglich konnte auch Indien den zweiten deutschen Staat in Deutschland anerkennen und Botschafter austauschen. Ungeachtet anhaltenden politischen Drucks hielt sich Indien an die Zusage, die Premierminister Nehru bei seinem ersten Deutschlandbesuch im Jahre 1956 gegeben hatte, den anderen Teil Deutschlands als zweiten Staat in Deutschland nur mit Zustimmung der Bundesregierung anzuerkennen und erst dann diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Anleitung – vor dem Hintergrund der von der Sowjetunion verhängten BerlinBlockade in den Jahren 1948/49. Wenige Jahre später – am 17. Juni 1953 – zwang ein Volksaufstand das DDR-Regime in die Knie. Die Sowjetunion stellte mit der blutigen Unterwerfung des Aufstands das sowjetisch gestützte Regime wieder her und musste im Jahre 1961 eine Mauer durch das geteilte Berlin errichten, um die wachsende Flucht der Menschen aus der DDR zu stoppen. Am 9. November 1989 fiel die Mauer als Ergebnis des friedlichen Aufstands der Bevölkerung gegen das verhasste Regime. Im Jahre 1952 nahmen die Bundesrepublik Deutschland und Indien diplomatische Beziehungen auf. Handelsbeziehungen erreichten rasch ein bedeutendes Volumen Mit den unter dem Namen „Max Müller-Bhavan“ eingerichteten Goethe-Instituten in Indien wurde das Spektrum der politischen und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit um die unverzichtbare Dimension der kulturellen Kooperation ergänzt. Später wurden diese Fragen in einem Kulturabkommen kodifiziert (1969). Die Zusammenarbeit auf den Feldern von Forschung und Wissenschaft ist zu einem bedeutenden Pfeiler der Beziehungen geworden und nimmt weiter an Bedeutung und Gewicht zu. Unter den Stipendiaten der HumboldtStiftung ist das indische Kontingent eines der zahlenmäßig größten. In Indien besteht seit 2012 eines der sechs weltweit errichteten „Deutschen Häuser für Wissenschaft und Innovation.“ Heute spielt bei den deutschen kulturellen Aktivitäten in Indien der Sprachunterricht an den Goethe-Instituten und die Förderung von indischen Einrichtungen, in denen Deutsch vermittelt wird, die wichtigste Rolle. Heute spielt bei den deutschen kulturellen Aktivitäten in Indien der Sprachunterricht an den Goethe-Instituten und die Förderung von indischen Einrichtungen, in denen Deutsch vermittelt wird, die wichtigste Rolle. Dies geschieht beispielsweise im Rahmen der nicht nur mit Indien, sondern auch mit vielen anderen Ländern kooperierende Initiative „PASCH“ „Schulen – Partner der Zukunft“. Die Nachfrage ist groß - im Vergleich zur Vergangenheit-, bleibt aber natürlich ein Randphänomen in der indischen Wirklichkeit – aufs Ganze betrachtet. Mit einer indischen Schulkette ist die Ausbildung von indischen Schullehrern für den Deutschunterricht vereinbart worden. Entsprechende akademische Abschlüsse können an indischen Hochschulen erworben werden. An den 1.000 Schulen dieser „Schulkette“ soll Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden. Es wird nicht bei diesem „Pilotprojekt“ bleiben. Seit Jahren wächst auch der Schüleraustausch zwischen deutschen und indischen Schulen. Indien gehört zu den Ländern, in denen junge Deutsche in großer Zahl und gerne nach dem eigenen Schulabschluss ein Freiwilligenjahr absolvieren. Von Zeit zu Zeit verdichten die beiden Länder ihre kulturellen Aktivitäten zu einem „Indien-Jahr in Deutschland“ und einem „Deutschlandjahr in Indien“ („Deutschland und Indien 2011/12 – Unendliche Möglichkeiten“; „2012/13 „Days of India – Connecting Cultures“). Im Rahmen der Tätigkeit des Deutschen Akademischen Austauschdienstes MEINE WELT 2/2014 7 I POLITIK I (DAAD) wird auch das Studium indischer Studenten in Deutschland gefördert, ein Bereich von großer Bedeutung für die Zukunftsperspektiven in Kommunikation und Zusammenarbeit. Seit einigen Jahren wächst die Zahl indischer Studenten in Deutschland und dürfte jetzt bei etwa 7000 liegen. Zum Anstieg hat gewiss der Umstand beigetragen, dass viele Studiengänge heute auch in Deutschland auf Englisch angeboten werden. Aus China kommt das größte Kontingent ausländischer Studenten in Deutschland. Es sind jetzt jährlich etwa 25 000 Studierende. Rund 200 000 ausländische Studenten sind heutzutage jährlich an deutschen Universitäten immatrikuliert. In Indien studieren jährlich etwa 1 000 deutsche Studenten. Bis zu den liberalen Wirtschaftsreformen im Jahre 1992, d.h. bis zum Ende der Sowjetunion verfolgte Indien eine staatlich gelenkte Wirtschafts- und Industriepolitik, die dem privaten Sektor mit dem System der Bindung der Produktion an staatliche Lizenzen enge Grenzen setzte. In dieser Zeit wies die indische Regierung das Ansinnen des berühmten deutschen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard nach Durchführung einer Liberalisierung des Wirtschaftsgeschehens schroff zurück. Mit den Ländern des sowjetisch geführten Wirtschaftsblocks (RGW) bestanden Handels- und Zahlungsabkommen auf der Basis von Weichwährungen. Nach der Auflösung der Sowjetunion – ja schon vorher – wurden auch in Indien die Außenwirtschaftsbeziehungen auf harte Währung umgestellt. Die neue Wirtschaftspolitik, die Indien in den Welthandel zurückführen sollte, begann mit einer erheblichen Abwertung des Außenwerts der Rupie. Die Mitwirkung am weltwirtschaftlichen Geschehen war in der Wirtschaftspolitik des Landes an die Stelle der Bindung an den nun zusammengebrochenen sowjetisch geführten Wirtschaftsblock getreten. Bilanz und Ausblick Mit der „Agenda für die Deutsch-Indische Partnerschaft im 21. Jahrhundert“, die im Mai 2000 von den Außenministern der beiden Länder unterzeichnet wurde und die regelmäßig mit Zusatzerklärungen „weiter entwickelt wird“, dokumentieren beide 8 MEINE WELT 2/2014 Bundespräsident Johannes Rau streut Rosenblätter auf die Einäscherungsstätte Mahatma Gandhis während seines Indienbesuchs im März 2003. Länder die in Jahrzehnten gewachsene Vertrauensgrundlage, auf der ihre Zusammenarbeit und ihr Wirken auch auf der internationalen Bühne beruht, eine Vertrauensgrundlage, die auch bei den gemeinsamen Bemühungen um die Reform der Vereinten Nationen, vor allem des UN-Sicherheitsrates sichtbar wird und die schon wiederholt mit Initiativen zu Rüstungskon-troll- und Abrüstungsfragen weltweit gezeigt und bestätigt wurde. Die bilaterale Agenda schließt auch strategische Fragen sowie den Verteidigungs- und den Rüstungsbereich ein. Dabei kann nicht übersehen werden, dass sich Deutschland zur Überraschung der Inder mit der Ausfuhr von Rüstungsgut politisch sehr schwer tut. In geostrategischen Fragen lässt sich Indien von seiner Lage in der weltpolitischen Konstellation und der Relevanz des eigenen nuklearen Abschreckungspotenzials in Krisensituationen und weniger von einem Konzept der vernetzten Sicherheit oder kollektiven Sicherheit leiten – Konzepten, die im Denken der Bundesrepublik Deutschland großes Gewicht haben. Die Zusammenarbeit beim Internationalen Krisenmanagement ist noch in den Kinderschuhen, wird aber immer dringender – angesichts der Spannungen, die im vorderasiatischen Raum mit immer neuen Krisenherden aufgebrochen sind und auch Rückwirkungen auf die innere Sicherheit in Indien haben. Al Kaida hat zu Attentaten in Indien aufgerufen. Deutschland und Indien sind Partner einer besonderen Art. Diese Partnerschaft bedarf der ständigen Reflexion und Pflege, ja Erneuerung. Sie beruht auf beiderseitigem Vertrauen und entbehrt machtpolitischer Zielsetzungen. In ihr spiegelt sich die Innovationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft und die globale Orientierung und Vernetzung der deutschen Wirtschaft wider. Auf dem Wege in eine sozial gerechte und wirtschaftlich auch global konkurrenzfähige Zukunft sieht Indien in Deutschland einen vertrauenswürdigen, ja unverzichtbaren Weggefährten. j I POLITIK I Wahlslogan 2004:„Strahlendes Indien“ Wahlslogan 2014:„Bessere Zeiten sind in Sicht“ G O PA L K R I PA L A N I , B R A U N S C H W E I G Einführung 2004, also vor 10 Jahren, regierte noch die BJP in Indien. Vor den anstehenden Nationalwahlen gab sie den Marketing-Slogan „Shining India“ heraus, um die Aufmerksamkeit der Weltwirtschaft auf die erfolgreich gedeihende Wirtschaft des Landes zu lenken. Bei dem Weltirtschaftsforum in Davos trat Indien als ein Wirtschafts-Held auf. Aber die BJP verlor die Wahlen und Indien wurde in den folgenden 10 Jahren von der National Kongress Partei regiert. Der Premierminister hieß Manmohan Singh, ein brillanter Fachmann der Wirtschaftswissenschaften, der bei der LandesBankrottkrise 1991 als Finanzminister mit genialen Reformen das Land gerettet hatte. Singh ist auch ein gradliniger Politiker. In einer Koalition mit vielen Splitterparteien aus den Bundesländern konnte er seine politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ziele nicht immer souverän durchsetzen. Die Infrastruktur wurde noch desolater, die Bürokratie wuchs hochgradig und die Korruption in den Landes- und Bundesbehörden nahm schädliche und schändliche Formen an. Die Wirtschaftswachstumsraten sanken erheblich. Bei den diesjährigen Nationalwahlen errang die BJP eine eindrucksvolle Mehrheit und stellte die Regierung, geführt von dem neuen Premierminister Narendra Modi. BJPs neuer Slogan heißt „Achhe din anne wale hain“ (Bessere Zeiten sind in Sicht). Dazu kann man Modi und seiner Regierung nur das Allerbeste wünschen. Neben den nicht wenigen eindrucksvollen Erfolgen liegen leider auch viele menschliche Tragödien, die einer dringenden Lösung bedürfen. Als unmittelbarer Nachbar des mit diktatorischer Härte regierten China ist es verständlich, dass Indien als „die größte Demokratie der Welt“ einen gewissen Stolz hegt. Dieser ist auch berechtigt, ist Indien doch bevölkerungszahlenmäßig die weltweit größte parlamentarische Demokratie mit freien Bürgerwahlen. Dieser Essay befasst sich nicht vorwiegend mit der ökonomischen Euphorie Indiens, die in vielem lobenswert ist, aber auch behaftet mit groben gesellschaftlich-moralischen Defiziten. An einigen wenigen konkreten Beispielen sollen diese Mängel zur Diskussion gestellt werden. Davor allerdings müssen wir anerkennen, dass es eine 100%ig vollendete Demokratie, gemessen an den Idealen der Aufklärung des 18. Jh. wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Volkssouveränität etc. nirgends in der Welt gibt. Auch wir in den westlichen Ländern haben unsere Ärgernisse und Erschwernisse und bemühen uns mehr oder minder aufrichtig, dem Leitbild näher zu kommen. Frauenerniedrigung In einem Land, in dem die Hindu Religion Gott bi-geschlechtlich, also als Mann und als Frau darstellt, und tagtäglich millionenfach Göttinnen wie Durga, Kali, Gauri, Ânnapurna etc. an den Hausaltären wie in den öffentlichen Tempeln angebetet werden, ist es beschämend, wie Frauen im Alltag gedemütigt werden. Der Staat macht Gesetze zum Schutz der Frauen, setzt sie aber nicht konsequent durch. Da über die bestialischen sog. Massenvergewaltigungen junger Frauen in den letzten Jahren in Indien hinreichend berichtet und kommentiert worden ist (auch in Meine Welt Heft 3/Herbst 2013), wird hier darauf nicht näher eingegangen. Zwei Bemerkungen sind dennoch wichtig. 2011 wurden in Indien 24206 Frauenvergewaltigungen polizeilich angezeigt (die Dunkelziffer mag höher sein), davon ca. 85% warten immer noch auf ein gerichtsfestes Urteil und nur ca. ein Viertel der Männer bei den abgeschlossenen Fällen wurden verurteilt. 2012 sagte der Bollywood-Filmemacher Mahesh Bhatt: „Shut all temples where you pretend to worship the female form. Cry India! Your hands are drenched with the blood of your own daughters“. Die Beispiele der Frauendiskriminierung sind zahlreich. Die eklatantesten werden im Folgenden in knapper Form erwähnt. c Verheiratung Minderjähriger: Zwar ist seit 1929 die Kinderheirat verboten, wird aber immer noch bei ca. der Hälfte der Frauen im Kindesalter praktiziert, berichtet die UNESCO. Davon etwa ein Drittel ca. 15jährig. Diese illegale Praxis wird gesellschaftlich akzeptiert. Viele dieser Mädchen werden nach der Zwangsheirat gleich schwanger und sterben bei der Geburt infolge der Unterernährung. Laut Statistik sterben jedes Jahr alleine im Bundesstaat Madhya Pradesh 68 000 Frauen in gebärfähigem Alter. c Abtreibung weiblicher Föten: Seitdem in Indien Ultraschallgeräte zur Erkennung des Kindesgeschlechts während der Schwangerschaft eingesetzt werden, werden erheblich weniger Mädchen geboren. Die schwangeren Frauen werden von ihren Familien zu Ultraschalluntersuchung gezwungen. Familien wollen Söhne haben, die später bei Hochzeiten reiche MEINE WELT 2/2014 9 I POLITIK I Mitgift einbringen und keine finanziell belastende Töchter. Experten meinen, dass in Indien in den vergangenen ca. 20 Jahren mehr als 12 Millionen Mädchen abgetrieben worden sind, und zwar trotz des Geschlechtbestimmungsverbotes (erlassen in 1996). Gerade die Hauptstadt Delhi ist der Gipfel der Mädchenmorde dieser Art. Pro 1 000 Jungen werden hier nur um etwa 850 Mädchen geboren. Die Religionszugehörigkeit scheint irrelevant zu sein. Hier muss der Gesetzgeber rigoros durchgreifen, um den kriminellen Gynäkologen zur Rechenschaft zu ziehen. c Töchter sind benachteiligt gegenüber den Söhnen: Weit und breit, insbesondere auf dem Lande, werden die Töchter als Schmach und Last angesehen und erheblich schlechter behandelt als die Söhne: weniger Essen, schlechtere Kleidung, mehr Hausarbeit, Schulverbot, kaum Arztbehandlung bei Krankheiten etc. c Brautverbrennungen: Häufig kommt es vor, dass Ehemänner von den Eltern ihrer Frauen immer wieder nach der Hochzeit mehr finanzielle oder Güterzuwendungen fordern. Sind die Eltern zu arm und nicht in der Lage, dem nachzukommen, werden die jungen Frauen durch Hinzufügung von Brandverletzungen bestraft. Die Nachbarn bejahen entweder diese barbarischen Taten oder schauen schlicht weg. c Witwenentehrung: Die Witwenverbrennung ist gesetzlich verboten. Also werden die Witwen aus der Familie vertrieben. Sie leben dann auf der Straße, schuften wie Kulis oder werden zur Prostitution gezwungen. Kinderschändung Nur knapp 60 Millionen Euro hat es das zu Recht stolze Indien gekostet, um eine unbemannte Sonde erfolgreich zum Mars zu schicken, was nicht einmal China oder Japan bislang geschafft haben. Die gleichen Projekte kosteten die USA und Russland fast das Zehnfache. Im Kommandozentrum der indischen Weltraumforschungsorganisation Isro in Bangalore brach Jubel aus, als die indische Sonde in die Umlaufbahn des Mars einschwenkte. Premierminister Narendra Modi sagte, Indien gehöre nun zum Eliteklub der Nationen. Auch wir in Deutschland zollen Respekt und gratulie10 MEINE WELT 2/2014 ren den erfolgreichen Wissenschaftlern in Bangalore zu diesem außergewöhnlichen Triumph. Indes vegetieren und betteln in der Hauptstadt Delhi schätzungsweise 50.000 Kinder auf den Straßen (andere gehen eher von 500.000 aus) und werden Opfer krimineller Banden. Alleine im Bundesland Maharashtra verschwanden zwischen 2010 und 2012 gemäß behördlicher Recherche über 26000 Straßenkinder. Junge Mädchen im Alter 10-12 Jahren werden entführt, durch Schläge gefügig gemacht und vergewaltigt. Verkaufte Mädchen werden in Haushalten wie Sklavinnen gehalten. Laut UNESCO starben in Indien im Jahr 2012 ca. 1,4 Millionen Kinder, also jeden Tag 3835 an Unterernährung. Besitzlosigkeit der Eltern, Kastendiskriminierung und vor allem Korruption sind Gründe dafür. Der Staat gibt jährlich ca. 1,4 Milliarden Dollar für die Lebensmittelhilfen an die Armen aus. Aber das Geld kommt bei den Hungernden nicht an. Der Nobelpreisträger für Wirtschaft Amartya Sen verlangt von den Politikern eine Erklärung, warum Kinder täglich sterben müssen, bis gewährleistet ist, dass die Politik die Hilfen auch bis ans Ziel bringt. Bestechung, Bestechlichkeit und Betrug Indische ausufernde Bürokratie ist der Nährboden für Korruption. Die indische Gesellschaft – Arme und Reiche, Politiker und Polizisten, Ärzte und Autobauer, Journalisten und Verleger, Bankiers und Beamten, Parlamentarier und Minister – scheint geradezu auf Bestechung geeicht zu sein. Mit einer Hand wird geschmiert und mit der andern kassiert. Es ist der indische Alltag. Gegen ein Drittel bis zu einer Hälfte der vom Volk gewählten Parlamentsmitglieder im Bund und in den Ländern laufen sehr schleppend Strafverfahren. Verurteilte kommen mit milden Strafen davon und behalten in den meisten Fällen ihre Ämter. Ausufernde Slums Schätzungsweise leben ca. 70 Millionen Inder in den Slums an den Rändern der Mega-Metropolen, und die Zahl steigt Ayurveda - Heilung ohne Nebenwirkung von Jahr zu Jahr. Während der nächsten drei Jahre schätzt man, dass weit über 100 Millionen Inder in dem Gestank der Slums leben werden. Den trostlosen Zuständen auf dem Lande entflohen, reisen die Menschen in die nächst liegende Großstadt in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihnen bleiben dort nur die Slums als elende Unterkunft wegen fehlender Verdienstmöglichkeit. Aber auch da werden sie von der Slum-Mafia schonungslos geschröpft, wenn sie dort ein paar Quadratmeter Erde zum Schlafen zugewiesen bekommen. Die fehlende Hygiene dort fördert Krankheiten und chronische Leiden. Daher ist die Kindersterblichkeit in den Slums besonders hoch. Schlussfolgerung Wie schon erwähnt, hat auch Europa 200 Jahre nach der Aufklärung noch manchen Korrekturbedarf bezüglich der Verwirklichung und Verfestigung von Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche etc. Mit erst 67 Jahren ist die moderne parlamentarisch-demokratische Tradition Indiens relativ jung. Auch wenn auf dem asiatischen Kontinent Indien wohl als die mit Abstand „demokratischste“ Nation angesehen wird, zeigt sie einige großflächige hässliche Wunden, die es unbedingt und so schnell wie möglich zu heilen gilt. Fraglos ist Indien eine alte Kulturnation. Schon vor ca. 5 Tausend Jahren blühte hier eine beachtliche Zivilisation. Seitdem ist das indische Volk vielen Herausforderungen siegreich begegnet und hat viele der Härten erfolgreich bewältigt. Es verfügt über einen Reichtum an philosophischen Werken, Dichtung, Poesie, Musik, Architektur und Malereien. Indien ist ein Land der Veden und Upanischaden, weil die Bürger Aufsteher und Macher gewesen sind. In der sich nun rasch globalisierenden Welt muss diese Gesellschaft die Verve entwickeln, um sich von den dunklen Makeln zu befreien. Die Zeit drängt. Wir von hier wünschen den Gestaltern des Fortschritts viel Erfolg! j http://gopal-kripalani.beepworld.de I D I E W E LT V O N M O R G E N I Bankkonten für jedermann – mehr als ein PR-Erfolg? GEORGY KOOT TUMMEL Hitzige Debatten sind in aller Regel vorprogrammiert, sobald es um die Person Narendra Modi geht. Einigkeit unter allen Lagern herrscht jedoch wohl in einem Punkt: Der neue indische Premierminister ist ein Meister der Öffentlichkeitsarbeit. Am Tag der indischen Unabhängigkeit verkündet er, dass bis zum Jahr 2018 jeder indische Haushalt ein Bankkonto haben wird. Kurz danach hatte er den ersten medienwirksamen Erfolg. Innerhalb der ersten 24 Stunden der Kampagne wurden nach offiziellen Angaben in 77.000 eigens errichteten „Camps“ landesweit 1.5 Millionen neue Bankkonten eröffnet und dabei gleich noch ebenso viele Unfallversicherungen abgeschlossen. Nach Angaben der Weltbank besitzen lediglich 35% der indischen Erwachsenen Zugang zum offiziellen Bankensektor. Der Rest ist bei finanziellen Angelegenheiten auf die Schattenwirtschaft angewiesen. In RuPay Karte zum Jahr 2018 in sechzig Millionen ländlichen sowie 15 Millionen städtischen Haushalten jeweils ein Bankkonto mit einer Bankkarte (RuPay Debit Card) und einer Unfallversicherung kostenlos zur Verfügung gestellt wird. In diesem Zusammenhang wurden auch die Ausweispflichten durch die Indische Zentralbank gelockert, um ein Konto zu eröffnen. Begleitet wird die Kampagne durch ein Aufklärungsprogramm („Financial Literacy Programme“), um die neuen Bankkunden an den offiziellen Finanzsektor heranzuführen. Und schließlich ist vorgesehen, dass schrittweise die Bankeninfrastruktur unter Nutzung innovativer Technologien im ländlichen Raum ausgebaut wird. Financial Inclusion Die Kampagne steht unter dem großen Schlagwort der „Financial Inclusion“, dem Ziel, einem bisher ausgegrenztem Teil der Die Kampagne sieht vor, dass bis zum Jahr 2018 in sechzig Millionen ländlichen sowie 15 Millionen städtischen Haushalten jeweils ein Bankkonto mit einer Bankkarte (RuPay Debit Card) und einer Unfallversicherung kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Modis Augen liegt genau hier der Grund für das Versanden vieler Entwicklungsmaßnahmen der Vergangenheit. Und an dieser Stelle soll Pradan Mantri Jan Dhan Yojana, das ist der Name der neuen Kampagne (frei übersetzt: „Programm des Premierministers für den Volkswohlstand“) ansetzen. Die Kampagne sieht vor, dass bis Bevölkerung auch offiziell die Basis für die Teilnahme am heutigen Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Hinzu kommen entscheidende Effizienzgewinne, die für das indische Wohlstandswachstum unabdingbar sind. So bleibt heute beispielsweise Wanderarbeitern in Mumbai oder Delhi keine andere Wahl, als illegale Schatten(bank) systeme zu nutzen, um über Mittelsmänner Geld an ihre Verwandtschaft im ländlichen Indien zu überweisen (Stichwort: Hawala und Benami Systeme). Ebenso führt mangels Alternativen auch bei Privatkrediten kein Weg an inoffiziellen Kanälen vorbei. Angespartes verweilt heute noch unter dem Kopfkissen und verliert vor dem Hintergrund der hohen Inflationsraten ohne Zinsgewinne an Wert und wird der übrigen Wirtschaft als Investitionskapital genommen. Bankkonten für jedermann würden helfen, diese Effizienzeinbußen zu reduzieren. Perspektivisch könnten ferner z.B. Pensionszahlungen und staatliche Unterstützungsleistungen ohne Umwege direkt dem Berechtigten zur Verfügung gestellt werden und wären damit weniger korruptionsanfällig. Die Liste der Vorteile lässt sich fortführen, und deshalb ist nicht ohne Grund in vielen westlichen Gesellschaften das Recht auf ein Bankkonto staatlich garantiert. Indien zieht in diesem Sinne nach. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass eine indische Regierung die Bedeutung der „Financial Inclusion“ erkannt hat. Was aber die aktuelle Kampagne von den früheren unterscheidet, ist, dass sie unmittelbar beim Individuum ansetzen möchte und ihm ein Instrument an die Hand gibt, um es selbst für seinen Fortschritt zu nutzen. Alleine schon der Besitz einer Bankkarte wird vielen Ausgegrenzten ein wenig mehr das Gefühl geben, Teil der Gesellschaft zu sein und an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen zu können. Die Kampagne reiht sich so gesehen nahtlos in das ModiNarrativ ein, nach der es ein Teeverkäufer zum Premierminister schaffen kann, wenn ihm die Möglichkeiten dafür gegeben werden. Nicht zufällig verkündete Modi am MEINE WELT 2/2014 11 I D I E W E LT V O N M O R G E N I Unabhängigkeitstag auch zeitgleich das Ende der altehrwürdigen Planning Commission, einer zentralen elitären Behörde, die mit der Wirtschaftsplanung betraut war und für das zentralistische von Nehru propagierte Wirtschaftsmodell stand. Nichtsdestotrotz ist die Zielsetzung der Kampagne mit gesunder Skepsis zu sehen. Kritiker der Kampagne mahnen bereits den möglichen Subventions- und Versicherungsbetrug an, der durch vorgetäuschte Kontoeröffnung ermöglicht wird. Zudem ist auch die Finanzierung der Kampagne und vor allem der Versicherungsprämien noch nicht abschließend geklärt. Entscheidend wird wohl auch die Frage sein, wie mit den bisherigen Betreibern der Schattenbankensysteme umgegangen wird. Gibt es neue Tätigkeitsfelder für sie bzw. werden sie kampflos ihr bisheriges Geschäftsmodell aufgeben? Sollte es wirklich bis zum Jahr 2018 für jeden indischen Haushalt mindestens ein Bankkonto geben, wäre die Kampagne ein wichtiger Schritt hin zur erstrebenswerten „Financial Inclusion“. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass Pradan Mantri Jan Dhan Yojana nicht nur als eine weitere erfolgreiche PR-Maßnahme der ModiRegierung in Erinnerung bleibt, sondern tatsächlich den heute noch Ausgegrenzten zu Gute kommt. j NACHRUF Heinz-Horst Deichmann ist mit 88 Jahren gestorben Deichmann hat aus einer kleinen Schuhmacherei in Essen Europas größten Schuhhändler gemacht. Jedes fünfte Paar Schuhe, das in Deutschland verkauft wird, stammt nach Unternehmensangaben inzwischen aus einem Deichmann-Laden. Doch für den Unternehmer und gläubigen Christen war geschäftlicher Erfolg nie Selbstzweck. „... ob ich wie ein wahrer Christ gelebt habe“ „Am Ende meines Lebens wird Gott mich nicht fragen, wie viele Schuhe ich verkauft habe. Er wird wissen wollen, ob ich wie ein wahrer Christ gelebt habe“, sagte der Unternehmer einmal in einem Interview. Und so spielte für den 1926 im Essener Arbeiterviertel Borbeck geborenen Unternehmer neben dem Geschäft Zeit seines Lebens der Glaube und die Hilfe für die Ärmsten der Armen eine wichtige Rolle. Mit dem Geld aus dem florierenden Schuhimperium schuf er quasi nebenbei das Missionswerk „wortundtat“, das in Indien und Tansania Schulen und Krankenhäuser betreibt und weltweit nach eigenen Angaben rund 200 000 Menschen unterstützt. Auch in Deutschland ist das Hilfswerk bei der Betreuung von sozial benachteiligten Kindern aktiv. 12 MEINE WELT 2/2014 Trauer um Heinz-Horst Deichmann Theologie und Medizin studiert Wie viele Millionen er aus seinem Vermögen dafür gespendet habe, wisse er selbst nicht, sagte Deichmann vor einigen Jahren. „Im Jahr ist die untere Grenze wohl fünf Millionen Euro. Es können aber auch zehn Millionen sein – je nach Bedarf.“ Deichmann war eine der herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit. Dabei deutete anfangs wenig auf eine derartige Karriere hin. Der Sohn eines Schuhhändlers studierte nach seiner Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg erst einmal Theologie und Medizin und hatte nebenher noch ein Auge auf das elterliche Schuhgeschäft. Doch als er Mitte der 50er Jahre die Medizin an den Nagel hängte und das kleine Unternehmen komplett übernahm, ging es steil aufwärts. Mit dem Anspruch, breiten Käuferschichten gute Schuhe zu einem (Quelle: imago/ epd) günstigen Preis anzubieten, und modernen Verkaufsmethoden traf Deichmann den Nerv der Zeit. „Ein Unternehmen muss den Menschen dienen“ Im Jahr 1974 öffnete bereits die 100. Filiale ihre Tore, 1982 das 200. Geschäft. Heute gibt es rund 3500 Geschäfte in 23 Ländern Europas und den USA. Die Leitung des Konzerns hat bereits 1999 Sohn Heinrich Deichmann übernommen. Das „Manager Magazin“ schätzte das Vermögen der Familie Deichmann 2013 auf rund 3,6 Milliarden Euro. Doch allein am Geld wollte Deichmann nie gemessen werden. „Ein Unternehmen muss den Menschen dienen“, betonte er immer wieder. Quelle: Pressemitteilung I JUBILÄUM I 50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln Faszinierende Jubiläumsfeier im Brückenforum, Bonn technologisch mehr zusammenarbeiten und in die Modernisierung des Landes investieren“. Bei der Veranstaltung wurden folgende Mitarbeiter der DIG Köln/Bonn für ihre jahrelange treue und engagierte Arbeit geehrt: Herr Dr. Amaresh Gupta, Prof. Dr. Jürgen Ernst, Herr Jose Punnamparambil und die bereits verstorbenen Herren Dr. Hemchandra Jha und Dr. N. Sircar. Es folgt eine kurze Zusammenfassung der Arbeit der Deutsch-Indischen Gesellschaft Bonn/Köln von den Anfangsjahren bis heute, verfasst von Heinz Niedrig, Jürgen Ernst und Tobias GroteBeverborg. Die Zweigstelle Bonn/Köln ist eine der ältesten, mitgliederstärksten und aktivsten der 33 Zweigstellen der Deutsch-Indischen Gesellschaft in der Bundesrepublik. Am 11. 10. 2014 feierte sie ihr 50-jähriges Jubiläum im Brückenforum Bonn. Der Bonner Generalanzeiger schreibt über die Jubiläumsveranstaltung: „Die Zweigstelle Köln/Bonn der Deutsch-Indischen Gesellschaft (DIG) hüllte das Brückenforum anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums in ein indisches Gewand. Rund 500 Gäste folgten der Einladung des DIG und ließen sich auf eine kulturelle und kulinarische Reise ein. ‚Es war einfach hypnotisierend‘, sagte eine Besucherin über den Odissi Tanz der Tänzerin Monalisa Ghosh und ihr neunköpfiges Ensemble. Neben dem Musik- und Tanzprogramm ‚Spirit of India‘ wurde im Foyer alte und zeitgenössische Kunst ausgestellt sowie Stände mit typischer Kleidung wie den farbenfrohen Sari präsentiert.“ Die Festrede hielt der ehemalige Botschafter in Indien und langjährige Vorsitzende der Deutsch-Indischen Gesellschaft, Herr Dr. Hans-Georg Wieck. Er referierte über den Wandel in den deutsch-indischen Beziehungen und betonte: „Die deutsch-indische Welt ist eine Welt der Wissenschaft und Forschung. Indien fehlt allerdings die Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen J O S E P U N N A M PA R A M B I L Die 1964 gegründete Zweiggesellschaft Bonn-Köln erschien in ihrer Gründungsphase vielen im Vergleich zu anderen Zweiggesellschaften als ‚elitär‘. Das war vor allem durch die Lage in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn und durch die große Nähe zu bundespolitischen und bi-lateralen Institutionen begründet. Auch waren über lange Zeiträume bekannte Politiker, wie beispielsweise der damalige Erste Vorsitzende, Alexander Werth, der Referatsleiter im Auswärtigen Amt bzw. Referent in der Indienabteilung des früheren Reichsaußenministeriums gewesen war, im Vorstand aktiv. In den Anfangsjahren fanden nur wenige offizielle Veranstaltungen statt, die überwiegend politisch ausgerichtet waren, etwa Vorträge über Mahatma Gandhi und Subhash Chandra Bose oder über die junge indische Demokratie. Daneben gab es noch vereinzelt Filmabende. Mitte der 1970er Jahre belebte Heinz Niedrig die Zweiggesellschaft neu. Schnell zeigten frühere Mitglieder ihr Interesse an den verschiedenen Aktivitäten. Die DIG Bonn-Köln konnte sich so rasch in der Kulturlandschaft der Bundeshauptstadt als feste Größe etablieren. Mit dazu beigetragen haben sicherlich auch die stark in der Bundespolitik verankerten Vorsitzenden, darunter bekannte Bundestagsabgeordnete, wie etwa Werner Marx (1977-1979) und Botho Prinz zu Sayn-Wittgenstein (1979-1982). Ihnen zur Seite standen im Vorstand Jürgen Ernst und indische Wissenschaftler wie etwa Dr. Amaresh Gupta und Dr. Chandra Jha. Es wurden enge Kontakte zur DeutschIndischen Parlamentariergruppe, zur Indischen Botschaft, zur Deutsch-Indischen Handelskammer in Düsseldorf, zur Indisch-Deutschen Gesellschaft in Indien, zum Tagore-Institut in Bonn-Bad Godesberg und insbesondre zur Indo-German Cultural Association (IGCA) in Bonn, die1980 völlig in der Zweiggesellschaft aufging, geknüpft. So erinnern sich viele Mitglieder gerne an zahlreichen Einladungen und Emp- fänge der Indischen Botschaft unter den indischen Botschaftern A.M. Kusro und A. Madhavan. Auch mit dem Indischen Kulturzentrum unter der Leitung von Usha Malik, das von 1984 bis 1987 versuchsweise in Bonn eingerichtet war, gab es viele gemeinsame Veranstaltungen. Ab 1985 übernahm Klaus Kübler den Vorsitz, Stellvertreterin war Michaela Geiger bzw. Peter Höffkes. 1988 traten Georg Schlaga und Tarun Bhattacharya in den Vorstand ein. Ende der 1980er Jahre wurde auch das Engagement in Köln wieder verstärkt. Ab 1987 fanden viele Veranstaltungen im Caritas-Zentrum Köln statt, andere im Tobiashaus oder im Belgischen Haus. Diese gingen v.a. von der Initiative der Vorstandsmitglieder Megh Nath Sur, Claudia Parmar und dem Ehepaar Oomen aus. Daneben gab es regelmäßige Programmpunkte, wie der gemeinsam mit der indischen Botschaft in Bonn begangene Indische Nationalfeiertag am 26. Januar. Auch fanden jährlich ein bis zwei klassi MEINE WELT 2/2014 13 I JUBILÄUM I 50 Jahre Deutsch-Indische Gesellschaft Bonn/Köln Bilder aus der Jubiläumsfeier Bücherstand von Literaturforum Indien e.V. Tanzgruppe von Mona Lisha r Besucher im Foye Zuschauer im Foyer Zuschauer im Saal 14 MEINE WELT 2/2014 Fotos: Biraj Wadhwa (Indian Association Bonn e.V.) I JUBILÄUM I sche indische Tanz- und Musikabende mit Künstlern von internationalem Rang statt, in Bonn häufig mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt. Vorträge zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Fragen mit Blick auf Indien wie auch philosophisch-religiöse und medizinische Themen gehörten zum regelmäßigen Programm. In Autorenlesungen wurden bekannte indische Schriftsteller und Dichter vorgestellt und indische Filme, teilweise in Zusammenarbeit mit der Bonner Kinemathek, vorgeführt. Das bunte Spektrum, mit der sich die DIG Bonn-Köln um die Begegnung von Deutschen mit Indern sowie um die Vermittlung der reichen Kultur des indischen Subkontinents in der Bundeshauptstadt bemühte, wurde durch verschiedene Fotound Gemäldeausstellungen zu indischen Themen abgerundet. Die DIG Bonn-Köln war bis zur Übersiedlung des Deutschen Bundestags und der Regierung nach Berlin weiter stark mit dem politischen Bonn und damit auch der Indischen Botschaft verbunden – bis 2010 waren unter den Vorsitzenden stets Bundestagsabgeordnete wie K. Kübler, A. Köster-Lossack und Josef Winkler. Auch der jetzige Vorsitzende, Günther Koenig, kommt als Botschafter i.R. aus dem politischen Bereich. Neben dem Engagement in Bonn nehmen in den letzten Jahren auch die Aktivitäten in Köln deutlich zu, vor allem seit der Einführung der einmal jährlich stattfindenden „Kölner Indienwoche“ im Jahr 2009 und dem inzwischen auch jährlich stattfinden „Indientag“ im RautenstrauchJoest-Museum für Völkerkunde. Dabei wird in Köln wie auch in Bonn verstärkt mit anderen indischen Kulturvereinen wie Indien Association Bonn, Bharat Samiti und Kerala Samajam kooperiert. Das Angebot in Köln umfasst u. a. Besuche in Hindu- und Sikh-Tempeln mit Vorträgen über die jeweilige Religion, Tanz- und Musikdarbietungen bzw. -workshops, indische Kinoabende, Kunstausstellungen indischer Künstler oder indische Kochkurse. Das politische und soziale Leben Indiens wird durch Vorträge und Diskussionsveranstaltungen ausführlich beleuchtet und die Jugend, hier vor allem die sogenannte zweite und dritte Generation, stark mit einbezogen. Mit knapp 200 Mitgliedern zählt die DIG Bonn-Köln zu den zahlenstärksten Zweiggesellschaften in Deutschland und gewinnt insbesondere durch das zunehmende Engagement von jungen Mitgliedern deutlich an Attraktivität. Das Interesse an dem Angebot der Deutsch-Indischen Gesellschaft stößt so im Köln-Bonner Raum weiterhin auf ungebrochenes Interesse, so dass die DIG Bonn-Köln voll Zuversicht in die Zukunft blickt. j Pinar Atalay mit türkischen Wurzeln ist Tagesthemenmoderatorin Hautfarbe und Herkunft spielen keine Rolle mehr bei Besetzung von Spitzenpositionen im deutschen Fernsehen Menschen ausländischer Abstammung kommen zunehmend zu Spitzenpositionen im deutschen Fernsehen, wie der Fall von Pinar Atalay zeigt. Alleine ihre Professionalität und Erfahrung waren ausschlaggebend bei ihrer Wahl als Tagesthemenmoderatorin. Die Zeiten, in der Menschen mit ausländischen Wurzeln, egal wie hoch qualifiziert und kompetent sie sein mögen, nur zu Unterhaltungssendungen Zugang fanden, ist vorbei. Trotz dieses Wandels zeigen die Biographien von Kindern mit ausländischen Eltern, mit welchen Vorurteilen und Rassismus-Erfahrung sie hier groß geworden sind. Zwei Beispiele aus dem Beitrag „Sie sprechen aber gut Deutsch“ von Alina Fichter in „Die Zeit“ von 18.09.2014: Pinar Atalay: Atalays Eltern sind Anfang der siebziger Jahre als türkische Gastarbeiter von Istanbul nach Deutschland gezogen, der Zufall führte sie ins kleinstädtische NordrheinWestfalen. Als Mädchen half Pinar ihrer Mutter - einer Schneiderin - manchmal beim Nähen und sah sich mit ihrem Vater, einem Tischler, abends um acht Uhr die Tageschau an.„Das war Teil unseres Tagesablaufs“, sagte Atalay. Als die Eltern eine Wohnung suchten, wurden sie von den Vermietern gefragt, wie viele neben den Familienmitgliedern einziehen würden - so, als bewohnten alle Nichtdeutschen ein Zimmer zu Dutzenden. Auch weniger subtilen Rassismus hat Atalay erlebt. Mit 14 sei sie mit Freunden auf einer Kirmes gewesen, da sei ein Neonazimob auf sie zugestürmt gekommen. Es half nur: wegrennen. Ranga Yogeshwar: Von Ranga Yogeshwar, 55, Wissenschaftsjournalist im deutschen Fernsehen, stammt die Geschichte vom Neger, er hat sie 2013 für den Spiegel aufgeschrieben: Als der Luxemburger mit dem indischen Vater vor gut 30 Jahren zu moderieren begann, wollte er in den Sendungen keine Krawatte tragen. Der Aufnahmeleiter muss vergessen haben, das Mikrofon auszuschalten, denn Yogeshwar hörte ihn später sagen:„Er sieht aus wie ein Neger, doch mit Krawatte glaubt man ihm wenigstens.“ So dachten manche deutsche Fernsehmacher in den achtziger Jahren noch; je ungewöhnlicher der Name und die Hauptfarbe, desto unglaubwürdiger der Mensch. J O S E P U N N A M PA R A M B I L MEINE WELT 2/2014 15 I AUSZEICHNUNG I Auszeichnung der DIG-Bonn/Köln für das Lebenswerk von: Jose Punnamparambil Jose Punnamparambil, geboren 1936 in Kerala, kam als Stipendiat des Bundespresseamtes nach Deutschland. Aus einem einjährigen Aufenthalt wurden 48 Jahre in Deutschland, das zu seiner zweiten Heimat wurde. Zuletzt war er Abteilungsleiter für Sprachen bei der Deutschen Stiftung für Entwicklungshilfe in Bad Honnef. Er wurde Mitglied der Deutsch-Indischen Gesellschaft Bonn-Köln, war stellvertretender Vorsitzender im Bundesvorstand und dort anschließend Beiratsmitglied. Herr Punnamparambil ist eine Persönlichkeit voller Ideen und seit seiner Ankunft in Deutschland gesellschaftlich sehr aktiv. Er setzte sich ehrenamtlich unermüdlich für die deutsch-indische Verständigung ein, vor allem zwischen den in Deutschland lebenden Indern und den Deutschen. 1984 gründete er die Zeitschrift „Meine Welt“ als Forum für den deutsch-indischen Dialog. 1988 verlieh ihm der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den „Journalistenpreis für Entwicklungspolitik“. Für sein Lebenswerk im Dienste der deutsch-indischen Verständigung mit dem Ziel der integrativen Verbindung zweier Kulturen erhält er die Auszeichnung der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Dr. Hem Chandra Jha † Dr. Hem Chandra Jha, geboren 1939 in Bihar, kam 1966 als DAAD Stipendiat nach Deutschland. Er war bereits ein promovierter Chemiker und im gleichen Fach erhielt er in Bonn seinen zweiten Doktortitel. Von Anfang an interessierte er sich für die Intensivierung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Indien. Er war zunächst Vorsitzender des indischen Studentenvereins der Universität Bonn und trat 1978 in die DeutschIndische Gesellschaft Bonn-Köln ein, in der er für mehrere Jahre als Geschäftsführer tätig war. Unter seiner Regie fan16 MEINE WELT 2/2014 Foto von DIG-Bonn/Köln (H. Wadhwa) den zahlreiche Veranstaltungen statt, die dem Publikum die Kultur Indiens näher brachten und zur Vertiefung der Beziehungen zwischen Deutschland und Indien beitrugen. Er war Mitgründer des DeutschIndisch-Pakistanischen Forums, das sich für den Frieden in Südasien einsetzt. Nach einer langen Krankheit starb er am 18. September 2013. In Dankbarkeit für seine Dienste wird ihm posthum eine Auszeichnung für sein Lebenswerk von der Deutsch-Indischen Gesellschaft verliehen. Dr. med. Nabendu Sircar † Dr. Nabendu Sircar, geboren 1939 in Westbengalen, kam 1962 nach Deutschland und absolvierte sein Medizinstudium an der Universität Würzburg. Seit 1979 arbeitete er in Euskirchen an einem Krankenhaus als Oberarzt in der Gefäßchirurgie und erhielt mehrere Auszeichnungen für die Entwicklung von neuen chirurgischen Verfahren. Er wurde aktives Mitglied der Deutsch-Indischen Gesellschaft BonnKöln und gründete ebenfalls den indischen Kulturverein „Bharat Samiti“ in Köln. Unermüdlich widmete er sein Leben dem Wohl und der Gesundheit der Armen. In seinem Heimatdorf Kondolia in Indien rief er 1994 ein Krankenhaus für die Armen ins Leben und führte es mit großem Engagement. Heute werden dort jährlich ca. 10.000 Patienten kostenlos behandelt. Die Deutsch-Indische Gesellschaft stellte finanzielle Mittel für die Ausbildung von Krankenschwestern dort zur Verfügung. Am 15. September 2012 starb er nach kurzer schwerer Krankheit.Wir werden ihn für seinen großen Dienst an der Menschheit, seiner Humanität und Hilfsbereitschaft in Erinnerung behalten. Die Deutsch-Indische Gesellschaft verleiht ihm posthum eine Auszeichnung für sein Lebenswerk. Dr. Amaresh Gupta Er wurde am 02. Januar 1941 in Jhansi, UP (Indien) geboren. Sein Studium der Physik in Indien (Abschluss MSc) setzte er 1960 in Bonn fort und schloss dort mit einem Hauptdiplom und einer Promotion ab und war dort auch im Rahmen verschiedener Forschungsvorhaben der BMFT und DFG als Assistent tätig. Nachdem seine berufliche Rückkehr nach Indien erfolglos blieb, I AUSZEICHNUNG I wurde Deutschland zu seiner Wahlheimat. Er heiratete und wurde Vater von zwei Töchtern. Dr. Amaresh Gupta wechselte 1980 beruflich zu einer nachgeordneten Behörde des Wirtschaftsministeriums, die im Jahr 1983 dem Verteidigungsministerium zugeordnet wurde. Seitdem war er als Beamter im Verteidigungsministerium tätig. Er ist seit 1978 Mitglied der Zweiggesellschaft Bonn/Köln und war viele Jahre auch im Bundesvorstand aktiv. Zunächst im Kulturbeirat und später im Vorstand der Bundesgesellschaft, die er als 1. stellvertretender Vorsitzender von 1990 bis 1996 vertrat. Für seinen herausragenden Einsatz für die Völkerverständigung und sein langjähriges Engagement für die Zweiggesellschaft Bonn/Köln und den Bundesverband erhält Dr. Gupta die Ehrennadel der DeutschIndischen Gesellschaft. Prof. Dr. Jürgen Ernst Er wurde am 17. Juni 1936 in Nürnberg geboren. Er studierte in Erlangen und Heidelberg Physik. 1965 folgte die Promotion am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Seinem Doktorvater folgend, arbeitete er ab 1966 am Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn und wurde dort 1980 zum Professor C3 ernannt. Als Experimentalphysiker unternahm er mit seiner Arbeitsgruppe Experimente zur Kernspektroskopie und zur Untersuchung des Ablaufs von Kernreaktionen an Teilchenbeschleunigern in Deutschland, den USA und Kanada. Prof. Dr. Jürgen Ernst ist seit 1978 Mitglied der DIG und seitdem ununterbrochen im Vorstand tätig. Er wurde unter dem damaligen 1. Vorsitzenden Bodo Prinz zu Sayn-Wittgenstein Geschäftsführer und übte dieses Amt bis in die 1990iger Jahre aus. Auch das Amt des Kassenwarts und kurz das Amt des Schriftwarts hatte er inne, um danach erneut zwei Jahre als Geschäftsführer aktiv die Geschicke der Gesellschaft zu leiten. Seit der letzten Vorstandswahl ist er wieder als stellvertretender Schatzmeister und Beisitzer tätig. Neben seinem Wirken für die DeutschIndische Gesellschaft e.V. war er 2004 auch Gründungsmitglied des Deutsch-IndischPakistanischen Forums e.V. und für die- Gestohlene Kindheit – Zur Situation der Kinder in Indien JOSEPH CHRISTENSON, Leiter des Regionalbüros der Andheri-Hilfe in Nordindien Joseph Christenson, der Leiter unseres Regionalbüros in Nordindien, berichtet über die Lage der Kinder in seiner Heimat. „Jedes sechste Kind weltweit nennt Indien seine Heimat – insgesamt leben 430 Millionen Kinde in Indien. Auch wenn Kinder ein Drittel der indischen Bevölkerung ausmachen, stehen ihre Interessen nicht an oberster Stelle der politischen Agenda und ihre Rechte werden tagtäglich verletzt. Traurigerweise steht Indien für 40% der unterernährten Kinder in Entwicklungsländern sowie für 20% der Sterbefälle bei Kindern weltweit. Jährlich sterben 1,83 Millionen Kinder in unserem Land, bevor sie ihren fünften Geburtstag erleben – eines von elf Kindern! 88% dieser Todesfälle werden durch Durchfallerkrankungen verursacht, die zu verhindern wären durch bessere sanitäre Anlagen, sauberes Trinkwasser und die Aufklärung über vorbeugende Hygienemaßnahmen. Die Bildungssituation in unserem Land ist erschreckend: Trotz genereller Schulpflicht scheiden 70 von 100 Kindern vor Beendigung der Grundschule wieder aus dem Unterricht aus. 66% hiervon sind Mädchen. Indien hat auch die höchste Rate von Kinderarbeitenr weltweit. Man schätzt, dass rund 28 Millionen Kinder im Alter von 5-14 Jahren regelmäßig arbeiten müssen. Während Probleme wie physischer, sexueller und emotionaler Missbrauch im ganzen Land anzutreffen sind, gibt es einige Problemfelder, die speziell in meiner sen Verein zwei Jahre als Schatzmeister tätig. Des Weiteren ist er u. a. Mitglied bei Greenpeace, Amnesty International und dem Universitätsclub Bonn. Prof. Ernst erhält die Ehrennadel für sein 35-jähriges unermüdliches Engagement für die Deutsch-Indische Gesellschaft. Projektregion, den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar, Madhya Pradesh und Rajasthan, verstärkt auftreten. Es gibt hier eine steigende Zahl von Kindersoldaten, Flüchtlingskindern, Straßenkindern und Kindern, die von Menschenhändlern verschleppt werden. Fast 65% der Kinder in diesen Bundesstaaten kommen mit Menschenhändlern in Kontakt. Häufig getarnt als Jobvermittler treten sie mit den Familien in Verbindung und versprachen ihnen gute und leichte Arbeit für ihre Kinder. Die Realität sieht oft anders aus: Viele Kinder werden in die Städte gebracht, um dort zu betteln. Bis zu 1.500 Rupien (rund 18 Euro) kann so pro Tag mit einem Kind verdient werden. Ein neuer erschreckender Trend in Nordindien ist der Brauthandel – eine furchtbare Auswirkung des Frauenmangels in Indien. Junge Mädchen werden von ihren Eltern, die sich für sie eine gute Zukunft erhoffen, an Vermittler abgegeben oder gar gewaltsam entführt. Männer können diese Mädchen gegen eine Vermittlungsgebühr kaufen und unter dem Deckmantel der Eheschließung in ihre Familie bringen. Im schlimmsten Falle werden die Mädchen weiterverkauft, sind ihre „Ehemänner“ mit ihren Diensten nicht zufrieden. Millionen von Kindern werden täglich ihrer Kindheit beraubt. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, ihre Rechte zu stärken und ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen zu ermöglichen!“ Quelle: Forum, Andheri-Hilfe Bonn, Sept. 2014 In unzähligen Veranstaltungen brachte er die Vielfalt der indischen Kultur in all ihren Facetten der Öffentlichkeit im Raum Bonn-Köln näher und gab durch seine Arbeit auch dem Bundesverband bedeutende Impulse. j MEINE WELT 2/2014 17 I MEINUNG I Die Qual der Wahl DR.GEORGE ARICKAL „Sein oder Nichtsein, das ist die Frage”; William Shakespeare ließ durch den weltberühmten Monolog in der Tragödie „Hamlet“ diese existenzielle Fragestellung stellvertretend für uns alle dramatisch formulieren. Jede Person in unserer Gesellschaft hat unterschiedliche Rollen zu spielen und damit Entscheidungen zur Erfüllung vielfältiger Aufgaben zu treffen. In der Stellung als einmalige, unverwechselbare und mit unteilbarer Menschenwürde ausgestattete Person, als Angehörige in diversen Funktionen der Familie und gesellschaftlicher Gruppierungen, in der Rolle als Lernende, Berufstätige sowie aktive Teilnehmer in wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen und nicht zuletzt als einfacher Bürger in dieser globalisierten Welt befinden wir uns ständig in Entscheidungsprozessen. Sehr oft wird die Wahl für Handlungen unreflektiert, spontan und automatisch getroffen; in vielen Fällen jedoch erst nach gründlicher Reflektion und Abwägung von Vor- und Nachteilen. Der Reflektionsrahmen umfasst vielfältige Dimensionen des menschlichen Zusammenlebens, einschließlich der eigenen Verflechtung mit der Natur und der Schöpfung. Das Recht, in vielen Bereichen des Handelns zwischen Alternativen wählen zu dürfen, ist ein wunderbares und zugleich verpflichtendes Geschenk des Lebens. Die Freiheit zu entscheiden, ob etwas unternommen oder unterlassen werden soll, bereitet zumeist Freude; bei einer Bejahung folgt dann die weiterführende Frage nach dem „Wie”. Auch die Freiheit, die Art und Weise des Handelns selbst zu bestimmen, erweitert den Spielraum für eigene Entfaltung. Die Freude ist umso grösser, wenn die für die Wahl zur Verfügung stehenden Alternativen den Erwartungen und der Absorbtionskapazität des Akteurs entsprechen. Sonst könnte 18 MEINE WELT 2/2014 sich in vielen Fällen die Wahl zur Qual entwickeln. Unzählige Beispiele gibt es für solche qualvollen Entscheidungen, sei es in der Familie, Berufswelt, Religion, Gesellschaft oder in der Politik. Wir sind Zeitzeugen der aktuellen Geschehnisse auf unserem gemeinsamen Globus. Hunger, Vertreibung, Flüchtlingswellen, sich ausweitende Krankheiten, Völkermord, Umweltkatastrophen u.a.m. fordern unser Gewissen heraus. Wir spüren oft die Ohnmacht, zu handeln, da eine nachhaltige Lösungsstrategie trotz allen technischen Fortschritts und Überflusses in der Welt nicht in Sicht ist. Trotzdem wäre es fatal, wenn wir die Wahl treffen würden, die Rolle des schweigenden Zuschauers anzunehmen; wir können durchaus gemeinsam mit anderen Solidaritätspartnern unsere Stimme erheben. Diese schwierige Entscheidung liegt bei uns selbst. Kriegerische Auseinandersetzungen Die gesamte Welt steht fassungslos gegenüber den kriegerischen Auseinandersetzungen in den Kriegsregionen wie Ukraine, Irak, Syrien, Palästina und Israel. Bei solchen lebensvernichtenden Menschenrechtsverletzungen wäre das Schweigen praktisch mit einer Zustimmung gleichzusetzen. Für die Wahl einer Einmischung zur Rettung des Lebens fehlen uns jedoch adäquate Mittel. Die externen Mächte wie die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union befinden sich im Dilemma, zumal sie selbst Teil des Problems sind, indem sie durch ihre bisherige Politik zur Zuspitzung dieser Krisen beigetragen haben. Weder die Vereinten Nationen, noch die anderen Bündnisse der Nationen sehen eine realistische und glaubwürdige Strategie, das Feuer der Konfliktherde zu löschen. Die Bereitschaft vieler Staaten, dem brutalen Morden ein Ende zu setzen, ist klar erkennbar. Präsident Barack Obama, der Dr. George Arickal das unheilvolle militärische Engagement im Irak schleunigst benden wollte, hatte die Qual der Wahl zu entscheiden, den Eingriff in anderen Formen wieder aufzunehmen. Der Entschluss der deutschen Bundesregierung, abweichend zu ihrer bisherigen Politik Militärhilfe außerhalb der NATO zu leisten, ist m.E. angesichts des Genozides im Irak nachvollziehbar. Wir spüren, dass solche Entscheidungen schmerzlich und bitter sind, doch in manchen Ausnahmesituationen sind sie bitter nötig. Nicht alle Entscheidungen sind so qualvoll wie oben beschrieben. Es gibt auch erfreuliche Ereignisse. Das Recht der Bürger, die politischen Repräsentanten des Landes gemeinsam durch die Wahl bestimmen zu können, ist eine große Errungenschaft der Demokratie; dieses Recht ist sicherlich eine verantwortungsvoll zu gestaltende Aufgabe. Das Wahlvolk der größten Demokratie der Welt stand im April/Mai dieses Jahres vor der Aufgabe, sich über die Zusammensetzung des gesamtindischen Parlaments (Lok Sabha) zu entscheiden. 815 Millionen Wahlberechtigte, darunter 120 Millionen Erstwähler, hatten die Aufgabe und Chance, an der Wahl teilzunehmen. Dies ist mehr als die Wahlbevölkerung der gesamten Europäischen Union, der Vereinigten Staaten von Amerika und von Russland zusammen. 543 Mitglieder des Parlaments (MP) waren vom Volk direkt zu wählen, zwei Mitglieder wurden vom Bundespräsidenten nominiert. Im Unterschied zu vielen anderen Instanzen ist die Wahlkommission Indiens bekannt für ihre Unbestechlichkeit und effiziente Funktionsweise. Sie I MEINUNG I sorgte dafür, dass 900 000 Wahllokale mit 930 000 elektronischen (batteriebetriebenen) Wahlmaschinen bereit standen. Die Namen der Kandidaten/innen und ihre Parteisymbole waren auf den Automaten klar gekennzeichnet. Damit wurde auch den Leseunkundigen ermöglicht, die gewünschte Partei zu wählen. Diesmal stand auch ein Knopf für Enthaltung funktionsbereit. Die Wahl erfolgte per Knopfdruck, und dies ermöglichte später auch eine beschleunigte Auszählung. Die zur Wahlurne gerufene Bevölkerung stand vor einer würdigen Aufgabe, doch sie hatte die Qual der Wahl zwischen lauter bitteren Pillen. Das Wachstum der indischen Wirtschaft sank von 8 auf 5%; der Wert der indischen Rupie nahm kontinuierlich ab, die Inflationsrate blieb über 8%. Die Hoffnung der Armen, irgendwann an den Früchten des langjährigen Wirtschaftsbooms durch einen „Trickle Down Effect” partizipieren zu können, wurde enttäuscht. Das Vertrauen der breiten Bevölkerung, im Schutz und Schirm der einst mächtigen Kongresspartei zu Brot, Wasser, Bildung, Gesundheit, Freiheit und Gerechtigkeit zu gelangen, wurde verspielt. Die Verwicklung vieler Machthaber, insbesondere aus der Kongresspartei, in Korruptionsskandale raubte die verbliebene Sympathie gegenüber einer Partei, die das Land durch die längste Periode der Unabhängigkeit Das Wahlvolk der größten Demokratie der Welt stand im April/Mai dieses Jahres vor der Aufgabe, sich über die Zusammensetzung des gesamtindischen Parlaments (Lok Sabha) zu entscheiden. 815 Millionen Wahlberechtigte, darunter 120 Millionen Erstwähler, hatten die Aufgabe und Chance, an der Wahl teilzunehmen. Dies ist mehr als die Wahlbevölkerung der gesamten Europäischen Union, der Vereinigten Staaten von Amerika und von Russland zusammen. regierte. Der übergroße Bonus, der der Kongresspartei wegen ihrer besonderen Rolle im Unabhängigkeitskampf Indiens und wegen ihrer charismatischen Führer wie Gandhi und Nehru zuteil wurde, schien aufgebraucht; die Zeiten haben sich eben geändert, die Zeitzeugen des Entkolonialisierungsprozesses sterben aus, junge Wähler sehnen sich nach neuen Ufern. Die Kongresspartei und damit ihre Koalitionspartner in der „United Progressive Allianz” (UPA) machten den Wählern und Wählerinnen damit die Entscheidung leicht; die Wähler nutzten den Wahlzettel, die regierende Koalition durch Abwahl abzustrafen. Fast 815 Millionen Menschen wurden aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Foto: dpa (Quelle: Internet) BJP als Alternative Die Wahl verursachte dennoch dem Wahlvolk Kopfschmerzen. Als die Alternative auf der Nationalebene stand die Nationaldemokratische Allianz (NDA) unter der Führung der als hindunationaltisch eingestuften Bharatya Janatha Partei (BJP). Im Wahlkampf wurde sie von Narendra Modi geführt, der das in seinem Bundesland Gujarat praktizierte Industrialisierungsmodell für die Entwicklung Indiens als Vorbild propagierte. Dabei erntete er Lob und Kritik zugleich. Viele Wähler, insbesondere Jugendliche, waren fasziniert, dass Modi in der Lage war, große Investoren wie Tata nach Gujarat zu holen. Die Kritiker behaupten, dass Modi’s Entwicklungsmodell mit Fokus auf Wirtschaftswachstum nur die Unternehmer und die Reichen begünstige. Der Ausbau der Infrastruktur werde unter Hinnahme erheblicher Nachteile für die Marginalisierten durchgesetzt. Sichtbar seien in Gujarat ausgebaute Infrastruktur, Industriegelände, boomende Städte, arme ländliche Regionen und mangelnde Verwirklichung der Sozialindikatoren der Entwicklung. Auch die BJP stand im Ruf der Korruption; sie hatte allerdings den Vorteil, die indische Union kürzere Zeit regiert und damit weniger Korruption betrieben zu haben. Sie hatte allerdings mit dem Stigma zu kämpfen, dass sie Minderheiten in Indien vernachlässigen und die säkulare Orientierung der indischen Politik gefährden würde. Die Pulleffekte, d. h. die Anziehungsfaktoren, die die BJP wählbar gemacht hätten, waren mangel MEINE WELT 2/2014 19 I MEINUNG I haft und daher nicht ausschlaggebend; die Pusheffekte (Verdrängungsfaktoren) aus dem Kreis der Kongresspartei und ihrer Koalition scheinen den Wählern zur Flucht zur BJP verholfen zu haben. Gestempelt mit dem Siegel der Korruptionsbekämpfung und euphorisch gestimmt durch den unerwarteten Sieg bei der Landtagswahl in Delhi im letzten Jahr mischte die neue junge Partei unter dem Namen Aam Admi Party (AAP) im Wahlkampf mit. Mit neuem Elan und viel utopisch klingenden Versprechen zur politischen Teilhabe des „kleinen Mannes” bewarb sich die Partei unter Führung von Arvind Kejrival mit dem Symbol des Kehrbesens an vielen Wahlbezirken in Indien, obwohl sie über keine dafür notwendige Organisationsstruktur verfügte. Ihr Ziel war es anscheinend, sich in vielen Regionen Indiens zunächst vernehmbar zu machen und sich möglichst mit viel Engagierten aus der Sozial- und Antikorruptionsbewegung zu vernetzen. Erdrutschsieg für die BJP Trotz aller Qual der Wahl schien dem Wahlvolk die Frage des Wahlverzichts weniger relevant gewesen zu sein; mit mehr als 66% Wahlbeteiligung bewies die indische Bevölkerung ihr demokrati- sches Bewusstsein. Am 16. Mai wurden die Ergebnisse veröffentlicht; sie bescherten einen unerwartet hohen Erdrutschsieg für die BJP mit dem Symbol der Lotusblüte. Die Kongresspartei erlitt eine vernichtende Niederlage. Für die BJP votierten zwar nur 31% der Wähler und Wählerinnen, sie bekam damit jedoch, begünstigt durch das Mehrheitswahlrecht in Indien, die absolute Mehrheit von fast 52% an Sitzen (282 von 543). Der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl gewinnt nämlich den Wahlkreis. Die Kongresspartei bekam 19,3% an Stimmen, doch nur 44 Sitze im Parlament. Sie verlor damit 162 Sitze. Auch die anderen Parteien auf der Bundesebene wie die der Kommunisten oder der Regionen wurden abgestraft. Der neue Ministerpräsident Narendra Modi könnte mit der absoluten Mehrheit seiner Partei allein regieren, doch er bildete eine Koalition. Es ist zu früh, eine Prognose zur weiteren Entwicklung Indiens unter der neuen Regierung zu wagen. Im Bereich der Außenpolitik und damit in den deutsch-indischen Beziehungen ist keine signifikanten Änderungen zu erwarten. Es ist wahrscheinlich, dass Modi die Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen in Indien erweitern wird. Das Klima für Wirtschafts- wachstum wird verbessert und die indische Börse sendet entsprechende Signale. Die Inflationsrate konnte allerdings bis jetzt kaum beeinflusst werden, obwohl dies als ein prioritäres Ziel im Wahlkampf proklamiert wurde. Es ist abzuwarten, wie die Minderheiten, insbesondere die Marginalisierten in Indien an den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen partizipiert werden. Spätestens in fünf Jahren werden die indischen Wähler und Wählerinnen wieder zur Wahlurne gerufen. Bis dahin hat Ministerpräsident Narendra Modi viele schwierige weichenstellende Entscheidungen zu treffen. Die Kongresspartei hat die Zeit für Reflektion, Neuaufbau, Erneuerung und konstruktive Opposition. Bei Nutzung dieser Chance in der Krise hätte sie die Aussicht, wiederzukommen; der Unterschied von 19 und 31% an Stimmen scheint nicht unüberwindbar zu sein. Good governance der NDA unter der Führung der BJP und eine effektive Opposition der UPA geführt von einer gründlich erneuerten Kongresspartei könnten die Wähler nächstes mal vor das erfreuliche Problem stellen, zwischen zwei perspektivreichen Alternativen zu wählen. Diese Qual der Wahl wäre dem Souverän sicherlich zu wünschen. j Schwester Claire – eine christliche Künstlerin der Inkulturation Schwester Claire, eine bekannte indische Künstlerin, malt christliche Themen im Stil der Volkskunst. Sie war geboren als zweites Kind von Hindu-Eltern in Andhra Pradesh. Während ihrer Schulzeit in einer christlichen Schule in Bangalore begann sie sich für das Christentum zu interessieren. Durch frühzeitige Heirat versuchten die Eltern sie von einer Annäherung an das Christentum abzubringen. Drei Tage vor der Hochzeit aber verschwand sie vom Elternhaus und 20 MEINE WELT 2/2014 landete im Kloster der Salesianischen Missionarinnen der unbefleckten Maria. Dort wurde sie trotz des Widerstands der Eltern zum Christentum konvertiert und zu einer Nonne. Sie lernte sechs Jahre lang Kunst an der staatlichen Kunstschule und wurde bekannt für ihren spezifischen Volkskunststil. 1971 traf sie den deutschen Jesuit Pater Mathew Lederle, der eine Organisation namens „Art India“ (in Pune) zur Förderung christlicher Kunst in Indien leitete. Schw. Claire wurde ein Mitglied seines Teams. (siehe auch Seite 54) JP I D I E W E LT V O N M O R G E N I Kabani – sozial- und umweltverträgliches Reisen N I S A P U N N A M PA R A M B I L - W O L F „Mama, Indien finde ich Klasse, was ich aber nicht so gut finde, ist, dass der ganze Müll überall in der Natur und auf den Straßen rumliegt, und manchmal stinkt es auch ganz schlimm. Dann kommen irgendwann keine Leute mehr hierher!“ Leider musste ich meinem Sohn da zustimmen. Zum ersten Mal traten wir 2013 in der Monsunzeit unsere Reise nach Kerala und Karnataka an. Die Jahre vorher waren wir meistens in den Weihnachtsferien unterwegs. Wegen der Schulferien war der Sommer die einzige Zeit, in der wir als Familie zusammenhängend drei Wochen am Stück Urlaub machen konnten. Wie bei jedem Indien-Urlaub verbrachten wir eine gewisse Zeit in den Dörfern meiner Verwandtschaft mütterlicher- und väterlicherseits. Die restliche Zeit verbrachten wir am Meer und in einem Nationalpark. Immer wieder waren unsere Kinder hin und her gerissen von den vielen unterschiedlichen Eindrücken in der Stadt, auf dem Land und in der Natur. Besuche der touristischen Sehenswürdigkeiten in Karnataka wechselten ab mit mehrstündigen Wanderungen im Nationalpark auf den Spuren des Tigers, des Rieseneichhörnchens, und auf der Suche nach Reptilien, insbesondere Schlangen, die für unseren ältesten Sohn von besonderer Attraktion waren. Doch immer wieder mussten wir in den letzten Jahren feststelle, dass vielerorts die touristischen Orte mit Müll übersät waren, dass sogar Angestellte der örtlichen Dammverwaltung, die für die Sauberkeit eines Stausees verantwortlich waren, vor den Augen ihrer Vorgesetzten den umherliegenden Plastikmüll in den See warfen. Sumesh Mangalasseri (Director) und Subini S. Nair (Director Operations) zu Besuch in Unkel am Rhein/Oktober 2014 Wunderschöne Orte in den Nationalparks sind auch von diesem wenig nachhaltigen Verhalten betroffen, und die Schönheit und das Überleben indischer Natur wird vom Müll überschattet. Ein indischer Freund Santoshkumar, Physiker und Schriftsteller, der uns auf einer Wanderung begleitete und Deutschland auch schon bereist hatte, bedauerte dies sehr und wünscht sich mehr Engagement seitens der Eltern und der Schulen im Bereich Umwelterziehung. Er betonte, dass der innerindische Tourismus in den letzten Jahren extrem zugenommen habe. Dies sei zwar erfreulich, aber auch mit negativen Entwicklungen verbunden. Viele Menschen aus dem Norden bereisten den Süden, aber es sei jetzt auch schick, mal über das Wochenende aus den dicht besiedelten Städten des Südens in die Berge zu fahren. Die reiche Mittelklasse des Südens ließe sich die Kurztrips gerne etwas kosten. Man buche teure Hotels in den Bergen oder sehr strandnah, Wellness sei auch angesagt und Freizeitparks stark nachgefragt. Fast food sei modern und Shopping in der Lulu Mall ein unbedingtes Muss. Viele Entwicklungen, die mit wachsendem Tourismus drastische Folgen für die Flora und Fauna sowie für die Landwirtschaft und das einheimische kulturelle Gut in Kerala und Karnataka mit sich bringen. Dass bereits seit einigen Jahren ein Umdenken in bestimmten Kreisen stattgefunden hat, insbesondere in Kerala, war uns nicht nur aus der Presse bekannt. Immer wieder gab es auch Absichtserklärungen der Landesregierung, sich die Ziele des „Ökotourismus“ und „verantwortungsvollen Tourismus“ auf die Fahnen zu schreiben. Doch inwieweit dies Lippenbekenntnisse sind, wird die Zukunft zeigen. Unsere erste Begegnung mit dem Aktivisten Sumesh Mangalserry kam durch eine befreundete Journalistin vor knapp 8 Jahren zu Stande. Seine Ideen von nachhaltigem Tourismus in Kerala beindruckten uns und wir nahmen uns vor, die Umsetzung vor Ort kennenzulernen, und buchten unsere erste Reise zu Kabani in die Nilgiri Mountains. Wir verbrachten drei Tage in einem Zimmer, das uns Sumeshs Eltern in ihrem Haus vermieteten. Das Konzept lautete „Community Tourism“ und „Home-Stay“. Die Dorfbewohner sollten direkt erreicht werden, klobige Hotelneubauten und die dadurch bedingte Zerstörung von Naturund Kulturlandschaft verhindert, sowie MEINE WELT 2/2014 21 I D I E W E LT V O N M O R G E N I lokale Produkte direkt vermarktet werden. Wir wurden begleitet von Freunden der Familie. Die einen kannten sich mit Vogelarten aus, andere zeigten uns die Seidenraupenproduktion. Wir aßen einfaches vegetarisches Essen und fühlten uns gut betreut. Unsere Kinder fühlten sich wohl. Die Unterkunft einfach gehalten und sauber. Die Dörfer nicht übersät mit bunten Polythene Bags und anderem Müll. Das Gefühl von Ferien auf dem Bauernhof in Kerala stellte sich schnell ein. Schnell kamen wir ins Gespräch Sumesh überlegte schon damals, neben den Reiseangeboten NACHRUF Zum Tode des Autors U. R. Ananthamurthy In einer Zeit, in der Filmhelden und Fernsehpersönlichkeiten die öffentlichen Diskurse der indischen Mittelklasse beherrschen, war die Wirkung von Udupi Rajagopalacharya Ananthamurthy eine Ausnahme: Er konnte als Schriftsteller die Gefühle breiter Bevölkerungsschichten beeinflussen. Als Prosaautor in seiner südindischen Muttersprache Kannada wurde er berühmt, und er tat mehr als viele andere Autoren für die Bedeutung der Regionalsprachen in der indischen Literatur. Sein bedeutendster Roman „Samskara“, 1994 auch in deutscher Übersetzung erschienen, und seine Novelle „Ghatasraddha – Totenritual für eine Lebende“ (1997 in der Zeitschrift „die horen“ gedruckt) handelten vom Zusammenprall alter hinduistischer Traditionen mit dem modernen Leben. Familienbräuche reiben sich an den Ansprüchen von Individuen, ungerechte Konventionen am Erwachen eines neuen Bewusstseins. U. R. Ananthamurthy wurde 1932 in der Provinz Karnataka geboren, studierte in Mysore und dann in Birmingham. Jahrzehnte unterrichtete er englische Literatur in Mysore, setzte sich aber zugleich vehement für den Gebrauch der Muttersprache ein. Er bekleidete viele öffentliche Ämter, so die des Rektors der Universität von Kottayam, des Vorsitzenden des National Book Trust und des Präsidenten der Sahitya Akademi, der indischen Literatur- 22 MEINE WELT 2/2014 akademie. Er war das heute immer seltenere Beispiel eines poeta doctus und wirkte gleichzeitig als intellektueller Aktivist, der mit seinem Ruhm zahlreiche kulturelle und gesellschaftliche Anlässe unterstützte. Staat und Gesellschaft dankten ihm dieses Engagement mit vielen Preisen, so mit der höchsten literarischen Auszeichnung in Indien, dem Jnanpith-Preis, und mit großer Medienaufmerksamkeit. Mehrere seiner Romane wurden verfilmt. Auch in Deutschland war Ananthamurthy bekannt, so als Gastprofessor in Tübingen und Teilnehmer an Seminaren und Schriftstellerbegegnungen. Am vergangenen Freitag starb er im Alter von 81 Jahren in Bangalore, jener Stadt, die auf sein Betreiben wieder ihren ursprünglichen Namen Bengaluru erhalten hat. MARTIN KÄMPCHEN zeitgleich pädagogische Trainingsprogramme für die lokalen Reiseleiter zu ergänzen und für Kinder Aktivitäten anzubieten. Über die Jahre wurde das Angebot immer professioneller und ergänzt durch zahlreiche neue Programme und Fortbildungen für die lokalen Fachkräfte. Heute ist aus der Nichtregierungsorganisation ein wirklich beeindruckendes soziales Unternehmen und eine Umweltbewegung erwachsen, die über Keralas Grenzen hinaus bis in die ganze Welt Unterstützer findet. Kabani bewegt sich nun auf zwei Ebenen. Zum einen wurde Kabani als NGO erhalten, zum anderen wurde ein soziales Unternehmen gegründet. Sumesh bekleidet zurzeit das Amt des Direktors der NGO Kabani und organsiert Kampagnen, forscht über den negativen Einfluss von Tourismus auf Völker und die natürlichen Ressourcen und nimmt an internationalen Konferenzen und Fachgremien zum sozial- und umweltverträglichen Tourismus teil. Kabani – Community Tourism & Services – ist eine private Aktiengesellschaft, die im Jahr 2013 gegründet wurde. Das Unternehmen betreibt sein Geschäft und Aktivitäten in ethischer, sozialer und umweltverträglicher Weise. Sie sind bestrebt, den „ökologischen und sozialen Fußabdruck“ der Waren und Dienstleistungen zu minimieren. Dazu gehören faire Löhne und Arbeitsbedingungen, fairer Einkauf und Operationen, Produkte aus nachhaltigen Quellen, die gerechte Verteilung von Nutzen und die Achtung der Menschenrechte, Kultur und Umwelt. Unternehmensphilosphie ist: Der Schutz der Umwelt geht Hand in Hand mit dem Schutz der Lebensgrundlagen zukünftiger lokaler Gemeinschaften. Auf dem Weg zum sozialen Unternehmen gab es viele Hürden zu nehmen, aber auch viel Ermutigung zieht Sumesh aus seinem letzten Besuch in Frankreich und Deutschland im Oktober. Viele Gruppen in Europa, die sich mit Aspekten des nachhaltigen Tourismus befassen, laden ihn ein,Vorträge zu halten. Einige reisen über das Kabani Network nach Südindien. Sumesh und seine Mitarbeiterin Subini berichten, dass die Möglichkeit, Freiwilligenarbeit in den Programmen von Kabani zu leisten, sehr I D I E W E LT V O N M O R G E N I „KABANI – The other direction“ „KABANI“ ist eine neue Initiative mit Arbeitsschwerpunkt im Wayanad Distrikt in den Bergen des südindischen Bundesstaates Kerala an der Grenze zu Karnataka. Die Organisation leitet ihren Namen von dem Fluss Kabani ab, der im Gegensatz zu fast allen anderen 43 Flüssen in Kerala ostwärts statt nach Westen fließt. So wie sich der Fluss entgegengesetzt bewegt, will „KABANI“ ebenfalls eine andere Richtung für die Tourismusentwicklung der Region aufzeigen. In der Nähe des Ortes Pulpalli teilt sich der Fluss und bildet die Insel Kuruva. Wie die beiden Flussarme hat die Arbeit der Organisation zwei Standbeine. Einerseits entwickelt „KABANI“ ein einheimisches Tourismusmodell, das auf „Home stay“-Programme setzt, die der Bevölkerung direkt zugutekommen und den Gästen Alltagserfahrungen vermitteln. Andererseits hat die Initiative eine deutliche Kampagnen-Ausrichtung, mit der Fehlentwicklungen aufgedeckt und verhindert werden sollen. So wie auch das Wasser der Kabani-Flussarme eine Einheit bildet, sind beide Arbeitsbereiche der Organisation eng miteinander verbunden. Unter anderem in Trainingsprogrammen fließen sie zusammen. Kabani Community Tourism & Services (P) Ltd. Address: 27/1044 G, Kuthiravattom P.O., Parayanchery, Kozhikode, Kerala -673016, India Phone: +91 495 274 3842 Mobile Phone: +91 964 514 4252 Email: contact@kabanitour.com or sumesh@kabanitour.com http://www.kabanitour.com Fair unterwegs in Kerala Reiseführer, herausgegeben von Kabani nachgefragt ist. Mittlerweile beschäftigt Kabani fünf Vollzeit-Kräfte und mehrere Ehrenamtliche. In diesem Jahr arbeiteten sie mit sieben Freiwilligen aus aller Welt. Sumesh erinnert daran, dass alles seinen Ursprung darin hatte, dass die Dorfbewohner die negative Auswirkungen des Tourismus zu spüren bekamen, während die staatlichen Organe der Regierung von einem stetigen Wirtschaftswachstum durch den Tourismus sprachen. Eine völlig konträre Haltung, die die Situation der Dorfbewohner keineswegs berücksichtigte. Seine sozial- und umweltpolitische Haltung ist den lokalen Behörden oftmals ein Dorn im Auge, aber er lässt sich nicht beirren. „In den meisten Tourismusorten geht die Entwicklung an den Menschen vorbei“, erklärt Sumesh Mangalassery, KampagnenKoordinator von „Kabani“, in einer Präsentation über aktuelle Tourismustrends im Land. Die Auswirkungen seien dagegen deutlich zu spüren: Abfallberge an den Stränden, Wasserverschmutzung der Backwaters durch die steigende Zahl von Hausbooten, Verdrängung traditioneller Wirtschaftszweige, Prostitution und die zunehmende Konkurrenz um TouristenDollars und -Euros. „Eine solche Entwicklung wollen wir hier in Wayanad nicht“, betont der Tourismus-Aktivist. „Wir glauben, dass ein anderer Tourismus möglich ist. Dafür setzen wir uns ein“. Mittlerweile erstrecken sich die Programme von Kabani auf die Staaten Karnataka, Kerala, Pondicherry, Tamil Nadu und Rajasthan. Für 2015 sind Touren und Programme bereits geplant in Goa, Uttarkhand, Himachal Pradesh, North East India, Sri Lanka und Nepal. Für die Zukunft sind auch spezielle Programme für den Urlaub von Familien mit Kindern geplant. Workshops mit Naturmaterialien, lokale Spiele und Kindertouren. Sumesh und sein Team sind unermüdlich kreativ, sein Enthusiasmus ist ansteckend und stimmt nachhaltig hoffnungsfroh! Wir wünschen ihm mit seiner Bewegung und seinem Unternehmen viele weitere Unterstützer/innen! j Initiativen gegen die Wegwerfkultur Menschenrechtsverletzungen und ökologisch kritische Herstellungsprozesse von Handys, Computern & Co. sowie geplante Obsoleszenzen empören immer mehr Vebraucher(-innen). Dadurch getrieben entstanden innerhalb kürzester Zeit unzählige Initiativen, die der Wegwerfkultur gezielt entgegentreten. Hier sind einige Ansätze: Wiederverwendungen: Netzwecke wie alles-und-umsonst.de bieten die Möglichkeit, nicht genutzte Gegenstände zu verschenken. Auch das Tauschen in lokalen Tauschringen oder auf tauschticket.de ermöglicht die (Wieder-)Nutzung nicht mehr gebrauchter Gegenstände. Wieder verkaufen: Bei Unternehmen wie wirkaufens.de oder dem Gemeinschaftsprojekt weee-return.de bekommen VerbraucherInnen für funktionstüchtige Geräte noch einen angemessenen Erlös. Kollektivnutzen: Auf den Online-Plattformen leihdirwas. de, fairleihen.de und frents.com steht eine gemeinsame Nutzung im Vordergrund. Recyceln: Kommunale Sammelstellen sind die richtige Adresse für eine fachgerechte Entsorgung. Viele Mobilfunkanbieter nehmen überdies Handys zurück, recyceln sie und spenden die Erlöse an gemeinnützige Organisationen. JOYCE-ANN SYHRE Weitere Infos und Link zu den Initiativen gibt es auf unserer Webseite: www.germanwatch.org/de/ it-recycling (Quelle: Germanwatch 1/2014) MEINE WELT 2/2014 23 I INDORAMA I Yoga-Meister B.K.S. Iyengar stirbt mit 95 Jahren Einer der bedeutendsten Yoga-Gurus der Gegenwart und Wegbereiter der Yoga-Therapie, Bellur Krishnamachar Sundararaja Iyengar, starb in der Nacht zum 20. August 2014 mit 95 Jahren in Pune, Maharashtra. Fast 80 Jahre seines Lebens widmete er der Lehre und machte Yoga im Westen bekannt. In seiner Kindheit litt er an schweren Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und Typhus. Diese schwächten ihn sehr, doch sein Schwager unterrichtete ihn in Yoga und sein Gesundheitszustand besserte sich. Mit 19 Jahren gründete Iyengar im westindischen Pune seine eigene Schule und entwickelte seinen speziellen Stil. Iyengar-Yoga gilt als eine Form des Hatha-Yoga und arbeitet mit Asanas (Körperstellungen), die lange und bewusst gehalten werden. In seinem Leben gab er mehr als 15 000 öffentliche Vorführungen. Sein Buch „Licht auf Yoga“ gilt als Standardwerk des Hatha-Yoga und verhalf dem Meister zu internationaler Berühmtheit. Heute gibt es in rund 50 Ländern Iyengar-Yoga-Schulen. (Quelle: Südasien, 3-4/2014) INDISCHE KÜCHE Schon vor 2 000 Jahren entstanden die ersten christlichen Gemeinden in Indien, als der Sage nach der Apostel Thomas im südlichen Kerala landete. „Viele Brahmanen nahmen damals unseren Glauben an, und so gehören wir zu Indien wie die Hindus“, erklärt Prof. Joseph Pathrapankal, der ein spirituelles Zentrum nahe Kottayam leitet. Thomas‘ Nachfolger grenzen sich daher von jenen Christen ab, die erst viel später von Europäern missioniert wurden. In Kerala stellen Christen 20 Prozent der Bevölkerung: ihre Kirchen und Seminarhäuser sind dort unübersehbar, während ihre Glaubensbrüder im übrigen Land ein Schattendasein führen und in manchen Bundesstaaten wie dem armen Orissa häufig auch Opfer von Verfolgung werden. KLEMENS LUDWIG (Quelle: „Indien Verstehen“, Sympathie Magazine, 2014. Aus dem Beitrag: „Religiöse Toleranz“ von Klemens Ludwig) Indische Wirtschaft heute Daten aus der offiziellen Wirtschaftsstudie des Finanzjahres 2013-2014 - Wirtschaftswachstum: Unter 5% (davon Landwirtschaft 4,7%) - Inflation: 9,49% - Exportwachstum: 4,1% (Im Finanzjahr 2012-2013: -1,8%) - Import: -8,3% Zahlungsbilanzdefizit: $ 32,4 Milliarden (1,7% des Bruttoinlandprodukts). Im Finanzjahr 2012-2013 war dies $ 88,2 Milliarden (4,7% des Bruttoinlandprodukts) Pakoras Zutaten 500 Gramm Gemüse: Kartoffeln, Blumenkohl, Spinat, Paprikaschoten, Auberginen etc. 2 Tassen Mehl 1 Ei 1 Tasse Wasser 2 Teelöffel Currypulver Salz nach Geschmack 1 Zwiebelring Zubereitung Gemüse in kleine Stücken schneiden. Aus Mehl, Ei und Wasser einen dicken Pfannkuchenteig herstellen. Currypulver dazu geben. Nach Geschmack salzen. Den Zwiebelring in den Teig tauchen. Falls der Christen in Indien Teig nicht haftet, tropfenweise Pflanzenöl hinzufügen. Nacheinander die kleingeschnittenen Gemüsestücke in den Teig eintauchen und in heißem Öl (200 Grad) goldbraun backen. Heiß servieren. (Quelle: Indische Küche von Syed Abdullah, Wilhelm Heyne Verlag, München) Starke Zunahme von Subventionen war ein ausschlaggebender Grund, warum die notwendigen Mittel fehlten, um Wachstumsimpulse freizusetzen durch notwendige Investitionen, zum Beispiel in die Infrastruktur. Die Studie empfiehlt strenge fiskalische Maßnahmen, um die Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückzuholen. (Quelle: Berichte in indischen Zeitungen) 24 MEINE WELT 2/2014 I INDORAMA I Gefährlicher Gang Es ist ein Thema, über das man lieber nicht spricht, denn es stinkt sprichwörtlich zum Himmel: In Indien haben immer noch zwei von drei Menschen keinen Zugang zu einer Toilette. Männer und Kinder gehen deshalb nach draußen und verrichten meist auf Feldern oder an Bahngleisen ihre Notdurft. Doch für Indiens Frauen ist es nicht so einfach. Scham und Anstand verbieten es ihnen, sich in aller Öffentlichkeit zu entblößen. Deshalb müssen sie auf die Dunkelheit warten, die allerdings in einem Land, in dem statistisch alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt wird, keinen Schutz gewährleistet. Im Gegenteil: Für zwei Mädchen im nordindischen Bundes- staat Uttar Pradesch endete der Gang aufs Feld Ende Mai tödlich; sie wurden vergewaltigt und an einem Baum erhängt. Nur ein Verbrechen von vielen dieser Art. Nach einem Polizeibericht geschehen in Uttar Pradesch 95 Prozent aller Fälle von Vergewaltigung und sexueller Belästigung, wenn die Frauen ihre Notdurft im Freien verrichten. Da wundert es kaum, dass bei einer Befragung nur ein Prozent Toiletten aus gesundheitlichen Gründen wollten, 40 Prozent hingegen aus Sicherheitsgründen. Im vergangenen Wahlkampf wurde die Toilettenfrage zum Thema. Die Frauen können hoffen, denn der neu gewählte Premierminister Narendra Modi versprach: „Toiletten zuerst, Tempel später!“ N O (Quelle: Kontinente, Sept./Oktober 2014) Indisch-deutsche Forschungsinitiative arbeitet an Papiersolarzellen Gemeinsam mit dem Institut für Print- und Medientechnik der Technischen Universität Chemnitz (TUC) arbeitet das Manipal Institute of Technology in einem eigens dafür eingerichteten Print and Media India Innovation Lab (pmIndia) in der Nähe von Jaipur in Rajasthan an gedruckten Papiersolarzellen, die in naher Zukunft kostengünstig und recyclebar auf den Markt kommen sollen. Indien bietet sich aufgrund der klimatischen Bedingungen und der Anzahl an Haushalten ohne Stromversorgung als Test- und Weiterentwicklungsort für diese neue Technologie besonders an. Die Papiersolarzellen, die im Fachjargon 3PV (printed paper photovoltaics) genannt werden, konnte die TUC durch die Zusammenlegung der Forschungsfelder des traditionellen Druckereimaschinenbaus mit denen der Elektronik und Medientechnologie entwickeln. Langfristig sollen „normale“ Druckereien in der Lage seien, Solarzellen auf Standardpaper auszudrucken und lokal zu vertreiben. An der Technologie wird bereits seit 2008 Gothas Stadtschreiber für 2015 kommt aus Indien Traditionell gibt die Stadt Gotha jedes Jahr am 25. Oktober bekannt, wer im folgenden Jahr das Kurd-Laßwitz-Stipendium erhält. Für 2015 fiel die Wahl der vom Stadtrat berufenen Jury unter Vorsitz von Gothas Oberbürgermeister Knut Kreuch (SPD) auf Anant Kumar, einen Inder, der jetzt in Kassel lebt, informierte Maik Märtin, Pressesprecher der Stadt. Geboren im östlichen indischen Bundesstaat Bihar, studierte Anant Kumar in Kassel, Wien (Österreich) und Montpellier (Frankreich) Germanistik, Soziologie und International Protection of Human Rights. Seine Magisterarbeit schrieb er über Alfred Döblins Epos „Manas“. Er ist Verfasser von 17 Titeln, darunter von drei Kinderbüchern. CLAUDIA KLINGER, Gotha (Quelle: Türinger Allgemeine vom 25.10.2014) gearbeitet. Die Zusammenarbeit der beiden Forschungsinstitute wird durch das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung)-Programm zur Etablierung gemeinsamer deutsch-asiatischer Forschungsstrukturen gefördert, das seit 2009 läuft. Quelle: Sudasien, 3-4/2014 Foto: www.klima-wandel.com „Meine Welt“ ist im Internet Die alten Ausgaben von MEINE WELT (seit ihrer Gründung im Jahr 1984) sind im Internet abrufbar und herunterzuladen. Unter http://caritas.erzbistum-koeln.de/ dicv-koeln/hilfe_beratung/migration_vielfalt/veroeffentlichungen/meine_welt MEINE WELT 2/2014 25 I U M W E LT I Wasser als Instrument himmlischer und irdischer Macht in Indien A. KHALIQ KAIFI Welche Rolle hat Wasser in der Entwicklung von menschlicher Geschichte gespielt? Dieser Frage geht Herr Dr. Kaifi im folgenden Beitrag nach. DIE REDAKTION Die ewige Rolle des Wassers als sakrale Macht und wesentlicher Bestimmungsfaktor zur Legitimierung der herrschaftlichen Despotie zeigt sich vor allem in der Geschichte des Lebens der Völker Afrikas und Asiens, hier insbesondere in Indien. Etwa drei Viertel der Erdoberfläche sind vom Wasser bedeckt. Es liegt daher nahe, sich unsere Welt als eine auf dem Wasser schwimmende Scheibe oder als einen aus dem Wasser herausragenden Erdhügel vorzustellen. 98,77 Prozent des Wassers auf der Erde sind in den Weltmeeren enthalten. Nur 1,23 Prozent verteilen sich auf das Eis der Polargebiete, auf die Hochgebirge, die Süßwasserseen, Flüsse, das Grundwasser und den Wasserdampf der Atmosphäre. Die verhältnismäßig geringen Süßwassermengen bilden die Grundlage des gesamten Lebens auf der Erde. Wasser ist der Klimafaktor, ein lebenswichtiger Kreislauf ohne Anfang und ohne Ende. Der menschliche und tierische Körper besteht zu 60 bis 70 Prozent aus Wasser, die Pflanzen haben einen Wasseranteil von gar über 90 Prozent. Die täglich vom erwachsenen Menschen aufgenommene und ausgeschiedene Wassermenge beträgt etwa 2,5 bis 4 Liter. Bei einem Wassermangel von 10 Prozent treten empfindliche Störungen ein, ein 20 prozentiger Wasserverlust führt bereits zum Tod. Kulturgeschichtlich hat das Wasser eine unermesslich faszinierende Rolle gespielt. Wo es Wasser gab, entwickelten sich die menschlichen Siedlungen, der Ackerbau, die Viehzucht und der Reichtum. Die uns 26 MEINE WELT 2/2014 bisher bekannten Hochkulturen, die Jahrtausende vor der christlichen Zeit liegen, sind am Euphrat,Tigris, Nil, Indus, Ganges, Hwangho und am Yangste entstanden. Auch die Ursprünge der ältesten deutschen Städten liegen an den Ufern von Rhein, Donau und Mosel. Karl der Große (747-814), Gründer des römischen Reiches deutscher Nation, ließ sich bei den Thermalquellen in Bad Aachen, was Urgermanisch „ahwo, Wasser“ heißt, nieder. Das Wasser ist, wie wir wissen, ein unverzichtbarer Bestandteil des menschlichen Daseins und des Universums. Die unfassbare Dimension der Ozeane, die unkalkulierbare Flutung, das Ausbleiben von Regen, die Austrocknung der Wasserquellen und damit verbundener Hunger und Tod haben auf die Menschen seit ihrer Entwicklung entscheidend eingewirkt. So ist verständlich, dass die Menschen das Wasser in seiner Gesamtheit als göttliche und auch diabolische Kraft ansehen. Dabei ist zu betonen, dass das Wasser seit der Urzeit im Hinduismus eine sehr bedeutende sakrale Rolle gespielt hat. Fast alle Flüsse Indiens werden von den Hindus als mütterliche Gottheiten betrachtet. Der Ganges wäscht die Sünden der Gläubigen ab, deren Asche oder Leichen seinem Wasser anvertraut werden. Der Fluss gewährt ihnen Wiedergeburt in einem Reich himmlischer Seligkeit. Auch die allergrößten Pilgerfeste der Welt, wie die Kumbh Mela, gleichbedeutend mit „Zum Krug des Unsterblichkeitsnektars“, finden am Ufer des Ganges statt. Fast alle hinduistischen Großtempel liegen in Bergen oder an Küsten und Flussufern wie in Gangotri, Haridwar, Rishikesh,Varanasi (Ganges), Mathura (Jamuna), Allahabad am Treffpunkt (Sangam) von Jamuna mit dem Ganges und mit dem mythologischen Fluss Saraswati, Maheshwar, Omkreshwar (Narmada), Puri, Konark, Mahabaleshwar, Mahabalipuram, Rameshwaram (Golf von Bengalen), Kap Komorin am indischen Ozean, um nur einige davon zu nennen. Die in Indien später entstandenen Reformreligionen wie Buddhismus und Sikhismus betrachten Flüsse auch als etwas Heiliges. Einige der heiligsten buddhistischen Tempel und Klöster liegen am Ganges oder an Lotusteichen wie u. a. in Bodh Gaya, Patliputra, Nalanda, Rajgirih (Bihar), Sarnath (Uttar Pradesh), etc. Auch die namhaften Orte und Gurdwaras der Sikhs befinden sich an Flüssen wie Takht Sri Patna Saheb am Ganges in Patna (Bihar), Takht Sri Hazur Saheb am Godaveri in Nanded (Maharashtra) und Takht Sri Keshgarh Saheb in Anandpur am Sutlej (West Punjab). Der wohl bekannteste ist der Goldene Tempel, Takht Sri Harmandir Saheb in Amritsar (Nektar-Stadt), welcher um einen Teich herum gebaut wurde, der der Sage nach aus Nektar (Amrit) und Gangeswasser besteht. Magische Kräfte von Wassergöttern Alle Völker der Welt glaubten an die magische Kräfte von Wassergöttern und Wassergeistern. Hierzu zählen die sumerischen Wassergottheiten „Enki“, babylonischen „Ea“, iranischen „Anahita“, keltischen „Manannan mac“, finnischen „Ahti“ und indischen „Asparas“. In Altägypten war der Nil sowohl Gottheit als auch heiliger Strom. Der ägyptische Sonnengott Re, dargestellt auf dem alten Tempel, vollzieht eine Reinigung, indem er im kosmischen Wasser untertaucht und in das Totenreich hinabsteigt. Die Flüsse werden in der Antike als männliche Gottheit betrachtet. Der bedeutendste griechische Flussgott war I U M W E LT I Acheloos mit langem fließenden Bart und Haar, der auf einem Vasenbild aus dem Wasser steigt. Zu Gottheiten von Römern zählten auch Meere und Flüsse. Zum Huldigen des Wassers bauten die Römer im 3. Jh. v. Chr. einen Tempel für den Aesculapius, den griechischen Gott für Medizin, auf der Isola Tiberina (Insel Tiber), Ort der antiken Mythologien, in Rom. Nach der Legende hören wir bei den nordeuropäischen Völkern insbesondere am Rhein im Nibelungenlied von den Gottheiten, Drachen, von Liebe, Heldentaten, verborgenen Schätzen und von der Nixe, die vom Felsen Loreley die Schiffer am Rhein mit ihrem Gesang anzog, oder von der männlichen Nixe in Dänemark und Schweden, die die Menschen durch seine dem Ruf eines Ertrinkenden ähnliche Stimme anlockt1. Die Gläubigen der monotheistischen Religionen von Judaismus, Christentum und Islam lehnen die Naturelemente wie Wasser als Gott ab, dennoch verehren sie das Wasser als eine der Manifestationen des Allmächtigen. Das Christentum bewahrt in seinem Glauben Wasser als Element der Reinheit und Reinigung. Im Alten Testament finden wir umfangreiche Vorschriften über das, was als rein und unrein gilt, sowie über die Riten des Reinwaschens von Sünden. Johannes der Täufer taufte die Gläubigen im Jordan. Das Untertauchen entsprach einem von der Sünde reinigenden Bad, also wie ein Ashnan (Bad) im Ganges bei Hindus. Darüber hinaus sind uns die feierliche Weihe des Taufwassers in der Osternacht, die Taufe von Kindern, das Weihen des Altars, der Glocken, von Personen und Objekten mit Weihwasser bekannt. Es ist üblich, dass der gläubige Christ beim Eintreten in die Kirche seine Finger in das Weihwasser taucht und sich bekreuzigt. Die Form des Taufbeckens ist überdies eine Halbkugel, die mit einem Wellenornament versehen ist – Symbol für den kosmischen Ozean. An Wallfahrtsorten sieht man immer wieder die Heilbrunnen, Wasser aus dem Jordan brachten Kreuzfahrer und bringen heute noch die Pilger mit2. Auch der Islam verehrt das Wasser als Symbol der Reinigung von Körper und Seele. In der Welt des Islam spielen die rituellen Waschungen bei der Geburt und beim Tod eine zentrale Rolle. Der Nimaz (Gebet) wird durch eine strikt vorgeschriebene Waschung (Wadu) vollzogen. Fast alle Grabstätten der Heiligen, der Sufis und Derwische liegen an Wasserquellen, die durch ihre Wundertaten das Wasser zum Sprudeln brachten. Das dortige Wasser wird von Gläubigen als heilig und Heilmittel angesehen. Das Wasser des Brunnens Zam Zam in Mekka wird von Pilgern als Heilmittel in ihre Heimat mitgebracht. Die islamische Erzählung bringt den Ursprung dieses Brunnens mit Abraham zusammen. Der Engel Gabriel soll ihn geöffnet haben, um Hagar und ihren Sohn Ismail zu retten, die vor Durst in der Wüste gestorben wären. Das Weihwasser als Heilmittel ist unter dem moslemischen Volk weltweit verbreitet. Millionen von Moslems im indischen Subkontinent lassen das mitgebrachte Wasser von den Predigern (Mullahs) insbesondere nach dem Freitagsgebet (Juma) weihen3. Im indischen Subkontinent wird die Wassertherapie zur Beruhigung und Anregung des Kreislaufs, Nervensystems und Stoffwechsels häufig verwendet (Ayurveda und Unanimedizin). Auch in der neuzeitlichen zentraleuropäischen Kultur sind Kurstätten zur Genesung von Krankheit noch immer mit der Heilungskraft des Wassers in Form der Bäderkultur verbunden. Hier sei erwähnt, dass die monotheistischen Religionen in Wüsten entstanden sind, wo das Wasser äußerst knapp war. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Flüsse und Bäche in die Paradiesvorstellung der Gläubigen dieser Religionen eingegangen sind. Der Symbolik vom Garten Eden mit seinen vier Strömen begegnen wir dort. Die sakrale Bedeutung des Wassers geht bei den monotheistischen Glaubensrichtungen eindeutig auf die noch älteren Religionen des Orients zurück. Wasser als Machtinstrument der Despotie Nach diesem knappen Abriss über Wasser als heilige Macht betrachten wir das Wasser als einen der Bestimmungsfaktoren zur Entwicklung der Despotie im Leben der Völker. Wie wir wissen, bauten schon die Herrscher an Euphrat, Tigris und Nil die Dämme und Kanäle zur Bewässerung der Landwirtschaft. Bereits um die Wende des 7. Jahrtausends v. Chr. ist uns in Assyrien das großangelegte Kanalsystem zur Wasserversorgung der Stadt Ninive bekannt. Die Induskultur Harappa und Mohenjedaro (zwischen 2300 und 1700 v. Chr.) verfügte über eine aufwändige Wasserleitung und ein Kanalsystem. Im römischen Reich wurden große Fortschritte bei der Wasserleitung und Wasserverteilung gemacht. Mit dem Bau von Bewässerungsanlagen und der Wasserzuteilung erreichten die Herrscher die absolute Kontrolle über ihre Untertanen. Dem Mauryakönig (350-283 v. Chr.) empfahl sein Kanzler Kautilya (350283 v. Chr.) in dessen Buch Arthasastra (Staatslehrbuch), das künstlich bewässerte Land um den dritten oder den vierten Teil des Ertrages zu besteuern und den Schuldner hart zu bestrafen.4 Die chinesische Bewässerungsgeschichte erzählt in vielen Beispielen, dass Wasser als Mittel zur Verknechtung des Volkes diente. Das Hauptgebiet der chinesischen Agrikultur liegt im Flussbecken des Hoangho (Gelber Fluss). In dieser nordöstlichen Region gibt es geringe Niederschläge, aber genügend Löß, eine Art kalkhaltiges Düngemittel, das zusammen mit künstlicher Bewässerung sehr geeignet ist, den Ackerbau zu fördern. So ließ dort in Altchina Kaiser Yu der Große vor 2000 Jahren v. Chr. Bewässerungsanlagen mit Millionen von Fronarbeitern bauen, deren Ausweitung noch im 7. Jahrhundert n. Chr. von Kaiser Yang Ti mit einer ähnlichen Menschenmenge fortgesetzt wurde.5 Der Aufbau der Bewässerungsanlagen, die Säuberung dieser von Schlamm und Schlick, die Reparatur und Wartung, die Wasserspeicherung für regenarme Zeiten, die Zuteilung von Wasser an die Bevölkerung, Wasser- und Ertragsbesteuerung konnte nur mit Hilfe eines zentralistischen Staatsapparates bewältigt werden. Dadurch erzielten diese Staaten ihre Haupteinnahmen. So ist es nicht verwunderlich, dass neue Eroberer erst die Wasseranlagen besetzten und zerstörten, um die Kapitulation zu erzwingen. Von Ägypten bis China sind noch Ruinen von MEINE WELT 2/2014 27 I U M W E LT I solchen Bewässerungsanlagen zu sehen.6. Karl Marx, der sich ausführlich mit der asiatischen Produktionsweise auseinandersetzte, sah das Entstehen der staatlichen Bewässerung der Landwirtschaft als einen der entscheidenden Faktoren zur Entwicklung der Despotie in Asien und Afrika. Er begründete dies damit, dass „klimatische und territoriale Verhältnisse... künstliche Berieselung durch Kanäle und Wasserwerke die Grundlage der orientalischen Wirtschaft“ bedingten... und eine zentralisierende Staatsgewalt erforderlich“ machten.7 Karl August Wittfogel leitet daraus den Ursprung der orientalischen Despotie in ihrem „hydraulisch agrarwirtschaftlichen Charakter“ ab.8 Es wird vielfach die Meinung vertreten, dass dadurch der Orient eine andere wirtschaftspolitische Entwicklung genommen hat als der Okzident. Die westliche Gesellschaft entwickelte sich von der bäuerlichen zum Feudalismus römischer Prägung mit Eigentumsrecht. Daraus ergab sich eine Adels- und Kaufmannsschicht, freie Zünf- te, Handelsstädte mit Bürgertum. Diese Klasse legte den Grundstein zur kapitalistischen Entwicklung, zu industriellen, wissenschaftlichen, geistigen Revolutionen und zur individuellen Freiheit und zum Säkularismus. Dagegen blieb der Orient weitgehend auf der Stufe der Stammesgesellschaft, die auf archaischen Strukturen und absoluten weltlichen und religiösen Herrschern basiert.9 Es ist eine Tatsache, dass die Herrscher Asiens und Afrikas nach ihrer Unabhängigkeit zur Wiederstellung ihrer alten despotischen Strukturen den Bau von Großprojekten wie Staudämmen förderten. Die damit entstandenen Folgen für Mensch und Natur sind uns hinlänglich bekannt. Allein in Indien sind nach der Unabhängigkeit 1947 über 1.500 große Staudämme errichtet worden und demzufolge wurden über 15 Millionen Menschen zwangsweise vertrieben und umgesiedelt. Einer dieser Dämme, Narmada, ist durch die Bewegung Narmada Bachao (Rettet Narmada) unter der engagierten Führung von Medha Patkar und der Schriftstellerin Arund- INDISCHE WEISHEITEN „Der Schlüssel zu einer guten Beziehung zum Anderen ist, ihm weder dein eigenes Ego aufzuzwingen, noch das Ego des Anderen abzulehnen“ S W A M I P R A J N A N PA D (Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag 2014) 28 MEINE WELT 2/2014 hati Roy auch in Deutschland bekannt geworden. Zur Realisierung des Projekts sind bisher aus den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Maharashtra und Gujarat 250.000 Personen aus über 245 Dörfern vertrieben worden, davon allein 120.000 Adivasi, Ureinwohner, die die schwächste und die ärmste Bevölkerung Indiens darstellen.10 Die in letzter Zeit gebauten und geplanten Staudämme dienen auch zur wasserwirtschaftlichen Erpressung der Anrainerstaaten wie Irak, Syrien, Bangladesh und Indien durch den Bau der Ilisu und Izre Dämme an Euphrat und Tigris in der Türkei, des Farakka Damms im indischen Teil des Ganges und des Yarlang Tsampo Damms von China in Tibet; in Indien heißt der betroffene Fluss Brahmaputra. Arundhati Roy vergleicht die Staudämme mit Atomwaffen. Beide seien nach ihrer Auffassung Massenwaffen, mit denen der Staat die Kontrolle über die Bevölkerung aufrechterhalten will.11 Unsere Gegenwart ist ein Spiegelbild der Vergangenheit, das sich in die Zukunft fortsetzen wird. So wird das Wasser ein Instrument himmlischer und irdischer Macht bleiben. j Literatur: 1. Germanische Altertumskunde. Berlin 2000 2. Die Taufe. Hrsg. Christian Lange. Darmstadt 2008 3. Nabavi, Mir-Hossein. Hygiene und Medizin im Koran. Stuttgart 1967 4. Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthacastra des Kautilya. Leipzig 1926. S. 372-373 5. Guter, Josef. Lexikon zur Geschichte Chinas. Wiesbaden 2004 6. Kaifi. A. Khaliq. Wasser als Bestimmungsfaktor der sakralen Macht und Despotie im Leben der Völker. In: Rundbrief. Jg. 7 (2). Göttingen. S. 25-28 7. Karl Marx . Die britische Herrschaft in Indien. In: Marx Engels Werke. Bd. 9 (1960). Berlin. S. 218 8. Wittfogel, Karl August. Die orientalische Despotie. Köln 1962 9. Misra. B. B. The Indian Middle Classes. London 1961 10.Dietrich, Christopher. Widerstand gegen das Narmada Projekt. In: Geographische Rundschau. 56 (12). Hannover 2004. S. 10-15 11.Roy, Arundhati. Das Ende der Illusion. Bremen 1999 Kalpana. Bild aus dem Film I GESELLSCHAFT I Gisela-Bonn-Preis 2014 geht an Rainer Hörig Der alljährlich von der indischen Regierung in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Indischen Gesellschaft vergebene Gisela-Bonn Preis geht in diesem Jahr an den in Indien lebenden deutschen Journalisten Rainer Hörig. Der Preis wurde im Rahmen der Jahresversammlung der Deutsch-Indischen Gesellschaft und des 25-jähriges Jubiläumsfestes der DIG-Zweigegesellschaft Aachen am Freitag, dem 26.09.2014 im Ratssaal des Aachener Rathauses von Herrn Hans-Joachim Kiderlen, Vorsitzender der Deutsch-Indischen Gesellschaft, verliehen. Die Laudatio hielt Herr Tobias Grote-Beverborg, langjähriger Journalist und Mitarbeiter der Deutschen Welle, Bonn. Nachfolgend drucken wir die Laudatio von Herrn Tobias Grote-Beverborg ab. DIE REDAKTION Laudatio: Rainer Hörig „GiselaBonn-Preis 2014“ Sehr geehrter Herr Vorsitzender Dr. Kiderlen, sehr geehrte Gäste, liebe Freunde, es ist mir eine große Freude und Ehre, für den diesjährigen Gisela-Bonn Preisträger, Rainer Hörig, die Laudatio halten zu dürfen. Persönlich kenne ich Rainer Hörig durch meine Tätigkeit für die Deutsche Welle, den deutschen Auslandsrundfunk. Anfang 2000 war ich Verantwortlicher Redakteur für den Weltspiegel-Asien. Rainer Hörig gehörte zu unserem Stab von festen Auslands-Korrespondenten. Regelmäßig lieferte er aktuelle Beiträge, Reportagen und Kolumnen für unsere sehr beliebte und erfolgreiche Sendung. Besonders beeindruckte mich seine umfassende und fundierte Kenntnis der politischen und sozialen Verhältnisse des indischen Subkontinents. An dieser ließ Der Preisträger Rainer Hörig mit Hans-Joachim Kiderlen, der Vorsitzende der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Foto von Roland Krause er das Publikum – mitunter schonungslos – teilhaben. Jedem Hörer – und Leser – seiner Beiträge wurde sofort klar, hier spricht und schreibt jemand, der Indien aus eigener Anschauung und persönlicher Erfahrung kennt und nicht – wie leider so häufig – aus der bequemen Position eines Schreibtischs im fernen Deutschland und allein aus Agenturberichten. Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass seine Arbeit durch die Verleihung des Gisela-Bonn-Preises eine weitere, öffentliche Würdigung erhält. Zu einer Laudatio gehört natürlich auch, einige Worte zur Vita des Preisträgers zu sagen: Geboren 1956 in Bonn am Rhein wurde Rainer Hörig, durch den leider frühen Tod seines Vaters bedingt, zu großer Eigenständigkeit erzogen. Sein Abitur machte er in einem evangelischen Internat in Gütersloh, auf das ihn seine Mutter während seiner rebellischen Jugend schickte. Es folgte das Studium der Publizistik, Ethnologie und Theaterwissenschaft an der Freien Uni- versität Berlin, welches er 1982 mit dem Magister abschloss. Diesem schloss sich ein zweisemestriges Aufbaustudium der Indologie an. Bereits während seines Studiums begab er sich auf ausgedehnte Reisen, die ihn sowohl nach Südamerika und Nordafrika als auch nach Asien führten. Dort wurde offensichtlich die Saat für seine lebenslange Begeisterung für den indischen Subkontinent geweckt. Und auch die tiefe Faszination für die historischen Figuren Buddha und Gandhi, die ihm bis heute eine andauernde Quelle der Inspiration sind. Mitte der Achtziger Jahre (1984) erhielt Rainer Hörig Gelegenheit durch ein Stipendium der der damaligen „CarlDuisberg-Gesellschaft“ (heute „inwent“), drei Monate lang in Südindien über die Situation tamilischer Flüchtlinge aus Sri Lanka zu forschen und die Ergebnisse zu publizieren. Damit wurde die Saat für seine inzwischen schon 30 Jahre lang währende Berufung gelegt: Indien war damals ein Land für Aussteiger und Spinner. Die deutschen Medien MEINE WELT 2/2014 29 I GESELLSCHAFT I reproduzierten stets dieselben Klischees von heiligen Kühen, ausgeflippten Gurus und bettelarmer Not. Doch dieses Bild entsprach ganz und gar nicht Rainer Hörigs Wahrnehmung, und nach seiner Auffassung bedurfte es dringend einer Korrektur. Und so sollte Rainer Hörig seine Lebensaufgabe als Journalist finden! Neben seiner Berufung aber fand Rainer Hörig noch etwas in Indien, nämlich die große Liebe: Ende der Achtziger (1988), während eines Aufenthaltes am Goethe-Intitut in Pune, im Bundesstaat Maharashtra, lernte er die südindische Deutschlehrerin Rajashree Tirumalai kennen, die dort beschäftigt war. 1989 heirateten die beiden und Rainer Hörig wurde in Pune sesshaft. 1992 wurde Tochter Vanessa geboren. Seitdem arbeitet Rainer Hörig von Pune aus als freier Korrespondent für deutschsprachige und indische Medien. Hörigs Artikel erscheinen regelmäßig in der Frankfurter Rundschau, Die Presse, die tageszeitung (taz), dem General-Anzeiger und Le Monde, wie auch in der Times of India und weiteren Zeitungen. Radiohörer kennen Beiträge von und mit Rainer Hörig u.a. aus dem Deutschlandfunk, dem Westdeutschen und Norddeutschen Rundfunk sowie der Deutschen Welle. In seiner langjährigen Arbeit beschäftigte sich Rainer Hörig mit einer großen Bandbreite von Indienthemen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Umweltthemen wie beispielsweise das umstrittene NarmadaStaudammprojekt. Für seine engagierte Berichterstattung über Umweltzerstörung und Vertreibung am Narmada-Fluss erhielt Rainer Hörig 1992 den vom Bundesminister für Zusammenarbeit und Entwicklung ausgeschriebenen ‚Medienpreis Entwicklungspolitik in der Kategorie Hörfunk‘. Leider führte diese Auszeichnung jedoch für Rainer Hörig zu einem einjährigen Landesverweis aus Indien. Der Landesverweis war schmerzhaft, bedeutete dieser doch Trennung von seiner indischen Familie und große Ungewissheit über die weitere Zukunft in seinem ‚geIndu Varma. Bild aus dem Film liebten‘ Indien. 30 MEINE WELT 2/2014 Doch Rainer Hörig ließ sich auch nach Ende des Landverweises nicht einschüchtern und widmet sich weiterhin unerschrocken brisanten Themen wie etwa Menschenrechte und die Situation der indischen Ureinwohner, die noch immer einen großen Teil seiner journalistischen Arbeit ausmachen. Auch wenn er sich damit – bis heute – nicht immer nur Freunde schafft. Hörigs hoher journalistischer Anspruch führt ihn auf ausgedehnte Reisen quer durch den Subkontinent. In seinen Reportagen und Features lässt er nicht nur Betroffene und Akteure zu Wort kommen, sondern räumt auch der Gegenseite breiten Raum ein. Seine ausgeglichene Berichterstattung wird nicht nur von den bereits erwähnten Publikationen und Sendern gewürdigt, sondern auch von anerkannten Magazinen wie GEO, EPD-Entwicklungspolitik, Südasien, und den bekannten SympathieMagazinen, die er seit 2009 als Redakteur verantwortet. Seine umfassende Indiensicht komplettieren seine Arbeiten über indische Religionen und Politik, sein Reisejournalismus sowie zahlreiche Buchveröffentlichungen. Seine dokumentarischen Fotografien runden sein Portfolio ab. Der Deutsch-Indischen Gesellschaft ist Rainer Hörig bestens durch seine regelmäßigen Vortragsreihen bekannt, wie etwa in diesem Jahr (2014) zu den „Wahlen in Indien“. Wie Sie sehen, ist die Anerkennung, die Rainer Hörig nun durch die Verleihung des diesjährigen Gisela-Bonn Preises erfährt, mehr als gerechtfertigt. Der Indische Kulturrat – Indian Council for Cultural Relations – New Delhi – zeichnet mit dieser Entscheidung Rainer Hörigs herausragende Leistungen im Bereich Journalismus und Fotojournalismus aus. Der Preis würdigt ausdrücklich seine Berichterstattung, die sich vor allem mit alternativen Themen wie Ökologie, Nachhaltigkeit und Menschenrechten beschäftigt. Rainer Hörig hat durch sein journalistisches Werk, seiner Arbeit als Autor und Fotograf und seinem Engagement für soziale und ökologische Themen, Außer- ordentliches für das Verständnis Indiens in Deutschland beigetragen. Sein ganzes Leben hat er Indien und der Beschreibung der indischen Wirklichkeit in all ihren Facetten gewidmet. Somit möchte ich ihm aus ganzem Herzen, als Journalistenkollege und Mitglied der Deutsch-Indischen Gesellschaft, zu der heutigen Auszeichnung gratulieren. j „Herzenswarme Gastfreundschaft“ Der Preisträger Rainer Hörig schreibt in seinem Beitrag „Atem der Geschichte“ in der neusten Ausgabe des Sympathie Magazins „Indien“ (2014): „Mit der Zeit gelingt es mir, meine europäische Zurückhaltung im menschlichen Miteinander abzulegen. Hier, im Süden Indiens, sprechen sich alle mit Vornamen an, ganz gleich, ob sie miteinander verwandt sind oder sich erst seit wenigen Minuten kennen. Ein Händler lädt mich zu einer Tasse Tee ein, weil er mir ein Souvenir verkaufen will. Ein Rikschafahrer fragt ohne Umschweife meine Familienverhältnisse ab und lässt mich wissen, er lebe mit Frau und fünf Kindern in einem winzigen Ziegelhaus am Rande der Großstadt Cochin. Ich werde mich auch wieder daran gewöhnen, dass Zeit in Indien ein dehnbarer Begriff ist und Zuspätkommen keineswegs Ärger verursacht. Liegt es vielleicht am Glauben an die Wiedergeburt der menschlichen Seele, dass Menschen mit ihrer Zeit so locker umgehen? Oder ist es das feuchte Klima, das rasche Bewegung und körperliche Anstrengung mit heftigen Schweißausbrüchen bestraft? Ich lerne also wieder eine langsamere Gangart, übe mich in Geduld und Toleranz. So kann ich mich öffnen für die herzenswarme Gastfreundschaft, die die Einheimischen Besuchern aus Europa auch heute noch entgegenbringen.“ I GEDICHT I In meinen Gesängen gibt es Salz O . N . V. K U R U P In meinen Gesängen gibt es Meeressalz, Salz aus den Tränen der Erde, das weiß ich. Steigt nicht aus meinen Gesängen der Geruch von Lagunen mit vermodernden Kokosschalen oder der Geruch verfaulender Menschengeburten? in meinen Gesängen verbreiten sich als heißer Wind die brennend-schmelzenden Herzenswehen meiner Schwestern wie Feuerfunken entflammende Flüche, die aus den erlittenen Qualen des Frauengeschlechts von Geburt zu Geburt hervorbrechen. In meinen Gesängen ist da Blut, das aus dem Stumpf des gefällten Baumes Topfen für Tropfen heraussickert. Von den giftigen Früchten ernährt, verstummte Nachtigallen gibt es in meinen Gesängen. Die Leiche des verstorbenen Flusses wird Stück für Stück beerdigt – ebenso die Trauer der Erde, der Gebärerin. wenn die Kinder sich den Geschmack der Muttermilch und der heiligen Mutterworte nicht einverleiben wie das ungelöste Salz in der Reissuppe, wenn sie wie Fremde vor die eigene Mutter treten, der tiefe Schmerz, den dann das Mutterherz empfindet, er geht in meine Gesänge ein! Das Schluchzen des Kindes vor der sterbenden Mutter Erde, das sich noch nach ihrem Antlitz sehnt, der rauchende Zorn der Menschen, die alles im Leben verloren haben, sie alle sind in meinen Gesängen! (Aus „Ein Tropfen Licht“, Gedichte von O. N. V. Kurup. Herausgegeben und aus dem Malayalam ins Deutsche übersetzt von Annakutty Valiamangalam K. Findeis. Draupadi Verlag 2012) O. N. V. – jetzt auf Spanisch In der globalen Welt voller Spannungen und Konflikte bewähren sich die Dichter, Literaten und Übersetzer als Brückenbauer über Grenzen hinweg. Gerade sind drei Gedichte von O. N. V. Kurup in einer spanischen Anthologie internationaler Dichtung erschienen. Die deutsche Übersetzung der Malayalam-Gedichte von O. N. V. aus dem Band „Ein Tropfen Licht“ (Draupadi Verlag, 2012) hat den spanischen Dichter Santiago Aguaded Landero inspiriert, die drei „Feuer“-Gedichte (Feuer I, Feuer II, Ave Phoenix) in spanischer Übertragung in die Gedichtsammlung „Alquimia del Fuego“ aufzunehmen. Details für Interessenten: Fuego I, Fuego II, Ave Féninx, übersetzt aus dem Deut- schen ins Spanische von Sarah Schnabel und Heike van den Bergh, S. 61-62; S. 252-253, in: Sarah Schnabel, Santiago Landero, Jack Landes, Alquimia del Fuego. Antologiá heterogénea de poesía, prosa poética y microrrelato. Amargord ediciones, Madrid 2014. A N N A K U T T Y V. K . F I N D E I S MEINE WELT 2/2014 31 I D I E W E LT V O N M O R G E N I Coalgate – der oberste indische Gerichtshof hat entschieden GEORGY KOOT TUMMEL „... Gemeinwohl und öffentliches Interesse haben stark gelitten. Die Vergabe von Kohleabbaulizenzen auf der Basis der Empfehlungen der 36 Sitzungen der Auswahlkommission ist folglich illegal.“ – Ein vernichtend eindeutiges Urteil des Supreme Court of India (Oberster Indischer Gerichtshof) zu einem Umstand, der ein gutes Jahrzehnt gängige Praxis der indischen Regierung war. Einen Monat später, am 24.09.2014, folgt durch dasselbe Gericht der konsequente nächste Schritt: 214 von insgesamt 218 Kohleabbaulizenzen, die Indien seit 1993 vergeben hat, werden schlichtweg für nichtig erklärt. Wenn man bedenkt, dass Indiens Stromproduktion zu etwa 70% aus Kohlekraftwerken stammt und ca. 80% der dafür benötigten Kohle heimisch abgebaut wird, dann erschließt sich schnell die Tragweite der Entscheidung. Zum Hintergrund: 1992 begann die indische Regierung im Zuge der Liberalisierungswelle auch die Zugänge zu Kohleminen an staatliche und private Unternehmen zu veräußern - ein weltweit gängiger Vorgang. Der Ablauf, so das hohe Gericht, entsprach jedoch allem anderen als internationalen Standards. Der Controller and Auditor General (CAG) of India, eine Behörde ähnlich dem deutschen Bundesrechnungshof, bemängelte schon seit mehreren Jahren, dass die Vergabe der Minen nicht in einem wettbewerblichen Auktionsverfahren, sondern durch eine Vergabekommission erfolgte. Diese Kommission war frei in der Festlegung des Lizenzpreises und der Wahl des Lizenzempfängers. Tatsächlich lagen die dadurch erzielten Preise deutlich unterhalb der realisierbaren Marktpreise der Minen. Dies 32 MEINE WELT 2/2014 hatte zur Folge, dass dem indischen Staat nach Schätzungen des CAG insgesamt 170 Mrd. US-Dollar an Einnahmen entgingen – ein Skandal, der seinesgleichen sucht und für den indische Medien in Anlehnung an den amerikanischen Watergate-Skandal den Begriff Coalgate geschaffen haben. Intransparent und willkürlich Über die Wahl des passenden Verfahrens lässt sich streiten, und so trifft der Supreme Court auch kein Urteil über die Richtigkeit der Wahl des Vergabeverfahrens. Allerdings prangert er unmissverständlich die Umsetzung des Verfahrens durch die Das Urteil weist die Politik in ihre Schranken und fordert unmissverständlich die Einhaltung von rechtstaatlichen Regeln. Auswahlkommission als intransparent und willkürlich an. Zudem kommt er zum Schluss, dass sich die Zentralregierung durch die eigenmächtige Lizenzvergabe in den Kompetenzbereich der Bundesländer eingemischt und bestehende Gesetze verletzt hat. Auch wenn bis heute nur 40 der 214 betroffenen Minen den Betrieb aufgenommen haben, kann das Urteil Indien in eine Energiekrise führen, denn vielen Kraftwerken stehen schon heute lediglich Kohlevorräte von wenigen Tagen zur Verfügung. Zudem sind die Kapazitä- ten an den indischen Kohleimporthäfen bereits weitestgehend ausgelastet. Aus diesem Grund erlaubt das Gericht für die bereits in Betrieb genommenen Minen eine Übergangsfrist von sechs Monaten, ohne dass neue Lizenzen erworben werden müssen. Allerdings kommt diese Übergangsregelung nicht ohne zusätzliche Kosten für die Minenbetreiber. Jede metrische Tonne, die aus diesen Minen stammt, wird auch rückwirkend mit einer Strafzahlung in Höhe von 295 Rupien belegt. Es gibt nun zwei Lesearten des Urteils. Die einen sehen darin erneut eine Bestätigung dafür, wie schlecht es im Land um die Investitionssicherheit steht und dass Indien wieder einmal als unberechenbarer Partner auftritt. Dagegen spricht jedoch, dass es in Folge des Urteils keine Verwerfungen an den Aktienmärkten gab und die indische Börse das Urteil weitestgehend unbeeindruckt verarbeitet hat. Denn der langfristige positive Effekt des Urteils könnte viel schwerer wiegen. Das Urteil weist die Politik in ihre Schranken und fordert unmissverständlich die Einhaltung von rechtstaatlichen Regeln. Dass das Land in der Lage ist, einen Skandal dieser Größe offenzulegen, kann ein erster Schritt dahin sein, das belastete Vertrauen der Bevölkerung und der Investoren in wichtige staatliche Institutionen wieder herzustellen. Wenn die neue Regierung intelligent ist, greift sie diesen Ball auf und implementiert nun ein transparentes Vergabeverfahren, das auch die umweltund gesellschaftspolitischen Aspekte des Minenbetriebs berücksichtigt. j I BERICHT I Kölner Indienwoche 2014 DR. JULIUS REUBKE Schon der Besucherstrom zum Eröffnungsabend der 6. Kölner Indienwoche überzeugte die Veranstalter davon, dass diese Einrichtung nun ein etabliertes und beliebtes Ereignis für sehr viele Interessierte geworden ist. 650 Besucher folgten dem zügig ablaufenden Programm von Musik und Tanz, Grußworten und Reden der Bürgermeisterin, des Generalkonsuls der Republik Indien und Vertretern der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Im Foyer herrschte fröhliches Gedränge und reger Austausch an den Ständen. Die indischen Snacks vom Restaurant „Ginti“ und die von Kerala Samajam Mitgliedern zubereiteten Speisen fanden großen Anklang und reißenden Absatz. Die Feststimmung der Eröffnung war der richtige Auftakt für ein so abwechslungsreiches und vielseitiges Programm, bei dem Indien von allen, nicht nur den unglaublich schönen („Incredible India“) Seiten erlebt werden konnte, sodass es nicht möglich ist, auf alle Veranstaltungen, die dies verdienten, ausführlich einzugehen. Der Samstag brachte einen weiteren faszinierenden Beitrag zur Religionsvielfalt Indiens. Waren wir in der fünften Indienwoche bei der Kölner Sikh-Gemeinde zu Gast, so gab es dieses Jahr einen Besuch im Afghanischen Hindu Tempel nach einem brillanten und fundierten Einführungsvortrag von Frau Prof. Dr. Niklas. Ein ganz besonderes Ereignis war die Premiere des Films „Translated Lives“ in Gegenwart der Regisseurin Shiny Jacob Benjamin und vieler Akteure dieses absolut bewegenden Dokumentarfilms über ein sehr wesentliches, aber bisher wenig beachtetes Kapitel Köln-RheinländischBundesdeutscher Geschichte. Was wurde aus den 5000 ganz jungen Frauen, die in den späten 60iger Jahren nach Deutschland geholt wurden, um den sich damals schon abzeichnenden Pflegenotstand in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu mindern? 4 000 etwa blieben in Deutschland, sie heirateten Deutsche oder Landsleute, die zwar zum Zwecke der Heirat einreisen, 3 bis 4 Jahre lang aber nicht arbeiten durften. Was für Schicksale gab es in dieser inzwischen auf 14 000 Menschen angewachsenen Menschengruppe, die in erster, zweiter und dritter Generation hier leben und arbeiten und Mitbürger geworden sind und doch noch die alten Kräfte der indischen Wurzeln spüren? Die Podiumsdiskussion „Goethe, Gandhi und Gewürze“ war eine perfekte Ergänzung zu diesem Filmereignis. Junge Künstler und Wissenschaftler mit indischen Wurzeln, die sich selbst zur „2. Generation“ rechnen, debattierten über das Indienbild in Deutschland und dessen Wandel. Das Bild von Indien in der Öffentlichkeit färbt auf ihr Leben ab, während sie selbst aktiv ihre Farben mit in dieses Bild zu bringen versuchen. Diese beiden Veranstaltungen wurden als hautnahe und konkrete Beiträge zum Thema Integration durch Teilnehmerzahl und Applaus lebhaft wahrgenommen und geschätzt. Wie vollkommen in die globale Welt integriert, ohne die Wurzeln zu verleugnen, indische Kunst heute sein kann, zeigte die Ausstellungseröffnung der „Flächengedichte“ von Dr. Niteen Gupte am Samstag. Diese Veranstaltung, eröffnet in der Kunsthalle des Bürgerhauses Lindenthal durch Bezirksbürgermeisterin Blömer-Frerker, war ein neues Ereignis in dieser Indienwoche und führte auf eine neue, poetische Ebene des Dialogs der Kulturen. Zu einem Dialog der Kulturen regte auch ein Podiumsgespräch zur Frage nach dem Leben der indischen Landbevölkerung zwischen Janine Langer von der bereits seit über fünfzig Jahren in Indien aktiven Andheri Hilfe Bonn e.V. und Julius Reubke vom vergleichsweise jungen Verein Freunde von Ekta Parishad e.V. an. Wer verfügt, wer besitzt, wer nutzt den Erdboden, von dem wir Menschen, sowohl die Armen Indiens wie auch wir Reichen, überall auf der Welt leben? Er wird immer stärker in verschiedenster Weise technisch und finanz-spekulativ genutzt und auch im „internationalen Jahr der kleinbäuerlichen Landwirtschaft“ können sich Millionen von Menschen auf dem Land dennoch nicht ausreichend ernähren. „Bombay Diaries“ war ein andersartig erfreuliches, gut besuchtes Filmereignis dieser Woche. Zu sehen war ein indischer Erzählfilm mit Originalschauplätzen und ohne Studioshow-Aufnahmen. Dieser Film, dessen Geschichte nicht bedeutend sein will, war wie ein Tag in Mumbai. Man glaubte Indien zu riechen, so original waren die Schauplätze, das Gedränge, der Lärm. Indische Küche, ein Kochkurs, war sofort ausgebucht, indischer Tanz, ein Bollywood-Workshop und traditionelle indische Medizin, ein gut verständlicher und wissenschaftlich fundierter Vortrag MEINE WELT 2/2014 33 I RELIGION I über Ayurveda von Syal Kumar, der mit viel Unsinn zu diesem Thema aufräumte, wurden in diesem umfassenden Programm für viele begeisterte Hörer und Besucher geboten. Wenn es auch nicht möglich ist, alles zu würdigen, so muss doch unbedingt noch auf den ganz außergewöhnlichen Besuch von Dr. K. Veeramani von der Periyar Universität in Chennai eingegangen werden. Es war Frau Prof. Dr. Niklas gelungen, diesen lebhaften alten Herrn nach Köln einzuladen. Das Thema der Dravida-Kultur und der damit verbundenen politischen Kraft in Indien ist in Deutschland vollständig unterbelichtet. Hier gab es die Möglichkeit, sich aus erster Hand zu informieren. Alle, die diesen Abend besuchten, waren beeindruckt. Mehrfach wurde ein Dank an die Organisatoren und Sponsoren der Indienwoche ausgesprochen, und dem ist nur hinzuzufügen, dass sich in den Dank immer auch der Wunsch mischt, noch manche so informativ-unterhaltende Indienwoche in Köln zu erleben. j Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch … Seit mehr als drei Jahrzehnten wird in Deutschland über die Globalisierung diskutiert. Dabei geht es um Klima, um Wettbewerbsfähigkeit, Reisen und das Internet. Aber wenn jetzt die Amerikaner in Syrien bombardieren, wenn die Deutschen den Kurden Waffen liefern, dann ist das auch ein Gesicht der Globalisierung. Und wenn sich Europa zu einem Kontinent für Flüchtlinge umbaut, so wäre das eben auch nichts anderes als eine rationale, realpolitische und moderne Reaktion auf die Erfordernisse einer globalisierten Welt. Und, wie gesagt: Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. (Quelle: „Das neue Gesicht der Globalisierung“ von Bern Ulrich, DIE ZEIT von 26.9.2014) 34 MEINE WELT 2/2014 Der positive Umgang mit dem „Anderen“ Ergebnisse der Familiensynode in Rom Familiensynode in Rom 2014 Mit jedem Tag der Versammlung wurde deutlicher: Die freie Debatte, die schon Benedikt XVI. anstelle der sterilen Abfolge verlesener Stellungnahmen gewünscht hatte, kam endlich in Gang. Dazu trug auch die Bitte des Papstes bei, man solle nichts sagen, um ihm zu gefallen. Auch die Tatsache, dass zu Beginn jeder Sitzung erst eine Bibellesung und dann ein Referat von Laien stand, veränderte das Klima. Doch die wirklich spannende Wende ergab sich nicht durch die neue Geschäftsordnung. Auch nicht durch die Lockerheit eines Papstes, der Schokokekse verteilte. Sie bestand vielmehr in einem lautlos eingefädelten und offenbar gut vorbereiteten Kurswechsel. Drei Schlüsselbegriffe wurden eingeführt, die alles änderten: neue Sprache, seelsorgerische Begleitung und schrittweise Annäherung. Bei allen drei Begriffen geht es um den positiven Umgang mit dem „Anderen“. Es ist ein Ansatz, der tief im jesuitischen Denken verwurzelt ist. Historisch weithin bekannt ist der Versuch der Jesuitenmissionare im 17. und 18. Jahrhundert, die Menschen in China und Indien dadurch für die Kirche zu gewinnen, dass sie ihre Riten und Gebräuche duldeten und teilweise sogar adaptierten – anstatt sie als „heidnisch“ und „götzendienerisch“ abzukanzeln. Nach einem ähnlichen Schema soll nun das Vorgehen der Kirche in der Kultur der Postmoderne unter dem ersten Jesuitenpapst funktionieren: Anstatt etwa homosexuelle Partnerschaften als sündhaft oder naturrechtswidrig zu verurteilen, wird gefragt, ob nicht auch in ihnen (zumindest ansatzweise) Gutes verwirklicht wird. Das heißt nicht, sie mit der sakramentalen Ehe von Mann und Frau gleichzustellen – denn das würde die Lehre der Kirche im Kern berühren. Aber es bedeutet, das Positive in ihnen zu benennen. Der Papst ist Jesuit. Und dies ist eine jesuitische Wende. Er öffnet die Tür zur seelsorgerischen Begleitung der Menschen – trotz ihrer „irregulären“ Situation. Anstatt bei Geschiedenen, die eine zweite Zivilehe eingegangen sind, von einer „Situation des fortgesetzten Ehebruchs“ zu sprechen, schaut man erst auf das Gute in den neuen Beziehungen und auf die oft leidvollen Erfahrungen der Betroffenen. Man sucht Wege, wie die neue Partnerschaft schrittweise ins kirchliche Leben eingebunden werden kann – freilich ohne eine zweite Ehe im Vollsinn zu erlauben, weil auch dies den Kern der Lehre berühren würde. j LUDWIG RING-EIFEL, Chefredakteur, KNA (Auszug aus: „Jesuitische Wende“, DIE ZEIT, 23.10.2014) I RELIGION I Tribals zerrissen von Religion Jharkhand wurde am 15. November 2000 aus dem südlichen Teil des Bundesstaats Bihar gebildet. Nach der Volkszählung 2011 hat Jharkhand 32 966 238 Einwohner. Unter der Bevölkerung des Bundesstaats machen Angehörige der Stammesbevölkerung (Adivasi) mit 26,3% (Volkszählung 2001) eine bedeutende Minderheit aus. Nach der Volkszählung 2001 sind 68,6% der Einwohner Jharkhands Hindus, daneben gibt es Minderheiten von Muslimen (13,8%) und Christen (4,1%). Ein nicht unbeträchtlicher Anteil von 13,3% entfällt auf übrige Religionen (vor allem animistische Glaubensformen). Ein großer Teil der Stammesbevölkerung praktiziert Animismus oder ist zum Christentum konvertiert. In der Region operieren mehrere maoistische Untergrundorganisationen, die angeben, für die Rechte armer Bauern zu kämpfen. Die Tribals oder Stammesangehörigen von Jharkhand folgen Sarma Dharm, einer animistischen Naturreligion. Seit Jahrhunderten beten sie die Natur, vor allen Dingen die Bäume an. Mit der Ankunft von christlichen Missionaren in Indien wurden Tausende von Stammesangehörigen zum Christentum bekehrt. Im vorigen Jahrhundert führten die religiösen Konversionen zu Spannungen zwischen den neu-konvertierten und den im alten Glauben verbliebenen Tribals. Die Kluft zwischen christlichen und nichtchristlichen Tribals sah man bereits 1947-48 kommen. Eine Ursache für die Kluft könnten die ökonomischen Unterschiede sein. Ein andere könnte sein, dass die Religionsführer auf beiden Seiten die Parteien gegeneinander aufhetzen und unter den beiden Hass und Intoleranz schüren, um daraus eigenes Kapital zu schlagen. Jedenfalls steht eins fest: Die Kluft wird nur noch größer. Eine Marienstatue – dunkelhäutig, im traditionellen Sari und das Jesuskind in einer Schlinge tragend – führte in Jharkhand zu Massenprotesten von Anhängern der Stammesreligion. Das Central Sarna Committee unter der Führung von Herrn Ajay Tirkey fordert den Minderheitsreligionstatus für Sarna und rechnet dabei mit der Unterstützung von Narendra Modi, dem Führer der hindunationalistischen Partei BJP und vor kurzem gewählten neuen Premierminister Indiens. Herr Tirkey und sein Committee verlangt eine Reinigung der Konvertierten, bevor sie zurück in den Sarna Dharm aufgenommen werden. Bei der Rekonversionszeremonie werden der betroffenen Person die Füße gewaschen und ihr ein Tropfen Blut eines frisch geopferten Hahns zu trinken gegeben. Alle hindu-nationalistischen Parteien haben bis jetzt versucht, Christen und Missionare von dem Gebiet fern zu halten. Ihre Strategie: In „konvertierungsgefährdeten Gebieten“ die eigene Präsenz früh genug stärken. Die Sarnas führen die Rekonversion heute selber aus. Obwohl die Sarnas ihre Ahnen und Bäume anbeten, sind sie auch Hindus, denn auch die Hindus haben vor 2000 Jahren Bäume und die Natur angebetet, behaupten die Hindunationalisten. Trotz ihrer relativ geringeren Anzahl haben die Stammesangehörigen christlichen Glaubens besseren Zugang zur Arbeitswelt und zum höheren Bildungswesen. Dies ist die allgemeine Wahrnehmung. Die Spannungen zwischen Stammesangehörigen christlichen und animistischen Glaubens (Sarnas) spitzten sich zu, als der Telephore Kardinal Toppo, der örtliche Bischof, letztes Jahr die Statue einer „tribal“ Maria Mutter Gottes – dunkelhäutig, Sari tragend und das Jesuskind im Baby-Tragetuch tragend – enthüllte und der Öffentlichkeit vorstellte. Die nicht-christlichen Stammesangehörigen protestierten vehement und räumten dem Kardinal drei Monate Zeit ein, die Statue zu entfernen. Sie betrachteten die Aufrichtung der Statue nur als eine KonversionTaktik. Im August 2014 marschieren 3.000 Sarna Stammesangehörigen zu der Stelle, einer kleinen katholischen Kirche in den Vororten von Ranchi, und drohten, die Kirche und Statue niederzureißen. Daraufhin verhängte die Polizei ein Ausgehverbot auf dem gesamten Krisengebiet. Inzwischen war ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegen Sarna-Gruppierungen eingeleitet, die einige zum Protestantismus konvertierten Sarnas mit Mord bedrohten. Häuser wurden beschädigt. Vor sechs Jahren gab es eine Kontroverse um die von der Lutheran Church durchgeführten Bibelübersetzungen in die Sprache der Stämme, weil bestimmte Textstellen angeblich Aussagen enthielten, die gegen den animistischen Glauben gerichtet waren. Es ist insgesamt ein bedrohliches Szenario. Die einfachen und gutmütigen Stammesangehörigen werden durch skrupellose Politiker ausgenutzt und auf ihre Identität hin derart sensibiliert, dass in ihren Köpfen Hass, Feindseligkeit und Feindbilder entstehen. Säkularismus ist für Indien ein sehr teures Gut, das um jeden Preis geschützt werden soll. j Deutsche Bearbeitung: Thomas Chakkiath (Quelle: Indische Presseberichte) Meine Welt Die Zeitschrift „Meine Welt” erscheint drei Mal im Jahr. Eine Spende von mindestens 13,00 Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte bleiben dem Herausgeber vorbehalten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Die in den Beiträgen vertretenen Ansichten decken sich nicht immer mit der Auffassung der Redaktion. Die Redaktion behält sich redaktionelle Änderungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redak tion zu richten. Das nächste Heft von „Meine Welt” erscheint im Winter/Januar 2015 MEINE WELT 2/2014 35 I MYTHOLOGIE I Griechische und indische Epen der Antike: Geniale Kopfgeburten G O PA L K R I PA L A N I , B R A U N S C H W E I G Einführung Was macht epische Dichtungen so besonders? Es sind geniale Kopfgeburten kreativer Menschen mit außergewöhnlicher Imagination. Epen haben oft einen mythologischen oder historischen Hintergrund, können aber auch reine Fantasiewerke sein. Die Mythologien der alten Kulturvölker Indiens und Griechenlands enthalten Geschichten über Götter und Helden und deren Taten. Epen sind oft Dokumente der metaphysischen Vorstellungskraft dieser Völker. Die altgriechischen Epen Ilias und Odyssee sowie die altindischen Epen Mahabharata und Ramayana bilden ein hohes Kulturgut der Menschheit mit starker Symbolkraft. Es sind Wegweiser gewesen für Dichtkunst, Philosophie, klassische Literatur und sogar für die alltägliche Lebensführung. Die Wirkungsgeschichte in ihren jeweiligen kulturellen Welten ist beachtlich gewesen; denn sie haben als Inspirationsquellen gedient für zahlreiche Dramen, Romane, Theateraufführungen sowie auch für Werke der Bildenden Kunst. Umstritten sind für alle vier Epen die Identität ihrer Verfasser wie auch ihre Entstehungsgeschichte, nicht aber die historischen Wurzeln in ihrer jeweiligen Kultur. Alle vier Epen sind in Versform verfasst. Doch lange bevor sie niedergeschrieben wurden, haben Barden sie dem Adel sowie dem Volk als Gesang vorgetragen. Der Sieg des Guten über das Böse ist die zentrale moralische Aussage indischer Dichtungen. In Homers Illias wird die ideale Moral des Edlen als Ehrenkodex durch die zentrale Figur Achilleus ereignisreich vertreten. 36 MEINE WELT 2/2014 Indische Epen Mahabharata Dieses ist das bekannteste indische Heldenepos und zugleich ein religiös-philosophisches Werk. Verfasst in 18 Bänden mit ca. 100 000 Versen ist Mahabharata das längste bekannte Epos der Menschheit1. Es beschreibt die Heldentaten der zwei verwandten aber verfeindeten Königsfamilien, der Kauravas und der Pandavas in einem großen Krieg, der angeblich im 12. oder 13. Jh. v. Chr. geführt wurde. Das Schlachtfeld ist der Ort, wo die Helden beider Seiten ihren „edlen“ Pflichten, das Wahre und das Gute zu retten, nachkommen. Krishna2, nach dem Hindu Glauben eine Inkarnation des Gottes Vishnu, lenkt den Kriegswagen des Pandava Arjuna. Der Dialog zwischen den beiden ist unter dem Namen Bhagavad-Gita3 (der Gesang des Erhabenen) bekannt und ist eine philosophische Dichtung über die menschlichen Pflichten mit Schwerpunkt auf selbstlosem Dienst am Guten. Die zentrale Botschaft der Gita ist, dass man Gott durch liebevolle Hingabe (Bhakti) erreichen kann. Dieses Epos ist „eine riesige und zusammengewürfelte Sammlung vieler Geschichten aus mehreren Zeitperioden“4, obwohl es im Kern auch um bestimmte historische Ereignisse gehen soll. Eindrucksvoll exemplarisch werden Themen wie Leben, Tod, Wiedergeburt, Glück, Leid, Ehrenhaftigkeit, Triumph der Rechtschaffenheit über das Übel etc. abgehandelt, die für den rauen Alltag der Menschen Bedeutung haben. Der Verfasser, Vyasa, soll auch einer der Autoren der Veden gewesen sein. Die Entstehung des Mahabharata in Schriftform wird ungefähr auf das 11. Jh. v. Chr. datiert. Ramayana Dieses Epos besteht aus 24 000 Versen in sieben Büchern und 500 Gesängen. Es ist das zweite Epos der hinduistischen Literatur und behandelt die vierzehnjährige Verbannung des Prinzen Rama aus Ayodhya in die Einsamkeit des Waldes. Er wird begleitet von seiner Ehefrau Sita und seinem Bruder Lakshmana. Sita wird vom bösen, tyrannischen König Ravana entführt und gefangen gehalten. Rama besiegt Ravana und tötet ihn, befreit Sita sowie die geknechtete Bevölkerung. Nach 14 Jahren kehren sie nach Ayodhya zurück, wo Rama den Thron besteigt. Als Symbol der Tugend hat er schließlich gesiegt. Wie Krishna im Mahabharata so wird auch Rama in diesem Epos als Inkarnation Vishnus verehrt. Griechische Epen Ilias Die Ilias ist das ältere der beiden epischen Werke Homers5, verfasst sehr wahrscheinlich in 7. oder 8. Jh. v. Chr. mit 15 693 Versen in 24 Gesängen. Die Handlung beginnt im letzten Jahr des seit zehn Jahren andauernden Trojanischen Krieges, der in dem Epos die zentrale Rolle spielt. Im Mittelpunkt steht der Zorn des griechischen Helden Achilleus gegen seinen Heeresführer Agamemnon. Dieser hat Achilleus seine Sklavin und Mätresse Briseis geraubt, weil er seine eigene Sklavin ihrem Vater zurückgeben musste, um die zornigen Pfeile des Apollon abzuwenden. Achilles verlässt die Armee, woraufhin die Griechen gegen die Trojaner eine schwere Niederlage erleiden. Die Haupthandlung aus frühgeschichtlichen Mythen und zeitgenössischen Erzählungen ist mit etlichen Nebenhandlungen verwoben.Verschiedene Götter des Olymp I und die von ihnen favorisierten Helden beteiligen sich an den Kampfhandlungen. Odyssee Im Folgewerk, der Odyssee, ebenfalls aus 24 Büchern bestehend, steht die zehnjährige Irrfahrt des griechischen Helden Odysseus nach Ende des Trojanischen Krieges im Mittelpunkt. Erst nach 20 Jahren kehrt er zu seiner Gattin Penelope nach Ithaka heim. Dort findet er Haus und Hof von einer Horde von Freiern besetzt, die um die Gunst seiner Frau buhlen. Nicht nur durch seine körperliche Stärke, sondern auch mit intellektueller Raffinesse gelingt es ihm, blutige Rache an den Freiern zu nehmen und sein Recht zu behaupten. Moral der Geschichten In den Epen beider Völker mischen sich die Götter des Himmels mit den irdischen Helden und Königen, sorgen für Ordnung und bieten dem Bösen Einhalt. Die beiden indischen heroischen Geschichten heben insbesondere die hohe religiös-moralische Aufgabe des Menschen hervor. Sie ermahnen zum Festhalten an Wahrheit, Treue, selbstloser Aufopferung und Demut. Der Mensch soll Wissen, Handeln und Glauben miteinander in Einklang bringen und seine Taten ohne Rücksicht auf die Folgen vom Geist des Über-denDingen-Stehens leiten lassen. In den beiden homerischen Epen geht es um menschliche Regungen und Schwächen wie Trotzhaltung, Zorn und Rachedurst nach verletztem Ehrgefühl. Es wird dramatisch dargestellt, wie Maßlosigkeit und Hybris in den Untergang führen. Auch die teilnehmenden Götter werden mit allzu menschlichen Attributen wie Zwist, Eifersucht, Falschheit, Betrug, aber auch Mitleid, Hilfsbereitschaft und Verzeihen dargestellt. In der Summe sind die beiden Epen ziemlich grausame Darstellungen menschlicher Leidenschaften und sollten als Warnung dienen. Hervorzuheben ist die Lebendigkeit und Darstellungsnatürlichkeit beider Erzählungen. Es gibt Spekulationen, wonach die spirituelle Kultur Indiens, insbesondere ihre Symbole, Metaphern und Mythen sowie die mathematischen und astronomischen Codes aus den Hymnen der Rig-Veda die MYTHOLOGIE I griechische Götterwelt und Philosophie stark beeinflusst hätten6. So wird zum Beispiel angeführt, Dionysos sei aus Shiva hervorgegangen und Herkules aus Hare Krishna. Auch was bei den Griechen Logos ist, ist den Indern das vedische Ur-Wort Vac, die ewige Weltvernunft. Beweisen lassen sich derartige Spekulationen nach so viel tausend Jahren nicht. j Anmerkungen 1 James G. Lochte (2002), Die Illustrierte Enzyklopädie des Hinduismus, AM, Die Rosen Publishing Group, S. 399 2 Krishna ist nach der Hindu Mythologie die 8. Inkarnation des Gottes Vishnu. Im HinduGlauben ist das transzendente Brahma der Urgrund der Welt und ist unpersonifiziert (gleich zu setzen mit dem Griechischen Logos). Seine drei Funktionen sind das ständige Schaffen (Brahman), Begleiten (Vishnu) und Überwinden oder Zerstören (Shiva) der Welt. Mit der Zeit wurden aus diesen drei Funktionen drei personifizierte Gottheiten als emotionale Brücken zu den irdischen Gläubigen. Auch heißt es im Hindu-Glauben, dass 3 4 5 6 Vishnu, der Erhalter oder Begleiter der Welt, von Zeit zu Zeit sich als Mensch inkarniert, um gegen das Böse zu kämpfen und die Tugend zu verbreiten. Bhagavadgita, abgekürzt Gita, hat für Hindus den gleichen Rang wie die Bergpredigt für die Christen. In Krisenzeiten suchen Hindus Zuflucht zur GITA und finden dort Trost und Führung. Wilhelm von Humboldt schrieb: Die Bhagavad-Gita ist „der schönste, vielleicht der einzige wirklich philosophische Gesang, der in irgendeiner bekannten Sprache besteht“. Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens, Rütten & Loening 1959, S. 128-129 Homer gilt als der älteste bekannte EposVerfasser des Abendlands und als Vorbild vieler Epiker nach ihm. Er soll blind gewesen sein und als Rhapsode an ionischen Höfen aufgetreten sein, aber historisch ist dies nicht überprüfbar. Georg Feuerstein, Subhash Kak & David Frawley, In Search of the Cradle of Civilization: New Light on Ancient India, Quest Books, 1995 http://gopal-kripalani@beepworld.de INDISCHE WEISHEITEN „Vor allen anderen Überlegungen sollte man zuerst den Menschen im Blick haben“ M A H AT M A G A N D H I (Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag 2014) MEINE WELT 2/2014 37 I FILMREZENSION I Translated Lives Ein Film auf den Spuren einer besonderen Vergangenheit JANA KOSHY In den 60er Jahren kamen die ersten indischen Krankenschwestern nach Deutschland. Sie konnten die Sprache kaum und hatten niemals ein anderes Land als ihr Heimatland gesehen. 50 Jahre später erzählen uns die Protagonistinnen dieser Migration von ihren Erfahrungen, Freuden und Ängsten der damaligen Zeit und den heutigen Lebenswelten, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten. Der Film „Translated Lives – A Migration Revisited“ begleitet diese Krankenschwestern auf eine Reise in ihre Vergangenheit und lädt den Zuschauer ein, sich auf diese spannende Welt einzulassen. Dabei sind Trauer und Komik, Tragik und Freude stetige Begleiter. Eine Migration und ihre Facetten Die jungen Krankenschwestern hatten eine Reise ins Ungewisse gewagt. Sie waren eine Gruppe junger Frauen, die gerade ihre Heimat verlassen hatten, angekommen in einem Land, das ihnen völlig fremd war ebenso wie dessen Gepflogenheiten, und einer völlig anderen Umgebung, Flora und Fauna. Heute haben sie sich auf vielfältige Weise ein Leben in Deutschland aufgebaut. Sie haben Familien gegründet, haben sich oft häuslich niedergelassen und sind nun selbst Großeltern. Als sie kamen, schien es nur eine temporäre Migration zu sein: Das Ziel vieler war doch, sich nach dem Erarbeiten einer gewissen ökonomischen Sicherheit wieder zurück nach Kerala zu begeben. Doch im Laufe der Jahrzehnte festigte sich das Fundament dieser zweiten Heimat und die Distanz zur alten Heimat wuchs. Mit der Familiengründung verlagerte sich der Fokus noch stärker nach Deutschland und heute, mit dem Heranwachsen der zweiten Generation, die sich selbst doch oft in Deutschland verwurzelt sieht, wächst die Distanz zu Kerala. „Translated Lives“ berichtet von all dem, immer in einer sehr persönlichen Nähe zu den Protagonistinnen. Wir begleiten 38 MEINE WELT 2/2014 Chinnamma, Sosamma, Grace, Theresa, die mit der damaligen Migrationswelle in Deutschland ankamen, durch die Zeit ihrer Ankunft, ihren ersten Anlaufschwierigkeiten und bekommen Einblick in die vielfältigen Lebenswelten, die sie sich im Laufe der Jahrzehnte geschaffen haben. Dabei bleibt der Dokumentarfilm stets nahe an seinen Protagonistinnen, filmt in minutiöser Präzision ihre Erzählungen, folgt ihnen zu den Orten ihrer Erinnerung und ihres heutigen Lebens. Die Regisseurin Shiny Benjamin wählt dabei keine theatralischen Auftritte, keine übertriebenen Deutungen der Umgebung der Kamera oder sonstige Stilmittel. Der Fokus bleibt stets auf die erzählenden Frauen und auf ihre Kontexte gerichtet. Das macht diesen Film so einfach und so bewegend zugleich. Der Betrachter wird so Teil von Freude und Leid der Protagonistinnen, bleibt stets nah an ihrer Gestik und Mimik, lacht mit ihnen und weint mit ihnen. Die Protagonistinnen erzählen von dem Kummer, den es ihnen bereitet hat, die Eltern, Großeltern und Geschwister zurückzulassen, ohne zu wissen, wann man sie wiedersehen würde; sie erzählen von ihren ersten Momenten der Irritation, von ihrer Ankunft im tiefsten Winter in einem schneebedeckten Deutschland und in eine Welt ohne „Blättern an den Bäumen“. Von den ersten Erfahrungen in ihrem Beruf als Krankenschwester, den Schwierigkeiten und Konflikten. Sie trugen viel Verantwortung, diese jungen Frauen aus Kerala, da viele von ihnen ihre Familien in Kerala unterstützen mussten. Später kamen Verantwortungen in der neu gegründeten eigenen Familie hinzu. Familie, Kinder, Beruf, die stetige Aushandlung eines Lebens in zwei Welten – all dies waren die Themen, die diese Frauen begleiteten und in die der Betrachter behutsam und doch bewegend eingeführt wird. Der Film weiß ebenso die Umgebung dieser starken Frauen zu umreißen, die Welt ihrer Ehemänner und ihrer Kinder oder Enkelkinder. Die zweite Generation wird über Beiträge von Sascha Joseph, Prince Otthayil Joy, Nisa Punnamparambil-Wolf und andere eingeführt. Es wird gezeigt, wie sich diese in ihrer Heimat Deutschland verortet haben, wo sie ihre Verwurzelung sehen und wie ihre Aushandlung mit einem Aufwachsen und Leben in zwei so unterschiedlichen Welten aussieht. Auf Grund der unverblümten Ehrlichkeit seiner Protagonistinnen und seiner Fähigkeit, stets auf die unterschiedlichen Ebenen ihrer Aushandlungen und ihres I FILMREZENSION I Lebens in beiden Welten zu verweisen, wird „Translated Lives“ somit zu einem starken Dokument der keralesischen Diaspora in Deutschland. Eine besondere Vergangenheit Die Migration dieser jungen Krankenschwestern ist auf vielfache Weise eine ungewöhnliche Geschichte. Diese Frauen waren sehr jung, als sie sich aufmachten in ein völlig unbekanntes Land und eine völlig unbekannte Zukunft. Viele waren erst fünfzehn oder sechzehn und waren das erste Mal weg von Zuhause. Viele waren niemals außerhalb Keralas gewesen. Andere noch nicht mal außerhalb ihres Heimatdorfes. Eine der Ordensschwestern, die die jungen Frauen in Heidelberg empfangen hatte und sie in der Anfangsphase betreute, erzählt hierzu: „Diese Mädchen waren so unglaublich jung. Wir hatten direkt das Gefühl, dass wir uns um sie kümmern mussten.“ Und tatsächlich, die jungen Krankenschwestern berichten von einem direkten Gefühl des Wohlbefindens. Einerseits durch die Unterstützung, die sie in Deutschland erfuhren, dann wiederum durch den Zusammenhalt, der die Gruppe der jungen Frauen zusammenschweißte. Die jungen Frauen begegneten gemeinsam den Tücken der unbekannten Welt, den ersten Missverständnissen, dem Heimweh und der großen Verantwortung, die sie trugen. Hier begegnet uns der zweite charakteristische Aspekt dieser Migration. Diese jungen Frauen wurden oft zu zentralen Instanzen wirtschaftlicher Stärke in ihren Familien – sowohl in Indien als auch in ihren eigenen Familien, die sie später gründen sollten. Es entstand eine Verschiebung traditioneller Geschlechterverhältnisse1 in Indien wie in Deutschland und die Basis für eine spannende Geschichte. An dieser Stelle wird auch deutlich, wo die Stärken des Films liegen und wo seine Schwächen. „Translated Lives – A Migration Revisited“ ist ein Film, der sich der Geschichte der Migration von Keralesen nach Deutschland verschrieben hat, die die weibliche Domäne betreffen. In dieser wiederum jener Migration, die bereits sehr früh stattfand. Es gab noch spätere Migrationen, die wiederum andere Cha- rakteristika hatten, andere Geschichten, die zu anderen Ausgängen führten. Dass es niemals eine vollständige Migrationsgeschichte ist, ist selbstverständlich, doch wie sehr dies emotional geladen sein kann, zeigte eine der Publikumsreaktionen während der Diskussion nach der Deutschlandpremiere im Kölner Rautenstrauch-Joest Museum. Es meldete sich ein Ehemann einer jener Krankenschwestern zu Wort, die in einer der Migrationswellen nach Deutschland gekommen waren. Was denn mit der Situation der Männer sei, wollte er wissen. Warum jene nicht deutlicher herausgearbeitet worden sei und wieso nicht gezeigt worden sei, wie viele von ihnen mit großen Problemen zu kämpfen hatten. Mit Arbeitserlaubnis, Stellenfindung und dem Alltag, der sich völlig von dem unterschied, was sie sich für ihre Zukunft vorgestellt hatten. Für unzählig von ihnen war es unmöglich, in dem Bereich ihrer Qualifikation eine Anstellung in Deutschland zu finden. Zunächst scheiterte es an der Arbeitserlaubnis, dann daran, dass die meisten indischen universitären Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurde. Es sei eine schreckliche Zeit gewesen, eine Zeit in der sich viele wenig unterstützt und allein gelassen gefühlt hätten. Wenn „Translated Lives“ also die Geschichte der weiblichen Migration fokussiert, dann ist genau dies der Aspekt, der tatsächlich wenig thematisiert wird. Die Geschichte der männlichen Migration ist eine andere. Und sie ist auch eine andere für jene Männer, die mit solchen Umständen zu kämpfen hatten als für jene, die entweder zum Studieren nach Deutschland migrierten oder aber in ansprechenden Berufen unterkamen. Aber eben auch eine so vielschichtige, dass sie anderen Raum finden muss, um dargestellt zu werden. Was „Translated Lives“ jedoch nicht versäumt zu umreißen ist die Konsequenz für die Geschlechterverhältnisse: Frauen begegnen uns hier als autarke Agens, als ökonomische Oberhäupter zweier Familien, der Kernfamilien in Deutschland und der erweiterten Familie in Indien. Sie haben Beruf, Kindererziehung und Haushalt erfolgreich kombiniert und nebenbei auch eine stille Revolution vollzogen: Sie sind zu schillernden Beispielen dafür geworden, dass es sie gibt, die starken Frauen Indiens. Es gibt sie zu Genüge, nur begegnen uns ihre Geschichten nicht so oft wie jene der Ohnmacht indischer Frauen. Filme wie „Translated Lives“ werden somit zu einer Plattform für alternative Erzählung. Die Regisseurin Shiny Benjamin erklärt in einem Interview mit „Meine Welt“, dass sie in diesen Tendenzen auch ein Spezifikum der keralesischen Geschlechterverhältnisse sieht und diese ebenso darstellen möchte. „Keralesische Frauen waren schon immer stark“, betont sie. „Kerala hatte schon immer andere Verhältnisse für Frauen. Sie hatten dort mehr Möglichkeiten und mehr Rechte.“ Auch ist es spannend, dass sie darauf verweist, wie wichtig es ihr war, auf die Migration dieser Frauen als Geschichte der „Anstrengung“ hinzuweisen. In Kerala selbst hat Migration einen besonderen Stellenwert in der Ökonomie und ist im Laufe der letzten Jahrzehnte über die Migration nach Europa, Nordamerika, Malaysia und Singapore sowie den Arabischen Staaten als ihrem Epizentrum zu einem essentiellen Bestandteil der Wirtschaft des Landes geworden. Migration ist somit zu einer ernsthaften Option für eine berufliche Zukunft geworden. Für viele ist es die einzig realistische. Einhergehend mit diesen Bewegungen sind aber ebenso auch starke Narrative entstanden, die diese Migrationen mit Konstrukten, mal realistische, mal fiktive versehen. Das Narrativ des „gelobten Landes“ ist dabei natürlich eines von diesen. Während z.B. die arabischen Staaten eine große Transparenz aufwiesen und auf Grund der hohen Zahl an Migranten ein „offenes Buch“ sind, verlief dies mit der Migration nach Deutschland anders. Diese war weniger transparent und wurde mit der Fiktion des einfachen Erwerbs von „schnellem Reichtum“ belegt. Dass die Realität jedoch ganz anders aussieht, wurde dabei kaum beachtet. Shiny Benjamin verwies in unserem Gespräch darauf, dass sie mit ihrem Film auch eben jenen Missstand aufheben möchte. Sie möchte Migration auch als einen anstrengenden Akt aufzeigen. Als einen Akt der stetigen Aushandlung mit den jeweiligen Lebenswelten und ihren MEINE WELT 2/2014 39 I GESPRÄCH I Herausforderungen. Auch hier schafft sie ein starkes Dokument für jene Verhältnisse der Vergangenheit und Gegenwart. Resümee Die Protagonistinnen dieses Films sind stark und emotional zugleich. Sie bewegen sich jenseits einer einfachen schwarz-weiß gefärbten Darstellung ihrer Motivationen und Emotionen. Der Film ist so vielfarbig wie das Leben seiner Protagonistinnen selbst und versäumt es nicht, auch viele dieser Farben wiederzugeben. Das Narrativ der starken Frauen bleibt dabei stets die zentrale Linie. Entstanden ist eine große visuelle Ethnografie jener Gruppe von Frauen, die sich vor 50 Jahren aufmachten in ein neues Land, mit nichts Geringerem ausgestattet als ihrem Mut, ihrer Kreativität und ihrem Vermögen, sich den Herausforderungen einer solchen Migration zu stellen. Er referiert darauf, dass Migration keine abgeschlossene Handlung ist, sondern eine stetige Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lebenswelten der Akteure und der Personen, die diese umgeben. Eine Auseinandersetzung, die in der Generation der Kinder und Enkelkinder fortgeführt wird und das Leben vieler auf unwiderrufliche Weise prägt. „Translated Lives“ nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit und wird damit zu einem vielschichtigen Dokument kultureller Begegnungen: ihrer Reibungen und Konflikte, aber ebenso ihrer Freuden und Möglichkeiten. Was sie dazu motiviert habe, diesen Film zu machen, frage ich die Regisseurin. Und sie entgegnet lächelnd: „Ich war fasziniert von der Geschichte dieser besonderen Migration.“ j 1 Die Geschlechterverhältnisse in Kerala sind im Vergleich zu den Verhältnissen in den anderen Regionen Indiens gesondert zu betrachten. Dies ergibt sich einerseits aus der kontinuierlichen zentralen Position von Frauen in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und ihrem großen Handlungsraum. Dennoch bilden die Veränderungen, die durch die Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse und die Verteilung ihres Erwerbs, wie sie im Kontext dieser Migration entstehen, wichtige Parameter für eine Ausweitung dieses Handlungsraums und zu einer großen finanziellen und sozialen Unabhängigkeit und Stärke. 40 MEINE WELT 2/2014 Eine Filmemacherin auf den Spuren von Migranten in Deutschland Ein Gespräch Shiny Jacob Benjamin hat sich in ihrem Dokumentarfilm nichts Geringeres zum Ziel gemacht, als eine Generation mutiger Frauen zu portraitieren, die einst in eine ungewisse Zukunft auszogen: im zarten Alter von 16 Jahren, fernab ihrer Familien in ein fremdes Land. Ihre Geschichte ist eine alternative Erzählung zur ewig unterdrückten Frau Indiens. Meine Welt traf die Filmemacherin und Journalistin in Köln. Die Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms „Translated Lives“ ist bereits einige Tage her, als ich mich in die Kölner Innenstadt begebe, um die Filmemacherin Shiny Benjamin Jacob zu treffen. In dieser Zeit konnten sich die ersten Eindrücke setzen, erste Ideen und Assoziationen festigen und sich ebenso ein Grundgefühl dafür bilden, was dieser Film für einen weiteren Diskurs bedeuten könnte und in welchem er entstanden sein mag. Doch als weibliches Mitglied der zweiten Generation keralesischer Migranten in Deutschland bin ich auch einfach gespannt auf die Person, die hinter diesem Film steht. Auf jene Frau, die sich auf den Weg von Kerala nach Deutschland machte, um die Geschichte einer Migration zu erzählen. Shiny Jacob Benjamin ist auch eine dieser starken Frauen, von denen sie selbst gerne berichtet, keine Frage. Sie behauptet sich in der Männerdomäne des Journalismus und des Dokumentarfilms und verliert ihren Blick für den Realismus dabei nicht: „Es ist auch angenehm, eine Frau zu sein“, erzählt sie schmunzelnd. Man wird auch viel unterstützt und nimmt schnell eine zentrale Position durch diese Unterstützung und Protektion ein. Das ist ein Privileg des Frau-Seins in diesem Bereich.“ Ihr Schaffen ist durchzogen von Topoi des Sozialen, von Geschichten sozial Benachteiligter oder von Figuren, die sonst keinen Platz in den Erzählungen der Massen finden. Dennoch sagt sie, würde sie sich selbst nicht als Aktivistin bezeichnen. „Ich portraitiere diese Menschen lediglich. Meist fasziniert mich ihr Leben.“ Ihre Protagonisten sind Bildhauer, Migranten, männliche Prostituierte und Frauen, die Opfer sexueller Ausbeutung sind. Ihre Themen orientieren sich stets an der Verortung dieser Personen in einem System von Ungerechtigkeit, patriarchischer und ökonomischer und/oder struktureller Gewalt. Ihr Dokumentarfilm über die männlichen Prostituierten in Kerala ist ein sensibles Portrait einer sozialen Sphäre, die sonst in den Tiefen des Informellen verschwunden ist. Diese Männer leben ein Leben der sexuellen Ausbeutung. Dabei sind ihre Dienste meist homosexueller Art, was in einem Land, dass geprägt ist von einer sehr konservativen bis militanten Heteronormativität mehr als kontrovers I GESPRÄCH I ist. Das Leben dieser Männer bleibt jedoch im Dunkeln, in der Peripherie des Schweigens. 2010 erschien ihr Dokumentarfilm „Ottayal“ (Eine Frau allein) über die aus Kerala stammende Aktivistin Daya Bai, die seit 1995 für die Rechte der Adivasi in Madhya Pradesh kämpft. Mit Liebe zum Detail und einer stetigen Rücksicht auf Authentizität portraitiert Shiny Benjamin das mutige Leben dieser besonderen Person. Für „Translated Lives“ wurde sie von Meine Welt Redakteur Jose Punnamparambil, der beratend tätig sein sollte, und Mathew Jospeh, der als Produzent fungieren sollte, auf eine Zusammenarbeit hin angesprochen. Direkt fühlte sie sich von der Thematik inspiriert. „Ich wollte wissen, was diese jungen Mädchen dazu bewegt hat, nach Europa zu gehen. Wie sie den Mut dazu aufgebracht haben, in ein völlig unbekanntes Land zu gehen.“ Sie nahm sich des Projektes an und es begann eine Zeit interessanter Erfahrungen. Um sich auf die Spuren dieser Migration zu begeben, führte Shiny Jacob Benjamin nichts Geringeres als eine kleine Forschungsreise durch: Sie lebte bei den Protagonistinnen ihres Films und ihren Familien, lernte sie im Laufe dieser Zeit kennen und begann sie dann zu portraitieren. Daher wohl auch die intime Nähe, die immer wieder die emotionale Stärke und den Tiefgang dieses Films darstellt. Die Regisseurin schafft es, dass die Protagonisten keine Angst davor haben, ihre Gefühle mit dem Betrachter zu teilen. Sie gibt ihnen Raum, sich zu entfalten, und verfällt gleichzeitig nicht in künstliches Pathos. Diese intime Bindung zu ihren Protagonisten baue sie während jedes Drehs auf, erklärt Shiny Benjamin weiter. „Ich gehe jedes Mal so vor, dass ich zunächst viel Zeit mit den Protagonisten verbringe, bevor ich die Kamera ins Spiel bringe. Das verringert die Scheu vor der Kamera.“ Auch „Translated Lives“ bearbeitet die Frage um die Geschlechterverhältnisse auf eindrucksvolle Weise (siehe hierzu die Rezension zu „Translated Lives – A Migration Revisited“). „Der Film verweist darauf, wie stark diese Frauen sind“, erläutert Shiny. „Sie schaffen es, Beruf, Eheleben und Familie zu vereinen. Ein Leben in Indien und in Deutschland. Das macht sie zu unglaublich starken Persönlichkeiten.“ Sie verweist ebenso darauf, wie dieses Bild von der weit verbreiteten Vorstellung der nicht-emanzipierten, einer patriarchalen Gewalt ohnmächtig gegenüber stehenden indischen Frau entgegen steht und es mit weiteren Facetten versieht und sogar teilweise aufhebt. „Diese Frauen haben nichts mit einem solchen Bild zu tun. Sie sind das ökonomische Oberhaupt ihrer Familien.“ So hätten diese Frauen auch bei sonstigen Fragen eine große Entscheidungsgewalt und wären somit gleichwertige, wenn nicht sogar höher gestellte Individuen in ihren Familien. Ihr Film wird dabei tatsächlich zu einem wichtigen Dokument dieser Verhältnisse. „Translated Lives“ wurde bisher auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt und erfreut sich großer Beliebtheit. Doch Shiny Jacob Benjamin bleibt niemals untätig: aktuell arbeitet sie an einem neuen Projekt, in dem sie auf die Situation von Migranten in Kerala hinweisen will: „Seit ein paar Jahren gibt es eine starke Migration aus Bengalen, Assam und anderen Staaten des Nordostens nach Kerala.“ Dies sei sehr spannend, wenn man bedenke, dass Kerala selbst ein sehr migrantischer Staat ist. „Mich interessiert nun, wie diese Migranten in Kerala leben. Wie sie sich dort ein Leben aufbauen und vor allem: wie geht die Mehrheitsbevölkerung mit ihnen um?“ Shiny beschreibt, wie die Bürger Keralas, die ja eigentlich am besten wissen müssten, dass Migranten in konfliktreichen und anstrengenden Umständen leben, wenig Verständnis für diese Bevölkerungsgruppe zeigen. „Negative Schlagzeilen und Geschichten darüber, wie gefährlich diese Gruppen seien, gibt es bereits zu genüge. Es wird Angst und Fremdenhass geschürt.“ Und so begibt sich diese faszinierende Filmemacherin auf die Spur einer weiteren Geschichte um die Frage nach Heimat, Zugehörigkeit und der stetigen Aushandlung von Identitäten. j JANA KOSHY Quellen: 1. „Face of Compassion“, 2010. B. Sunnetha. In: The Hindu 2. „Nursing big dreams“, 2014. Liza George. In: The Hindu Granth Rakesh Thakkar ist Weltmeister im Kopfrechnen Bei der Weltmeisterschaft im Kopfrechnen (World Mental Arithmetic Competition), die am 11. bis 12. Oktober 2014 in Dresden stattfand, hat der 13-jährige indische Schüler Granth Thakkar den ersten Platz erreicht. An dem Wettbewerb nahmen 40 Kandidaten von 10 bis 80 Jahren aus 18 Ländern teil. Thakkar stammt aus Vapi im indischen Bundesstaat Gujarat und ist Schüler an der Mother of Hope Schule dort. Sein Berufswunsch: Wissenschaftler in der Raumfahrt zu werden. (Bild: MDR-Sachsen, 12-10-2014) MEINE WELT 2/2014 41 I ERZÄHLUNG I Das siebente Haus R . K . N A R AYA N Krischna fuhr mit dem Finger über den Eisblock, um die Schicht Sägemehl wegzuwischen, meißelte ein Stück ab, zerkleinerte es und füllte den Gummieisbeutel. Diese Beschäftigung in der schattigen Ecke der rückwärtigen Veranda diente ihm als Entschuldigung, um vom Krankenzimmer wegzukommen, doch durfte er sich dabei nicht verweilen, denn nach Anordnung des Arztes musste ständig ein Eisbeutel auf der Stirn seiner Frau liegen. In diesem Kampf zwischen Eis und Quecksilbersäule war es das Eis, das seine Eisigkeit verlor, während die Quecksilbersäule auf einhundertdrei Grad Fahrenheit stehen blieb. Der Arzt hatte triumphierend dreingeblickt an dem Tag, an dem er die Krankheit als typhusartig diagnostizierte und fröhlich verkündete: „Wir wissen jetzt, mit welchem Stock wir sie schlagen müssen. Er heißt Chloromycetin! Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.“ Er war ein guter Arzt, doch einem kläglichen Humor und dem Schwätzen ergeben! Die Chloromycetin-Tabletten wurden der Patientin wie angeordnet verabreicht, und als der Arzt das nächste Mal kam, wartete Krischna schon auf ihn, um erst einmal Atem zu holen und dann loszuplatzen: „Das Fieber ist nicht heruntergegangen!“, wobei er das Fieberkurvenblatt hochhielt. Der Arzt warf einen knappen, distanzierten Blick auf das Blatt und setzte seine Rede fort: „Die Stadtverwaltung hat mich aufgefordert, eine Steinplatte über die Wasserablaufrinne vor meinem Haustor zu legen, doch mein Anwalt meinte …“ „In der vergangenen Nacht wollte sie nichts essen“, unterbrach ihn Krischna. „Gut für das Land mit seiner Nahrungsmittelknappheit! Wissen Sie, was der dicke Getreidehändler auf dem Markt zu mir gesagt hat? Als er mich aufsuchte, um mir 42 MEINE WELT 2/2014 seinen Hals zu zeigen, fragte er mich, ob ich ein Dr. med. sei! Ich habe keine Ahnung, wo er etwas über Dr. med.s erfahren hat.“ „Sie war unruhig und zerrte an ihrem Bettzeug“, sagte Krischna, wobei er die Stimme senkte, als er bemerkte, dass seine Frau die Augen aufschlug. Der Arzt berührte ihren Puls mit der Spitze seines Fingers und sagte unverfroren: „Vielleicht mag sie ein andersfarbiges Laken – warum auch nicht?“ „Ich habe irgendwo gelesen, dass das Zerren am Bettzeug ein schlechtes Zeichen ist.“ „Ach, Sie und Ihre Lektüre!“ Die Patientin bewegte ihre Lippen. Krischna beugte sich dicht über sie und richtete sich dann auf, um zu erklären: „Sie fragt, wann Sie sie wieder aufstehen lassen.“ „Rechtzeitig zu den Olympischen Spielen!“, versetzte der Arzt und lachte über seinen eigenen Witz. „Ich würde selber liebend gern zu den Olympischen Spielen gehen.“ Krischna sagte: „Ihre Temperatur war einhundertdrei letzte Nacht um Eins …“ „Haben Sie das Eis nicht ständig erneuert?“ „Bis meine Finger starr wurden!“ „Wir werden Sie demnächst auf Starre behandeln, doch zunächst wollen wir zusehen, dass die Dame des Hauses wieder zurück in die Küche kommt!“ So fand sich Krischna immerhin in einem Punkt einig mit dem Arzt. Er brauchte seine Frau sehr dringend in der Küche. Jeden Tag kochte er den Reis auf andere Weise verkehrt, schlang ihn zu den Essenszeiten mit Joghurt hinunter und eilte zurück ans Lager seiner Frau. Am Nachmittag kam die Dienerin herein, um Patientin und Bett herzurichten. Sie entlastete Krischna für nahezu eine Stunde, die er damit verbrachte, von der Tür aus die Straße zu beobachten: Ein R. K. Narayan (1906-2001) war einer der bekanntesten Belletristik-Autoren Indiens, die in englischer Sprache schrieben. Er gehörte zu dem Trio (die anderen zwei sind: Raja Rao und Mulk Raj Anand – die beiden sind inzwischen gestorben), die durch ihre Werke die indische Literatur zur Weltgeltung brachten. Viele seiner Geschichten spielen in einem einfachen südindischen Dorf namens „Malgudi“ Einige seiner bekanntesten Werke sind: „The English Teacher“ (1945), „The Financial Expert“ (1952), „The Guide“ (1958), „The Man Eater of Malgudi“ (1961) und „The Grandmother’s Tale“ (1993). R. K. Narayan war eingeladener Gast bei der Frankfurter Buchmesse 1986. vorbeifahrender Radfahrer, heimrennende Schulkinder, Krähen, die in einer Reihe nebeneinander auf dem gegenüberliegenden Dach hockten, ein Straßenhändler, der lauthals seine Waren feilbot – alles schien ihm interessant genug, seine Gedanken vom Fieber fortzulenken. Eine zweite Woche verstrich. Da saß er, neben ihrem Bett, achtete auf die Lage des Eisbeutels und grübelte über sein Eheleben nach, von Anfang an. Als er an der Albert Mission studierte, sah er sie häufig. Sie schwänzten den Unterricht, saßen am Flussufer, führten ernsthafte Gespräche über Gegenwart und Zukunft und beschlossen schließlich zu heiraten. Beider Eltern fanden, dass sie es hier mit einem Beispiel der Übel moderner Erziehung zu tun hatten: Junge Leute wollten nicht mehr warten, bis die Eltern ihre Heirat arrangierten, sondern nahmen die Sache selbst in die Hand, wobei sie westliche Sitten und Film-Stories nachäfften. I ERZÄHLUNG I Den Mangel an Anstand ausgenommen, sollte sich der Heiratsantrag aber in jeder Beziehung als annehmbar herausstellen. Der finanzielle Hintergrund der beiden Familien, die Erfordernisse von Kaste und Gruppe, Alter und alles Übrige waren in Ordnung. Die Eltern ließen sich schließlich erweichen, und eines schönen Tages wurden die Horoskope des jungen Mannes und des Mädchens ausgetauscht und als nicht zueinander passend gefunden. Beim Horoskop des jungen Mannes stand Mars im siebenten Haus, was Unheil für die Braut bedeutete. Der Vater des Mädchens weigerte sich, den Heiratsantrag weiterhin in Erwägung zu ziehen. Die Eltern des jungen Mannes waren empört über die Haltung der Seite der Braut. Der Vater einer Braut war doch der Suchende und der eines Bräutigams der Gebende! Wie wagen sie es da, sich zu zieren? „Unser Sohn wird eine Braut bekommen, die hundertmal besser ist als dieses Mädchen. Was ist an ihr im Grunde Besonderes? Alle College-Mädchen machen sich zurecht, um hübsch auszusehen, aber das ist doch nicht alles!“ Das junge Paar fühlte sich elend und sah entsprechend aus, was die Eltern bewog, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Ein weiser Mann empfahl, sie könnten, wenn alle übrigen Dinge in Ordnung seien, um ein Zeichen bitten und dann in der Angelegenheit fortfahren. Die beiden Parteien einigten sich auf ein Blütenorakel. An einem glückverheißenden Tag versammelte man sich im Tempel. Die Öllampe im Sanktum verbreitete ringsum ein sanftes Licht. Der Priester entzündete ein Stück Kampfer und bewegte es kreisförmig vor dem Götterbildnis im Sanktum. Beide Elternpaare und ihr Anhang, die ehrerbietig in der Säulenhalle standen, blickten auf das Götterbildnis und flehten um Beistand. Der Priester winkte einen etwa vierjährigen Jungen heran, der zu einer anderen Gruppe von Andächtigen gehörte. Als er zögerte, lockte er ihn mit einem Stück Kokosnuss. Der Junge näherte sich begierig der Schwelle des Sanktums. Der Priester pflückte eine rote und eine weiße Blüte aus der Girlande des Götterbildnisses, legte sie auf einen Teller und forderte den Jungen auf, eine zu wählen. „Warum?“, fragte der Junge, der sich, von so vielen Leuten beobachtet, unbehaglich fühlte. Sollte die rote Blüte gewählt werden, so würde dies Gottes Billigung anzeigen. Der kleine Junge griff nach dem Stück Kokosnuss und versuchte zu entschlüpfen, doch der Priester hielt ihn an der Schulter zurück und befahl: „Nimm eine Blüte!“, worauf das Kind in Tränen ausbrach und nach seiner Mutter jammerte. Die Erwachsenen waren verzweifelt. Das Weinen des Kindes zu diesem Zeitpunkt war von übler Vorbedeutung. Lachen hätte da sein sollen – und die rote Blüte! Der Priester sagte: „Unnütz, auf ein weiteres Zeichen zu warten! Das Kind hat uns den Weg gewiesen“, und alle gingen stumm auseinander. Ungeachtet der Astrologen heiratete Krischna das Mädchen, und Mars im siebenten Haus war schließlich vergessen. Die Patientin schien zu schlafen. Krischna verließ auf Zehenspitzen das Zimmer und sagte zur Dienerin, die auf der Veranda wartete: „Ich muss in die Stadt, Medikamente kaufen. Gib ihr um Sechs Orangensaft und schau nach ihr, bis ich wieder zurück bin!“ Er trat aus dem Haus und fühlte sich wie ein entlassener Gefangener. Er spazierte dahin, freute sich an der Menschenmenge und dem geschäftigen Treiben der Market Road, bis ihm der Gedanke an das Fieber seiner Frau wieder in den Sinn kam. Er brauchte dringend irgendeinen Menschen, der ihm die ungeschminkte Wahrheit über den Zustand seiner Frau sagen konnte. Der Arzt berührte alle möglichen Themen, nur das nicht. Als Chloromycetin es nicht vermochte, das Fieber herabzusenken, sagte er fröhlich: „Das zeigt nur, dass es nicht typhusartig ist, sondern irgendetwas anderes. Wir werden morgen weitere Tests durchführen.“ Und ehe er an diesem Morgen ging, meinte er noch: „Warum beten Sie eigentlich nicht, anstatt mich andauernd ins Kreuzverhör zu nehmen?“ „Was soll ich denn beten?“, hatte Krischna naiv gefragt. „Nun, Sie könnten sagen: ‚O Gott! Wenn du existierst, so rette mich, wenn du kannst!’“ und lachte schallend über seinen eigenen Witz. Der Humor des Arztes war äußerst anstrengend. Es war Krischna schon klar, dass der Arzt früher oder später die richtige Diagnose finden könnte – doch würde das noch zu Lebzeiten der Patientin geschehen? Er war entsetzt über die Aussicht eines Verlustes. Sein Herz schlug rasend bei diesem schrecklichen Gedanken. Mars, der im Schlummer gelegen hatte, hatte sich nun erhoben. Mars und eine nicht identifizierbare Mikrobe hatten ihre Streitkräfte vereinigt. Die Mikrobe war Sache des Arztes, wie verwirrt er auch immer dreinschauen mochte. Aber die Erforschung des Mars war eine andere. Krischna mietete sich ein Fahrrad und ra- GEDICHT Indische Balsaminen* Verzaubert ist heute die Luft. Von segnender Sonne beschienen verströmt ihr betörenden Duft, oh, indische Balsaminen. Hoch ragt ihr am Ufer, umsäumt des Stromes spiegelndes Glänzen und taumelt träge, verträumt zu glitzernden Wellentänzen. Aus lockendem Sehnsuchtsland seid ihr gekommen, aus Fernen, erleuchtet das silberne Band mit euren rosa Laternen. Verzaubert von dir schwingt mein Herz. So hold hat der Fluss nie gesungen. Oh, komm, wir gehen uferwärts, wir beide, zärtlich umschlungen. H. SMITZ *Drüsiges Springkraut, ursprünglich aus dem Himalaya-Gebiet Indiens MEINE WELT 2/2014 43 I ERZÄHLUNG I delte davon in Richtung auf den Kokospalmenhain, wo der alte Astrologe wohnte, der damals das Horoskop erstellt hatte. Er traf den alten Mann in der Diele sitzend an, wie er gelassen einer Horde Kinder zuschaute, die durch Fenster, über Mauern, Mobiliar und in einer Ecke gestapelte Reissäcke kletterten und genug Lärm vollführten, um jegliche Unterhaltung zu ersticken. Er breitete eine Matte aus, auf der Krischna Platz nehmen solle, und brüllte, den Lärm der Kinder übertönend: „Ich habe euch gleich zu Anfang gesagt, wie das noch werden würde, doch ihr Bengel wolltet ja nicht auf meine Worte hören! – Ja, Mars hat nun angefangen, seinen unheilvollen Einfluss geltend zu machen. Unter diesen Umständen ist ein Überleben der betroffenen Person fragwürdig.“ Krischna stöhnte. Die Kinder hatten geschlossen ihre Aufmerksamkeit Krischnas Fahrrad zugewandt, betätigten fortwährend die Klingel und waren fieberhaft bemüht, die Maschine von ihrem Standort fortzuschieben. Nichts schien mehr von Bedeutung zu sein. Einem Mann, der im Begriff war, seine Frau zu verlieren, sollte der Verlust eines gemieteten Fahrrads einerlei sein. Sollen doch die Kinder alle Fahrräder in der Stadt demolieren! Krischna würde sich nichts daraus machen. Alles lässt sich ersetzen, nur menschliches Leben nicht. „Was soll ich nur tun?“, fragte er, während er sich das Bild seiner im Bett schlafenden und nie wachenden Frau vor Augen rief. Er klammerte sich verzweifelt an diesen alten Mann, denn in seiner fieberhaften Gemütsverfassung glaubte er, dass der Astrologe Fürsprache einlegen könnte bei einem Planeten hoch droben am Himmel, dass er ihn beeinflussen oder sich gar bei ihm in seinem Namen entschuldigen könnte. Er erinnerte sich des rötlichen Mars, den man ihm am Himmel zu zeigen pflegte, als er Pfadfinder war – rötlich infolge der Bösartigkeit, die wie Lava aus seinem Busen hervorbricht. „Was würden Sie mir zu tun raten? Bitte, helfen Sie mir!“ Der alte Mann blickte Krischna drohend über seinen Brillenrand hinweg an. Seine Augen waren auch rot. Alles ist rot, dachte Krischna. Er hat teil an der Färbung des 44 MEINE WELT 2/2014 Deutsch-Indische Gesellschaft, Zweigstelle Aachen, feierte 25-jähriges Jubiläum Eine der aktivsten und mitgliedstärksten Zweiggesellschaft der DeutschIndischen Gesellschaft ist Aachen. Sie feierte am 27.09.2014 ihr 25-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass fand auch die diesjährige Jahresversammlung der 33 Deutsch-Indischen Zweiggesellschaften in Aachen statt. die Pflege kultureller, wirtschaftlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Indien einsetzt“. Im Mittelpunkt der Aktivitäten von DIG Aachen stehen Kulturprogramme wie Tanz, Musik, Vorträge etc. und Studienreisen. Diese Reisen eröffnen einen ganz Bei der Feier waren unter anderem auch Bürgermeisterin Hilde Scheidt sowie der Städteregionsrat Helmut Eschenberg dabei. Zusätzlich zu den Vertretern anderer Indigo MasalaAcoustic Asian World Fusion Thar Rhythms Zweiggesellschaften kamen auch viele Aachener Bürger zu den Feierlichkeiten. Das Fest klang am Abend in der Kammer des Theaters Aachen mit einem Konzert der Band „Indigo Masala-Acoustic Asian World Fusion“ und einem Auftritt der Tanzgruppe „Thar Rhythms“ aus. Die Aachener Zeitung von 8.10.14 schrieb: „Die DIG Aachen ist mit 400 Mitgliedern eine der größten und erfolgreichsten bilateralen Gesellschaften Deutschlands. So wachsen konnte sie nur dank eines Teams, das sich mit Engagement und Herzblut für neuen Blick auf die indische Lebensweise und Traditionen, da sie es ermöglichen, die Kultur hautnah zu erleben. Außerdem bilden Hilfsprojekte in Indien und Nachbarländern ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit von DIG Aachen. Sie konzentrieren sich auf Gesundheitsfürsorge, Aus- und Weiterbildung von Kindern und Jugendlichen und Betreuung von Waisenkindern. JP (Quelle: Berichte in der Aachener Zeitung) Fotos von Johannes Sequeira I ERZÄHLUNG I Mars. Ich weiß nicht, ob dieser Mann mein Freund oder mein Feind ist. Mein Arzt hat auch rote Augen. Ebenso die Dienerin. … Rot überall. „Ich weiß“, sagte Krischna, „dass der Herrscher des Tierkreiszeichens, in dem Mars steht, gütig ist. Ich wollte, ich wüsste, wie ich ihn günstig stimmen und sein Mitgefühl erlangen könnte.“ Der alte Mann sagte: „Warten Sie!“ Er trat vor einen Schrank, nahm einen Stapel Palmblattstreifen heraus, auf denen Verse, vier Zeilen je Blatt, eingeritzt waren. „Das ist eine der vier Urhandschriften des Brihad-Dschataka, von dem sich die gesamte Wissenschaft der Astrologie herleitet. Das ist es, was mir mein Leben gegeben hat. Wenn ich spreche, so spreche ich mit der Autorität dieser Palmblatthandschrift.“ Der alte Mann hielt das Palmblatt ins Licht nahe der Tür und las einen SanskritAphorismus vor: „Man kann auf keinen Fall dem Geschick entrinnen, doch kann man bis zu einem gewissen Grad seine Unerbittlichkeit mindern.“ Dann fügte er hinzu: „Hören Sie: ‚Wo Angaraka (Mars) übelwollend ist, beschwichtige ihn mit dem folgenden Gebet … und begleite es mit einer Gabe von Reis und Hülsenfrüchten und einem Stück roter Seide! Gieße vier Tage lang unablässig reine Butter als Opfergabe in ein mit Sandelholzstäbchen entfachtes Feuer und speise vier Brahmanen!‘ … Können Sie das tun?“ Krischna war von panischem Schrecken erfasst. Wie könnte er dieses komplizierte Ritual organisieren (was eine Menge Kosten verursachen würde), wo jeder Augenblick und jede Rupie zählte? Wer würde in seiner Abwesenheit seine Frau pflegen? Wer würde das rituelle Festmahl für die Brahmanen zubereiten? Er würde einfach nicht in der Lage sein, dies ohne die Hilfe seiner Frau zu bewerkstelligen. Er lachte über die Ironie all dessen, worauf der Astrologe meinte: „Warum lachen Sie über diese Dinge? Sie halten sich wohl für sehr modern?“ Krischna entschuldigte sich für sein Lachen und erklärte seine hilflose Lage. Der alte Mann schloss ungehalten das Manuskript, wickelte es in seine Hülle und legte es weg, wobei er brummte: „Diese einfachen Schritte können Sie noch nicht einmal unternehmen, um einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen!? Gehen Sie, gehen Sie! … Ich kann Ihnen nicht von Nutzen sein.“ Krischna zögerte, nahm zwei Rupien aus seiner Geldbörse und hielt sie dem alten Mann entgegen. Der aber winkte ab. „Lassen Sie erst einmal Ihre Frau gesund werden! Dann können Sie mir das Honorar geben. Nicht jetzt!“ Und als sich Krischna zum Gehen wandte, sagte er: „Das Schlimme ist, dass Ihre Liebe Ihre Frau umbringt. Wären Sie ein gleichgültiger Ehemann, so könnte sie überleben. Die Bösartigkeit des Mars könnte dann und wann bei ihr ein Leiden hervorrufen, eher psychisch als physisch, doch es würde sie nicht umbringen. Ich habe Horoskope gesehen, die das Ihre und das Ihrer Frau exakt widerspiegelten, und die Ehefrau lebte bis ins hohe Alter. Wissen Sie, warum? Weil der Ehemann untreu oder gefühllos war, und das minderte irgendwie die Unerbittlichkeit des Planeten im siebenten Haus. Ich sehe, dass es um Ihre Frau wirklich schlimm steht. Retten Sie sie, ehe etwas geschieht! Wenn Sie sich dazu überwinden können, ihr untreu zu sein, so versuchen Sie es! Jeder Mann, der eine Geliebte hat, hat eine Ehefrau, die lange lebt …!“ Eine sonderbare Philosophie, doch sie klang durchführbar. Krischna wusste nichts von den Techniken der Untreue und wünschte, er hätte die Raffinesse seines alten Freundes Ramu, der sich, als sie beide noch jünger waren, mit seinen sexuellen Heldentaten zu brüsten pflegte. Es würde jetzt aber unmöglich sein, Ramus Beistand zu suchen, obwohl er ganz in der Nähe wohnte. Er war jetzt ein höherer Regierungsbeamter und ein Mann mit Familie und dürfte wohl kaum Lust haben, sich für Erinnerungen dieser Art herzugeben. Krischna hielt Ausschau nach einem Zuhälter, der die Prostituierten in der Golden Street vertrat, konnte aber keinen einzigen erspähen, obgleich das Markttor angeblich von ihnen nur so wimmeln sollte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sechs Uhr. Mars müsste noch vor Mitternacht beschwichtigt werden. Irgendwie legte er in Gedanken Mitternacht als Grenze fest. Er wandte sich heimwärts, lehnte das Fahrrad gegen einen Laternenmast und eilte die Stufen seines Hauses empor. Als die Dienerin ihn erblickte, schickte sie sich an zu gehen, doch er bat sie, dazubleiben. Dann warf er einen kurzen Blick ins Schlafzimmer, sah, dass seine Frau schlief und sagte zu ihr in Gedanken: Neuer Vorstand der Deutsch-Indischen Gesellschaft Bei der Jahresversammlung der DeutschIndischen Gesellschaft in Aachen am 27.09.2014 wurde ein neuer Vorstand gewählt. Praktisch wurde der alte Vorstand in seinen Ämtern bestätigt. Frau Dr. IckeSchwalbe und Frau Dr. Lutz kandidierten nicht mehr zum Vorstand. Aus Kostengründen wurde entschieden, die Zahl der Vorstandsmitglieder auf fünf zu reduzieren. Neu in den Vorstand kam Herr Christian Winkle der Indien Stiftung als Schatzmeister. Dies ist der neu gewählte Vorstand: Vorsitzender: Botschafter a.D. Hans-Joachim Kiderlen 1. Stellv.Vorsitzender: Prof. Dr. Anand Srivatsav 2. Stellv.Vorsitzender: Manfred Krause Schatzmeister: Christian Winkle Mitglied: Herbert Lang Vorsitzender des Beirats: Sven Andreßen JP MEINE WELT 2/2014 45 I ERZÄHLUNG I „Dir wird es bald wieder besser gehen. Aber es wird etwas kosten. Macht nichts. Alles nur, um dein Leben zu retten.“ Er wusch sich hastig und zog ein Nylonhemd an, einen Dhoti mit Borte und ein seidenes Obergewand; trug flüchtig etwas Körperpuder auf und ein ungewohntes Parfum, das er im Schrank seiner Frau entdeckt hatte. Er war bereit für den Abend. Er hatte fünfzig Rupien in seiner Börse, und das sollte genügen für den wildesten Abend, den man sich nur wünschen konnte. Einen Augenblick lang, als er vor dem Spiegel innehielt, um einen letzten Blick auf sich zu werfen, war er gepackt von einer unermesslichen Vision von Leidenschaft und Verführung. Er lieferte das gemietete Fahrrad ab und schlenderte um Sieben die Golden Street hinauf. In seiner Phantasie hatte er wunderschöne Frauen erwartet, die ihm von ihren Balkonen aus zuwinkten. Die alten Häuser hatten Veranden, Säulen und Geländer und waren in grellen Farben gestrichen, wie es die Häuser der Prostituierten in früheren Zeiten angeblich waren, doch die Schilder an den Häusern verkündeten, dass hier Rechtsanwälte, Kaufleute und Lehrer wohnten. Das einzige Überbleibsel aus alten Tagen war ein kleiner Laden in einer düsteren Ecke, wo Parfums in farbigen Fläschchen und Girlanden aus Jasminblüten und Rosen verkauft wurden. Krischna ging die Straße hinauf und wieder herunter und starrte hie und da angestrengt einige Frauen an, doch waren das wahrscheinlich gewöhnliche, uninteressierte Hausfrauen. Keine einzige von ihnen beanwortete seinen starren Blick. Keine einzige schien sein seidenes Obergewand und seinen Borten-Dhoti wahrzunehmen. Er hielt inne, um darüber nachzudenken, ob er vielleicht in irgendein Haus stürzen, irgendeine Frau packen, die erforderliche Tat begehen, seine fünfzig Rupien hinwerfen und wieder herausstürzen sollte. Vielleicht könnte er bei einem solchen Vorgehen verprügelt werden. Wie in aller Welt sollte man herausfinden, welche unter all den Frauen, die er auf den Terrassen und Veranden der Häuser bemerkt hatte, seinem Appell folgen würde? 46 MEINE WELT 2/2014 Nachdem er zwei Stunden lang auf und ab gegangen war, wurde ihm klar, dass die Sache unmöglich war. Er seufzte und sehnte sich nach der Freiheit unter den Geschlechtern in den europäischen Ländern, über die er gelesen hatte. Man brauchte dort nur um sich zu blicken und seine Absichten zu offenbaren und könnte genug Frauen bekommen, um den bösartigsten Planeten im Universum zu verwirren. Er erinnerte sich plötzlich daran, dass hier irgendwo die Tempeltänzerin wohnte. Er kannte eine Menge Geschichten über die Rangi vom Tempel, die tagsüber vor dem Götterbildnis tanzte und zur Nachtzeit Liebhaber empfing. Er blieb an einem Laden stehen, um sich mit einer Banane und einem Fruchtgetränk zu stärken, und fragte den kleinen Jungen, der ihn bediente: „Welches ist das Haus der Tempeltänzerin Rangi?“ Der Junge war zu klein, um den Inhalt von Krischnas Erkundigung zu begreifen, und antwortete nur: „Ich weiß nicht!“ Krischna fühlte sich beschämt und ging. Unter der Straßenlaterne stand eine Pferdedroschke. Das Pferd bewegte seinen Schwanz hin und her, und der alte Kutscher wartete auf einen Fahrgast. „Sind Sie frei?“, fragte Krischna. Der Kutscher war augenblicklich zur Stelle. „Wo möchten Sie hingefahren werden, mein Herr?“ „Ich würde gern wissen, ob Ihnen bekannt ist, wo die Tempeltänzerin wohnt“, sagte Krischna verlegen. „Warum wollen Sie sie?“, fragte der Kutscher, ihn von oben bis unten musternd. Krischna murmelte irgendeine Antwort dahingehend, dass er sie tanzen sehen wollte. „Zu dieser Stunde!?“, rief da der Kutscher aus. „Mit so viel Seide und so viel Parfum am Leib!? Versuchen Sie ja nicht, mich zu täuschen! Wenn Sie aus ihrem Haus wieder herauskommen, sind Sie all Ihre Seide und all Ihr Parfum los. Aber sagen Sie mir doch zuerst: Warum nur Rangi? Da gibt es andere, sowohl Erfahrene als auch Anfängerinnen. Ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen. Ich habe Hunderte wie Sie in einer solchen Mission gefahren. Aber sollte ich Sie nicht zuerst zu einem Milchladen fahren, wo man Ihnen heiße Milch und kleingehackte Mandeln geben wird, um Ihnen Durchhaltekraft zu verleihen? Nur so als Routine, mein Lieber …! Ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen. Jedenfalls nicht meine Sache. Irgendjemand hat Ihnen wohl mehr Geld gegeben, als Sie brauchen? Oder ist Ihre Frau schwanger und fort im Haus Ihrer Mutter? Ich habe alle Tricks kennen gelernt, die Ehemänner ihren Frauen vorspielen. Ich kenne die Welt, mein Herr! Steigen Sie schon ein! Was für einen Unterschied macht es schon, wie Sie aussehen, wenn Sie dort wieder herauskommen? Ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen.“ Gehorsam stieg Krischna in die Droschke und füllte ihr Inneres mit Parfum und dem Rascheln seines seidenen Gewandes. Dann sagte er: „In Ordnung! Fahren Sie mich nach Hause!“ Er nannte seine Adresse mit so trauriger Stimme, dass der Kutscher, während er sein Pferd anspornte, zu ihm sagte: „Seien Sie nicht niedergeschlagen, mein junger Herr! Sie verpassen gar nichts. Irgendwann werden Sie noch einmal an den alten Kutscher denken.“ „Ich habe meine Gründe“, begann Krischna schwermütig. Da versetzte der Droschkenkutscher: „Das habe ich doch alles schon einmal gehört! Erzählen Sie mir nichts!“ Und er fing an, über das Eheleben zu predigen. Krischna gab alle Erklärungsversuche auf, lehnte sich zurück und ergab sich in sein Schicksal. j Aus dem Indoenglischen von Dieter B. Kapp (Quelle: A Horse and Two Goats. Stories by R. K. Narayan. Mysore: Indian Thought Publications, ²1974; S. 133-143.) I TAG U N G S B E R I C H T I Frauen und Gewalt in Indien Die Tagung des Literaturforums Indien e.V. und die ewigen Fragen nach den Geschlechterverhältnissen in Indien JANA KOSHY Einleitung Die Gewalt gegen Frauen in Indien ist ein allgegenwärtiges Thema. Seit im Dezember 2012 eine junge Frau der Mittelklasse mit unerhörter Grausamkeit vergewaltigt und getötet wurde, sind Fragen nach der Position der Frau in der indischen Gesellschaft, ihren Handlungsraum und um ihre Vulnerabilität, stetig präsent. Auch das Literaturforum Indien widmete sich in seiner diesjährigen Tagung dieser komplexen Thematik. Den Teilnehmenden boten sich drei spannende Tage mit vielfältigen Vorträgen, die die unterschiedlichen Aspekte dieser Thematik behandelten, mit vertiefenden Workshops und anregenden Diskussionen. Vorträge Sich dem Themenkomplex „Frauen und Gewalt in Indien“ zu nähern, ist keine einfache Aufgabe. Es gilt, nicht in orientalisierte Vorstellungen zu verfallen: Die ewig marginalisierte indische Frau, die fernab einer Selbstständigkeit agiert - in einem vollumfänglich patriarchalen System. Gleichzeitig zeigen gerade die Geschehnisse (oder deren Berichterstattung) der sexuellen Gewalt der letzen Jahre, wie wichtig es ist, eben jene Verhältnisse um Geschlecht und Sexualität zu taxieren und zu reflektieren, um einen angemessenen Umgang mit der Thematik in der Politik, im Sozialaktivismus und im sozialen Alltag zu erreichen. Diese Parameter des Umgangs sollten dabei ebenso für die lokalen und nationalen Verhältnisse in Indien oder Südasien gelten wie auch für die Perspektive von außen. Foto von Ahmadudin Wais Nicht einfach also, was das Literaturforum und seine Gäste sich so vornahmen, umso erstaunlicher, dass es funktioniert hat. Quelle der anregenden Vorträge und Diskussionen war dabei die reiche Literatur Indiens selbst und die Darstellung und Reflexion von und über Gewalt, Frauen und den Geschlechterverhältnissen in dieser. Die Literatur blieb also stets Ausgangs- und Bezugspunkt. Zu Beginn der Tagung jedoch sollte zunächst eine Perspektive zu Wort kommen, die soziologische und ethnologische Belange als Ausgangspunkt nimmt. Natürlich eine zentrale Perspektive, wenn man bedenkt, wie sehr die einzelnen Sphären miteinander in Verbindung stehen. Der Vortrag von Dr. Karin Polit basierte auf Daten aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit zum Bereich der Ehre und Pflicht, die als zentrale Handlungsmotivatoren gelten können, und behandelte die Prozesse, die hinter gewalttätigen Handlungen an Frauen stehen. Dabei betonte sie, dass Zuschreibungen wie „Kultur“ oder „Lokalität“ tatsächlich nicht im Zentrum stehen sollten. Relevanter sei zu betrachten, welche Machtkonstellationen zu der jeweiligen Ausführung der Gewalt führten. Gewalt an Frauen sei also nicht das Produkt einer spezifischen kulturellen Konstellation, sondern einer spezifischen Konstellation um Akteure, denen Macht zugänglich ist und die diese auszuüben beabsichtigen. Dies ermögliche eine Analyse von Gewalt in unterschiedlichen Kontexten von Macht. Bereits diese Aussage bringt uns in der Betrachtung der Geschlechterverhältnisse in Indien und ihrem Verhältnis zu Gewalt ein ganzes Stück weiter: Sie verweist darauf, dass es Kontexte gibt, in denen Gewaltausübung als Praxis von Macht eine konkrete Präsenz erhält, und dass es andere gibt, in denen eine solche Ausübung keinerlei Handlungsmotivation beinhaltet. Gewalt ist kein spezifisches Problem, das auf Indien beschränkt ist. Ebenso ist es nicht auf eine spezifische Sphäre des Genders beschränkt. Gewalt an Frauen gibt es auch anderenorts und ebenso gibt es auch Gewalt gegen Akteure anderer Gender oder anderer Distinktionsgruppen. Wichtig ist es zu analysieren, in welchen Kontexten diese Gewalt auftritt, welches ihre Legitimationen sind, woher diese Legitimationen ihre inhärente Logik ableiten und ihre Handlungsmacht erhalten. Der Vortrag von Karin Polit bot somit auf ansprechende Weise eine Einführung in die Thematik: Die folgenden zwei Tage sollten mit ihren Ausführungen zu den verschiedenen Kontexten solcher Gewalt und den anregenden Diskussionen eben solche Fra MEINE WELT 2/2014 47 I TAG U N G S B E R I C H T I gestellungen erörtern. Denn natürlich liegt der Fokus einer solchen Tagung auf der Repräsentation von Gewalt an Frauen in der Literatur, ihrer Artikulation der Möglichkeit der Literatur als Sprachrohr, oder eben ihren Einfluss auf Prozesse der Konstruktion von Narrativen und Konzepten, die eine solche Machtausübung begünstigen oder ihr evtl. entgegenwirken. Hans-Martin Kunz von der Universität Heidelberg behandelte in seinem Vortrag die Erzählung von Mahasweta Devi „Unter der Bluse“, in dem er diese auf den Aspekt der „voyeuristischen Lust“ hin betrachtete. Er verknüpfte diesen Aspekt mit Gewalt und ihren Repräsentationsformen in Medien und Literatur. Im Anschluss an die jeweiligen Vorträge wurden spezifische Fragestellungen ergänzt und andere Themenbereiche, die vielleicht im Vortrag selbst nur kurz tangiert wurden, zur Diskussion gestellt. Arbeitsgruppen Der arbeitsintensive zweite Tag der Tagung, der Samstag, gestaltete sich weiter mit der Aufteilung der Teilnehmenden in drei Workshops, die über ergänzende Perspektiven noch einmal Einblick in weitere Aspekte dieser komplexen Thematik geben sollten. So befasste sich einer der drei Workshops mit dem Thema „Frauen und die christlichen Kirchen in Indien“. Er behandelte Gewalt im Kontext christlicher Vorstellungen in der sozialen Sphäre konservativer und traditionsorientierter Christen in Südindien. Dies ist eine wichtige Perspektive, die sowohl auf den Zusammenhang zwischen religiösen Vorstellungen, Geschlechterverhältnissen und der Gewalt gegen Frauen verweist als auch auf die Nähe zu anderen kulturellen Kontexten jenseits des indischen Subkontinents. Ein weiteres Argument dafür, dass diese Gewalt in unterschiedlichen Faktoren begründet ist und nicht determinierend nach Regionen zu unterscheiden ist. Kulturprogramm Am Abend sorgte ein anregendes Abendprogramm für etwas Entspannung von der Schwere der Themen des Tages. Sandra Ludwig begeisterte hier mit ihrer Aufführung von Tanzstücken aus dem Bharata- INDISCHE WEISHEITEN natyam. Sie bewies, dass sie eine Kennerin der südindischen Tanzkunst ist, und bezog auch das Publikum mit ein, indem sie vor dem jeweiligen Stück die Mudras (Fingergestik) und Abhinayas (Mimik), sowie die Bedeutung der einzelnen Stücke erläuterte. Neben den Darbietungen der begabten Künstlerin gab es zum Ausklang des Abends eine Lesung von Erzählungen aus dem Tamil von Prof. Dr. Dieter Kapp. Die von ihm selbst übersetzen Texte der in Deutschland leider unbekannten Schriftsteller wurden mit einer seltenen emotionalen Authentizität und gleichzeitigen erzählerischen Leichtigkeit von Dieter Kapp vorgetragen. Thematisch lagen diese Geschichten dem Thema Frauen und Gewalt nicht fern und so ergaben sie noch mal einen guten Anlass, um die Reflexionen des Tages fortzuführen. Auch bot die Lesung die Möglichkeit, sich mit tamilischer Literatur auseinanderzusetzen, die unter der Hegemonie der nordindischen Literatur nicht immer ihren Weg nach oben findet. Eine weitere Perspektive auf die Zusammenhänge von dem Einfluss politischer Diskurse und Bewegungen auf Geschlechterverhältnisse und die Verortung von Akteuren in ihnen bot der Vortrag von Nisa Punnamparambil-Wolf und dem Künstler Axaram am dritten Tag der Tagung. In ihrem Vortrag zu „Frauen und die Naxaliten-Bewegung in Indien“ stellten sie die Funktion der Naxalitischen Bewegung als Handlungsraum für Frauen dar und zeigen, wie sich Frauen innerhalb dieser Bewegung verortet zu Akteuren von Gewalt werden. Der Vortrag verdeutlichte auf beeindruckende Weise, wie Frauen selbst gewalttätig werden, wie sie sich aber auch selbst ohnmächtig gegenüber den Mächten eines patriarchalen Systems sehen. Abschlussdiskussion „Wenn dein Ziel groß ist und deine Mittel klein, handle trotzdem. Allein durch dein Handeln werden auch deine Mittel wachsen.“ SRI AUROBINDO (Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag 2014) 48 MEINE WELT 2/2014 In einer abschließenden Sitzung wurden die Ergebnisse der letzten Tage zusammengefasst und im Plenum diskutiert. Es wurde versucht, die unterschiedlichen Variablen des Themenkomplexes „Frauen und Gewalt in Indien“ festzuhalten. Im Folgenden kurz die wichtigsten dieser Variablen. Es geht um die Frage nach den Akteuren, nach ihrem Handlungsraum und nach den Beweggründen ihrer gewaltvollen Hand- I TAG U N G S B E R I C H T I lung. So sind es nicht nur Männer, die Akteure von Gewalt werden. Das Beispiel der naxalitischen Frauen oder unzählige Beispiele der Literatur über das Verhältnis von Schwiegermutter und Schwiegertochter zeigen, wie Frauen zu Akteuren von Gewalt werden, insofern es die Machtkonstellation und der Handlungsraum erlaubt. Die Schwiegermütter-Thematik ist im südasiatischen Raum das Thema unzähliger Erzählungen und Geschichten und ist nicht ohne Grund eines der spannendsten und brisantesten Themengebiete: Heirat bildet für das Leben einer Frau eine zentrale Initiation, verändert aber ebenso das Leben einer Frau, die bereits einen Haushalt führt und in den eine neue Frau in der Person der Schwiegertochter eingeführt wird. Diese neue, jüngere Frau muss sich nun vielen Herausforderungen stellen. Sie muss beweisen, dass sie dem Sohn eine angemessene Ehefrau ist, anständig und fleißig; bestenfalls wird sie irgendwann die Nachfolge der Schwiegermutter als Leiterin des Haushalts übernehmen, was die Situation mit noch mehr Konfliktpotenzial belädt. Das beschriebene Szenario ist nach wie vor eins, das viele Konflikte innerhalb von erweiterten Familien birgt und eine Ursache der häuslichen Gewalt. Ebenso die nach wie vor gängige Praxis der Mitgift. Viel zu oft berichten die Medien von den „Haushaltunfällen“, bei denen junge verheiratete Frauen im Hause ihres Mannes umkommen. Will man häusliche Gewalt betrachten, ist also neben der Gewalt von Männern gegen Frauen dies die häufigste. Diese Problematik referiert ebenso auf Geschlechterverhältnisse. So stehen die Männer in diesen Konflikten, seien es Söhne oder Ehemänner, zwischen den weiblichen Konfliktparteien und müssen sich zwischen Ehefrau und Mutter entscheiden. Doch die Sphären der Gewalt trifft noch weitere Bereiche. So ist das Abtreiben weiblicher Föten nach wie vor Praxis und erinnert uns an eine implizite Form der Gewaltausübung: Frauen und Gewalt kann nicht gedacht werden, ohne die Betrachtung von struktureller Gewalt. Dass Frauen von vornherein nicht die gleichen Chancen erhalten wie Männer ist eine sehr präsente Form der Gewalt, wenn auch nicht so explizit wie die physische Gewalt. Wenn sie mit einem extremen Druck verübt wird, so lässt sich von psychischer Gewalt sprechen. Ist sie hoch formalisiert und über Institutionen ritualisiert, so von institutioneller Gewalt. Die Teilnehmer der Tagung diskutierten an Hand von literarischen Beispielen und Erörterungen jede dieser Gewaltformen und erörterten ihre Verankerung in der Sphäre Südasiens. Ein wichtiger Aspekt dieser Region, dieser Sphäre der sozialen Interaktion Südasien ist jedoch, wie bei so vielen Themen auch, die Dichotomie zwischen Stadt und Land. So gibt es Unterschiede zwischen dem „Frau-Sein“ auf dem Land und dem „Frau-Sein“ in der Stadt. Erwerbstätigkeit und die Reduktion auf Kernfamilien führen in den Städten oft dazu, dass Frauen sich mit einem größeren Handlungsraum bereichert sehen. So führt das zu einer Stärkung ihrer Möglichkeiten und zu einer Reduktion von Gewalt gegen sie. Sexuelle Gewalt, wie sie seit dem Dezember 2012 stetig in den Medien präsent ist, begegnet uns natürlich in den Städten genauso wie auf dem Land. Interessant ist auch, dass die Kontinuität diskriminierender Praktiken gegenüber Frauen auf dem Land eine größere Kontinuität aufweisen als in den Städten, wo eine größere Fluktuation der Werte möglich ist. Der Fall der Gruppenvergewaltigung vom Dezember 2012 gab ebenso Anlass zur Diskussion, ob es einen tatsächlichen Anstieg solcher Vergewaltigungsfälle in den letzten Jahrzehnten gab oder ob es nicht eher eine größere Möglichkeit für die Artikulation dieser Gewalttaten gibt. Vor allem ist sexuelle Gewalt zwischen den Kasten seit Jahrhunderten eine gängige Praxis gewesen und auch lange in den Augen der Ausführenden über die Kastenhierarchie legitimiert. Die Opfer dieser Übergriffe sahen sich oft ohnmächtig der Obrigkeit der hohen Kasten gegenüber und schweigen. Vielerorts sind die Vergewaltigungen von Dalit-Frauen und Adivasi-Frauen in Indien nur Fortführungen dieser Hierarchien und hinterlässt die Opfer ebenso ohnmächtig. Suchen sie sich dann doch ein Sprachrohr und gehen zur Polizei, kann es zudem sein, dass sie von dieser ebenso sexuell missbraucht werden. Die Frage um die Artikulation und Präsenz von Gewalt allgemein und Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit ist auch eine Thematik, die in der Erzählung „Der goldene Gürtel“ von Uday Prakash thematisiert wird. Dort geht es um eine alte Frau, die von ihrer Familie in eine Art Verließ gesteckt wird, um dort abgeschieden von der Öffentlichkeit vor sich hin zu vegetieren. Prakashs starkes Symbol des Verließ’ ist eine zentrale Metapher für die Praxis des Schweigens in der indischen Gesellschaft. Diese Räume des Schweigens treten im- Fleisch-Fakten Planet der Nutztiere: Auf der Erde leben etwa 7,1 Milliarden Menschen, die pro Jahr mehr als 68 Milliarden Tiere schlachten und verspeisen. Mast-Doping: Ein Küken wiegt bei Geburt etwa 42 Gramm und nach 30 Tagen bereits 1500 Gramm. Damit ist das Huhn schlachtreif. Vom Acker zum Trog: Etwa 36 Prozent der Weltgetreideernte geht in die Mastställe. Es gibt jedoch große Unterschiede: In den USA werden nur 35 Prozent der Ernte direkt als Nahrungsmittel verwendet, in China 58 Prozent und in Indien 90 Prozent. Allein aus rund acht Prozent der US-Ernte wird Biosprit hergestellt. Mehr Menschen: Im Jahr 2050 werden mehr als neun Milliarden Menschen leben. Würde die gesamte Welternte direkt zu Nahrungsmitteln verarbeitet, könnte die Erde vier Milliarden Menschen mehr ernähren. Allein ein „Umstieg“ von Rind- auf Hühnerfleisch könnte 357 Millionen Menschen mehr ernähren. (Quelle: General Anzeiger, Bonn, 18.8.2014) MEINE WELT 2/2014 49 I BÜCHER I mer wieder in der indischen Literatur auf und verweisen auf tatsächliche Räume des Schweigens und auf ihre Abstraktionen, auf Räume der Nicht-Artikulation. Fernab der Öffentlichkeit geschehen Gewalttaten, Grausamkeiten und Folterungen. Die Faktoren der öffentlichen Scham und die Angst um die Ehre sind dabei zentrale Motoren dieser Kultur des Schweigens1. Gewalt an Frauen ist sicherlich oft in diesen Räumen des Schweigens verortet. Resümee Frauen und Gewalt ist also eine vielschichtige Begriffssphäre. Sie beinhaltet Akteure, die sich selbst in diesen Konstellationen von Macht und Handlungsraum wiederfinden, sie reproduzieren, sie modifizieren. Der lokale Raum dieser Aushandlungsprozesse ist dabei nicht die dominante Variable, sondern vielmehr die Summe aus historischen, ideologischen und gesellschaftlichen Prozessen, die dazu führen, dass Akteure auf diese Weise agieren. Der Ausdruck dieser Machtausübung ist dabei allzu oft Gewalt. Gewalt, die in ihrer Form, ihrem Ausmaß und Konsequenzen variieren kann, wie auch im Grad ihrer Explizitheit. Die diesjährige Tagung des Literaturforum Indien e.V. lässt sich also als durchweg gelungene Veranstaltung festhalten. Die drei Tage mit Vorträgen und Workshops waren spannend gestaltet. Und auch für eine Behandlung unterschiedlicher Bereiche der komplexen Thematik wurde gesorgt. Die Organisatoren Hans-Martin Kunz und Christian Weiß sowie Frau Kerstin Grapher von der Ev. Akademie Villigst haben eine spannende Veranstaltung konzipiert, die die Teilnehmer zu vielen Diskussionen und Reflexionen angeregt hat – auf der Suche nach den unzähligen Aspekten und Facetten, die dieser Themenkomplex beinhaltet. j 1 siehe hierzu auch: „Die Kultur des Schweigens - wenn Wahrheit zu einer Frage der NichtArtikulation wird “ von Jana Koshy, 2013 50 MEINE WELT 2/2014 Neuerscheinungen im Draupadi Verlag Gayatri Devi: Erinnerungen einer Prinzessin. Die Memoiren der Maharani von Jaipur. Aus dem Englischen übersetzt von Veronika Obst. 338 Seiten Gayatri Devi, geboren 1919, war die Tochter des Maharajas von Cooch Behar. Aufgewachsen in einem Palast mit fünfhundert Dienern, heiratete sie 1940 den Maharaja von Jaipur und wurde als seine dritte Frau die Maharani, die Gattin des Großfürsten. Mit ihrer Mutter reiste sie vielfach nach Europa und gehörte in ihrer Jugendzeit zu den zehn schönsten Frauen der Welt. Nach der Unabhängigkeit Indiens engagierte sich Gayatri Devi in sozialen Belangen und war als Mitglied der liberal-konservativen Swatantra-Partei fünfzehn Jahre lang im indischen Parlament vertreten. Die Maharani von Jaipur verstarb 2009 in Jaipur/ Rajasthan. Die Memoiren von Gayatri Devi gewähren einen sehr persönlichen Einblick in eine Welt, die es heute nicht mehr gibt. Die „Erinnerungen einer Prinzessin“ beleuchten die Geschichte der indischen Fürstenstaaten auf dem Zenit ihrer Macht während der britischen Kolonialzeit bis zu ihrer Auflösung im Zug der Unabhängigkeit und ihrem aktuellen Status in der indischen Gesellschaft. wwww Rabindranath Tagore: Der Ruf der weiten Welt. Erzählungen Aus dem Bengalischen übersetzt von Nirmalendu Sarkar. Rabindranath Tagore (1861-1941) wurde in Deutschland zunächst als Lyriker bekannt. Für die Gedichtsammlung „Geetanjali“ erhielt er 1913 den Literaturnobelpreis. Kurze Zeit später erschien eine deutsche Übersetzung dieser Anthologie. In den Jahren danach wurden vor allem seine Romane und Essays ins Deutsche übersetzt. Von seinen Erzählungen ist bisher nur ein kleiner Teil in Deutschland erschienen. Dabei sind es gerade diese bewegenden Geschichten, die die Menschen des 21. Jahrhunderts ansprechen. Die zehn Kurzgeschichten dieses Bandes sollen dabei helfen, den großen indischen Künstler neu zu entdecken. wwww Nabarun Bhattacharya: Herbert. Ein Kalkutta-Roman. Aus dem Bengalischen übersetzt von Hans Harder. Nabarun Bhattacharyas Erstlingsroman Herbert von 1994 ist eins der erfolgreichsten bengalischen Bücher der letzten Jahrzehnte und wurde mit verschiedenen indischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch die gleichnamige Verfilmung 2005 durch Suman Mukhopadhyay erregte Aufsehen. Herbert erzählt die Lebensgeschichte Herbert Sarkars, eines vernachlässigten Jugendlichen und Angehörigen der unteren Mittelschicht im Zentrum Kalkuttas. Aufgrund spiritistischer Lektüren und vermeintlicher Visionen gelangt Herbert zur Überzeugung, Kontakt mit dem Jenseits herstellen zu können. Er eröffnet ein Büro und bietet „Gespräche mit den Toten“ an, was sich eine Zeitlang als erfolgreiches und lukratives Unternehmen erweist. Bis ihm die Rationalistische Gesellschaft auf die Schliche kommt … I BÜCHER I Neue Bücher Scar City von Shreyas Rajgopal, Roman, aus dem Englischen von Simone Jakob, Ullstein Verlag, Berlin 2014 WerteDialog der Religionen durch die ganze Landschaft der sozialen Übel Indiens führen werden. Shreyas Rajgopal ist ein 28-jähriger Großstadtautor, das Produkt einer geradezu schmerzhaft zeitgenössischen Oberschichtjugend in der 18-Millionen-Metropole Mumbai; seine stärkste literarische Inspiration war der New Yorker DekadenzHorrorklassiker American Psycho von Bret Easten Ellis. Rajgopals Indien ist nicht der Schauplatz einer Ethno-Soap, sondern ein Labor des 21. Jahrhunderts. Seine Romanfiguren interessieren sich für Drogen, Partys und Designermarken, obwohl „interessieren“ kaum das richtige Wort ist; im Grunde interessieren sie sich für gar nichts. Delhi. Im Rausch des Geldes von Rana Dasgupta, Großreportage, aus dem Englischen von Barbara Heller u. Rudolf Hermstein, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014 Die wundersame Beförderung von Vikas Swarup, Roman, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Kiepenhauer & Witsch Verlag, Köln, 2014 Indien. Ein Land und seine Widersprüche von Jean Drèze/ Amartya Sen, aus dem Englischen von Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, C.H.Beck Verlag, München 2014 Vikas Swarup, hauptberuflich Diplomat in Neu Delhi, ist der Autor des Romans, der die Grundlage für den berühmten Film „Slumdog Millionaire“ lieferte. In seinem neusten Roman „Die wundersame Beförderung“ handelt es sich um die Verkäuferin Sapna Sinha, die an einem sonst vollkommen gewöhnlichen Tag von einem geheimnisvollen Fremden ein gigantisches Erbe angetragen bekommt, die Führung einer weitverzweigten Unternehmensgruppe. Die Bedingung: Sapna muss sieben Prüfungen bestehen, moralische Tests, über die sie vorab nichts erfährt, die sie jedoch Das Delhi, das der Autor beschreibt, ist ein kalter, von Immobilienspekulation und Konsumzwang beherrschter Platz, ein Ort der seelischen und moralischen Verwüstung, wo Geschäftsleute die Konkurrenz wie einen Krieg betreiben und wo Kranke in den Privatkliniken bis an die Schwelle des Todes mit überflüssigen Therapien gequält werden, um ihren Angehörigen ruinöse Honorare abzunehmen. Drèze und Sen haben ihr Buch gegen den Hype um das Wirtschaftswunderland und die kommende Supermacht Indien geschrieben, der vor ein paar Jahren große Mode geworden ist. Kindersterblichkeit und Unterernährung, Analphabetismus und mangelnde Sanitätsversorgung sind nach ihrer Analyse immer noch schwere Handicaps, manchmal schlimmer als in berüchtigten Elendsländern wie Bangladesh. Die Verständigung über die zentralen und unser Handeln bestimmenden Werte ist für den interreligiösen Dialog zwischen Christentum, Judentum und Islam von immenser Bedeutung. Einen besonderen Akzent setzt dieser Band mit 12 Beiträgen zur Wertebildung und zum Wertedialog in der Praxis. Berichtet wird von neun Lernorten: Kindergarten und Schule, Jugendarbeit, Universität, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit, Krankenhaus, Pilgern, Museum und Dialoginitiativen. Bei Rückenschmerzen hilft keine Bettruhe bereichern würde. Der quasi Einweg-Monolog „Meine Welt zum Leser“ würde sich in einen fruchtbaren Dialog umwandeln. Also bitte ich, nein fordere ich die Aktivleser hiermit auf, ihre Wünsche an die Redaktion zu melden. Herzlich Ihr, Mehr als 70 Prozent aller Menschen in den Industrienationen leiden irgendwann im Leben einmal an Rückenschmerzen. Einige von ihnen gehen damit zum Arzt, und der hat, neben viel Mitgefühl natürlich, oft auch den Rat parat, sich zu schonen und am besten mal ins Bett zu legen. Das aber ist grundfalsch, es macht die Beschwerden oft nur noch schlimmer. Richtig wäre das genaue Gegenteil: aktiv bleiben, Gymnastik machen, joggen oder spazieren gehen. Dabei kann man sich immer wieder zwei Zahlen aufsagen, die die Schmerzen vielleicht eine Zeit lang vergessen lassen: 90 und 6. Sie bedeuten, dass bei 90 Prozent der Betroffenen akute Rückenschmerzen innerhalb von sechs Wochen ganz von allein verschwinden. G O PA L K R I PA L A N I Braunschweig (Quelle: DIE ZEIT, 16.10.2014) (Aus: „Die Zukunft kommt aus Indien“ von Jan Ross, Die Zeit Literatur 2014) LESERBRIEF Meine Welt hat über die Jahrzehnte hinweg den Lesern ein dickes Paket an Information über Indien geboten. Wenn aber die Leser auch noch Themen setzen und ihre Redaktion mit der Recherche beauftragen würden, entstände eine neue Partnerschaft, welche Meine Welt, die Leser und die Verfasser der Beiträge Freise, Josef / Khorchide, Mouhanad (Hrsg.) Überlegungen und Erfahrungen zu Bildung, Seelsorge, Sozialer Arbeit und Wissenschaft, Herder Verlag 2014 MEINE WELT 2/2014 51 I NOBELPREIS I Friedensnobelpreis für Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi Der diesjährige Friedensnobelpreis geht an die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Malala Yousafzai und an den indischen Kinderrechtsaktivisten Kailash Satyarthi. Damit wurde ihr Eintreten gegen die Unterdrückung von jungen Menschen und für deren Recht auf Bildung gewürdigt. Kinder müssten die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, und müssten vor Ausbeutung geschützt werden, erklärte das Nobelpreiskomitee in Oslo. Die 17-jährige Malala Yousafzai ist die mit Abstand jüngste Trägerin des Friedensnobelpreises. Die Pakistanerin war 2012 wegen ihres Einsatzes für Schulbildung für Mädchen von Kämpfern der radikalislamischen Rebellenbewegung der Taliban auf dem Weg zur Schule angeschossen worden. Dabei erlitt sie schwere Verletzungen am Kopf. Trotz des Attentats setzte sie ihren Kampf für das Recht der Mädchen auf Bildung fort. Diesen Einsatz würdigte das Nobelkomitee. „Durch ihren heroischen Kampf ist sie zu einer führenden Fürsprecherin für das Recht von Mädchen auf Bildung geworden“, hieß es. Kailash Satyarthi ist in der Öffentlichkeit weniger bekannt. Er engagiert sich seit vielen Jahren mit friedlichen Protestaktionen gegen Kinderarbeit und die Ausbeutung von Kindern. Er hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Rechte von Kindern in internationalen Konventionen 52 MEINE WELT 2/2014 festgeschrieben wurden. Er habe damit in der Tradition von Gandhi großen Mut bewiesen, betonte das Nobelkomitee. Abhimanyu Singh, Direktor und Vertreter UNESCO, Ostasien, schrieb in einem Beitrag „Hero oder persona non grata?“, der am17.10.14 in der indischen Zeitung „The Hindu“ erschien: „Menschen wie Satyarthi riskieren ihr Leben bei Konfrontationen mit unberechenbaren Bürokraten, die unschuldigen und schutzlosen Kindern ihre Lebenschancen und Würde entziehen. Sie befreien die Kinder von langjähriger Versklavung und Knechtschaft und versuchen, Bildung für sie möglich zu machen. Ihm zuzuhören alle diese Jahre bei der UNESCO war sehr bewegend und inspirierend, insbesondere wenn er Geschichten erzählt von Kindern aus unterschiedlichen Ecken dieser Welt, wie sie von extremer Armut und Elend durch die Arbeit von mutigen Menschen und Organisationen wie Bachpan Bachao Andolan (Die NGO von Satyarthi) gerettet werden.“ j J O S E P U N N A M PA R A M B I L (Quelle: Internet und verschiedene Pressemeldungen) Die Geschichte von MüllbergKindern Malala, die Friedensnobelpreisträgerin, erzählt … Eines Nachmittags, als meine Brüder nicht zu Hause waren, bat mich meine Mutter, die Kartoffel- und Eierschalen wegzuwerfen. Ich ging zum Müllberg und rümpfte die Nase, wedelte die Fliegen vor meinem Gesicht weg und achtete darauf, dass ich mit meinen hübschen Schuhen nicht in irgendwelchen Unrat trat. Wenn ich bloß Sanjus Zauberstift gehabt hätte, um alles auszuradieren: den Gestank, die Ratten, den riesigen Berg voller verfaulender Essensreste. Als ich unseren Müll auf den Berg warf, sah ich, wie sich etwas bewegte. Ich sprang zurück. Es war ein Mädchen in meinem Alter. Ihre Haare waren strähnig, und ihre Haut war mit Schorf bedeckt. Sie sortierte den Müll in kleine Haufen, einen für Dosen und einen für Flaschen. In der Nähe durchwühlten Jungen den Dreck auf der Suche nach Metall. Sie benutzten dafür Magnete und Schnur. Ich wollte etwas zu ihnen sagen, aber ich hatte Angst. Als mein Vater später am Nachmittag nach Hause kam, berichtete ich ihm von meiner Begegnung und schleifte ihn zum Müllberg. Er sprach die Kinder freundlich an, aber sie liefen weg. Ich fragte ihn, warum sie nicht in der Schule waren. Er erklärte, dass diese Kinder ihre Familien unterstützen mussten, indem sie alles verkauften, was sie fanden und was ein paar Rupien wert war. Wenn sie in die Schule gehen würden, müssten ihre Familien hungern. Als wir nach Hause gingen, sah ich Tränen auf seinen Wangen. Aus: „Malala. Meine Geschichte“ von Malala Yousafzai mit Patricia McCormick, aus dem Englischen I KIRCHE I Rainer Maria Kardinal Woelki ist Erzbischof von Köln INDISCHE WEISHEITEN „Wenn Frieden mehr sein soll als die bloße Abwesenheit von Krieg, muss er auf der Stärke der Gerechten und darf nicht auf der Unterdrückung der Schwachen beruhen.“ Ab dem 20. September 2014 ist Rainer Maria Kardinal Woelki Erzbischof von Köln. Er wurde am 18. August 1956 in Köln geboren. Die Priesterweihe empfing er 1985 in Köln, hier war er 2003-2011 auch Weihbischof. 2000 wurde er in Rom zum Doktor der Theologie promoviert. Von 2011 bis 2014 war er Erzbischof von Berlin. 2012 erhob ihn Papst Benedikt XVI. zum Kardinal. Der neue Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki sieht die Flüchtlingshilfe als eine seiner wichtigsten Aufgaben für die kommenden Monate. Es gehe um die Unterbringung der Flüchtlinge, um Familienzusammenführung und Integration, sagte Woelki am Mittwoch in Köln. Der neue Erzbischof, Nachfolger von Kardinal Meisner, wurde am Samstag, dem 20. September 2014 in sein Amt eingeführt. JP R A B I N D R A N AT H TA G O R E (Quelle: Presseberichte) (Quelle: „Pfade der Erleuchtung“, 365 indische Weisheiten, Olaf Krüger, Frederking & Thaler Verlag 2014) MEINE WELT 2/2014 53 I KUNST I Christliche Kunst von Schwester Claire (Kontakt: art.i, Office for Social Communications, CBCI Centre, 1 Ashok Place, New Delhi, India. Email: cbcimogmail.com) 54 MEINE WELT 2/2014 I INDIEN I Die Vielfalt Indiens Fotos von Rainer Thielmann (Aus: „Indien von innen“, Reiselyrik Verlag) MEINE WELT 2/2014 55