Die Handicap-Gesellschaft
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Die Handicap-Gesellschaft
7 ABSTRACT Wir befinden uns auf dem Weg zu einer behinderten Gesellschaft. Zerbrechende Familien, steigende Gewaltbereitschaft und eine auffällige Zunahme von psychischen Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kennzeichnen die Situation unserer Gesellschaft. Möglicherweise unterscheiden sich die Individuen nur durch den Grad ihres Handicaps. Mögliche Ursachen im Sinne von synergistisch wirkenden Faktoren werden vom Verfasser aufgezeigt. Die Daten, Überlegungen und Fragmente liefern die Grundlage zur Entwicklung eigener Sichtweisen, ohne den Anspruch auf endgültige Antworten zu erheben. Die vielfältigen Informationen sind nicht nur für Menschen in sozialen Berufen sondern auch für jeden interessierten Laien zur Überprüfung „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse eine Bereicherung. 8 9 Vorwort Die ursprüngliche Fragestellung dieser Arbeit lautete: „Hat sich der Zustand unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch negativ verändert – oder ist diese Sichtweise eine nur sehr persönliche des Verfassers?“ Um diese selbstgestellte Frage zu beantworten, habe ich versucht, Daten und Fakten zu sammeln, die Auskünfte über Ursachen von gesellschaftlichen und persönlichen Störungen geben könnten. Es war mir dabei wichtig aufzuzeigen, dass die Gründe für eine mögliche Verschlimmerung des gesellschaftlichen Zustandes sehr komplex und miteinander verflochten sind und ihre Ursprünge auch bei den vorausgehenden Generationen und ihrer Lebensweise zu suchen sind. Niemand weiß, wie sich die seit Jahrzehnten zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft, unser Umgang mit den Medien oder die zunehmende Technisierung langfristig gesellschaftlich auswirken wird. Bei genauer Betrachtung ist mir jedoch der Eindruck entstanden, dass wir aufgrund einer meist selektiven Betrachtungsweise nicht mehr in der Lage sein können, die auf uns einwirkenden, unzähligen und unüberschaubaren Faktoren in ihrer Wirkung und in ihren Wechselwirkungen zu beurteilen. Daten, in Form von Zahlen als Produkt des menschlichen Geistes, sind nicht mehr „Gegebenes“ in ursprünglicher Form; sie werden durch den menschlichen Geist bei ihrer Erfassung, Interpretation und Präsentation zu „capta“; Denkergebnisse präsentieren sich somit als Gefangene des menschlichen Geistes. Menschliches Leid, in Zahlen ausgedrückt, bedeutet zugleich immer auch „Entmenschlichung“. Dennoch ist dieses Vorgehen, diese Gefangennahme des Menschlichen nötig, um eine Vorstellung von bestimmten Vorgängen in unserer Gesellschaft zu erhalten. Welche Faktoren können dazu führen, dass Menschen Schaden erleiden und wie können mögliche Reaktionen des Individuums und auch der Gesellschaft auf diese schädlichen Einflüsse aussehen? Mit Sicherheit sind unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten denkbar und möglich. Ähnliche Gedanken und Empfindungen beschäftigten vielleicht zu allen Zeiten immer wieder den menschlichen Geist. 10 Das Wissen in unserer Gesellschaft nimmt schnell zu. Informationen sind schnell erhältlich, können aber nur selten überprüft werden. Mit der vorliegenden Wissenssammlung soll der interessierte Laie – als solcher sieht sich der Verfasser selbst – einerseits Zugang zu einem Fachwissen aus verschiedenen Bereichen erhalten, andererseits soll mit diesem Wissen die Möglichkeit genutzt werden, zu beobachten und zu hinterfragen, ob die aufgezeigten Fakten, Daten und Zahlen mit unseren eigenen Beobachtungen und Nachforschungen in Einklang zu bringen sind. Sehr bewusst wurde diese Sammlung mit dem Beiwort „fragmentarisch“ versehen. Dem Verfasser ist vollkommen klar, dass jedes Wissen immer nur fragmentarisch sein kann. Neues Wissen wirft neue Fragen auf und vergrößert gleichzeitig die Umgebung des „Nicht-Wissens“. Kritische Überprüfungen unter neuen Fragestellungen ergeben neue Antworten auf eine gleiche Frage. Wirtschaftliche, politische und persönliche Interessen beeinflussen in großem Maße Forschung und wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Aufgrund der vielen aufgeführten Zahlen und Fakten besteht die Möglichkeit von Irrtümern, obwohl ich mir große Mühe gegeben habe, die Quellen genau anzugeben. Die ausgewählten Berichte wurden von mir oftmals gekürzt. Dabei können sich „Verfremdungen“ oder „Entstellungen“ ergeben. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, alles Gelesene immer vollständig im Sinne der jeweiligen Autoren verstanden zu haben. Bei der Zusammenfassung der unzähligen Informationen kann es zur Übertragung von Fehlern gekommen sein. Kein Mensch kann alles bisher Erforschte wissen. Es ist ein Anliegen dieser Sammlung, Wissen zugänglich zu machen, das wichtig ist, um auch in Zukunft gesund leben zu können oder um andere Sichtweisen zu ermöglichen. Vielleicht können die einzelnen Beiträge Stoff zu Diskussionen liefern, persönliche Hilfestellungen bei Entscheidungen oder aber Anreiz zu Überprüfungen und persönlichen Nachforschungen sein. Unsere Kultur wird untergehen, ebenso wie andere Kulturen untergegangen sind. Zugleich werden neue Generationen neue Werte pflegen oder anders bewerten. Entscheidend ist für mich jedoch, 11 woran wir uns orientieren und wie wir die vorhandenen Erkenntnisse umsetzen. Dabei scheint mir die Orientierung an politischen Vorbildern sehr fragwürdig. Zu offensichtlich sind die Bestrebungen der tonangebenden Führungsschichten in allen Staaten, immer mehr Macht zu gewinnen und den Begriff „Demokratie“ zu missbrauchen. In jedem Fall wünsche ich mir nach den vielen Jahren des Sammelns, dass durch die vielen Informationen Erklärungen und Verständnis möglich werden für die tiefgreifenden Veränderungen, die sich vollziehen. Die fettgedruckten Textstellen sind nicht im Original vorzufinden; sie wurden jeweils durch mich im Text hervorgehoben. Zitierte Textstellen wurden der neuen Rechtschreibung angepasst. Es ist mir auch noch wichtig, zu betonen, dass ich Verallgemeinerungen wie „die Deutschen“, „die Amerikaner“ oder „die Ärzte“ u.s.w. nicht gut heiße. Die entsprechenden Angaben beziehen sich meist nur auf die jeweiligen, geschilderten Tatsachen. Die am Ende des Buches angehängten „Fragmente“ sollen als aktuellste Informationen Vergleiche und Ergänzungen ermöglichen. Immer wieder habe ich Zeitungsartikel als Informations- und Arbeitsgrundlage verwendet. Den Verfassern bin ich für ihre Arbeit ebenso dankbar, wie den Autoren, auf deren Wissen und Erfahrungen ich zurückgreifen konnte. Mein besonderer Dank gilt meinem Freund Heiner Meier für seine große Geduld bei den Korrekturarbeiten, bei der Beratung und der Gestaltung des Einbandes; ohne seine wertvolle Hilfe hätte ich dieses Buch nicht vollenden können. Schwabsoien, den 1. Mai 2002 Jörg Walter 12 13 Die synergistische Wirkung verschiedener Faktoren bei der Entstehung von Behinderungen Bei allen derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist zu berücksichtigen, dass sie dem momentanen Forschungsstand entsprechen. Schon morgen kann sich herausstellen, dass das Wissen von heute nicht mehr aktuell ist, da es durch neue Untersuchungen unter veränderter Fragestellung, anders angeordnete Versuchsreihen, durch andere Auftraggeber und somit durch andere Interessen und Finanzierung widerlegt wurde. Auch die angenommene synergistische Wirkung vieler möglicher Faktoren verändert sich somit ständig. Nur die eigene Beobachtung, die eigenen Fragestellungen und der ständige Versuch, das Beobachtete mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in eine Beziehung zu bringen und uns mit anderen über die Beobachtungen und eigenen Konstrukte auszutauschen, kann uns der Wahrheit ein Stück näher bringen. Wissenschaft ist somit nichts Statisches, Festes, – sondern im Gegenteil abhängig von der jeweiligen Perspektive und zugleich das Ergebnis ständig wechselnder Sichtweisen; Wissenschaftler sollten sich und ihre Ergebnisse immer wieder bewusst der Kritik aussetzen, um Fehler zu entdecken und Forschungsergebnisse zu hinterfragen und zu verbessern. 14 Ein Überblich über die Möglichkeiten des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren Ernährung Genmanipulationen Gifte Chemikalien Farbstoffe Konservierungsstoffe Mikrowellengeräte Schwangerschaft praktizierte Verhütung Pille Alter Bedingungen Hormone Strahlung Globale Elektrifizierung Röntgenstrahlung Fernsehen Handys Medikamente fragwürdige Behandlungsmethoden Medien Bewusstseinsbildung Schulsystem Faktoren verstärken sich gegenseitig Vererbung Wissen um die Krankheiten der Vorfahren Iatrogene Faktoren Fehler bei der Geburtshilfe Krankenhausinfektionen Impfinfektionen Zerstörung des Immunsystems Impfungen: eine fragwürdige Vorbeugung Lebensweise Bewegung Drogen Rauchen Alkohol Sexualität Schlaf Umgang mit Krankheiten Bewusstsein Zeit für Krankheiten Reisen Lärmquellen Umgang mit psychischen Problemen persönliche und industrielle Profitgier Steuerrecht Gesellschaftliche Vorbilder Arbeitsbedingungen Missbrauch in der Familie Erziehungsfehler Ethik Lebensstil Amerikanisierung 15 Das menschliche Gehirn: Ausgangspunkt unserer Wirklichkeitsauffassung „Hirn als Subjekt studiert Hirn als Objekt.“1 Die Erforschung des Gehirns durch das menschliche Gehirn selbst wird von WATZLAWICK durch die sich ergebende Rückbezüglichkeit und die daraus resultierenden logischen Probleme als fragwürdig angesehen. Subjekt und Objekt sind somit nicht mehr auseinander zu halten. Aggressivität – Beherrschung – Gewalttäter – Kontrollsysteme im Gehirn Teile des frontalen Cortex (Stirnhirn) sind für die Impulskontrolle und somit für die Beherrschung von Aggressivität von entscheidender Bedeutung. DAMASIO2 beobachtete an zwei jungen Erwachsenen, deren Stirnhirn in frühester Kindheit verletzt worden war, unangepasstes Verhalten und explosionsartige Wutausbrüche. Auch RAINE3 konnte bereits 1998 bei der Untersuchung der Gehirnaktivität von 41 Mördern mit Hilfe der Positronen-EmissionsTomographie feststellen, dass Teile des Präfrontalcortex bei den Tätern, die im Affekt getötet hatten, eine auffallend geringe Aktivität aufwiesen. Im Gegensatz dazu war ein Teil des Mandelkerns (Amygdala), der für die Verarbeitung negativer Erfahrungen wie Furcht und Angst zuständig ist, besonders aktiv. Die Aktivitäten des Stirnhirns gleichen einer Notbremse, bevor aggressive Handlungen ausgeführt werden. Bei impulsiven Gewaltverbrechern scheint diese Notbremse nicht funktionsfähig zu sein. Auch das Hirnvolumen scheint dabei eine wichtige Rolle zu spielen. So besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen einer reduzierten Menge an grauer Substanz des Stirnhirns und der Neigung zu unkon- 1 WATZLAWICK/KREUZER, 2001, S. 42, in: Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit 2 Nature Neuroscience, 1999, Bd. 2, S. 1032, in SZ, 187, 2000, V2 /9 3 New Scientist, 2000, Nr. 2238, S. 42 16 trollierten Gewaltausbrüchen.4 Bei Gewalttätern war das Volumen durchschnittlich um 11% geringer. Auch dem Serotonin-Stoffwechsel im Stirnhirn wird eine bedeutende Rolle bei aggressivem Verhalten zugeschrieben. Eingriffe in den Serotonin-Herstellungsprozess im menschlichen Organismus bestätigen diese Vermutung. Sonst unauffällige Männer zeigten eine erhöhte Bereitschaft, aggressiv auf Provokationen zu reagieren.5 Störungen des Systems Stirnhirn, Serotoninbahnen, Mandelkern und einigen anderen Hirnregionen können nach DAVIDSON genetisch bedingt sein, sind aber auch auf Hirnschäden bei der Geburt, Umwelteinflüsse oder eine gestörte Beziehung zur Mutter zurückzuführen. Angst – eine Spurensuche im Gehirn Neuere Vermutungen gehen davon aus, dass bei der Empfindung von Angst oder Panik hormonell-elektrophysiologische und neurochemische Reaktionen tief im Inneren des Gehirns im Bereich der Mandelkerne (Amygdalae) stattfinden. Eine „vernünftige“ Angst ist für jeden Menschen lebensnotwendig. „Entgleiste“ Angst führt zu erlebtem Dauerstress. THOMÄ: „Die Angst sitzt nicht im Mandelkern. Soweit neurophysiologische Veränderungen in der Amygdala bei Angstsyndromen zu finden sind, handelt es sich nicht um deren Ursache, sondern um die Folge einer Anpassung an die ständige subliminale (unterschwellige) Wahrnehmung von Gefahren.“6 Psychosoziale Bedingungen sind nach heutiger Lehrmeinung für die Entstehung neurotischer Ängste verantwortlich. „Sie entstehen vom ersten Lebenstag an in zwischenmenschlichen Interaktionen und Konflikten. . . . “ Nach ROTH muss in Zukunft die duale Einheit von Gehirn und Seele (Bewusstsein) darauf hin befragt werden, wie ihre Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kultur stattfindet. Eine kognitive 4 Archieves of General Psychiatry, 2000, Bd. 57, S. 119 DAVIDSON in Psychopharmacology, 1999, Bd. 142, S. 124 6 THOMÄ ist Professor für Psychotherapie an der Universität Ulm; Eröffnungsvortrag bei einer Tagung im Hanse-Wissenschaftskolleg zu Delmenhorst; ROTH ist Direktor des Wissenschaftskolleges. 5 17 Verhaltenstherapie, nötigenfalls gekoppelt an eine medikamentöse Therapie, zeigt zurzeit die besten Erfolge bei der Behandlung von Angststörungen. Bei menschlichen Angsterkrankungen spielen auch Veränderungen im Serotonin-Stoffwechsel eine Rolle. Versuche an Mäusen weisen auf eine wichtige Rolle der Serotonin-Rezeptoren hin. LESCH7 geht davon aus, dass es beim Menschen eine besonders empfindliche Phase für die Entwicklung von Ängstlichkeit gibt. Bildung neuer Nervenzellen – Aufgabe der Neurotransmitter Neue Nervenzellen im Gehirn entstehen nicht nur wie bisher angenommen während der frühkindlichen Entwicklung. In den mit Flüssigkeit gefüllten Räumen des Hirns bilden sich neue, undifferenzierte Zellen an den Wänden, die sich nach weiterer Entwicklung in die Hirn-Schaltkreise integrieren. Zudem gelingt es den Nervenzellen, einen Weg in die Hirnrinde zu finden, obwohl die Leitstrukturen, die während der frühen Entwicklung wegweisend waren, im Erwachsenenalter nicht mehr existieren. In den betroffenen Bereichen der Hirnrinde finden Lernvorgänge statt. Es wird vermutet, dass die neuen Zellen bereits an diesen Lernvorgängen beteiligt sind. Bisher ging man davon aus, dass nur eine Vernetzung unter den vorhandenen, bereits ausgebildeten Zellen erfolge.8 Bisher galt die Lehrmeinung, dass Nervenstrukturen ohne das Vorhandensein von chemischen Botenstoffen während der Embryonalentwicklung nicht gezielt wachsen können. Jetzt wurde aufgezeigt, dass Nervenzellen und Axone ihren Platz im Gehirn auch ohne Neurotransmitter finden. Auch die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen entwickeln sich zunächst normal.9 Die Nervenzellen in den Gehirnen genetisch manipulierter Mäuse gingen jedoch nach dem Aufbau des neuronalen Netzes kurzfristig zugrunde. Offensichtlich besteht die Aufgabe der Neurotransmitter darin, die Verbindungen aufrechtzuerhalten. 7 SZ, 76, 2002, V2 /7; LESCH ist Psychobiologe in Würzburg. Nature Medicine, 1998, Bd. 4, S. 1313, und Nature Biotechnology, 1999, Bd.17, S. 653 in SZ, 242, 1999, V2 /13 9 Science, Bd. 287, 2000, S. 864 und in SZ 43, 2000, V2 /11 8 18 Blinde hören um die Ecke Die Hirnbereiche sind bei ihnen anders organisiert. Sie können Geräusche nur von der Seite besser orten, als Sehende mit verbundenen Augen. Bei vielen Blinden sind im Gehirn Areale zerstört, die für das Sehen zuständig sind. Noch vorhandene Nervenzellen können jedoch vom Gehörsystem „angelernt“ werden.10 Charakter-Zentrum – Entwicklung Das Vorderhirn wird nach dem heutigen Wissensstand als Sitz der Persönlichkeit angenommen. Durch die Rekonstruktion des Gehirns eines Unfallopfers mit Hilfe von Computerprogrammen ließen sich unter Verwendung des Original-Schädels die verletzten Hirnareale präzise feststellen. Im Vorderhirn wird das menschliche Erleben verarbeitet. Verletzungen in dieser Region – auch Tumorerkrankungen oder andere Erkrankungen zeigen auffällige Folgeerscheinungen. FÖRSTL: „Der Patient wirkt verhaltensgestört, distanzlos oder sexuell enthemmt. Höhere geistige Leistungen wie Urteilen und Planen sind beeinträchtigt oder Antriebslosigkeit fällt auf.“11 Auch die „Picksche Erkrankung“ – eine Form der Demenz – kann in den vorderen Abschnitten des Großhirns entstehen. Die Diagnose wird unter anderem durch bildgebende Verfahren wie Kernspin- oder Computertomographie und das PET (PositronenEmmissions-Eomographie) abgesichert. Für betroffene Familien ist eine entsprechende Unterstützung wichtig, um mit diesen Erkrankungen umgehen zu können. Unsere Charakterentwicklung ist stark durch die Entwicklung unseres limbischen Systems geprägt (siehe auch: Emotionen und Vernunft/Lernbehinderungen). Im Alter bis zum vierten Lebensjahr sind wesentliche Merkmale stark ausgeprägt. Mit zunehmendem Alter wird der Aufwand zu einer Änderung immer größer. Für Persönlichkeitsänderungen im Erwachsenenalter zeichnen oftmals Lebenskrisen, eine stark fordernde Partnerschaft oder „emotionale Revolutionen“ verantwortlich. 10 Nature, 1999, Bd. 400, S. 162, in SZ, 158, 1999, V2 /9 MM, 65, 2000, S. 4; FÖRSTL (Professor für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar in München) auf einem Symposium in München. 11 19 Denkvermögen – durch Verliebtheit beeinträchtigt BARTELS12 stellte fest, dass die für Gedächtnis und Konzentration zuständigen Gehirnregionen im Zustand der Verliebtheit – ähnlich wie bei der Einnahme von Drogen – träge werden. Wird der/die Verliebte gesehen, werden vier kleine Hirnareale – genau wie bei dem Konsum von Drogen – heftiger durchblutet und somit stimuliert. Zusätzlich sind bei den Verliebten auch die für Depressionen und Ängste zuständigen Bereiche weniger aktiv als im Normalzustand. Depressive Selbstmordopfer Bei der Untersuchung und dem Vergleich der Gehirne mit denen von psychisch Gesunden wurde festgestellt, dass bei den Selbstmordopfern bestimmte Serotonin-„Autorezeptoren“ verstärkt Signalmoleküle an sich gebunden hatten. Durch diesen Vorgang wird verhindert, dass die Botenstoffe, von denen sie selbst aktiviert werden (in diesem Fall Serotonin), weiter produziert werden. Dies bewirkt möglicherweise, dass der Serotoninspiegel absinkt und im Gehirn ein Mangel auftritt. Damit verbunden sind in der Folge Depressionen. Medikamente, die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen sollen, werden durch die Autorezeptoren in ihrer Wirkungsweise verzögert. Möglicherweise ist es durch das Verabreichen von Substanzen, die die Autorezeptoren der Serotonin-Nervenzellen blockieren, neben der Einnahme von Antidepressiva möglich, die erwünschte Wirkung zu erzielen.13 12 13 MM, 87, 2001, S. 10; BARTELS ist Schweizer Wissenschaftler. Journal of Neuroscience, Bd. 18, 1998, S. 7394 20 Emotionen und Vernunft14 Hirnregion Amygdala (Mandelkern) Vermutete Zuständigkeit Negatives in unserem Leben, das mit Furcht und Angst in engem Zusammenhang steht Ventrales tegmentales Areal u. Positive, beglückende und lustvolle nucleus accumbens Erlebnisse; Ort der Wirkung von Drogen Hippocampus-Formation Episodisches Gedächtnis (was,-wann,-wo, und wie geschah) Entorhinaler, parahippocamBloßes Faktenwissen und dessen paler u. perirhinaler Cortex Organisation (= Rinde, die den Hippocampus umgibt) Limbisches System Das Limbische System beginnt seine Arbeit bereits im Mutterleib und setzt sie in den ersten Lebensjahren fort, noch bevor sich das „Ich“ zu entwickeln beginnt. Der Charakter oder die Persönlichkeit wird somit vorbewusst mit Hilfe dieses Systems geformt. Gegen spätere Erfahrungen wird eine zunehmende Resistenz aufgebaut. Dieses System wird abgefragt, ob bereits Vorerfahrungen mit ähnlichen oder denselben Situationen gemacht wurden und welcher Art diese Erfahrungen waren. Es sorgt dafür, dass wir dasjenige tun, was sich in unserer Erfahrung bewährt hat, oder das unterlassen, was sich nicht als nützlich erwiesen hat. Das „Ich“ beginnt sich erst ab dem dritten oder vierten Lebensjahr in 14 SZ, 85, 2000, V2 /17; nach einem Vortrag von ROTH (Neurologe an der Universität Bremen) anlässlich der Psychotherapiewoche in Lindau 21 seinen typischen menschlichen Erscheinungsformen zu entwickeln und wird in diese „limbische“ Persönlichkeit hineingestellt und von ihr getragen. Bewusstseinsfähige Großhirn- Wird dann zugeschaltet, wenn rinde /Cortex Ereignisse in zahlreichen Details wahrgenommen und gespeichert (leid- oder lustvolles Geschehen) oder aber verschiedenartige Gedächtnisinhalte verknüpft werden sollen. Auch die komplexe Handlungsplanung in neuen Situationen wird durch den Cortex gesteuert. Entwicklungsschübe im Gehirn Sie wurden durch Hirnaufnahmen bei Kindern und Jugendlichen im Kernspintomographen erstmals nachgewiesen. Im Alter von sechs bis 15 Jahren finden im Gehirn des Menschen offenbar dramatische Veränderungen statt: In einigen Hirnarealen kommt es zu starken Wachstumsschüben, andere werden umgebaut und verkleinert. Der Balken, der beide Hirnhälften verbindet, wächst bei Kindern zwischen sieben und elf Jahren um 22%, jedoch nur im hinteren Bereich des Balkens, der offenbar mit dem verfeinerten Spracherwerb zu tun hat.15 Entwicklung des Gehirns – Handlungskontrolle: drei Theorien 1. 2. 3. 15 Weil die Reifung bestimmter Nervenzellen bereits vor der Geburt stattgefunden hat, können Babys bereits früh schon Gesichter erkennen. Neues Verhalten entsteht nach JOHNSON aber auch durch veränderte Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Hirnregionen. Kinder erlernen neue Verhaltensweisen ähnlich wie Erwachsene. MM, 71, 2000, J 4 22 Entscheidend ist offensichtlich die Stärke der Eigenaktivität des Säuglings bezüglich der Entwicklung seiner Auffassungsgabe. Das Kind selbst spielt also möglicherweise eine entscheidende, aktive Rolle bei der Ausbildung bestimmter Hirnfunktionen. JOHNSON: „Bei der Entwicklung der Hirnfunktionen nach der Geburt folgen nicht passive Reifungs-Schritte aufeinander. Es ist vielmehr ein Prozess, der von der Aktivität des Kindes abhängt.“16 Wichtig ist jedoch, darauf zu achten, dass Babys nicht bewusst mit Reizen überflutet werden oder dass Eltern ständig versuchen, deren Aufmerksamkeit zu bekommen. In solchen Fällen wird oft genau das Gegenteil erreicht. Die Kleinen schotten sich gegen die Reize ab und scheinen nicht zu reagieren. 17 Epilepsie Mit Hilfe der Chaosforschung sollen Frühwarnsysteme zur Vorhersage von Epilepsieanfällen entwickelt werden. ELGER weist darauf hin, dass es in Deutschland etwa 600 000 an Epilepsie erkrankte Menschen gibt. Bei 30% dieser Personengruppe sprechen Medikamente nicht an. Auch bei gesunden Menschen gibt es ständig sogenannte „Bursts“ (ständige elektrische Entladungen von Nervenzellen). Bis jetzt noch unbekannte Mechanismen sorgen dafür, dass diese Entladungen nicht simultan bei benachbarten Nervenzellen ablaufen. Durch die Anwendung der „nichtlinearen Zeitreihenanalyse“ von Hirnströmen ist die Vorhersage von Anfällen bei Epileptikern möglich. Dieses Verfahren ist ein Ableger der Chaosforschung. Chaotische Zustände liegen zwischen klar zuzuordnenden Ursachen und dem blinden Zufall. Mit dem neuartigen Messverfahren lassen sich die Anfälle bis zu einer halben Stunde vorher erkennen.18 16 SZ, 296, 2001,V2 /8; JOHNSON arbeitet an der University of London. 17 PAPOUSEK & PAPOUSEK auf dem Kongress „Wahrnehmen Verstehen Handeln“, Universität München, 2000 18 European Journal of Neuroscience, 1998, Bd. 10, S. 786, und in SZ, 68, 1999, V2 /15 23 Erinnerung FERNANDEZ und Kollegen implantierten operierten EpilepsiePatienten Elektroden in den mittleren Schläfenlappen. Die Aktivitäten des Gehirns wurden aufgezeichnet, während sich die Probanden gehörte Wörter einzuprägen versuchten. Die Patienten sollten sich nach zwischengeschalteten „Störaufgaben“ an die Wörter erinnern. Dabei wurde durch die gesendeten Signale untersucht, inwieweit sich die Hirnaktivität beim Lesen eines Wortes unterschied – je nachdem es in Erinnerung geblieben oder vergessen worden war.19 Gedächtnis Das Ergebnis von 50 000 Tests in Arizona ergab, dass das Gehirn von Frauen sowohl leistungsfähiger als auch aktiver als das von Männern ist, und dass es im Alter nicht so schnell wie das der Männer schrumpfe.20 Ereignisse, die mit Gefühlen verbunden sind, werden am besten erinnert. Die rechte Hirnhälfte ist für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig. Sie wird von Frauen nach Angaben der Forscher intensiver genutzt. Damit wird auch die bessere Leistungsfähigkeit des Gehirns bei den Frauen erklärt. Gefühlsprobleme bei Männern – durch einen Defekt im Gehirn? SNELL21 geht davon aus, dass nur im weiblichen Gehirn unmittelbare neuronale Verbindungen zwischen Gefühls- und Sprachzentrum bestehen. Dem Mann falle es schwer, seine Gefühle auszudrücken, weil Denken und Sprache eng miteinander verbunden seien. „Er weiß, er fühlt etwas. Nur was genau er fühlt, das weiß er nicht.“ Im Gegensatz zu Frauen seien Männer oft der Meinung, sie hätten keine Beziehungs-Probleme. Aus diesem Grund müssten sie auch nicht darüber sprechen. JAMMES zu den Beziehungsproblemen der Männer: „Männer haben nach eigener Einschätzung Probleme mit der Installation 19 MM, 203, 1999, S. 1 Das Beste, Juni 1999 (?), MM 124, 1999, S. 1 21 MM, 87, 2000, S. 11; SNELL ist Medizin-Nobelpreisträger von 1980; JAMMES ist belgischer Forscher und führte eine europaweite Umfrage durch; GRÜNDLER ist Soziologe in Berlin. 20 24 neuer Software. Mit der Achillessehne. Mit dem Zündklappenventil eines Sechszylinders. Aber nicht mit der Beziehung.“ GRÜNDLER dazu: „So denken Männer nun einmal. Und es ist nicht einmal Selbstbetrug.“ Eine schlechte Beziehung belaste einen Mann weitaus weniger als seine Partnerin. Erst bei einem drohenden Bruch der Partnerschaft vertrauten sich Männer – wenn auch ungern – einem Freund an. Dieses Verhalten erkläre sich dadurch, dass der Mann gestehen müsse, keine Lösung für das Problem vorweisen zu können, und das sei in seiner Sicht ein Zeichen des Versagens. Gegenwart – Dauer PÖPPEL weist darauf hin, dass die Gegenwart etwa drei Sekunden dauert. So lange braucht das Gehirn für die willentliche Vorstellung eines Sachverhaltes. Länger als drei Sekunden lasse sich ein intensiver Reiz nicht festhalten. Nach dieser Zeit dränge ein neuer Reiz nach. Die Umwandlung akustischer Reize erfolge schneller als die der optischen.22 Geist ECCLES wies darauf hin, dass „die Einheit der bewussten Erfahrung durch den selbstbewussten Geist vermittelt wird und nicht durch die neurale Maschinerie der Liaison-Zentrale der Großhirnhemisphäre.“23 Gehirnregionen und ihre Aufgabe Aktivitätsmessungen im Gehirn können bis auf etwa drei Millimeter genau durchgeführt werden. Was im Gehirn über einige zehntel Millimeter passiert ist ebenso von entscheidender Bedeutung, kann jedoch heute noch nicht mit Maschinen gemessen werden. 22 MM, 52, 1999, S. 1 Zitiert von BECHER in SZ 138, 1999, S. 21; ECCLES erhielt 1963 den Nobelpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Nervenzellen. 23 25 „Um interpretieren zu können, was im Gehirn passiert, müsste man die komplette Geschichte des Menschen kennen, alle seine Erlebnisse.“ 24 Die Regionen und ihre vermuteten Aufgaben: Sehzentrum: Hinterkopf Stirn- und Scheitellappen: Denken an das Tempo bei der Beobachtung bewegter Punkte Hippocampus: speichert Erinnerungen im Langzeitgedächtnis Gehirnreaktionen bei Angst und Erregung Die Sehbahn leitet normalerweise in 200 Millisekunden eine Information vom Auge durch das Gehirn. Bei drohender Gefahr dauert die Übermittlung sogar nur 172 Millisekunden. Emotional erregende Bilder werden über das Zwischenhirn weiterverarbeitet. Es signalisiert der Sehrinde, was vor den Augen passiert. Von dort wird der Mandelkern, ein wichtiges Zentrum für Emotionen, informiert. Von hier aus erfolgt eine weitere Verschaltung verschiedener Hirnareale, die Reaktionen wie Schweißausbruch, Erstarrung oder Errötung auslösen. Auch die visuellen Gedächtnisfelder liegen im Sehzentrum des Gehirns. Sie sind für die Assoziation einmal gesehener Bilder mit bestimmten Gefühlen verantwortlich.25 Neurobiologische Untersuchungen der letzten Jahre erbrachten Hinweise darauf, dass durch Dauerstress Nervenverbindungen im Gehirn getrennt oder zerstört werden können. Bei Versuchen mit Ratten zeigte sich, dass Stresshormone die Bildung neuer Nervenzellen im Gehirn verhindern.26 HÜTHER versucht mit seinem Denkmodell, psychische Phänomene und die Erkenntnisse der Hirnforschung zu verbinden. Die wiederholte Bewältigung von Angstsituationen bei kleinen Kindern führe zu dem Empfinden von Lust, Freude, Neugier und Sicherheit. Durch Misserfolg dagegen werden psychische Störungen bis hin zum Autismus erzeugt. Die erfolgreiche Bewältigung 24 Neuroforscher Prof. TURNER in SZ, 216, 2000, V2 /10; Biophysik-Kongress in Müchen von 11. bis 16. September 2000 25 HAMM/STEMMLER in SZ, 50, 1999, V2 /20 26 Nature Neuroscience, 1999, Bd. 2, S. 894 26 von Stress führe zu Selbstvertrauen und dem Aufbau von Vertrauen zu Bezugspersonen, die bei der Bewältigung von Stresserlebnissen hilfreich waren.27 Gehirnstrukturen bei Einsteins Gehirn Unterschiede zu anderen Gehirnen ließen sich vor allem in der Parietal- Region der Großhirnrinde finden. Das Gehirn Einsteins zeigte hier eine besondere Ausprägung in einem bestimmten Bereich. Das besonders stark ausgebildete Areal gilt als der Ort, welchem das mathematische Denken, die optische Erkennung und die Vorstellung von Bewegungen zugeordnet werden, und erzeugte eine um 15% breitere Gehirnform im Vergleich zu 35 Männern und 50 Frauen mit normaler Intelligenz. Außerdem fehlte bei Einstein eine Furche in der besagten Gehirnregion. Es wird vermutet, dass sich dadurch in dieser Region mehr Nervenverbindungen bilden konnten. Einstein sagte selbst über seine Art zu denken, dass Worte dabei keine Rolle spielten. Sein Denken gleiche eher einem assoziativen Spiel mit mehr oder weniger klaren Bildern.28 Gehirnschäden durch Drogen (Ecstasy) Durch das Rauschmittel werden Nervenfortsätze zerstört, die den wichtigen Botenstoff Serotonin produzieren. Dieser endgültige Verlust wird als mögliche Ursache für Persönlichkeitsveränderungen, Depressionen und Angstzustände angesehen.29 Speed (Metamphetamin) Auch nach längerer Abstinenz finden sich im Gehirn ehemaliger Drogenabhängiger noch Spuren der Sucht. In mehreren Hirnarealen wird durch die Einnahme dieses Aufputschmittels die Konzentration bestimmter Stoffwechselprodukte vermindert. Der entsprechende Nachweis gelingt mit Hilfe der Magnetresonanz-Spektroskopie.30 In der Studie wurden 26 ehemalige Metamphetaminsüchtige untersucht, 27 SZ, 224, 1999, V2 /13 SZ, 138, 1999, S. 16 29 Ärztliche Praxis, 12, 1999, und MM, 280, 1999, S. 1 30 Neurology, 2000, Bd. 54, S. 1344 28 27 die zwischen zwei Wochen und 21 Monaten clean waren. Die Untersuchungsergebnisse wurden mit denen von 24 Probanden verglichen, die niemals Drogen eingenommen hatten. Bei den ehemals Abhängigen war die Konzentration von NAcetylaspartat (Nervenzell-Marker) und von anderen Substanzen in der vorderen Hirnrinde deutlich vermindert, während andere Stoffwechselprodukte vermehrt nachgewiesen wurden. Die niedrigeren Werte belegen deutlich, dass bei den ehemaligen Usern Schäden durch das Absterben von Nervenzellen entstanden waren. Auch nach längerer Abstinenz sind diese noch zu erkennen. Gehirnschäden durch Mangel an Zuwendung31 Mit Hilfe der Positronen-Emissionstomographie erzeugte Bilder des Neurologen CHUGANI zeigen deutlich die geschädigten Hirnregionen von stark vernachlässigten rumänischen Kleinkindern. Die Schläfenlappen des Gehirns sind nach heutigen Erkenntnissen an der Steuerung des Gefühlslebens beteiligt. Schädigungen in dieser Region zeigen ihre Auswirkungen darin, dass diese Kinder erhebliche Schwierigkeiten haben, emotionale, feste Bindungen aufzubauen. Gehirnschäden durch Pestizide32 Landwirte und Gärtner, die häufig mit Pestiziden arbeiten, schädigen offenbar durch diese Giftstoffe ihr Gehirn. Von 800 Probanden schnitt ein Drittel der „Pestizid-Gruppe“ im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bei der Wiederholung eines vor drei Jahren absolvierten Tests schlechter ab. Der Test umfasste folgende Aufgabenstellungen: 31 Schnelligkeit, Buchstaben zu kombinieren Redeflüssigkeit Schnelligkeit des Erlernens von Wörtern und das Vergessen des Gelernten. Die entsprechende Darstellung findet sich in dem GEO-Heft Wissen, 1/99, Seite 44. 32 Lancet, 2000, Bd. 356, S. 912 28 Nur bei jedem zehnten Versuchsteilnehmer, der nie oder nur selten Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt war, sanken die Leistungen. Gehirnerschütterungen bei Sportlern können zu eingeschränkter Leistungsfähigkeit des Gehirns führen Je häufiger ein Fußballer in seiner Laufbahn eine Gehirnerschütterung – und damit eine Verletzung erleidet, desto schlechter ist seine Gedächtnisleistung und seine Fähigkeit vorauszudenken.33 Eine einzige Erschütterung hinterlässt offensichtlich keine langfristigen Folgen, während sich die Folgen bei mehreren Erschütterungen offenbar summieren. Dennoch sind die geistigen Fähigkeiten bis zu 24 Stunden nach der ersten Erschütterung deutlich eingeschränkt. Selbst fünf Tage nach diesem Ereignis waren noch leichte Beeinträchtigungen feststellbar. „Gottesmodul“ – Meditation – Visionen durch Magnetfelder Während der Meditation, der religiösen Versenkung oder während des Gebetes lassen sich vermehrt Aktivitäten im Bereich des Stirnhirns nachweisen. Zugleich arbeitet das Limbische System, das Erlebnisse emotional bewertet, vermehrt. Während der Einkehr innerer Ruhe durch verschiedene Versenkungstechniken reduziert sich gleichzeitig die Aktivität im Scheitellappen (Hinterkopf). Dieser Bereich ist dafür zuständig, alle eingehenden Sinneseindrücke zu sortieren. Die Trennung der Welt vom „Selbst“ wird hier vollzogen. Durch diese gleichzeitig veränderten Aktivitäten wird es dem Menschen möglich, das Gefühl zu erzeugen, in eine höhere Realität einzutauchen. Durch das wechselseitige Einwirken komplexer magnetischer Schwingungen auf die Schläfenlappen des menschlichen Gehirns lässt sich nach PERSINGER (durch Versuche im Labor) die Wahrnehmung der Präsenz eines höheren Wesens erzeugen.34 Nach PERSINGER liegt die Vermutung nahe, dass durch die Stimulation die Orte des Selbstempfindens auf beiden Seiten angeregt werden. Die 33 JAMA, 1999, Bd. 282, S. 964 SZ, 296, 2001, V2 /7; PERSINGER arbeitet als Psychologe an der Laurentian University in Kanada; NEWBERG ist Radiologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia. 34 29 linke Hälfte, Sitz des sprachlich-analytischen Bewusstseins und normalerweise vorherrschend tätig, empfängt während der Stimulation auch Impulse von der rechten Seite. Die linke Hirnhälfte registriert diese Impulse als vertraut und zugleich merkwürdig fremd und ordnet ihnen eine hohe Bedeutung zu. Die erlebte mystische Präsenz sei somit eine Form der Selbsterkenntnis. Verletzungen des Gehirns – Zahlenangaben zu den USA BURKE 35 geht davon aus, dass allein in den USA über zwei Millionen Menschen mit traumatischen Verletzungen des Gehirns leben. Ursachen dafür waren Stürze, Autounfälle oder Gewaltanwendung. Diese Patienten können zwar laufen, sind aber nicht in der Lage, ihre Zeitpläne zu organisieren oder sich daran zu erinnern, wann bestimmte Dinge zu tun sind. Kleinhirnerkrankungen „Purkinje-Zellen“ (bestimmte Zellgruppen im Kleinhirn) dienen als Zeitmesser für Hirnfunktionen. Ähnlich einer Stoppuhr messen sie Nervenimpulse, indem sie Wellen auf Parallelfasern abgreifen. Motorik, Wahrnehmung, Handeln und Denken verlieren an Genauigkeit, wenn eine Schädigung dieser Zellgruppen eingetreten ist.36 Krebs durch ein bestimmtes, im Gehirn vorkommendes Protein Das sogenannte EAG-Protein kommt nur im Gehirn vor. Bei fehlerhafter Funktionsweise wird vermutet, dass es für die Entstehung von Krebs verantwortlich sein könnte. Tritt es nämlich ausserhalb des Gehirns auf, löst es eine unkontrollierte Vermehrung von Zellen aus. Das EAG-Protein funktioniert im Gehirn wie ein Kanal, der den Fluss von Kalium-Teilchen durch die Hülle der Nervenzellen steuert. Dort, wo das Protein nachzuweisen ist, werden auch Krebszellen vermutet. Normalerweise ist das Gehirn und auch das EAG-Protein 35 SZ, 244, 2001, V2 /14; BURKE arbeitet an der Harvad Medical School. 36 Forschungsergebnisse der Neurologischen Uniklinik Tübingen und des Weizmann-Instituts in Rehovot (Israel) 30 durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt, die das zentrale Nervensystem vor Fremdstoffen abschottet.37 Leistungssteigerung durch Kaugummikauen LEHRL fordert ein Umdenken bei Lehrern und Eltern. „Kaugummikauen ist eine tolle Möglichkeit, Schüler aufnahmefähiger zu machen. . . Insgesamt liegt das Denkvermögen in Bewegung um 20% höher als in Ruhe . . . am intensivsten wirkt sich Bewegung im Kiefer- und Kehlkopfbereich aus.“38 Der wahrscheinliche Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Denken und Sprechen in enger Beziehung zueinander stehen, aber auch deshalb, weil durch das ständige Kauen das Gehirn besser mit Sauerstoff versorgt wird. Studenten bekommen laut Untersuchungen bis zu 40% mehr vom Vorlesungsstoff mit, wenn sie Kaugummi kauen.39 Lernaktivitätsphasen sind zeitlich individuell verschieden THELEN dazu: „Das einfache Bild vom Kind, das wartet, bis sein Gehirn gereift ist und dann wie eine Marionette dessen Befehle ausführt, ist unhaltbar.“40 Die einzelnen dazu notwendigen Faktoren reifen bei den Kindern in einem individuellen Tempo. Alter in Monaten bei Beginn der einzelnen Phasen: In der letzten Spalte sind Durchschnitt/maximale Differenz errechnet. 37 MM, 243, 1999, Weltspiegel MM, 55, 1999, S. 1; LEHRL ist Medizinpsychologe an der Universität Erlangen; er steht der Deutschen Gesellschaft für Gehirntraining vor. 39 SZ, 55, 1999, S. 12 40 GEO-WISSEN, 1 / 99, S. 45; Esther THELEN ist Psychologin an der Universität Bloomington in Indiana/USA;die Tabelle wurde entsprechend der grafischen Darstellung in derselben Ausgabe auf S. 46 umgerechnet. 38 31 Stefan 5,1 5,7 7 Larsen 7,2 8,0 8,9 Manuel 7,0 7,5 9,8 Nils 7,5 8,1 9,3 Pamela 5,7 6,6 8,5 Christian 7,1 8,0 8,8 10,1 10,8 10,2 11,4 11,7 11,5 Christina Sitzen 7,8 Krabbeln 8,8 Sarah 7,1 9,8 Verena 6,4 7,0 Jan 7,8 - Sonja 6,9 7,3 Durchschnitt 6,87 / 2,1 7,68 / 4,1 Freies Stehen Freies Gehen 10,8 10,5 9,0 10,0 11,1 9,43 / 4,1 11,5 11,8 13,3 14,0 14,2 11,86 / 4,1 Sitzen Krabbeln Freies Stehen Freies Gehen Die Tabelle verdeutlicht, dass z. B. der Beginn der verschiedenen Fähigkeiten bei elf untersuchten und beobachteten Kindern zeitlich stark variieren kann. Entwicklung der Sprach- und Lesefähigkeit Die entwicklungshemmende Rolle der elektronischen Medien WITTGENSTEIN wies darauf hin, dass die Grenzen der Sprache zugleich als Grenzen der erfahrbaren und verstehbaren Welt anzusehen sind. Der Sprache und der Möglichkeit ihres Erlernens wird somit eine besondere Bedeutung bei der Entwicklung des Bewusstseins und des Begreifens der Welt zugewiesen. Eltern und Gesellschaft gleichermaßen müssen sich diesbezüglich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sein. Jede der mehr als 100 Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns sendet Informationen an etwa 10 000 andere, räumlich nahe- 32 liegende Nervenzellen. PÖPPEL41 zu der Frage, was an der menschlichen Wissenskompetenz angeboren und was durch Erfahrung erworben ist: „Wenn wir in die Welt eintreten, dann sind wir mit einem breiten genetischen Repertoire von Möglichkeiten ausgestattet. Zwischen den vielen Milliarden Nervenzellen im Gehirn besteht ein Übermaß von Kontakten. Diese potenziellen Kontakte werden erst endgültig festgelegt, wenn sie durch Informationsverarbeitung genutzt und bestätigt werden. Diese Prägung des Gehirns erfolgt in frühen Phasen der Biografie. Was nicht genutzt wird, wird abgeschaltet. In dem Augenblick, in dem Kontakte zwischen Nervenzellen bestätigt worden sind, macht es keinen Sinn mehr, zwischen angeborenen und erworbenen Wissenskompetenzen zu unterscheiden.“ Kinder erlernen Sprache immer ausschließlich mit anderen Menschen. Es gibt keinen Ersatz für die persönliche Zuwendung während der Sprachentwicklung, da diese auch an eine individualisierte Förderung gekoppelt ist und kein elektronisches Medium aus sich heraus in der Lage ist, eine Kultur mündlicher Verständigung zu vermitteln. Durch die Überschwemmung des kindlichen Gehirns mit „fremden“ Bildern (Fernsehen, Kino, Computer) wird das Kind gerade in der Zeit mental geschwächt, in der es selbst sprachliche Gebilde entwickeln sollte. 1. Es gilt eine wichtige biologische Grundregel: Der Mensch entwickelt seine grundlegenden Wahrnehmungsschemata durch Reden, Sprechen und Lesen. Aus diesen Tätigkeiten entwickelt sich auch das menschliche Bewusstsein. Durch das – auch zuerst unvollkommene – Sprechen bilden sich neuronale Netze mit den dazugehörigen Verbindungsstellen, den Synapsen. Durch deren Dichte wird auch die Leistungsfähigkeit mitbestimmt. 2. Es gibt bestimmte „Entwicklungsfenster“: Nach der heutigen Lehrmeinung schließt sich das Entwicklungsfenster für die Sprache zwischen dem fünften und achten Lebensjahr. Innerhalb dieser Zeit erfolgt die sprachliche Prägung. Außerdem wird der spätere Grad der sprachlichen Leistungsfähigkeit festgelegt. 41 PÖPPEL ist Hirnforscher und versuchte diese Frage in seinem Aufsatz „Drei Welten des Wissens“ (in SZ, 80, 2002, Beilage) zu beantworten. 33 Nach dem Schließen des Entwicklungsfensters ist eine Verbesserung der Qualität kaum oder nur mit großem Aufwand möglich. 3. Medizinisch relevante Sprachentwicklungsstörungen: Etwa 20 bis 22% der sechs- bis siebenjährigen Kinder weisen solche Störungen nach neueren Untersuchungen auf. Die Zahl der sprachauffälligen Kinder stieg innerhalb der letzten zehn Jahre von etwa 4 auf 24%. Den betroffenen Kindern fehlt ihre eigene Sprache die Grundlage für das Erlernen von Lesen und Schreiben ein entsprechendes Sozialverhalten. Zu Beginn des „Kommunikationszeitalters“ ist ein hoher und noch ständig wachsender Anteil der Kinder während einer kritischen Entwicklungsphase regelrecht „kommunikationsgestört“. Der zusätzlich zunehmende, unreflektierte Medien-Konsum von Gewalt führt in der Folge zu einem Anwachsen des funktionalen Analphabetentums. In Deutschland wird die Zahl der betroffenen Menschen auf derzeit 4 Millionen geschätzt. Diese Menschen haben zwar das Lesen und Schreiben gelernt, sind aber nicht in der Lage, den Inhalt eines einfachen Textes aufzunehmen und wiederzugeben. Vielen Kindern fehlen die für den Spracherwerb notwendigen Partner. Jährlich verlassen etwa 100 000 junge Menschen deutsche Schulen ohne einen Abschluss. Mindestens 10 000 von ihnen zählt man als Analphabeten. Die Gründe für diese Entwicklung scheinen in der Zeit der Sprachentwicklungsphase vor der Einschulung zu liegen. SANDERS:42 „Die Pistole ist das Schreibwerkzeug des Analphabeten.“ 4. Entwicklung der Lesekompetenz: Das „Entwicklungsfenster“ ist nur während der ersten 13 bis 15 Lebensjahre geöffnet. Ständige Anregung und Übung sind zur Entwicklung notwendig, da nur dadurch die erforderlichen Gehirnstrukturen ausgebildet werden. 42 Barry SANDERS Untertitel zu seinem Buch über den Verlust der Sprachkultur 34 Umfragen unter Jugendlichen ergaben: 1992: etwa 46% 2000: etwa 25% „Das Elternhaus animiert zum Lesen.“ „Das Elternhaus animiert zum Lesen.“ OPASCHOWSKI: „Das heutige Tempo der Medien „überschüttet Kinder und Jugendliche mit einer immer schnelleren Abfolge von Bildern und Informationen.“ Unsere Kultur bringt somit eine neue Generation hervor: die „Kurzzeit-Konzentrations-Kinder (KKK)“. SLOTERDIJK spricht vom neuen Typ des „Users“ und einer Kultur der Ungeduld. NOELLE-NEUMANN: „Wir sind auf dem Weg, unsere Illusionen zu vermehren, etwas zu wissen: Man schaut hin, aber man erkennt nicht. Man weiß, wie man etwas findet, aber man weiß eigentlich nicht, was man finden möchte. WEIZENBAUM: „Medienkompetenz bedeutet die Fähigkeit, kritisch zu denken; kritisch denken, lernt man allein durch kritisches, verarbeitendes Lesen, und Voraussetzung hierfür ist eine hohe Sprachkompetenz.“43 Lernbehinderungen durch Gehirnschädigungen DAMASIO/LeDOUX weisen darauf hin, dass Schädigungen im Stirnlappen sowie in Zentren des „Limbischen Systems“ einerseits Gefühlskälte als auch unvernünftiges Verhalten zur Folge haben. Menschen mit Schädigungen in diesen Bereichen des Gehirns neigen dazu, bekannte Gefahren nicht mehr zu meiden, gehen vermehrt hohe Risiken ein, fallen durch rücksichtsloses Betragen auf und besitzen nicht mehr die Fähigkeit, aus den Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu lernen. Wurden die entsprechenden Patienten befragt, so waren sie zum Teil in der Lage, ihr Fehlverhalten mit vernünftigen Worten zu beschreiben. Ihnen fehlte nicht die Einsicht, wohl aber das Vermögen, ihre Einsicht in die Tat umzusetzen. 43 Die Zitate und vorausgehenden Fakten sind einem Artikel von WECHSLER in SZ, 80, 2002, Wochenende, entnommen 35 Mathematische Fähigkeiten bei Säuglingen und Kindern WYNN konnte durch ihre Versuchsreihen nachweisen, dass bereits Säuglinge in der Lage sind, eins und eins zusammenzuzählen. Den Säuglingen wurden in ihrem Blickfeld eine einzige Mickymaus präsentiert, die anschließend wieder vor den Blicken abgeschirmt wurde. Im nächsten Durchgang erschien eine zweite Maus. Auch sie verschwand hinter der Abschirmung. Als der Schirm entfernt wurde, kamen entweder eine, zwei oder drei Mickymäuse zum Vorschein. Am längsten und entgegen aller Logik blickten die Babys auf die Figuren, wenn eine einzige oder drei Mäuse zu sehen waren. Bei zwei Mäusen war die beobachtete Aufmerksamkeit geringer.44 Kinder haben nach Ansicht von DEHAENE im Normalfall bereits vor dem Eintritt in die Schule eine auf den Zahlenvergleich spezialisierte Hirnregion entwickelt. Er vertritt die Ansicht, dass das Zahlenverständnis abhängig von der Motivation ist. So handeln Zweijährige nur selten zu ihrem Nachteil, wenn statt der von PIAGET verwendeten blauen und roten Spielmünzen Süßigkeiten verwendet werden.45 Mathematische Fähigkeiten bei Hirnschädigungen Durch Untersuchungen von TEMPLE/POSNER wurde belegt, dass die mathematischen Fähigkeiten im Gehirn in getrennten Modulen untergebracht sind. Beobachtungen bei Schlaganfall-Patienten ergaben folgende Unterschiede: Verwechslungen von Ziffern Verlust der Fähigkeit, zwischen Einern, Zehnern und Hundertern zu unterscheiden Möglichkeit der Addition – nicht der Subtraktion. Müdigkeit und Gehirnaktivität Der präfrontale Cortex – eine Hirnregion im Stirnbereich – beheimatet das Arbeitsgedächtnis. Diese Region wird im wachen Zustand am meisten beansprucht. Entgegen der bisherigen Annahme, dass sich die Aktivität in diesem 44 45 SZ, 253, 1998, V2 /18 SZ, 253, 1998, V2 /18 36 Bereich bei großer Müdigkeit verringert, wurde festgestellt, dass die Aktivität im Stirnlappen umso heftiger ist, je müder sich die Versuchspersonen zeigten. Gleichzeitig wurde von DRUMMOND und Kollegen46 beobachtet, dass andere Bereiche wie z. B. Temporallappen bei großer Ermüdung keine messbare Aktivität mehr zeigten. Andere Hirnzellen im Scheitellappen, die sonst nicht bei derartigen Gedächtnisleistungen beteiligt sind, wurden stellvertretend bei der Informationsverarbeitung aktiv. Bestimmte Zellen im Vorderhirn wachen über eine ungestörte Nachtruhe. Sie sind von Natur aus leicht reizbar und werden tagsüber durch Hormone und Botenstoffe des Nervensystems ruhiggestellt. Die den Schlaf fördernden Neuronen werden durch Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin – allesamt Gegenspieler der Müdigkeit – gehemmt. Diese Hirnzellen nehmen ihre Arbeit erst auf, wenn die innere Uhr die Zeit zum Bettgehen signalisiert. Während einer Tiefschlafphase zeigen sie besondere Aktivität. Diese sogenannten REM-Phasen sind durch schnelle Augenbewegungen hinter den Lidern gekennzeichnet. Die Produktion der wach haltenden Botenstoffe wird jetzt blockiert. Ein sich selbst verstärkender Prozess setzt ein. In ihn werden immer mehr schläfrig machende Zellen einbezogen.47 Musikalität KÖLSCH48 vertritt aufgrund ausgedehnter Untersuchungen an 200 Versuchspersonen die Auffassung, dass jeder Mensch offenbar ein musikalisches Grundverständnis besitzt, das vom Gehirn automatisch angewendet wird. Musik und Sprache werden im Gehirn ähnlich verarbeitet. Durch Musik wird das Sprachzentrum im Gehirn angeregt. Ursprünglich sei die Musik ein Kommunikationsmittel gewesen und sie sei es auch geblieben. „Wir sprechen mit Rhyth46 Nature, Bd. 403, 2000, S. 655; DRUMMOND ist Neurowissenschaftler an der Universität von Kalifornien. 47 Nature, Bd. 404, 2000, S. 992, in SZ, 100, 2000, V2 /9; MÜHLETHALER von der Universität Genf untersuchte die Tätigkeit dieser Zellen zusammen mit Kollegen aus Frankreich und der Schweiz. 48 MM, 179, 2000, S. 3; KÖLSCH arbeitet am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung. 37 men, mit Melodien, mit einem bestimmten Timbre, alles das sind musikalische Begriffe.“ Bei Sprachstörungen oder bei Koma-Patienten könne die Musik sinnvoll therapeutisch genutzt werden. Musik und ihre Auswirkungen auf das Gehirn49 RAUSCHER wies in einer Studie von 1993 nach, dass sich das räumliche Denken durch das Hören von Mozart-Kompositionen verbessert. Auch SEIGEL wies den oben angeführten Effekt nach. CHABRIS fand bei seinen 1998 durchgeführten Studien heraus, dass die Musik generell keinen nennenswerten Einfluss auf den Intelligenzquotienten hat. HUGHES untersuchte mit Hilfe einer aufgestellten Skala, wie häufig Musik berühmter Komponisten in einem Zeitrahmen von mindestens zehn Sekunden lauter und leiser wird. Dabei stellte er fest, dass Mozart unter der gesamten analysierten Musik die meisten Lautstärken-Höhepunkte in einem 30-SekundenTakt aufwies. Auch viele Funktionen im Zentralnervensystem arbeiten in diesem Zeit-Rhythmus. Dies liefert möglicherweise eine Erklärung für die Auswirkungen von Mozarts Musik auf das menschliche Gehirn. JOHNSON testete den Effekt erfolgreich an Alzheimer-Patienten. Bei Versuchen mit Pop-Musik wurden keine positiven Ergebnisse erzielt. Die Ergebnisse von Schulversuchen mit erweitertem Musikunterricht aus den Jahren 1972 bis 1979 in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden vom Deutschen Forschungsdienst kommentiert: „Kinder, die von der ersten Klasse an eine intensive Musikerziehung geniessen, haben bei sonst gleichen Voraussetzungen ihren Altersgenossen bald einiges voraus: Sie haben nicht nur gelernt, sich aktiv mit Musik zu beschäftigen, sie sind allgemein schöpferischer, intelligenter und stabiler in ihrer Gefühlswelt.“50 49 50 MM, 269, 1999, J 4, und in New Scientist, Bd. 164, Nr. 2212 WEBER, 1991, S. 8 38 BASTIAN kommt nach der Auswertung einer sechsjährigen Studie51 zu den Wirkungen eines musikbetonten Unterrichts zu folgenden Ergebnissen : „Musik hat stets mit Ratio zu tun, ist Tektonik, Struktur, Architektur. Es steckt Raum- und Zeitdenken in jeder Komposition. Es wird eine Fülle von abstrakten, komplexen Denkprozessen angestoßen. Wenn ein Kind zum Beispiel vom Blatt spielt, muss es schnell und gleichzeitig Informationen in extremer Fülle und Dichte speichern und verarbeiten.“ Die soziale Kompetenz ist ausgeprägter. In den entsprechenden Klassen gibt es weniger ausgegrenzte Schüler. Fördert ein emotional positiv aufgeladenes Klassenklima. Schulvandalismus und Aggressionspotenziale gehen zurück. Die Kinder gehen in der Pause anders miteinander um. Ein deutlicher Zugewinn beim Intelligenzquotienten ist nach vier Jahren erweiterter Musikerziehung festzustellen (gerade bei Kindern mit eher schwachem IQ). Neueste hirnphysiologische Untersuchungen zeigen, dass Kinder Musik figural lernen im Tanz, im Bewegen, im Singen, im Spiel. Nach den Statistiken des Verbandes deutscher Schulmusiker fallen in Nordrhein-Westfalen oder Hessen 80% des Musikunterrichtes aus. Auch in Bayern und Baden-Württemberg werden die Musikstunden reduziert. Musik – vorgeburtliche Kinderlieder Hören Ungeborene ein von der Mutter gesungenes Kinderlied, zeigt sich bei ihnen eine deutlich messbare Hirnaktivität im Temporallappen. Hier werden akustische Reize verarbeitet. Die Antwort des Gehirns Ungeborener wurde erstmals mit Hilfe der Kernspintomographie direkt gemessen, wobei WEILLER dazu meint: „Man kann nicht vollständig ausschließen, dass die Technik nicht doch Schäden für das Ungeborene mit sich bringt.“ 51 DIE ZEIT, 15, 2000, S. 47; BASTIAN ist Pädagogikprofessor in Frankfurt. 39 Musiktherapie bei verhaltensschwierigen Kindern und Patienten im Wachkoma STEINBACH achtet auf den Atem der Patientin, nimmt diesen Atemrhythmus auf und singt in diesem Rhythmus in Anwesenheit der Menschen, die im Wachkoma liegen. Es kann dabei passieren, dass der Atemrhythmus der Kranken schneller wird, sich der Kopf in die Richtung wendet, aus der der Gesang zu vernehmen ist, und dass sich dabei das Gesicht verzieht oder erfolgreich versucht wird, die Lippen und Augen zu bewegen. Bei einem schwerbehinderten Jungen im Alter von viereinhalb Jahren, der noch gewickelt und gefüttert werden muss und der häufig laut schreit und weint, wird das Schreien des Kindes von der Therapeutin aufgegriffen und am Klavier mit Gesang begleitet. Im Laufe von zehn Wochen entwickeln die vokalen Äußerungen des Kindes einen gesangähnlichen Klang. Zudem ist der Junge ruhiger geworden, weint weniger und beginnt nach Löffeln zu greifen und damit zu essen. Erste Wörter und Sätze werden gesprochen. Die NORDOFF-ROBBINS Methode: Der amerikanische Pianist beobachtete zusammen mit seinem Freund (Robbins), einem Sozialpädagogen, während einer Probe in einem Heim für behinderte Kinder ein auffällig verändertes, positives Verhalten, obwohl die Musik nicht an die Kinder gerichtet war. Aus diesen Beobachtungen heraus entstand eine schöpferische Musiktherapie. Sie wird heute sowohl bei psychosomatischen Störungen, in der Psychiatrie und Neurologie, aber auch bei autistischen und schwerbehinderten Kindern und auf Intensivstationen angewandt. Erfolgreich wurde bereits mit Alzheimer-, Demenz-, Schlaganfall-, und Tinnitus- sowie mit MS-Patienten und unheilbar Kranken gearbeitet. Selbst bei Gehörlosen und Gehörgeschädigten, aber auch bei Folteropfern wurde diese Methode erfolgreich angewandt. 52 Zum Einsatz kommen fast immer Instrumente, die auch ohne Schulung gespielt werden können. Die entstehende Musik ist immer improvisiert und individuell zugleich. 52 SZ, 271, 2001, II; Esther STEINBACH arbeitet in einem Zentrum für Geriatrie; das einzige europäische Institut für Musiktherapie ist an der Privatuniversität Witten-Herdecke in die medizinische Fakultät eingebettet; Dagmar GUSTORFF und NEUGEBAUER sind dort tätige Therapeuten. 40 JOURDAIN 53 betont, dass durch die Musik dem Gehirn komplexe und komplizierte Informationen in Form von Melodie, Harmonie und Rhythmus geliefert werden. Dabei wird während der Verarbeitung oft die Leistungsgrenze ausgeschöpft. Musik führt zum Denken und somit zu Intelligenz. Moralische Defizite nach Hirnverletzungen Bestimmte Regionen des Vorderhirns sind offenbar für die Bildung von Moralbegriffen und das Erlernen sozialen Verhaltens verantwortlich. Werden sie verletzt, verliert das Individuum die oben erwähnten Fähigkeiten. Je früher eine Schädigung eintritt, desto gestörter ist das Benehmen und die persönliche Entwicklung des betroffenen Menschen. Lügen, Stehlen und Schlagen ohne erkennbare Anzeichen von Reue über die Ausfälle sind für solche Verletzungen oder Schädigungen charakteristisch. Die Intelligenz ist durch diese Verletzungen nicht messbar beeinträchtigt.54 Ein moralisches und emotionales Vakuum sowie eine intellektuelle Fragmentierung sind auch Anzeichen für das Vorhandensein eines postenzephalitischen Syndroms, das sich bei impfgeschädigten Kindern beobachten lässt. Es bestehen große Schwierigkeiten, begrifflich zu denken und die einzelnen Wahrnehmungen zu synthetisieren. Dazu gesellt sich noch eine fragmentarische Vorstellung vom eigenen Körper. Notenergebnisse in der Rechtschreibung sind nicht vom Pauken abhängig Manche Gesetzmäßigkeit der Orthografie lernen Kinder auch, ohne dass sie ihnen in besonderer Weise beigebracht wird. Offensichtlich kommt dem Abspeichern der Rechtschreibweise ganzer Wörter in „einem Lexikon des Gehirns“ eine größere Bedeutung zu als bisher angenommen.55 53 JOURDAIN, in: Das wohltemperierte Gehirn – wie Musik im Kopf entsteht und wirkt. 54 Nature Neurosience, 9/99, und in MM, 243, 1999, S. 1 55 Nature, 2000, Bd. 403, S. 157 41 Orientierungssinn RIEPKE belegt durch neurologische Untersuchungen (Aufzeichnung der Gehirnaktivität), dass bei Männern die Hirnareale für die Verarbeitung geometrischer Eindrücke stärker genutzt werden. So benötigten Frauen durchschnittlich 196 Sekunden (Männer 141 Sekunden), um aus einem computersimulierten Labyrinth herauszufinden.56 „Partyeffekt“ in der Hirnforschung Der Kernspin-Apparat misst Änderungen im Blutfluss, aber keine Nervensignale. Eine Änderung des Flusses des sauerstoffbeladenen Blutes ist zugleich ein direktes Abbild der Nervenaktivität.57 Bei der Interpretation des Tomogramms ist nach KRUGGEL jedoch mit dem „Partyeffekt“ zu rechnen, da das Gehirn ebenso wie ein Mikrofon bei einer Aufnahme auf einer Party nicht nur die gesuchte Stimme, sondern auch alle Begleitgeräusche aufnehme. Nach DANEK ist zudem eine hochkomplizierte Statistik notwendig, um ein Signal aus dem Rauschen herauszufiltern. Die momentan zur Verfügung stehende Karte des Frontalcortex entspricht einer Landkarte aus der Zeit vor Chritstoph Kolumbus. CRAMON: „Es sind bei allen Aufgaben des Frontalcortex immer subcortikale Bereiche beteiligt, und von dort empfängt das Stirnhirn mindestens genauso viele Befehle, wie es selbst aussendet.“ PET (Positronen-Emissions-Tomographie) Mit dieser Methode können die Funktionen der Nervenzellen im Gehirn sichtbar gemacht werden. Die Bereiche, in denen der Stoffwechsel aufgrund starker Nervenaktivität erhöht ist, leuchten auf. Jedes Gefühl, jede Absicht oder Erinnerung lässt sich auf biochemische und elektrische Impulse zurückführen. Damit wird die traditionelle Trennung von Leib und Seele in Frage gestellt. 56 MM, 69, 2000, S. 1; RIEPKE ist Neurologe an der Universität Ulm; Nature, 2001, Bd. 412, S.150 57 SZ, 250, 2001, V2 /11; nachgewiesen durch LOGOTHETIS, Hirnforscher in Tübingen; CRAMON ist Direktor des Leipziger MaxPlanck-Institutes; KRUGGEL ist Mitarbeiter von CRAMON; DANEK ist Neurologe am Klinikum Großhadern in München. 42 Die PET verhalf auch zu der Erkenntnis, dass die linke Hirnhälfte für die intellektuellen Fähigkeiten (Denken und Planen) zuständig ist. Der ebenso wichtige Einfluss der rechten, emotionalen Hirnhälfte rückt immer mehr in das Zentrum der Forschungen. Rauchen schadet der Intelligenz Bei der Untersuchung von 650 britischen Senioren über 65 Jahren im Hinblick auf ihre Rauch- und Trinkgewohnheiten wurde durch einen Intelligenztest, der nach einem Jahr bei 417 Probanden wiederholt wurde, festgestellt, dass bei Rauchern ein viermal so häufiger „deutlicher Rückgang“ der geistigen Fähigkeiten zu beobachten war. Erklärt wird diese Tatsache durch aufgrund des Rauchens verursachte Gefäßkrankheiten und Arterienverkalkung, die den Blutfluss im Gehirn behindert.58 Reproduktion von Gehirnzellen im Alter Schuld an dem Abbau von Gehirnzellen im Alter sind die als Stresshormone bekannten Corticosteroide. Im Tierversuch wurde erstmals durch eine Reduktion der Corticosteroidwerte die Produktion neuer Nervenzellen beobachtet. Nach Ansicht der Forscher59 wird damit gezeigt, dass die Fähigkeit zum Lernen und Erinnern im Alter nicht unwiderruflich abhanden kommt, sondern in erster Linie lediglich durch zu hohe Stresshormonwerte bedingt sei. Eine seepferdchenähnliche Struktur im Gehirn, der Hippocampus, spielt eine tragende Rolle beim Erlernen und Erinnern von Fakten, die mit persönlichen Erfahrungen verknüpft sind. Mit zunehmendem Alter leiden die dort vorhandenen Zellen jedoch unter den von der Nebenniere produzierten Corticosteroiden. CAMERON und McKAY fanden jetzt heraus, dass in einem bestimten Bereich des Hippocampus, der Region Gyrus dentatus, auch bei Erwachsenen die Nervenzellen noch ständig erneuert werden. 58 MM, 92, 2000, S. 1; Untersuchung des Institute of Psychiatry in London 59 Nature Neuroscience, Bd. 2, Nr. 10, S. 894 43 Schäden im rechten Stirnlappen: Erkennen von Schalk und Ironie Menschen, die einen Schaden im rechten Stirnlappen erlitten haben, können Ironie nicht erkennen und deshalb auch nicht darüber lachen. Von ihnen wird höchstens einfache Komik bevorzugt. Das Verstehen von Ironie erfordert als Gehirnleistung die Koordination von Erkenntnis, Erinnerung und abstraktem Denken. Dem rechten Stirnlappen wird deshalb Bedeutung für die Ausprägung der Persönlichkeit zugewiesen.60 Schizophrenie Nach LINDEN und Kollegen ist die „Heschlsche Querwindung“, eine Hirnregion im Schläfenlappen des Großhirns, dann besonders aktiv, wenn schizophrene Patienten Halluzinationen als real erleben. Hier befindet sich die nur wenige Millimeter große „primäre Hörrinde“.61 Die angewandten Verfahren waren sowohl moderne bildgebende als auch die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Durch diese Methode ist es möglich, das Gehirn in Felder von ein bis drei Millimeter Durchmesser zu zerlegen. Außerdem ist eine Veränderung von Durchblutung in Sekundenschnelle möglich. Die Durchblutung der primären Hörrinde war bei Halluzinationen ebenso wie beim richtigen Hören erhöht. Schlaganfälle: Vorhersage und Bestimmung des Ausmaßes der Schädigung Etwa 20 000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen Schlaganfall. Durch einen Bluttest lassen sich im Gehirn zwei Substanzen (das Protein „S100B“ und die Neurospezifische Enolase „NSE“) nachweisen, die beim plötzlichen Auftreten eines Schlaganfalls im Gehirn freigesetzt werden. So können Hirnschäden frühzeitig erkannt und behandelt werden. 60 61 Brain, April 1999 und in MM, 77, 1999, S. 1 Neuron, 22,1999, 615 in SZ 128, 1999, V2 /16 44 HERRMANN62 erwartet durch die Bestimmung dieser zwei Substanzen sogar Aussagen zu bisher kaum erkennbaren neuropsychologischen Schäden wie Aufmerksamkeitsstörungen oder die verminderte Fähigkeit zum Planen und Handeln. Nach HERRMANN ist es dank chemischer Marker möglich, eine detailliertere Karte der Zerstörung nach einem Schlaganfall zu erstellen als mit den herkömmlichen, bildgebenden Verfahren. Sehen Das menschliche Auge sieht mehr, als das Gehirn zu verarbeiten imstande ist. Neueste Forschungen lassen den Rückschluss zu, dass bei der optischen Wahrnehmung die Eindrücke nicht parallel, sondern in Serie verarbeitet werden.63 Selbstbewusstsein – Selbsterkenntnis – Lokalisation im Gehirn Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung vom Tier zum Menschen ist die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel oder auf einem Bild wiederzuerkennen. Auch das „Ich“-Denken gehört zu dieser menschlichen Qualität. Nur einige Menschenaffen besitzen noch die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Nach KIRCHNER und BARTELS64 wird beim Betrachten des eigenen Bildes der linke Frontallappen des Hirns zusammen mit der rechten Hälfte des Limbischen Systems, das für Gefühle zuständig ist, aktiv. Wurde das Bild des jeweiligen Liebespartners betrachtet, zeigte sich nur ein kleines Areal der rechten Hirnhälfte aktiv. KEENAN65 vermutet die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ausschließlich in der rechten Hirnhälfte. Er hatte die linke oder rechte Hälfte seiner Patienten während einer Epilepsie-Untersuchung betäubt. In diesem Zustand wurden den Probanden das „gemischte“ Gesicht gezeigt, das sich aus dem eigenen Bild und dem eines Prominenten zusammensetzte. War nur die linke Hirnhälfte wach, wurde nur der 62 SZ, 188, 1999, V2 /11; HERRMANN ist Neurologe an der Neurologischen Klinik in Magdeburg. 63 Nature, 1999, Bd. 400, S. 867, und in SZ 200, 1999, V2 /12 64 SZ, 30, 2001, V2 /13; Cognition, Bd. 78, S. B1, 2001 65 Nature, 2001, Bd. 409, S. 305 45 Star erkannt, war nur die rechte Hälfte wach, wurde nur das eigene Gesicht erkannt. Selbsteinschätzung – warum sich Dumme für gescheit halten DUNNING/KRUGER66 stellten fest, dass die Fähigkeiten, die Kompetenz ausmachen, dieselben sind, die auch die Grenzen der eigenen Fähigkeiten erkennen lassen. Probanden mit den schlechtesten Sprachkenntnissen und den geringsten Erfolgen bei logischen Aufgabenstellungen zeigten das größte Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Die Testpersonen mit den besten Ergebnissen schätzten die eigenen Fähigkeiten im Allgemeinen am niedrigsten ein. Möglicherweise ist ihnen bewusst, dass mit zunehmendem Wissen auch der Grenzbereich zu dem Bereich, den wir nicht wissen, zunehmend größer wird. Speicherung von Informationen Wie werden Informationen nach der Übermittlung in den Nervenzellen gespeichert? Bisher war die Frage nicht geklärt, ob der Sender ein verstärktes Signal aussendet oder ob die Empfindlichkeit des Empfängers steigt. Bei der Reizeinwirkung auf die Nervenzellen wurde im Versuch von DODT und Mitarbeitern am Max-Planck-Institut der Wirkstoff Glutamat durch UV-Strahlen freigesetzt; dieser löst die chemische Reizübertragung zwischen den Nervenzellen aus. Da die Menge des freigesetzten Glutamats jedoch unerheblich ist, ist nach Ansicht der Forscher nicht die Signalstärke, sondern die Veränderung am Glutamatrezeptor, dem Empfänger, dafür verantwortlich, dass Modifikationen an der Oberfläche der Nervenzellen beim Speichern von Informationen stattfinden. Auf Fleckchen von einem hundertstel bis zu einem tausendstel Millimeter Größe werden Veränderungen des Hirnstromes festgestellt, wenn Informationen gespeichert oder verarbeitet werden. 66 Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 77, 1999, S.1121, und in SZ, 25, 2000, V2 /11 46 Vereinfacht beschrieben vollzieht sich der Speicherungsvorgang im Gehirn wie bei einem CD-Brenner Punkt für Punkt – allerdings auf einem biologischen Datenträger.67 Radiotherapie (Strahlenbehandlung) und ihre Folgen68 In den ersten Jahren nach einer Behandlung treten bei manchen Kindern Schwerhörigkeit auf, wenn sie einer Strahlendosis von mehr als 30 Gray ausgesetzt sind. Die übliche Dosis bei der Behandlung von Hirntumoren beträgt 54 Gray. Auch neurologische Störungen wie Konzentrationsschwächen und Verhaltensauffälligkeiten werden immer wieder beobachtet. Wachstumsstörungen sind ebenfalls nicht auszuschließen, da die Hirnanhangdrüse im Schussfeld der Strahlen liegt. Sie ist für die Produktion von Wachstumshormonen zuständig und fällt häufig aus. Stress Stress zerstört die Gehirnzellen. Dadurch entsteht eine Gedächtnisschwäche. Bis heute sind davon in Deutschland 1,6 Millionen Menschen betroffen. Blackouts in Stress-Situationen sind auf eine Überschwemmung des Gehirns mit zu vielen Daten zurückzuführen. Auch Bluthochdruck, Schlafstörungen oder Herzbeschwerden tragen zu einem Abbau der Gehirnzellen bei. 69 Bei Spannungszuständen und Angst werden bestimmte Stresshormone z. B. CRF, vermehrt ausgeschüttet. Heute ist es nach SPIESS70 möglich, die Wirkweise des Hormons CRF (Corticotropin-Freisetzungshormon) zu beeinflussen. 67 SZ, 261, 1999, L 7 SZ, 67, 2000, V2 /12 69 MM, 245, 1999, S. 1; HEINRICH, Deutsche Krankenversicherung 70 Proceedings of the National Academy of Sciences, 2001, Bd. 98, Nr. 20; SPIESS arbeitet am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin. 68 47 Das Muster für Stressreaktionen im Gehirn: Empfindung von Stress oder Angst: Freisetzung des Hormons CRF Ausschüttung von weiteren Stoffen, die zur Bewältigung der Stress-Situation hilfreich sind. CRF bindet sich jetzt in den Regionen des Gehirns, die eine Bedeutung für die Entwicklung von Angst und für das menschliche Gedächtnis besitzen. An dem Hormon CRF wurde jetzt eine Schaltstelle ausfindig gemacht, welche für die Bindung an bestimmte Gehirnrezeptoren oder an ein Eiweiß, das als CRF-Speicher fungiert, eine entscheidende Bedeutung besitzt. Über diese Schaltstelle ist jetzt eine Beeinflussung der Ausschüttung von Stresshormonen möglich. Traumatische Erlebnisse und deren Verarbeitung Schlimme psychische und/oder körperliche Erlebnisse brennen sich geradezu in das Gehirn ein und hinterlassen bleibende Spuren. Wachstum von Gehirnzellen Aufgrund der Analyse der Sprachzentren in den Gehirnen von 20 verstorbenen Menschen wurde von US-Forschern festgestellt, dass die Dendriten, die feinverzweigten Ausläufer der Nervenzellen, sich stark in ihrer Länge unterschieden. Über die Dendriten werden die Impulse anderer Nervenzellen empfangen. Bei Menschen mit einem ausgeprägt intellektuellen Lebenslauf waren sie deutlich länger als bei solchen Menschen, die, durch Ausbildung und Beruf bedingt, ihr Sprachzentrum nicht so sehr gefordert hatten. Versuche mit Ratten sprechen gegen das Argument, dass Menschen mit längeren Dendriten möglicherweise einfach zu höheren Leistungen fähig sein könnten, da Tiere mit einem interessanten Leben im Versuch ebenfalls reicher strukturierte Gehirne entwickelt hatten.71 71 New Scientist, Nr. 1858 48 Zeitempfinden72 Das Zeitempfinden des Menschen ist sehr individuell ausgeprägt. Die innere Uhr wird durch Krankheit, Schichtarbeit oder durch den Alterungsprozess beeinflusst. Die Zeit wird nach neueren Erkenntnissen im Gehirn „gemacht“. Die dem Gehirn zufließenden Informationen über die Dynamik in der Natur werden ständig gesammelt und verarbeitet. Geschehnisse und Abläufe werden als „gleichzeitig“, „ungleichzeitig“, „aufeinander folgend“ und somit unterschiedlich lange empfunden. Die Sinne des Menschen brauchen unterschiedlich lange, um registrierte Informationen in Nervenimpulse umzuwandeln. Dadurch gestaltet sich eine zeitliche Kontrolle durch das Gehirn als schwierig. Um dieses Problem zu lösen, schafft sich das Gehirn ein Zeitraster, das durch Erkrankungen gestört wird. Die innere Dynamik des Gehirns, die durch neue bildgebende Verfahren belegt werden konnte, sorgt für die ständige – alle drei Sekunden wiederholte Frage: „Gibt es etwas Neues in der Welt?“, dass das gerade Erlebte wieder durch neuere Informationen aktualisiert wird. Die „Chronobiologie“ kam zu der Erkenntnis, dass ein kleiner Neuronenkern im Gehirn mit der Bezeichnung SCN für die Strukturierung unseres Tagesablaufes verantwortlich ist. Auch in den meisten anderen Zellen des Körpers tickt eine innere Uhr. Es gelang inzwischen, viele solcher „Uhr“-Gene zu identifizieren. Sie sind jedoch nicht als Teile eines Uhrwerks zu verstehen, die z. B. den Tag-Nacht-Rhythmus bestimmen. Dieser wird vielmehr durch den Zellstoffwechsel beeinflusst. Eine Störung dieses „zirkadianen“ Stoffwechsels wird neuerdings auch als Ursache für die Entstehung von Krebs oder Psychosen in Betracht gezogen. Zeitwahrnehmung (Chronostasis) 73 Nach schnellen Augenbewegungen nehmen wir ein neues Bild länger wahr, als wir es tatsächlich sehen. Die Länge der Wahrnehmung hängt von der Dauer der zuvor erfolgten Augenbewegung ab. Eine längere Augenbewegung führt zu einer längeren Wahrnehmung. DEUBEL: „Drei- bis viermal pro Sekunde bewegen wir blitzartig 72 73 MM, 256, 1999, S. 3 Nature, 2001, Bd. 414, S. 302 49 unsere Augen – für das Gehirn viel zu schnell, um die Umwelt klar abzubilden.“74 Dadurch entstehen visuelle Lücken im Gehirn. Durch das längere Sehen der Objekte danach werden diese Lücken gefüllt. Wäre das nicht so, würden wir bei jeder Augenbewegung die Welt als wild umherspringend empfinden. Zeitumstellung – innerer Rhythmus Nach ZULLEY75 folgen die innere Uhr des Menschen und die von ihr gesteuerten Funktionen von Natur aus einem 25-Stunden-Takt. Hier findet sich auch die Erklärung, warum die Umstellung auf die Winterzeit im Herbst den meisten Menschen keine Probleme bereitet. Durch das Zurückstellen der Uhr entsteht eine Anpassung an den natürlichen 25-Stunden-Rhythmus. Um einen Ausgleich zu ermöglichen, muss die innere Uhr ständig nachjustiert werden. Dazu orientiert sich der menschliche Organismus am Tageslicht. Ein etwa reiskorngroßes Nervenbündel im Gehirn, der „Suprachiasmatische Nucleus“ (SCN), liegt etwa auf der Höhe der Nasenwurzel an der Stelle, an der sich die Sehnerven des rechten und linken Auges kreuzen und ist durch Nerven mit der Netzhaut des Auges verbunden. Er steuert den Tagesablauf der meisten Körperfunktionen. Sind keine Lichtreize von außen vorhanden, pulsiert der SCN im 25Stunden-Takt. Wurde im Tierversuch der SCN entfernt, verlor das Tier seinen natürlichen Rhythmus von Schlafen und Wachen. Bei einer Lichtstärke von mindestens 2500 Lux stellt die Zirbeldrüse die Produktion von Melatonin aufgrund übertragener Informationen des SCN ein. Dieses Hormon wirkt einschläfernd und drückt die Stimmung. Der Körper orientiert sich beim Aufwachen an der Sonne. Deshalb sollte das Schlafzimmer am Tag der Zeitumstellung nicht verdunkelt werden. Auch das tageweise frühere Aufstehen um jeweils 20 Minuten erleichtert die Anpassung an die Zeitumstellung. 74 SZ, 267, 2001, V2 /11; DEUBEL ist Physiker an der Universität München. 75 ZULLEY ist Schlafforscher an der Universität Regensburg; in SZ, 71, 2000, S. 2 50 Zusammenarbeit der Nervenzellen Anders als bisher vermutet arbeitet unser Gehirn mit ständig wechselnden Zellgruppen, die für eine kurze Zeit zusammenarbeiten. Durch diese freie Kombinierbarkeit eklärt sich sowohl die große Leistungsfähigkeit als auch die unendliche Vielfalt des menschlichen Gehirns. Durch sogenannte „synchronisierte Gammaoszillationen“ (Schwingungen im Bereich um 40 Hertz) sind Hirnzellen sind in der Lage, ihre Schwingungen im Bereich zwischen zwei und 60 Hertz zu variieren. Die Forschungsergebnisse von SINGER deuten darauf hin, dass „Nervenzellen aus verschiedenen Arealen über Synchronisation zusammenarbeiten können“.76 Die Hirnfunktionen sind extrem weit verteilt. Offensichtlich gibt es kein übergeordnetes Zentrum, das mit der Sammlung und der einheitlichen Interpretation aller Informationen beschäftigt ist. 76 MM, 110, 1999, J 4 51 Die gläubige Wissenschaftsgesellschaft Zuverlässigkeit von Laboruntersuchungen, Statistiken und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen Nietzsche behauptet sicherlich nicht zu Unrecht: „Einer hat immer Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit.“77 Wir leben in einem Zeitalter der statistischen Konstruktion von Wirklichkeit. Misstrauen ist absolut angebracht. Wissenschaftliche Beweise sind immer nur gleichzusetzen mit Wirklichkeitsausschnitten, welche überhaupt erst durch den Ausschluss von Störfaktoren geführt werden konnten. Alles Veränderliche ist – genau betrachtet – nicht reproduzierbar. JUNG sagt dazu: „Alles feste oder bestimmte ist nur verhältnismäßig. Nur das dem wandel unterworfene ist fest und bestimmt.“78 Die Wissenschaft dreht sich im Kreise. Durch neue Erkenntnisse werden neue Fragen aufgeworfen. Trotz dieser Einsicht wird der Wissenschaft vor allem im medizinischen Bereich zugestanden, über „richtig“ und „falsch“ zu urteilen; sie beeinflusst sowohl das menschliche Denken und Handeln als auch wirtschaftliche Entwicklungen, die wichtiger geworden sind als Menschlichkeit und Wahrheit. „Das undankbare Geschäft, unheilbare Krankheiten zu verwalten, überließen wir demütig der hohen Polizei, deren einziges Medikament die Einsperrung war. Davon hat sie in so hohen Dosierungen Gebrauch gemacht, dass die modernen Übel es mit der Angst zu tun bekamen. Seither sind sie erst richtig raffiniert geworden. Ich versuche mir vorzustellen, was die ohnehin ausgekochten Übel anstellen werden, wenn sie einer Ärzteschaft gegenüberstehen, die ihnen allen Ernstes die Heilung androhen. Vermutlich werden ein paar altbekannte Leiden tatsächlich vom Erdboden verschwinden. Aber im Verborgenen formieren sich neue Übel, vor denen sich die Ärzte 77 NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Werke, Klassikerausgabe, 5. Bd., S. 203 78 JUNG, 1987, S. 389 52 genauso blamieren werden wie die Priester vor den venerischen Seuchen oder vor den Blasensteinen.“79 Kein Wissenschaftler der Erde ist in der Lage, den unendlichen Bereich der Tatsachen zu überblicken oder dessen Zusammenhänge zu sehen und zu verstehen. Wir müssen deshalb immer „unseren Interessen entsprechend“80 eine Auswahl treffen. Die Beschreibung wissenschaftlicher Tatsachen „ . . . wird immer unvollständig bleiben, sie wird eine bloße Auswahl (und noch dazu eine dürftige Auswahl) der Tatsachen sein, die sich uns zur Beschreibung bieten . . . “ (S. 306) Fragwürdige Laboruntersuchungen Die Zuverlässigkeit von Laborkontrollen und Laborergebnissen bildet bei medizinischen Entscheidungen einen schwerwiegenden Unsicherheitsfaktor. MENDELSOHN berichtet im Jahre 1975 über eine Nachprüfung von 25 000 Laboranalysen aus 225 Labors im Staat New Jersey durch das Center for Disease Control. Sie ergab, dass nur „25% der Labors bei einer Fehlerquote bis 10% lagen.“81 Auch neuere Erkenntnisse in der Bundesrepublik Deutschland bestätigen solche Ergebnisse. So hat der deutsche Pathologe KEMNITZ Hunderte von Frauen durch falsche Untersuchungsergebnisse über Jahre hinweg schwer geschä79 SLOTERDIJK, 1985, S. 207; Abbé Galiani in: Das Kolloqium der Salpetrière 80 POPPER, 1992, II, S. 317 und S. 306 81 MENDELSOHN, 1988, S. 8; MENDELSOHN war amerikanischer Arzt mit mehr als 30 Jahren medizinischer Praxis; er bekleidete zudem mehrere hohe Ämter: National Director of Project Head Start`s Medical Consultation Service, Chairmam of the Medical Licensing Committee for the State oft Illinois und Associate Professor of Preventive Medicine and Community Health in the School of Medicine of the University of Illinois; er erhielt zudem zahlreiche Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf medizinischem Gebiet. 53 digt. Laut einer Studie wurde über mehrere Jahre hinweg fast jede vierte histologische Diagnose von Zweitgutachtern richtiggestellt, das heißt korrigiert.82 Bei positiven Befunden erhöht sich der Verdienst der Pathologen. Möglicherweise ist die unvoreingenommene Wahrnehmung dadurch erheblich beeinflusst. Ein neues Gutachten der Gesellschaft für Senologie stimmt nachdenklich: Im Fall KEMNITZ haben offenbar alle Fachärzte versagt, denen sich die Frauen anvertraut hatten. Obwohl die Ärzte zu penibler Dokumentation verpflichtet sind, fanden die Gutachter bei „vielen Krankheitsverläufen eine ständige Wiederholung von Unklarheiten, Widersprüchen und Informationsdefiziten, die durch ihre Konstanz beeindrucken.“83 Überprüfungen durch unabhängige Gutachter ergaben in 39 von 51 Fällen keine Auffälligkeiten bei den Röntgenaufnahmen. Die Gynäkologen in den Krankenhäusern wunderten sich zwar über die Befunde, entfernten aber dennoch in 300 Fällen eine Brust bei den betroffenen Frauen. Das Fatale war, dass der Pathologe den Operateuren durch seine Befunde sogar den Eindruck gegeben hat, dass der Eingriff berechtigt gewesen wäre. Durch das Gutachten wurde „eine defekte apparative und operative Diagnosekette“ bescheinigt. Fehldiagnosen sind nur durch die originalen Gewebeproben zu beweisen. Diese wurden durch einen Brand jedoch vernichtet. SCHREER: „Offenbar haben sich auf fatale Weise persönliche Fehler mit grundlegenden Mängeln des deutschen Systems der Brustkrebsfrüherkennung verknüpft. . . . Ärzte mit genügend Erfahrung in der Früherkennung von Brustkrebs sind in der Minderzahl.“ In Deutschland ist es jedem Radiologen, unabhängig von seiner Erfahrung und dem Standard der Geräte, möglich, Mammographien anzubieten. Ein Beweis für diesen Missstand ist die Rate der „falschpositiven Befunde“. Sie liegt in Deutschland durchschnittlich bei eins zu zehn. Wurden bei elf Frauen wegen des Verdachts auf Brustkrebs Gewebeproben entnommen, so waren bei zehn von ihnen sowohl der Eingriff als auch alle damit verbundenen psychischen Belastungen überflüssig. 82 STERN, 25, 96, S. 60 SZ, 43, 2000, V2 /12; Ingrid SCHREER ist Radiologin an der Universität Kiel. 83 54 Die Brustkrebs-Früherkennung schade unter solchen Bedingungen mehr als sie nutze, vor allem dann, wenn die Qualität des Arztes nicht sichergestellt sei. Auch unzureichende Untersuchungen von Blutspenden gefährden die Sicherheit von Patienten. So wurden in der privaten Süd-Klinik in Straubing im Zeitraum zwischen 1996 und 1999 unzureichend geprüfte Blutspenden mit Wissen des Chefarztes als Frischblut an Patienten verabreicht.84 SEUFFER gibt bei der Arbeitsweise von Großlabors Folgendes zu bedenken: „Laboratoriumsmedizin ist häufig ein Wettlauf mit der Zeit. Lange Wege über Hunderte von Kilometern sind absolut kontraproduktiv. Proben sind bis dahin oft unbrauchbar, Ergebnisse kommen zu spät: Hirnhautentzündung, Vergiftungen, Diphterie, offene Tuberkulose. Wenn zum Beispiel im Urin eines Gesunden anfangs nur wenige hundert Bakterien als Verunreinigung enthalten sind, vermehren sie sich auf dem langen Transport millionenfach. Dann trifft in der Laborfabrik eine Harnprobe ein, bei der man meint, der Patient liege auf der Intensivstation . . . Gerinnungsproben sind statt zulässige zwei mehr als acht Stunden unterwegs. Da viele Ergebnisse dieser Fabriken falsch oder wertlos sind, sind sie eben doch teurer als die Arbeit kleiner Labors . . . Großlabors konnten nur in der Illegalität wachsen, weil sie mit Laborgemeinschaften, Koppelgeschäften, Rückvergütungen und Rabatten illegale Marktstrategien nutzten – unter den Augen der gesamten deutschen Ärzteschaft . . . Viele ehemals in eigener Praxis niedergelassene Laborärzte sind mittlerweile von den Großen aufgekauft worden und damit weisungsgebunden. Auch diese Leute muss man aus meiner Sicht als Strohmänner bezeichnen . . . Vorsichtig geschätzt ist über ein Drittel der LaborErgebnisse der Laborfabriken falsch oder wertlos. Die Kassen wissen es, und es ist ihnen egal. Wenn es nur endlich auch die Patienten wüssten. Aber denen sagt`s keiner . . .“85 Für negative Schlagzeilen sorgte der inzwischen festgenommene Augsburger Laborarzt SCHOTTDORF, dem vorgeworfen wird, in 84 SZ, 211, 1999, L 6 SEUFFER in SZ, 264, L 8; SEUFFER ist Laborarzt und Biochemiker in Reutlingen; er gab 1994 seine Kassenzulassung zurück. 85 55 den Jahren zwischen 1993 und 1997 knapp 17 Millionen Mark zu viel Honorar kassiert zu haben. GASSNER äußerte die Vermutung, dass es eine ganze Reihe von betrügerisch abrechnenden Laborpraxen und -kartellen gab oder noch gibt. Mitglieder des Sozialausschusses des Bayerischen Landtages sind sich bezüglich der Diskussion um SCHOTTDORF sicher: „Das was wir hier diskutieren, ist nur die Spitze des Eisbergs.“ 86 Nicht nur Betrügereien erschweren die Wahrheitsfindung, sondern auch hochwertige Messgeräte, die unter angeblich gleichen Bedingungen unterschiedliche Messergebnisse liefern. Überall dort, wo mit modernsten Mess-Systemen elektrische Strahlungen oder Felder gemessen werden, können im besten Fall Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden. So wurden z. B. beim Vergleich von drei absolut hochwertigen, mit gültigem, nur wenige Monate altem Eichsiegel und CE-Zertifikation versehenen MessSystemen an einem Arbeitsplatz in einem Industriebetrieb Abweichungen von über 100 % festgestellt.87 So vertritt EISENMENGER88 die Meinung, dass der Gesetzgeber mit der Zulassung der Atemluftmessung als gerichtliches Beweismittel eine „politische Gasblase“ produziert habe. Zwar sei das entsprechende Gerät „das beste der Welt“, den exakten Erfordernissen der deutschen Rechtsprechung aber noch nicht gewachsen. Die wissenschaftlichen Grundlagen seien noch unvollkommen und das Gerät technisch verbesserungsbedürftig. Neueste Forschungen geben Grund zu der Annahme, dass alle biochemischen und biophysikalischen Funktionen des menschlichen Organismus komplexe elektromagnetische Muster sind, welche ständig in kürzester Zeit starken Veränderungen unterworfen sind. Die Unmöglichkeit der von der Wissenschaft geforderten Reproduzier- 86 SZ, 52, 2000, L 7; GASSNER ist Ministerialdirigent im Sozialministerium in München. 87 JOSSNER in CO-med 7/8, 1999, S. 19 88 SZ, 5, 2000, S. 53; EISENMENGER ist Professor für Rechtsmedizin in München und „hoch anerkannter Sachverständiger“. 56 barkeit von Versuchen oder Messergebnissen ist somit nicht zu erfüllen.89 Im Zusammenhang mit ermittelten Messergebnissen steht auch der Begriff „Normalwert“. DAHLKE weist darauf hin, dass der Begriff der „Normalität“ erst im Jahr 1840 Eingang in den medizinischen Sprachgebrauch fand.90 Damit wurde zugleich die Grundlage für viele Arbeitsplätze und somit für Verdienstmöglichkeiten geschaffen, vor allem im Bereich der Gynäkologie. Über 50% der Frauen zeigen laut DAHLKE keine Normwerte beim Zyklusgeschehen und werden somit bei Arztbesuchen zu Patientinnen. Normalität hat immer etwas mit der Zeit, dem Ort und der Gesellschaft zu tun. Werden der komplexe Aufbau und der stetige Wandlungsprozess gesellschaftlicher Strukturen beobachtet, so zeigt sich der Begriff der Normalität nicht mehr als klar definierbar. Sowohl in der Psychiatrie als auch im gesellschaftlichen Leben und in der Medizin ist aus der Feststellung, nicht der Norm zu entsprechen, viel Leid hervorgegangen. Nach DAHLKE ist es eine Tatsache, dass es in der Medizin üblich ist, je nach Zweckmäßigkeit entsprechende „Normalwerte“ einer Korrektur zu unterwerfen. Dies gilt auch ganz besonders für die Labormedizin. LONGOSTREVI und Mitarbeiter (etwa 700 Hausärzte in Mailand), die ein angesehenes Institut für Nuklearmedizin in Mailand leiteten, wurden im Jahr1997 beschuldigt, die Krankenkassen um ca. 7 bis 8 Millionen DM pro Jahr betrogen zu haben. So wurden für einen einzigen Patienten pro Tag bis zu 20 Behandlungen mit radioaktiven Substanzen abgerechnet.91 Wissenschaftler der kalifornischen Gesundheitsbehörde beanstandeten die in sechs amerikanischen Labors durchgeführten Haaranalysen als geradezu haarsträubend. Als Erklärung der unterschiedlichen Analyse-Ergebnisse wird angeführt, dass drei der getesteten Labors die Muster vor der Veraschung waschen und die gleichen spektralanalytischen Instrumente benutzten, während ein anderes Labor eine 89 WARNKE in Co-med 7/8, 1999, S. 16 co-med , 1 / 2, 1999, S. 42 91 SZ, 1997, Nr. 134, S. 14 90 57 veraltete Methode nutze. 92 Die abweichenden Laborergebnisse können also folgende Ursachen haben: unterschiedliche Behandlung der zu untersuchenden Materialien unterschiedliche Lagerung oder Transportwege unterschiedliche Untersuchungs- und Analysemethoden unterschiedliche Instrumente (Geräte) unterschiedliche Interpretation der Werte. BLAUROCK-BUSCH: „Dieser statistische Mischmasch kann nur statistischen Unsinn erzeugen!“ Der Blickwinkel ist für die Beurteilung ausschlaggebend MENDELSOHN berichtet darüber, dass im Rahmen einer großangelegten Rasterfahndung mit Hilfe von Mammographieuntersuchungen in den Jahren 1973 bis 1976 bei 280 000 in regelmäßigen Abständen untersuchten Frauen 1800 Krebsfälle entdeckt wurden. Bei kritischen Kontrollen der Ergebnisse wurden 84 Fehldiagnosen festgestellt, wobei in 37 Fällen bereits Brüste ohne Grund entfernt wurden.93 Diese tragischen Tatsachen lassen sich auch ganz anders formulieren: Die oben angeführte Rasterfahndung war sehr erfolgreich, da nur 0,013% Fehldiagnosen mit allerdings schwerwiegenden Folgen gestellt wurden. Dass hinter diesem Prozentsatz 37 tragische Einzelschicksale stehen, wird oft vergessen. Ärzte, die das Röntgen befürworten, pflegen einen anderen Blickwinkel: Jede fünfte an Brustkrebs gestorbene Frau könnte noch leben, wenn sie eine regelmäßige Kontrolluntersuchung mit Mammographie hätte 92 SZ, 42, 2001, S. 12; Eleonore BLAUROCK-BUSCH ist Labordirektorin eines der untersuchten Labors. 93 MENDELSOHN, Männermacht Medizin, 1989, S. 123 58 durchführen lassen. Dazu SAUER: „Überall sinkt die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs, nur in Deutschland steigt sie weiter.“94 Jährlich erkranken etwa 60 000 Frauen in Deutschland an Brustkrebs, 19 000 Frauen starben im Jahr 1998 an dem bösartigen Tumor. Ein anderer Bericht spricht von 46 000 Frauen, die in Deutschland jährlich an Brustkrebs erkranken, und von 18 000 Fällen mit Todesfolge. KARSA vermutet bei zwei von fünf Millionen durch die Krankenkassen jährlich abgerechneten Mammographien ein „wildes Screening“(Reihenuntersuchungen auf eigene Faust).95 Dabei entstehe mehr Schaden als Nutzen, weil keinerlei Qualitätssicherung existiere. In der Folge werde den betroffenen Frauen durch zweifelhafte Befunde unnötig Angst eingejagt. Bei der oftmals unnötigen Gewebeentnahme erfahren sie dann, dass es ein Fehlalarm war. Eine dänische Studie zur Überprüfung der Behauptung, dass durch ein flächendeckendes Screening die Mortalität um 30% gesenkt werden könnte, bezeichnete nur zwei von acht diesbezüglichen Studien als verlässlich.96 MÜHLHAUSER/HÖLDKE weisen nach, dass die Aussicht einer einzelnen Frau, von dem Screening zu profitieren, bei 1:1000 liegt. Zwölf bis 100 von 1000 Frauen müssen mit unnötigen Operationen oder Gewebeentnahmen rechnen. MÜHLHAUSER fordert eine genaue Erläuterung der Fehlerquoten des angewandten Verfahrens, wobei die Patientinnen selbst Entscheidungen treffen müssen: „Ob Nutzen und Risiken in einem angemessenen Verhältnis stehen, kann letztlich nur jede Frau für sich entscheiden.“ Die „wissenschaftliche“ Früherkennung entpuppt sich somit als ein gefährliches Lotteriespiel. Untersuchungen aus den Niederlanden belegen, dass von 1000 Frauen, die zehn Jahre regelmäßig an einem Mammographie-Früherkennungsprogramm teilnahmen, nur drei davon ausgehen können, einen Brustkrebs zu überleben, der durch dieses Diagnosemittel erkannt wurde. Voraussetzung für einen solch fragwürdigen Erfolg sind unter anderem ein funktionierendes Krebs94 MM, 259, 1999, S. 3; SAUER ist Professor am Uniklinikum Großhadern in München. 95 SZ, 55, 2000, V2 /14; KARSA ist Leiter der kassenärztlichen Bundesvereinigung; Friedericke PERL ist Frauenärztin in Stuttgart; MÜHLHAUSER/HÖLDKE arbeiten an der Universität Hamburg. 96 Lancet, Bd. 355, 2000 , S. 129 und S. 747 59 register, speziell ausgebildete Ärzte und eine perfekte Teamarbeit der beteiligten Spezialisten. In Deutschland ist nichts davon die Regel. „Der Qualitätsstandard ist oft so schlecht, dass man einer gesunden Frau vorerst nur empfehlen kann, lieber keine Mammographie machen zu lassen, als sich auf das Angebot eines Arztes einzulassen, über den sie nicht viel weiß.“97 Fachleute schätzen, dass 50 bis 90% der heute mammographierenden Fachärzte nicht ausreichend qualifiziert sind.98 OLSEN/GÖTZSCHE zum Wert dieser Untersuchungen nach ihrem Kenntnisstand: „Es gibt keine verlässliche Grundlage, dass Früherkennung durch Mammographie das Risiko einer Frau verringert, an Brustkrebs zu sterben.“99 Studien an fast 500 000 Frauen in den siebziger und achtziger Jahren, bei denen die Mammographie zur Früherkennung erprobt worden war, haben nach Auffassung der beiden Wissenschaftler so schwere Mängel, dass man den Berechnungen nicht trauen könne, dass 3500 von 17 000 Brustkrebsopfern durch solche Untersuchungen hätten gerettet werden könnten. KESSLER: „Der Stand der Mammadiagnostik in Deutschland entspricht dem der USA im Jahr 1984.“100 Sie führt ein Großteil der Fehldiagnosen auch auf die mangelhafte Ausbildung der Medizinisch-Technischen Assistenten zurück. Während in den USA eine Fortbildung von einem Jahr für deren Ausbildung angesetzt werde, könne diese in Deutschland häufig in einer Woche absolviert werden. Eine von PERL durchgeführte Analyse bestätigte die oben angeführten Ergebnisse der dänischen Wissenschaftler. Die Erkenntnis aus allen Studien kann so zusammengefasst werden: Es wird zu einer Frage des Glaubens, wer recht hat! Diese Haltung 97 SZ, 133, 2001, V2 /14 SZ, 164, 2001, S. 49, BAYERN 99 SZ, 241, 2001, S. 8; OLSEN/GÖTZSCHE sind dänische Wissenschaftler; auch veröffentlicht in: The Lancet 100 SZ, 170, 2001, S. 43; Mareike KESSLER ist Ärztin am Klinikum Großhadern in München. 98 60 und Erkenntnis zugleich kann auf viele medizinische Bereiche übertragen werden (Operationen, Impfungen, medikamentöse Behandlungen . . . ). Neuere Studien lassen die Vermutung zu, dass die Todesursachen und die Anzahl der Todesfälle in einem Land in einem sehr engen Zusammenhang mit dem dort herrschenden politischen und sozialen System stehen. Zusammenbrüche solcher Systeme spiegeln sich im Gesundheitszustand der Menschen wider (Monica-Daten zur Infarktsterblichkeit). Chemotherapie Bezüglich der Wirksamkeit einer Chemotherapie kann nach wenigen Monaten eine Aussage getroffen werden, wenn sie vor einer Operation durchgeführt wurde, während bei einer Chemotherapie nach einer Operation erst nach mehreren Jahren Aussagen bezüglich ihrer Wirksamkeit gemacht werden können. Die Hochdosis-Chemotherapie in der Krebsmedizin, die vor allem bei Patientinnen mit nur wenig Aussicht auf Heilung angewandt wird, ist „wissenschaftlich“ gesehen äußerst fragwürdig. So hatte BEZWODA im Mai 1999 auf einer Tagung der ASCO (Amerikanische Gesellschaft für Klinische Onkologie) von einer klaren Überlegenheit der aggressiven Therapie bei 154 Brustkrebs-Patientinnen berichtet. Seine Studie erregte internationales Aufsehen. Der Arzt hatte nach Kritik von Kollegen, die die Studie überprüften, vor einer Untersuchungskommission „einen schweren Verstoß gegen wissenschaftliche Redlichkeit und Integrität“ zugegeben.101 Auch hier bleibt wie so oft in der wissenschaftlichen Forschung die Frage unbeantwortet, welche Interessen der Arzt vertreten wollte. Die Patientinnen der Kontrollgruppe hatten nicht die angegebene Therapie erhalten. Außerdem konnte der Arzt nur 50 von angeblich 154 erstellten Krankenakten vorlegen. Der Wert der experimentellen Therapie ist seit Jahren in Fachkreisen heftig umstritten. Inzwischen wurde der Betrug „wissenschaftlich“ bestätigt. Wegen der Dringlichkeit wurde jetzt ein Bericht über das Internet zugänglich gemacht, aus dem hervorgeht, dass die umstrittene Therapie dieser 101 SZ, 37, 2000, V2 /11; BEZWODA ist Onkologe und führte seine Studie an der Universität in Johannesburg durch. 61 Studie die Überlebenschancen schwerkranker Patientinnen nicht steigerte.102 Auch die deutschen in der Krebsforschung tätigen Ärzte KANZ und BRUGGER müssen sich den Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens gefallen lassen, weil sie bei der Erprobung und der anschließenden Veröffentlichung einer Hochdosis-Chemotherapie bei Krebspatienten vorhandene Patientendaten einfach wegließen. Trotz dieses Verhaltens will KANZ dennoch an den Schlussfolgerungen der fragwürdigen Arbeit festhalten.103 Dass dennoch auch in Deutschland unseriöse Geschäfte und Betrügereien mit schwer krebskranken Patienten an der Tagesordnung sind, lassen inzwischen aufgedeckte Fälle vermuten. Ein Netz von betrügerischen Pharmafirmen, Ärzten und Apothekern, die mit durchorganisierten Strukturen ihre Betrügereien ausführten, macht nach ALTMANN deutlich, dass „der Markt für hochpreisige Medikamente im Bereich Zytostatika und künstliche Ernährung fast komplett in der Hand weniger Apotheken, Ärzte und Vermittlerfirmen ist.“104 Die Medizinische Hochschule Hannover ist nach einem Bericht des Focus die „Keimzelle des Klüngels“. Schwer kranken Patienten wurden zwar teuere Medikamente verschrieben, aber nicht ausgehändigt, sondern an bestimmte Apotheken mit Hilfe der Zwischenschaltung von Service-Unternehmen weitergeleitet, die zwischen 60 und 70% des Verordnungswertes „als Vergütung für irgendwelche Dienstleistungen“ erhielten. Auch die Pharmafirma eines Arztes wurde an diesen „Verdiensten“ beteiligt. Grundsätzliche Fehlermöglichkeiten bei dem Versuch objektiver Feststellungen 102 Der Bericht findet sich auf der Internetseite des New England Journal of Medicine (Stand März 2000). 103 SZ, 133, 2001,V2 /13 104 SZ, 48, 2000, S. 16; ALTMANN ist Sprecher der AOK in Niedersachsen. 62 1. Hof- oder Halo-Effekt Lässt sich ein Beobachter vom Gesamteindruck oder von einer speziellen Eigenschaft leiten, so ist eine objektive Beurteilung nicht möglich. (Jemand ist sehr arm, also muss er faul und dumm sein!) 2. Fehler des ersten Eindrucks Die selektive Verarbeitung und Wahrnehmung von Informationen führt oft dazu, dass der erste Eindruck nicht mehr hinterfragt wird. 3. Projektionsfehler (Freud) Der Beobachtende/Behandelnde projiziert eigene Persönlichkeitszüge in den Beobachteten. 4. Primacy-Recency-Effekt Die Informationen und Eindrücke, die zuerst bzw. zuletzt gewonnen wurden, bleiben besonders im Gedächtnis haften. 5. Ähnlichkeitsfehler (Guilford) – Kontrastfehler (Murray) oder: Sympathie- bzw. Antipathiefehler Beurteiler schreiben dem Beobachteten ähnliche oder gegenteilige Eigenschaften zu wie sich selbst. 6. Erwartungsfehler (Rosenthal) Bestimmte Verhaltensweisen werden aufgrund von ungesicherten Vorinformationen erwartet. 7. Mildefehler, Fehler der zentralen Tendenz oder Fehler der Strenge Das Verhalten oder Ergebnisse werden unter Vermeidung extremer Urteile im Mittelbereich beobachtet oder aber generell zu milde oder zu streng beurteilt. 8. Medley & Mitzel , 1965 Der schlimmste Feind objektiver Beobachtungen ist die persönliche Voreingenommenheit. 9. Hawthorne-Effekt Die Beobachtung führt zur Veränderung des Verhaltens des Beobachteten. 10. Der „Zeno-Effekt“ bzw. „Anti-Zeno-Effekt“ Beim Erfassen eines Atoms wird zwangsläufig Energie ausgetauscht und so dessen Zustand gestört. Vorgänge auf atomarer Ebene – und wir bestehen aus Atomen – können alleine dadurch beschleunigt oder verzögert werden, dass man wiederholt beobachtet.105 Sichtweisen der klassischen Physik wurden mit diesem Versuch in Frage gestellt. 105 Physical Review Letters, 2001, Bd. 87, Nr. 040402 63 Fälschungen im wissenschaftlichen Medizinbetrieb Umfangreiche Fälschungen wissenschaftlicher Daten sind auch im Bereich der Molekularbiologie in Deutschland bekannt geworden. Hier sei nur auf die Affäre HERRMANN verwiesen, einen Krebsforscher, der weltweit über 398 wissenschaftliche Arbeiten publiziert hat.106 Die Daten wurden offensichtlich in 47 Fällen gefälscht, um Forschungsmittel in Millionenhöhe bewilligt zu bekommen. Dieser Forschungsskandal gilt als der schwerwiegendste der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine an der Universität Würzburg eingerichtete Arbeitsgruppe mit dem bezeichnenden Namen „Task Force zur Aufklärung von Fälschungsvorwürfen bei wissenschaftlichen Publikationen“ fand heraus, dass Literaturangaben in den wissenschaftlichen Werken HERRMANS frei erfunden waren, also nicht existierten. Auch die Manipulation von Fotos mit biochemischen Reaktionen wurde in großem Ausmaß gepflegt. Allein in der Habilitationsschrift von BRACH wurden mehr als 30 von 50 Abbildungen „überarbeitet“. In einer wissenschaftlichen Veröffentlichung wurde sogar dreimal dieselbe Abbildung mit einer anderen Unterschrift entdeckt. Dazu RAPP, Leiter der Task Force: „Sie haben geradezu eine Aversion entwickelt, echte Daten zu verwenden.“107 Der exakte Umgang mit Daten ist aber gerade eines der obersten Gebote in der wissenschaftlichen Arbeit. Diese Arbeitsweise blieb nach Aussage von HOUBEN 15 Jahre lang unentdeckt. Das Verfahren gegen die beiden Professoren HERRMANN/BRACH wurde gegen Zahlung einer Gelbuße in unbekannter Höhe inzwischen eingestellt, da „ein finanziell messbarer Schaden nicht entstanden ist“ und die Beschuldigten inzwischen aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden sind.108 Auch MERTELSMANN, ein führender Gentherapeut Deutschlands, ist als Mitautor auf jeder zweiten Arbeit Mitunterzeichner. Er stand als möglicher Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Diskussion. Ihm werden gravierende Mängel bei der Erhebung, Dokumentation und Publikation von Forschungsdaten vorgeworfen. 106 SZ,115, 1997, S. 24 SZ, 203, 1999, S. 11 108 SZ, 92, 2000, S. 16 107 64 So wurden bei zwei Studien mit Krebspatienten von Gutachtern der Deutschen Forschungsgemeinschaft „schwerwiegende Mängel“ entdeckt. ESER betont, dass „wissentlich bestimmte Daten nicht wiedergegeben wurden“ und somit ein „grober Verstoß“ gegen die Regeln der Forschung festzustellen sei.109 Zudem seien die an der Studie teilnehmenden Krebs-Patienten zum Teil nicht in der üblichen Form aufgeklärt worden. Die Untersuchungskommission geht davon aus, dass MERTELSMANN von den aktiven Fälschungen in den etwa 100 beanstandeten HERRMANN-Arbeiten wusste. Der Wert der Selbstkontrolle der Wissenschaft ist nach Aussagen von RAPP und Mitarbeitern sehr gering. Sie fordern daher eine unabhängige Kontrolle statt Selbstkontrolle in der wissenschaftlichen Forschung. Sie weisen auch darauf hin, dass Manipulationen in wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer strafbar sind. Alle Mitarbeiter der Würzburger Task Force sind indessen davon überzeugt, dass Fälschungen in der Forschung nicht nur als Einzelfälle auftreten. Ein Zitat eines Mitarbeiters zeigt die Situation deutlich: Wissenschaft, „das ist ein Sumpf, da würde ich auf Dauer nicht bestehen.“110 Die Fragwürdigkeit von Vorsorgeprogrammen im Zusammenhang mit Brustkrebs bei Frauen wird durch eine Meldung aus dem Jahre 1994 bestätigt. Einerseits sind die Programme zur Vorsorge nicht auf dem neuesten Stand, andererseits sind falsche Diagnosen durch veraltete Geräte bedingt. Dadurch kommt es bei Brustkrebs zur falschen Diagnosestellung in jedem zweiten Fall.111 ECKERT, der ein Kontrolllabor für Blutkonserven leitete, wurde wegen Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz in 129 Fällen und wegen der unzureichenden HIV- und Hepatitiskontrolle von mehr als 100 000 Blutkonserven, mit welchen Krankenhäuser beliefert wurden, zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Bei 14 Personen konnte eine Infektion mit HIV nachgewiesen werden, 13 Personen sind inzwischen verstorben. Für den Beschuldigten ergab sich eine Ersparnis von 440 000 DM.112 109 SZ, 51, 2001, S. 1; ESER ist Direktor des Freiburger Max-Planck Institutes. 110 o. a. 111 Münchner Merkur, 3. Juni 1994 112 SZ, 24. Juni 1997 65 SEEBURG wurde von der Max-Planck-Gesellschaft wegen „wissenschaftlichen Fehlverhaltens“ gerügt. Er hatte gentechnisches Material von seinem damaligen Arbeitgeber, der Universität Kalifornien, mitgenommen und ein Wachstumshormon daraus entwickelt. In der Fachzeitschrift „Nature“ wurde die Herstellung des Hormons durch den Forscher zudem nicht korrekt beschrieben. Durch sein Fehlverhalten ist der Forscher reich geworden. Er erhält als Mitinhaber eines Universitätspatents 17 Millionen Dollar.113 MAYNTZ hält „nachgewiesene Fälle bewusster Fälschung für ausgesprochen selten“, während LAMERS davon ausgeht, dass etwa 5% aller Publikationen in Fachzeitschriften aktiv gefälscht seien.114 Nach MAYNTZ sind Verfälschungen ungleich häufiger als Fälschungen. Unter Verfälschung versteht sie : Interpretationen im Sinne von eigenen Erwartungen des Wissenschaftlers oder seiner Auftraggeber, wobei nicht ins Bild passende Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben. Bei weitem am häufigsten seien in der Wissenschaft „gewöhnliche Schlampereien“. Nach BEISIEGEL sind es die autoritären Strukturen an den Kliniken, die zu wissenschaftlichem Fehlverhalten führen. Auf einer internationalen Konferenz mit dem Titel „Ethos der Forschung“ wurde allgemein beklagt, dass die Ärzte in Deutschland während ihrer Ausbildung nicht lernen, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten. Was ist deren Arbeit aber dann? Vermutungskunst, Pseudowissenschaft oder Experimentierkunst? 113 SZ, 289, 1999, S. 16 SZ, 248, 1999, V2 /17; Renate MAYNTZ arbeitet am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln; LAMERS ist am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg tätig; Ulrike BEISIEGEL ist Biochemikerin an einer Universitätsklinik in Hamburg. 114 66 Es ist offenkundig, dass auch im Forschungsbereich „Impfungen“ Unregelmäßigkeiten beobachtet werden können; Nutzen und Schaden sind schwer zu trennen, eine Effektivität nur schwer nachzuweisen. Die Einkünfte der Pharmaindustrie steigen dennoch kontinuierlich durch konsequente Werbung und die Überzeugungskraft ihrer Vertreter. Ein Überblick über die Umsätze der Pharmabranche im Jahr 1996 soll verdeutlichen, um welche Summen es hier geht: Umsätze in Milliarden DM – Verordnete Arzneimittel115 1. Galaxo Wellcome (USA) 18,6 2. Merck & Co. (USA) 16,7 3. Novartis (CH) 15,5 4. Hoechst Merion Roussel (D) 12,5 5. Hoffmann-La Roche (CH) 11,8 mit Boehringer Mannheim 6. Bristol-Meyers Squibb (USA) 11,6 7. Pfizer (USA) 10,5 8. American Home Products (USA) 10,4 9. Johnson & Johnson (USA) 10,0 10.SmithKline Beecham (UK) 9,0 Der jährliche Umsatz, der durch die Massenproduktion allein mit Impfseren erzielt wird, wird auf ca. 10 Milliarden Mark geschätzt.116 Im Jahr 2002 will die Pharmaindustrie weltweit insgesamt 400 Milliarden US-Dollar umsetzen.117 270 Milliarden davon in Europa und den USA, aber nur 5,3 Milliarden in Afrika. Das entspricht 1,3%. Von den 100 bis 150 neuen Wirkstoffen, die jährlich den Markt überschwemmen, ist nach SCHÖNHOFER höchstens einer wirklich neu. Der Rest seien Scheininnovationen. Viele Forschungsausgaben sind Marketing-Kosten, Geld für Pharmaberater und gesponsorte Ärztekongresse. 115 SZ, 1997, Nr. 115, S. 21 Focus, 35, 1999, S. 132 117 SZ, 248, 2001, S. 24; SCHÖNHOFER ist Mit-Herausgeber des unabhängigen Branchendienstes arznei-telegramm. 116 67 Selbst in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten gelingt es den Pharmakonzernen, ihre Umsätze zu steigern. In Deutschland wurden im Jahr 2000 Medikamente im Wert von 35,5 Milliarden Mark verkauft. So wurde der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr nochmals um 5,7% gesteigert.118 Eine nicht zu leugnende Tatsache sind die Verknüpfungen von Wirtschaftsunternehmen und Medizin. So stiftete GATES, als ihm wettbewerbswidriges Verhalten vorgeworfen wurde, 6 Milliarden Dollar für die Entwicklung von Impfstoffen gegen Malaria, Tuberkulose und Aids. Mit einem Kapital von 17 Milliarden Dollar ist damit die „Bill and Melinda Gates Foundation“ die zweitgrößte Stiftung der Welt.119 Inzwischen bahnt sich eine britische Pharmafusion an. Im Sommer des Jahres 2000 könnte es zu einer Fusion zwischen Glaxo Wellcome und Smith-Kline-Beecham kommen. Zusammen kämen die beiden Unternehmen rund um den Globus auf ein Forschungs- und Entwicklungsbudget von 7 Milliarden DM pro Jahr. Der jetzige Branchenführer Merck würde seine Spitzenposition – bezüglich des reinen Medikamentenumsatzes – damit verlieren.120 Es ist bei diesen Summen verständlich, dass wissenschaftliche Forschung, die bekanntlich sehr viel Geld kostet, in erster Linie von eben diesen Firmen betrieben wird, um die Umsätze zu steigern. Die Ärzte, die ihr pharmakologisches Wissen sehr oft von den Pharmavertretern erhalten, können über die Wirksamkeit der Arzneimittel oder der Impfstoffe keine gesicherten Aussagen machen. Ein Beispiel aus den USA mag verdeutlichen, wie „Wissenschaft“ oftmals von Pharmainteressen geprägt ist: Im Jahre 1987 erhielt eine Forscherin der Universität von Kalifornien in San Francisco den Auftrag, die Wirksamkeit eines Schilddrüsenpräparates gegen Unterfunktion mit drei Konkurrenzprodukten zu vergleichen. Als das Ergebnis belegte, dass das getestete Medikament nicht besser als die jeweils billigeren Konkurrenzprodukte war, 118 MM, 232, 2001, S.1; Angaben des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) 119 SZ, 220, 1999, S. 2 120 SZ, 7, 2000, S. 24 68 wurde eine Veröffentlichung dieses Forschungsergebnisses sieben Jahre lang verhindert, weil die Autorin der Arbeit der Firma schriftlich ein Vetorecht eingeräumt hatte und in der Zwischenzeit so einen Gewinn von 3,6 Milliarden Mark ermöglicht hatte.121 Sogenannte „Knebelverträge“ gelten inzwischen als Verstoß gegen wissenschaftliche Grundprinzipien. Mit Sicherheit werden aber inzwischen andere Möglichkeiten gefunden worden sein, um dennoch unliebsame Wahrheiten nicht zu einer Veröffentlichung gelangen zu lassen. Insgesamt bleibt das Resümee: Die meisten wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten „erfüllen nicht die grundlegenden Kriterien für wissenschaftliche Annehmbarkeit.“ Im Jahre 1992 geriet das Schlafmittel „Halcion“, das den Bestandteil Triazolam enthält, in die Schlagzeilen. Dem Hersteller wurde vorgeworfen, gefälschte Studien vorgelegt zu haben, um eine Zulassung für das Medikament zu erreichen. Die Studien wurden von unabhängigen Experten mehrfach als nicht aussagekräftig und methodisch angreifbar gewertet. Die am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen beziehen sich auf das Zentrale Nervensystem: Depressive Verstimmmungen, Erregungszustände, Gedächtnisstörungen, Angst und Aggressivität. 122 Ein BGA-Sprecher zu diesem Fall: „Wir sind erschüttert über das Ausmaß des Unwissens.“ Bereits im Jahre 1982 wurde in den USA ein Fall bekannt, in welchem der amerikanische Internist C. Franklin dabei ertappt wurde, dass er seit Jahren „Gefälligkeitsgutachten“ für Pharmafirmen angefertigt hatte.123 Als Beispiel für ein bewusstes Vertauschen von Informationsmaterial sei hier ein Fall angeführt, auf den BUCHWALD hinweist. Dabei wurden zwei Fotografien vertauscht, um vorzutäuschen, dass ein gegen eine Pockenerkrankung geimpftes Kind nicht so schwer erkrankte wie ein ungeimpftes Kind.124 Des Weiteren wird so unter anderem in einer Werbeanzeige für Pockenimpfstoffe verschwiegen, 121 SZ, Nr. 250, 1997, I SZ, 27. 2. 1992: Unruhe um Schlafmittel 123 Newsweek, 17. Februar 1992 124 Buchwald, 1995, S. 42 122 69 dass der Koch Ali Moaw Maalin, der 1977 an Pocken erkrankte, geimpft wurde, als der Pockenausbruch bekannt wurde. Die Impfung konnte die Krankheit nicht verhindern (Seite 47 und 48). Der Glaube an die Schulmedizin und die Pharmaindustrie kann durch diese Tatsachen sehr erschüttert werden. Möglicherweise liegen die bestimmenden Faktoren von Gesundheit außerhalb des medizinischen Versorgungssystems. Berechtigterweise muss die Frage von McKEOWN gestellt werden: „Wenn die Medizin uns weder heilt, wenn wir krank sind, noch gut pflegt, wenn wir behindert sind, worin besteht dann ihre Bedeutung, in die wir doch so viele Hoffnungen und Ressourcen investiert haben?“125 SCHIFF bemerkt, dass die richtige Einschätzung von Machtverhältnissen bei der soziologischen Analyse der Wissenschaft eine ausschlaggebende Rolle spielt.126 WATZLAWIK betont, dass es zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt, und nicht nur eine. Diese verschiedenen Auffassungen können sich durchaus widersprechen und sind zwar das Ergebnis von Kommunikation, aber dennoch „ . . . nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten.“127 Auch eine subjektive Beeinflussung ist grundsätzlich in wissenschaftlichen Arbeiten nicht auszuschließen. EINSTEIN bemerkt dazu: „Wissenschaft als etwas Bestehendes und Abgeschlossenes ist die objektivste Sache, die wir kennen. Aber Wissenschaft, wie sie betrieben wird, Wissenschaft als Ziel, das man verfolgt, ist genauso subjektiv und psychologisch bedingt, wie jede andere Art menschlichen Strebens, so sehr sogar, dass auch die Frage, >Was ist Sinn und Zweck der Wissenschaft?<, zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Leuten ganz verschieden beantwortet wird.“128 Alle vorliegenden Ergebnisse, vor allem aus dem Bereich der Physik und speziell aus der Quantenphysik, deuten darauf hin, dass nicht die 125 McKEOWN, 1982, S. 239 SCHIFF, 1997, S. 108 127 Watzlawik, 1978, S. 7 128 zitiert nach BERNAL, J. D.: Wissenschaft, Bd. 1, Hamburg 1970, S. 36 126 70 beobachtete Natur verändert werden muss, sondern dass der Mensch ständig seinen Realitätsbegriff korrigieren muss. Auch der Mensch ist eine „Quantenkonstruktion“, denn er besteht wie alle Materie aus Elektronen und Atomkernen. Wir sind somit in unserer Eigenschaft als materielle Wesen den Gesetzen der Quantenphysik unterworfen. Die Räume zwischen diesen Elementarteilchen sind leer und besitzen gleichzeitig „alle energetischen Möglichkeiten im Zustand der Wahrscheinlichkeit“.129 Selbstgeschmiedete wissenschaftliche Berichte, Erkenntnisse und Schlagzeilen werden immer mehr zum Alltag und zum modernen Wissenschaftssystem gehören, welches unser Leben entscheidend in vielen Bereichen, vor allem in dem der Gesundheit und der Bildung mitprägt. Die Qualität deutschsprachiger Medizinpublikationen kann den geforderten Standards offenbar nicht standhalten. So ergab eine Untersuchung von 132 Arbeiten, dass die Anforderungen an methodisch hochwertige, kontrollierte Studien „nicht oder nicht befriedigend“ waren.130 Wird also eine bestimmte wissenschaftliche These über Jahrzehnte hinweg mit Beharrlichkeit vertreten, so ist sie nach Ansicht des Verfassers – wie z. B. im Bereich Impfschutz – besonders kritisch zu betrachten, vor allem deshalb, weil durch verschiedenste Publikationen das Vertrauen auf einen nahezu perfekten Schutz suggeriert wird.131 KÖBERLING fordert bei wissenschaftlichen Arbeiten: „Selbstkritik und Offenheit sind nun einmal Kriterien, denen sich jeder Wissenschaftler stellen muss.“132 „Wissenschaft muss weise sein“, fordert SUCCOW. Er vertritt zudem die These, dass luxurierende Gesellschaften – und dazu zählen 129 WARNKE in co-med 7/8, 1999, S. 14 SZ, 26, 1999, V2 /14 131 FOCUS, 35, 1999, Titelseite 132 SZ, 26, 1999, V2 /14 130 71 die amerikanische und die deutsche Gesellschaft – an ihrem eigenen Wachstumsdrang zu Grunde gehen, weil sie nicht gelernt haben zu haushalten.133 Diese Erkenntnis ist auch auf das medizinische System in den beiden Ländern übertragbar. In diesem Sinne soll auch die vorliegende Arbeit verstanden und gesehen werden. Immer dann, wenn wissenschaftliche Arbeiten auf der Grundlage menschlicher Kommunikation entstehen, ist mit Missverständnissen, Nicht-Verstehen und falschen Interpretationen zu rechnen. Ob diese Arbeit im eigentlichen Sinne wissenschaftlich genannt werden kann, bleibt fragwürdig, sofern das folgende Zitat JASPERS als Kriterium dient: „Die Tatsache der Verwandlung der freien Forschung Einzelner in den Betrieb der Wissenschaft hat zur Folge, dass jedermann sich mitzuwirken für befähigt hält, wenn er nur Verstand hat und fleißig ist. Es kommt ein wissenschaftliches Plebejertum auf, man macht leere Analogiearbeiten, um sich als Forscher auszuweisen, macht beliebige Feststellungen, Zählungen, Beschreibungen, gibt sie für empirische Wissenschaft aus. Die Endlosigkeit eingenommener Standpunkte, so dass man in häufiger werdenden Fällen sich nicht mehr versteht, ist allein die Folge davon, dass ein jeder unverantwortlich seine Meinung zu sagen wagt, die er sich erquält, um auch etwas zu bedeuten.“134 SHELDRAKE weist darauf hin, dass die häufigste Form wissenschaftlicher Täuschung – und damit auch von Selbsttäuschung – mit dem selektiven Gebrauch von Daten zusammenhängt. Es ist wissenschaftlich durchaus üblich, einen großen Prozentsatz von erhobenen Daten (bis zu 90%) vor der Veröffentlichung zu elimimineren.135 Wie genau die Restinformationen einzuschätzen sind, das mag der Leser selbst beurteilen. Selbstverständlich gilt das auch für die vorliegende Arbeit. Nach meinem Verständnis ist jedoch die selektive Datenauswahl auch in der Hinsicht von Vorteil, dass sogenannte 133 SUCCOW in Schulfunk und Fernsehen, 4, 1999, S. 22 JASPERS, K.: Die geistige Situation der Zeit (1931), 6. Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage, Berlin 1965, S. 136 135 Sheldrake, 1997, 1777, S. 178 134 72 wissenschaftliche Fakten von einer anderen Perspektive aus beurteilt werden können. Außerdem ist es wohl niemals möglich, alle gesammelten Informationen wahrheitsgemäß zu veröffentlichen, da der Beobachter in einem System immer Spuren hinterlässt. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des deutschen Zoologen HAECKEL. Wie ein Team von Forschern nachgewiesen hat, ist das noch heute gültige „biogenetische Grundgesetz“ aus dem Jahre 1866 durch wissenschaftliche Daten entstanden, die so abgeändert wurden, dass sie mit den theoretischen Grundlagen des Forschers besser in Einklang zu bringen waren.136 Auch das Auslassen bestimmter Teilerkenntnisse, die nicht zu bestimmten theoretischen Annahmen passen, trägt dazu bei, Wahrheitserkenntnis zu verhindern. Dass auch Forscher oft gezwungen waren, beim Zustandekommen von erwarteten Ergebnisssen etwas nachzuhelfen, beweisen die Nacharbeiten bestimmter Experimente aus dem Bereich der Physik. Durch das Herausstreichen wichtiger Passagen aus Protokollen von Experimenten durch Gutachter wurden so oftmals Ergebnisse, aber keine Erklärungen an die Nachwelt übermittelt. Forschung ist nach der Meinung des Berliner Mitarbeiters des Max-Planck-Institutes, RHEINBERGER, somit ein Wechselspiel von Präzision und Bastelei. „Die Wissenschaft benötigt Freiräume für Improvisation und wildes Denken“, so der Forscher.137 Es entspricht durchaus auch wissenschaftlichen Gepflogenheiten, sich durch Umwege Zugang zu angesehenen und in wissenschaftlichen Kreisen anerkannten Fachzeitschriften zu verschaffen. So ist es unzweifelhaft als übliche Praxis zu bezeichnen, dass Wissenschaftler Leserbriefe an bestimmte Fachzeitschriften schreiben und an bestimmten Veröffentlichungen im Auftrag bestimmter Industriezweige Kritik üben. Offenkundig wurde dieses Vorgehen in letzter Zeit durch die Kritik an den gesundheitsschädigenden Wirkungen des Passivrauchens. Honorare bis zu 10 000 Dollar sind keine Seltenheit.138 136 RICHARDSON, Anatomy and Embryologie, 1997, Bd. 196, S. 91 in SZ Nr. 186, 1997, S. 34 137 SZ, Nr. 244, 1997, S. 24, Ein Plädoyer für wildes Denken 138 Sciene, 1998, Bd. 281, S. 895 in SZ Nr. 200, 1998, V2 /7 73 Oftmals werden die Leserbriefe, die zugleich eine Diskussionsmöglichkeit bieten sollen, nicht von den verantwortlichen Herausgebern der Journale geprüft. Hinweise auf die wahren Interessenten von solchen rein interessenabhängigen Gegendarstellungen werden nur selten öffentlich. Auch in der BRD erscheinen natürlich solche Beiträge in Fachzeitschriften. So hat der Münchner Epidemiologe ÜBERLA ebenfalls Studien in Frage gestellt, die die Schädlichkeit des Passivrauchens bestätigen. Diese Sonderveröffentlichung in einer Beilage der Münchner Medizinischen Wochenschrift wurde vom Peutinger-Collegium bezahlt, welches in enger Beziehung zur Tabakindustrie stehen soll. In einer Antwort in Form eines Leserbriefes an die SZ fordert der Redaktionsleiter der MMW anstatt Polemik und Verdächtigungen eine wissenschaftlich fundierte Kritik.139 Es ist eine Tatsache, dass jede Studie, jede Statistik oder Untersuchung unter anderer Fragestellung und anderer Zielsetzung zu anderen Ergebnissen gelangt. Dass wissenschaftlicher Betrug viel häufiger, als normalerweise vermutet, stattfindet, zeigen Veröffentlichungen des COPE (Committee on Publication Ethics) in Großbritannien. Diese Vereinigung setzt sich aus den Herausgebern von ca. 20 medizinischen Fachzeitschriften zusammen und hat sich als Aufgabe gesetzt, fälschenden Forschern auf die Spur zu kommen. Im COPE-Report 1998 ist von einem „stetigen Strom von Beispielen für Betrug, Datenfälschung, geistigen Diebstahl“ und von anderen „Unregelmäßigkeiten“ zu lesen. Dabei nehmen Mehrfachveröffentlichungen einen großen Raum ein. Durch dieses Vorgehen werden Metastudien, die Ergebnisse bereits durchgeführter Studien zusammenfassen, verfälscht. In der BRD gibt es keine ähnliche öffentliche Einrichtung. Oftmals geht es bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Studien nur um die Veröffentlichung von Werbeeffekten. Selbst sehr angesehenen Instituten wie dem Max-Planck-Institut wurden in jüngster Vergangenheit in einem anderen Zusammenhang (TIMSSVergleichsstudie: weltweiter Vergleichs-Mathematik-Test) Vorwürfe wegen der Vertuschung von Statistik-Fehlern gemacht. Ob ein Verhaltenscodex – so wie an der Universität Freiburg jetzt vorgelegt – an den Forschungsinstituten die Betrügereien schmälern kann, sei dahingestellt, solange Geldgeber und eindeutige Interessen über die 139 SZ, Nr. 207, 1998, S. 18, Mängel der Studien über Passivrauchen 74 Art der Studien entscheiden. Ein Merkmal wirklicher Wissenschaft sollte „Dialogfähigkeit“ und die Bereitschaft, eigene Begriffe und Methoden immer wieder kritisch in Frage zu stellen, sein, so wie POPPER es immer wieder forderte. Möglicherweise sind wir auf diese Art und Weise fähig, eine annähernd möglichst genaue Auffassung der Wirklichkeit zu erhalten. Interessant ist, dass Wissenschaftler einerseits Fälschungen zugeben, andererseits aber die Auswirkung von Fälschungen auf den Medizinbetrieb minimalisieren oder gar abstreiten. So hätten nach ESER vor allem Molekularbiologen einen geschärften Blick für Fälschungen, könnten jedoch die klinische Relevanz nicht beurteilen.140 Durch aggressives Marketing der Pharmafirmen besteht zudem die Gefahr, dass Patientenrechte eingeschränkt werden. Dies lässt sich am Beispiel Erbkrankheiten belegen: Hier stellen die Firmen Erbkrankheiten nachweislich schlimmer dar, als sie tatsächlich sind.141 Eine Forschergruppe, welche die Berichterstattung der unabhängigen Presse zu Produkten der Pharmaindustrie untersuchte, stellte fest, dass diese nur äußerst selten objektiv über Medikamente aufklärten.142 Fast nie wurde der gepriesene Nutzen der Arzneimittel in Zahlen ausgedrückt. Geschah dies dennoch, wurden die Zahlen häufig gezielt zur Desinformation eingesetzt. Fast die Hälfte der Autoren vergaß, die Nebenwirkungen zu erwähnen, nur 33% gingen auf den Preis der Medikamente ein. Weiterhin ermittelten die Forscher, dass die Hälfte der in der Presse zu Wort kommenden Experten finanzielle Beziehungen zu dem Pharmahersteller unterhielt. An einem Beispiel wird die Vorgehensweise deutlich: Behauptung in den Abendnachrichten der drei großen USFernsehsender: „Alendronat senkt die Häufigkeit von Hüftgelenksfrakturen auf die Hälfte.“ In Wirklichkeit half die Tablette aber nur einem Prozent derer, die sie schluckten, gegen einen Knochenbruch. Diese Meldung war jedoch nicht wirklich falsch. 140 SZ, Nr. 115, 1998, I, Langsame Selbstreinigung der Wissenschaft SZ, 73, 2000, V2 /11 142 New England Journal of Medicine, Bd. 342, 2000, S. 1645; in SZ 134, 2000, V2 /14 141 75 Erklärung: Zwei von insgesamt 100 Teilnehmern an einer Studie, die nicht mit der Substanz behandelt wurden, zogen sich eine Fraktur zu. Bei denen, die das Mittel einnahmen, war es einer. Statistische Aussagen Erfassung von Einwohnern Ein weiteres Beispiel zur „unperfekten“ Abbildung der Wirklichkeit liefert das Vorgehen zur Erfassung von Einwohnern in München. Der stellvertretende Leiter des Ausländeramtes, FUCHS, schreibt dazu: „Diese Statistiken sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Sie sind kein perfektes Abbild der Wirklichkeit, und also unwahr – obwohl sie nicht lügen.“143 Medizinische Statistik – Interpretationen durch die Politik Zufällige Häufungen aller möglichen Ereignisse beeinflussen die Erstellung von Statistiken. Es bleibt außerdem noch die Tatsache, dass in der Biomedizin ein regelrechter Publikationsdruck herrscht, da die Öffentlichkeit durch eine starke Erwartungshaltung in Bezug auf Therapie und Diagnostik geprägt ist. Solange man sich auf die Ehrlichkeit von Wissenschaftlern – die ja auch nur fehlbare Menschen sind – verlassen muss, sind Betrug und Fälschungen nicht auszuschließen. Die Behauptung, dass es sich bei Fälschungen nur noch um Einzelfälle handele, lässt sich inzwischen nicht mehr aufrecht erhalten, so SMITH, der Herausgeber des British Medical Journal und des Lancet.144 Der Umgang mit einer Untersuchung des Münchner Statistikers SCHERB und seiner Mitarbeiterinnen BRÜSKE-HOHLFELD/ WEIGELT über die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in Bezug zu einer erhöhten Säuglingssterblichkeit in Deutschland zeigt, wie mit wissenschaftlichen Ergebnissen, die nicht in den ge143 SZ, 80, 1998, S. 38: Die Statistik ist unwahr – obwohl sie nicht lügt 144 SZ, 81, 1998, S. 9, Dokumentation 76 läufigen Rahmen passen, verfahren wird. Die GSF-Geschäftsführung (Münchner Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit) will den Forschern nicht die Erlaubnis zur privaten Veröffentlichung erteilen. Es soll auch verschwiegen werden, dass die Arbeit an der GSF entstanden ist.145 Inzwischen wurde durch Presseberichte offiziell bestätigt, dass in drei Regionen Bayerns die Rate der Totgeburten ein Jahr nach der Katatstrophe von Tschernobyl um rund 8,5% höher lag, als nach den Statistiken hätte erwartet werden dürfen. In Augsburg, den Landkreisen Berchtesgaden und Garmisch-Partenkirchen war die Steigerung sogar mehr als doppelt so hoch. Die Ergebnisse der Wissenschaftler sind ein deutliches Indiz für die schädliche Wirkung radioaktiver Niedrigstrahlung.146 Zugleich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die bei Röntgenaufnahmen freigesetzte Strahlung so unbedenklich ist, wie es oft behauptet wird. Es ist de facto unmöglich, die sehr komplexe Wirklichkeit durch statistische Momentaufnahmen auch nur annähernd wiederzugeben. Dabei werden häufig durch statistische Angaben mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben werden. So kommt der Betrachter einer Statistik mitunter zu völlig entgegengesetzten Aussagen, wenn der Gesamtzeitraum, auf den sich eine Statistik bezieht, in verschiedene Zeitphasen unterteilt wird. Bei der Analyse dieser Einzelphasen können entgegengesetzte Aussagen und Erkenntnisse gewonnen werden. Die moderne Medizin ist bestenfalls in der Lage, eine statistische Sicherheit – jedoch niemals absolute Gewissheit – zu bieten. Die Meinungen darüber, ob ein Wohnort, der nicht weiter als fünf Kilometer von einem Kernkraftwerk entfernt liegt, für gehäuft auftretende Missbildungen verantwortlich sein kann, gehen weit auseinander. So hat eine Befragung von sechs Ärzten in den Orten Gochsheim und Sennfeld in der Nähe des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld bei Schweinfurt durch BAUMANN ergeben, dass seit dem Jahr 1990 insgesamt 25 Fälle von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs nur in diesen beiden Dörfern auftraten. Andere Krebserkrankungen oder Fehlbildungen wurden nicht erfragt. In den Dörfern selbst wird jedoch über erhöhte Raten von Hirntumoren, Frühgeburten und Down145 146 SZ, 158, 1998, S. 3, Ein Sprung außer der Reihe SZ, 53, 2000, S. 63 77 Syndrom geredet. Eine Studie des bayerischen Umweltministeriums aus dem Jahr 1995 spricht von einer signifikanten Erhöhung über bösartige Neuerkrankungen und Fehlbildungen bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken. Diese Ergebnisse reichen jedoch wissenschaftlich nicht aus; zur Klärung wird eine Fallkontrollstudie empfohlen. In solchen Studien werden individuell alle möglichen Entstehungsursachen (Ort und Umstände der Zeugung, Fehlgeburten, Schwangerschaftsabbrüche, Ernährungsgewohnheiten, Erbanlagen . . . ) einzeln untersucht. Wegen der Unmöglichkeit alle wichtigen Faktoren zugleich zu erfassen, können solche Studien jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie jeweils nur Ergebnisse liefern können, die auf einer entsprechenden Fragestellung basieren oder die unter bestimmten Gesichtspunkten bewertet und ausgewertet wurden. Irrtümer sind möglich, klare Erkenntnisse auch hier nicht zu erwarten. Fachleute streiten sich darüber, wann Fehlbildungen entstehen können. Oftmals vertreten Mitglieder von Strahlenschutzkommissionen – die zudem die Grenzwerte festlegen – die Meinung, dass keine plausible Erklärung dafür vorhanden sei, dass geringe Mengen von Strahlung zu einer Schädigung des Organismus führen könnten. KÖRBLEIN hingegen ist der Ansicht, dass die Ergebnisse der offiziellen Studien nicht nachvollziehbar seien. Für ihn stellt sich das Risiko für Kleinkinder in der Umgebung von Kernkraftwerken als „gering, aber dennoch deutlich“ (signifikant: das heißt ein Zufall ist ausgeschlossen) dar. Die unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich wissenschaftlich mit einer unterschiedlichen Bewertung der Daten erklären. Durch Tricks sollen nach Ansicht KÖRBLEINS die Signifikanz der Ergebnisse der Strahlenforscher undeutlicher werden. So wurden bei Grafenrheinfeld zwischen 1984 und 1991 anstatt der „normalerweise“ zu erwartenden Zahl von 54 Fällen im Gegensatz dazu 71 behinderte Babys geboren. Im Umkreis von fünf Kilometern seien anstatt der sieben zu erwartenden Fälle 18 Fälle aufgetreten. Vom Bundesamt für Strahlenschutz wird diese Zahl von GROSCHE folgendermaßen kommentiert: „Wir können nicht ausschließen, dass Strahlung die Ursache ist . . . aber das ist nicht plausibel.“147 147 SZ, 247, 1998, S. 3, Was höhere Werte bedeuten; KÖRBLEIN ist Physiker in München, BAUMANN ist Rechtsanwalt. 78 Die bayerische Staatsregierung hält eine Fallkontrollstudie in diesem Fall für überflüssig. Obwohl eine Häufung der Krebsfälle bei Kindern inzwischen auch von der Staatsregierung zugegeben wird, wirft sie KÖRBLEIN verantwortungslose und unzulässige Verarbeitung statistischer Zahlen vor und stellt eine eigene Rechnung auf. Ein Vergleich der Feststellungen und Behauptungen: KÖRBLEIN In der Nähe von bayerischen Atomkraftwerken ist die Krebshäufigkeit bei Kindern um mehr als 20% erhöht.148 Im Zeitraum zwischen 1983 und 1998 wurden neun Landkreise im Umkreis der bayerischen Atomkraftwerke untersucht. KÖRBLEIN: „Wir haben 362 Krebsfälle bei Kindern unter 15 Jahren entdeckt.“ Dabei häuften sich Nierenkrebsfälle und Tumoren des Zentralnervensystems. Die Zahl der Leukämiefälle sei nur leicht erhöht. Nach CLAUSSEN gibt es in der Nähe einiger deutscher Atomkraftwerke wie Grundremmingen in Bayern und Krümmel bei Hamburg besonders hohe Krebsfallzahlen bei Kindern. So gebe es eine um 53% gegenüber dem Durchschnittswert erhöhte Krebsrate bei Kindern unter fünf Jahren, welche innerhalb eines Radius von fünf Kilometern um das Kernkraftwerk wohnen. Die Bayerische Staatsregierung Die Staatsregierung hält diese Studie für unseriös. Sie beruft sich dabei auf das Krebsregister in Heidelberg (eine Einrichtung des Bundes), das einen Verstoß gegen anerkanntes wissenschaftliches Vorgehen festgestellt habe. Auf Jahr und Landkreis heruntergerechnet seien es 0,35% mehr Krebsfälle als erwartet. Auch in anderen Gebieten kämen entsprechende Schwankungen vor. In Günzburg (in der Nähe von Grundremmingen) gebe es 16% mehr Fälle als erwartet (47 statt 40,55 Fälle), in Schwabach 64,8% mehr 148 MM, 159, 2001, S. 2; Ergebnisse des Umweltinstitus München und des Vereins Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW); die erhöhten Zahlen wurden auch durch das Bundesamt für Strahlenschutz bestätigt; Angelika CLAUSSEN ist Vorsitzende des IPPNW. 79 (17 statt 10,3 Fälle) und in Kulmbach 19,2 weniger (17 statt 23,7 Fälle). CLAUSSEN: „Es gibt zwar ernst zu nehmende Hinweise, dass die Atomkraftwerke für die Krebshäufigkeit bei Kindern verantwortlich sind. Einen eindeutigen Beweis gibt es jedoch nicht . . . Die Befunde sind sehr Besorgnis erregend . . . Die besonders belastenden Kernkraftwerke müssten vorübergehend abgeschaltet werden.“ In der Umgebung des umstrittenen Atomreaktors Krümmel in Norddeutschland häuften sich auf unerklärliche Weise die Leukämiefälle. Immer neue Hypothesen werden für die Entstehung von Leukämie verantwortlich gemacht. So wird neuerdings im Zusammenhang mit dem Kostmann-Syndrom (eine seltenen Erbkrankheit, von der meistens Kleinkinder im Säuglingsalter betroffen sind und bei der schwere bakterielle, oftmals tödlich endende Infektionen ausgelöst werden; diese Kinder erkranken 100-mal häufiger an Leukämie) die Frage diskutiert, ob nicht ein mutiertes Gen für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich gemacht werden kann. Die Frage nach den Genen rückt aus wissenschaftlicher Sicht zunehmend mehr in den Vordergrund, wirft aber zugleich schwer zu beantwortende ethische Fragestellungen auf. Krebsstatistik – ein Beispiel149 Für die von Bürgern beobachtete Häufung von Krebsfällen in Heidmühlen sind aus ihrer Sicht die Strahlen eines nahe gelegenen Radarturmes verantwortlich. In diesem Dorf gibt es nach Angaben des Bürgermeisters, der zugleich Rechtsanwalt ist, sechs bis sieben Krebsarten. In letzter Zeit sind die Krebsfälle offenbar mehr geworden wobei das Alter der Toten abnahm. Alleine drei der 680 Dorfbewohner seien an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Ein solcher Fall würde von Krebsexperten des Krebsregisters als „überzufällig“ bezeichnet werden. Häufungen, die als nicht mehr „zufällig“ eingeordnet werden, sind mit dem Begriff „Cluster“ gekennzeichnet. Statistiker erwarten zwei bis vier neue Krebsfälle in 149 SZ, 88, 2001, S. 3; KATALINIC ist Leiter des Krebsregisters in Schleswig-Holstein. 80 einem Ort dieser Größe. Die tatsächlich gemeldeten Fälle liegen in den Jahren 1998, 1999 und 2000 nach Aussagen des Kieler Gesundheitsministeriums in diesem Bereich. Es bleibt mit KATALINIC festzustellen: „Die Daten spiegeln die Situation im Dorf nicht wider.“ Offensichtlich ist dieses Register höchst unzuverlässig. Gesundheitsexperten des Landes vertreten die Ansicht, dass die Ärzte im Kreis Bad Segeberg, in dem Heidmühlen liegt, der Meldepflicht höchstens in 70% der Fälle nachgekommen sind. Die drei an Schilddrüsenkrebs leidenden Bürger sind im Register nicht aufgeführt. Es gibt also eindeutige und unübersehbare Kommunikationsprobleme zwischen Bürgern und Behörden. Ein weiteres Beispiel zu den Tücken der Statistik150 Neueste Zahlen belegen angeblich, dass die Sterblichkeit bei Brustkrebs im Jahr 1999 so niedrig war wie seit 20 Jahren nicht mehr. Erst kurz zuvor war von Fachleuten kritisiert worden, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer noch eine erhöhte Brustkrebssterblichkeit herrsche. Ein Vergleich ist deshalb nur schwer möglich, weil in Deutschland ab 1998 die Todesfälle anders erfasst wurden, da die Verschlüsselung der Todesursachen umgestellt wurde. Bis 1997 wurde der ICD-9 dafür verwendet, bevor 1998 die Version 10 eingeführt wurde. Problematisch ist die Erfassung der Todesursache bei der Erkrankung eines Patienten an zwei Tumoren. Mit dem ICD-Wechsel ergab sich noch ein anderer sehr bemerkenswerter Effekt: Bei den Männern stieg die Zahl der an Brustkrebs verstorbenen Patienten schlagartig von 112 auf 211. Das RKI (Robert-Koch-Institut) gibt eine mögliche Erklärung für statistische Fehler an: „Offenbar sind dabei eine Reihe von Frauen irrtümlich als Männer in die Statistik eingegangen.“ Wissenschaftliche Arbeiten berufen sich auf die Statistik So stellt sich hier erneut die Frage, was denn nun Wissenschaft wirklich ist, wozu sie dient und wem sie nützt. Auch neue Definitionen 150 SZ, 144, 2001,V2 /9 81 helfen nicht, den Wert der Wissenschaft an sich zu steigern. So gibt PARK auf die Frage, was also Wissenschaft sei, folgende Antwort: „Das systematische Vorhaben, Wissen über die Welt zu sammeln und die Fakten in überprüfbare Theorien zu kondensieren. Wenn man etwas nicht überprüfen kann, ist es nicht wissenschaftlich. Zusätzlich gibt es zwei wichtige Regeln für Forscher: Sie müssen ihre Ideen offenlegen und testen lassen . . . Forscher müssen selbst akzeptierte Schlussfolgerungen aufgeben, wenn sie mit neuen Experimenten oder besseren Erklärungen konfrontiert werden. Das ist genau, was Wissenschaften von anderen Dingen unterscheidet: Wenn es eine bessere Erklärung für ein Phänomen gibt, schreiben wir die Lehrbücher um und schauen nicht zurück . . .“ 151 Wie wissenschaftlich ist dann jedoch Wissenschaft, wenn weitere Untersuchungen nicht finanziell gefördert, geduldet, erwünscht oder unterdrückt werden? Der Gedanke der Nachvollziehbarkeit, der Überprüfung ist nicht neu. POPPER hat sich mit dem Wissenschaftsbegriff eingehend auseinandergesetzt. Dennoch ist es unumstritten, dass Wissenschaft finanziert werden muss. Wer das Geld hat, bestimmt die Richtung. „Häufig wird angenommen, dass wissenschaftliche Forschung eine sehr ernsthafte Angelegenheit sei, dass sie stets „theoriegeleitet“ sei, dass man anhand des vorhandenen Wissens hochfliegende Annahmen entwickele und dann spezielle Experimente plane, um diese Annahmen zu überprüfen. Tatsächlich ähnelt die wirkliche Forschung mehr einem Angelausflug, was die meisten meiner Kollegen wohl kaum zugeben würden. (Auch ich würde das natürlich niemals sagen, wenn es um einen Antrag auf Forschungsmittel der National Institutes of Health NIH ginge, weil die meisten Institutionen, die solche Gelder vergeben, noch immer an der naiven Vorstellung festhalten, in der wissenschaftlichen Forschung gehe es nur darum, Hypothesen zu testen und die Ergebnisse in die vorgesehenen Spalten 151 SZ, Nr. 247, 1998, V2 /18; Nachgefragt: Interview mit Prof. Dr. Robert Park, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der physikalischen Gesellschaft der USA 82 einzutragen. Wehe Ihnen, wenn sie zugeben würden, dass Sie einer bloßen Ahnung folgen und etwas vollkommen Neues versuchen!)“152 SHELDRAKE weist auf die Problematik bei der Bestimmung der Grundkonstanten und die Theorien der Konstantenveränderung in der Physik hin.153 Also selbst als konstant angenommene Werte sind offensichtlich bei genauerer Betrachtung nicht konstant. So wird vom Verfasser bezweifelt, ob sich im Bereich des Lebendigen, Individuellen und Einmaligen Werte überhaupt exakt reproduzieren und somit überprüfen lassen. Statistische Aussagen in der Rechtsmedizin Unter Rechtsmedizinern ist es z. B. ein offenes Geheimnis, dass zwei von drei nicht natürlichen Todesfällen nie entdeckt werden, weil der Hausarzt einen falschen Totenschein ausgestellt hat. Es bleibt die Frage unbeantwortet, wie in diesem Zusammenhang Statistiken über Todesursachen bewertet und als wissenschaftlich angesehen werden können. Statistik und Labormedizin In den USA wurden Inspektoren, die zur Überprüfung von Testresultaten in die Labors geschickt wurden, immer wieder mit verfälschten Resultaten konfrontiert. Dies bezieht sich vor allem auf die Feststellung der Unbedenklichkeit neuer Substanzen im Bereich Nahrungsmittel, Pestizide und Pharmazeutika. Betrugsfälle gelangen nur selten an die Öffentlichkeit. Das Beunruhigende im Bereich der medizinischen Forschung und Experimente – und als solche sind auch die Massenimpfungen anzusehen – ist jedoch der große Unsicherheitsfaktor hinsichtlich der Langzeitwirkungen, da die Wirkung von Impfungen auf das Immunsystem sich bis heute wissenschaftlich nicht exakt belegen lässt, wohl aber eine Modulierung des Immunsystems mit Bestimmtheit erwiesen ist. 152 RAMACHANDRAN, 2001, S. 161 bis 162 RAMACHANDRAN ist Direktor des Center for Brain and Cognition an der University of California in San Diego sowie Professor am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien. 153 SHELDRAKE, 1997, 193 ff. 83 Ohne Zweifel macht sich im Wissenschaftsbetrieb die Tendenz breit, nur noch solche Ergebnisse zu sehen, die am besten mit den eigenen Hypothesen übereinstimmen. Es ist kein Geheimnis, dass die Eingriffe, Ratschläge und Verschreibungen von schulmedizinisch arbeitenden Ärzten zum großen Teil nicht wissenschaftlich fundiert sind. Nur 20 bis 40% des ärztlichen Handelns beruht auf einer verlässlichen Wissensgrundlage.154 Die Aussage, dass wir lediglich „eine beobachtende Wissenschaft“ sind, leuchtet ein. Mitarbeiter – Ärzte und Statistiker – des Deutschen „Cochrane Zentrums“, das sich bemüht, vorhandenes medizinisches Wissen in eine für Ärzte brauchbare Form zu bringen, weisen darauf hin, dass etwa die Hälfte aller Studien wegen Unbrauchbarkeit aussortiert werden muss. Weitere Vorgehensweisen von Wissenschaftlern erschweren das Auffinden von möglichst objektiven „Wahrheiten“: Negative Studien werden oftmals erst Jahre später als positive veröffentlicht. Ergebnisse werden oft so lange zurückgehalten, bis Patentanträge positiv beschieden sind. Ergebnisse werden zurückgehalten, um die Veröffentlichung unerwünschter Ergebnisse zu vermeiden. Selbst Studien, die unter Forschern als erstklassig eingestuft werden, halten bestimmten kritischen Analysen in ca. 14% der Fälle nicht mehr stand. Der französische Mathematiker und Theoretiker der Wahrscheinlichkeitsrechnung, LAPLACE, wies bereits darauf hin, dass die Menschen statistische Ergebnisse nach ihren eigenen Interessen völlig unterschiedlich auslegen. Dennoch: „Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit. Das sind die ewigen Gesetze sozialer Ordnung.“ Der bekannte Physiker SCHRÖDINGER schrieb bereits vor über 30 Jahren zum Entsetzen vieler „wissenschaftlich“ arbeitender Kollegen 154 SZ, 250, 1997, I, Schläfrige Wächter am Tor zur Wahrheit 84 „ . . . es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass wissenschaftliche Entdeckungen, mögen sie im Augenblick auch überaus fortschrittlich und esoterisch und unfasslich erscheinen außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind. Eine theoretische Wissenschaft, die sich nicht dessen bewusst ist, dass die Begriffe, die sie für relevant und wichtig hält, letztlich dazu bestimmt sind, in Begriffe und Worte gefasst zu werden, die für die Gebildeten verständlich sind, und zu einem Bestandteil des allgemeinen Weltbildes zu werden – eine theoretische Wissenschaft, sage ich, in der dies vergessen wird und in der die Eingeweihten fortfahren, einander Ausdrücke zuzuraunen, die bestenfalls von einer kleinen Gruppe von Partnern verstanden werden, wird zwangsläufig von der übrigen Kulturgemeinschaft abgeschnitten sein; auf lange Sicht wird sie verkümmern und erstarren, so lebhaft das esoterische Geschwätz innerhalb ihrer fröhlich isolierten Expertenzirkel auch weitergehen mag.“155 Immer mehr etablieren sich sogenannte „Doppelwissenschaften“ wie die „Biophysik“ – auch unter der Bezeichnung „Quantenbiologie“ geläufig – oder wie die „Psychosomatik“, die sich aus den Einzelwissenschaften Biologie – Physiologie – Medizin einerseits und der Psychologie andererseits zusammensetzt. Neben SCHRÖDINGER gilt auch JORDAN als ein bedeutender Vertreter der Biophysik. Er stellt mit Recht die Frage: „Könnte es nicht so sein, dass die letzten, entscheidendsten steuernden Vorgänge (im organischen Leben) so fein sind, dass sie schon nicht mehr im Bereiche kausal-mechanischer Gebundenheit liegen, sondern im Bereiche des freien Geschehens, des Geschehens, welches Entscheidungen zu treffen hat? Das ist eine Denkmöglichkeit, wenn auch auf den ersten Blick eine fantastische Denkmöglichkeit. Man kann sich nicht wundern, dass, als diese Denkmöglichkeit zum ersten Male erörtert wurde, die Stellungnahme der meisten Biologen entschieden ablehnend war. Aber die Erfahrungen, die Experimente, haben seitdem in den letzten zehn bis 20 Jahren doch eine Fülle von Tatsachen zu Tage gefördert, die uns heute diese Frage nicht mehr 155 SCHRÖDINGER: Are there Quantum Jumps? In: The British Journal for the Philosophy of Science, Vol. III , S. 109 und 110 85 als hypothetisch, sondern als eine entschiedene, eine sichtbar und zuverlässig entschiedene Frage ansehen lassen: Was ich eben angedeutet habe, ist nicht nur eine logische Möglichkeit, nicht nur denkbare Diskutiermöglichkeit, sondern schlechthin eine Tatsache. Das organische Leben ist wirklich so. Wir müssen es als eine Tatsache ansehen, dass es gesteuert ist – in seinen wesentlichsten, entscheidenden Akten – von Vorgängen, die im Bereich der atomphysikalischen, der molekularphysischen Akausalität liegen, die in einem Bereiche liegen, wo nicht mechanische Vorausberechenbarkeit herrscht, wo es sich nicht mehr um das Abschnurren eines Uhrwerks handelt, in dessen Verlauf kein unberechenbares Etwas, kein unvorhergesehener Vorgang eingreift. Sondern die letzten steuernden Akte im organischen Leben vollziehen sich in der Zone derjenigen Naturvorgänge, in denen unvorhersehbare Entscheidungen zu überraschender Wirkung kommen.“156 Sind also die biologischen Steuerungsvorgänge nicht vorausberechenbar, so wird an dieser Stelle noch einmal die Frage gestellt, wie dann überhaupt Eingriffe in solche Steuerungs- und Regulationsvorgänge berechenbar sein können und die „wissenschaftliche“ Medizin den Anspruch erheben kann, dass Präventionsmaßnahmen – wie z.B. die Impfungen – mit dem Anspruch der Wirksamkeit und des zuverlässigen Schutzes propagiert werden können. Die letzten, entscheidendsten Vorgänge sind nach JORDAN so fein, dass sie nicht mehr mechanisch kausal gebunden, sondern frei sind. Mit Recht weist WEIZSÄCKER zudem darauf hin, dass zwar die Entstehung von Symptomen mit einiger Sicherheit erklärt werden kann, jedoch nicht das Entstehen von Krankheit. „Bei der Krankheit gibt es keine Möglichkeit zu beobachten, ob die psychische oder die physische Erscheinung die Ursache, also auch der frühere Vorgang gewesen sei; sie wirken simultan.“ 157 156 JORDAN, Das Schöpferische in der Natur; in: „Mensch und Kosmos“, S. 81 in GEBSER, 1992, Kommentar, S. 136 157 WEIZSÄCKER, 1946, 23 ff in GEBSER, 1992, Kommentar, S. 136 86 Sowohl die Wirksamkeit als auch die Bedrohung durch die Medizin sind lediglich durch statistische Methoden darstellbar. Der Erfolg medizinischer Maßnahmen ist für den einzelnen Menschen niemals sicher, sondern lediglich wahrscheinlich. Statistik in der Kriminalität – die unbekannte Dunkelziffer PICKERT158 betont das Ergebnis wissenschaftlicher Studien, welche besagen, dass die tatsächliche Verbrechenszahl bis zum zehnfachen die nachgewiesenen Delikte übersteige. Dem Verfasser ist an dieser Stelle deutlich bewusst, dass er sich auf wissenschaftliche Studien zur Stützung seiner Thesen beruft, die Wissenschaft insgesamt jedoch gleichzeitig in Frage stellt. Unsere Erkenntnisse sind grundsätzlich fragmentarische Konstrukte mit mehr oder weniger hohem Gehalt an Wahrscheinlichkeit und somit von Wahrheit. Statistik in den Sozialwissenschaften – Armut und Reichtum in Deutschland Dazu HUSTER: „ . . . Armut ist leichter erforschbar als Reichtum. Man ist auf Selbstauskünfte angewiesen, die Statistiken sind unvollständig; Kunstbesitz oder Vermögen im Ausland sind kaum erfasst.“159 Statistische Tricks bei Wirtschaftswachstum und Anmeldung von Patenten Zahlen des bayerischen Wirtschaftsministeriums belegen, dass Bayern in Bezug auf seine Wirtschaft fast immer etwas schneller wächst als der Konkurrent Baden-Württemberg. Dort wird jedoch behauptet, die Bayern wiederum um 0,4% zu übertreffen. LAGALLE: „Eigent- 158 MM, 95, 2001, Lokales München; PICKERT ist Kriminalrat vom Jugenddezernat München. 159 SZ, 95, 2001, S. 5; HUTER ist Professor für Sozialwissenschaften in Bochum. 87 lich müssten die dieselben Zahlen haben wie wir.“160 KLEIN dazu in Stuttgart: „Ich habe mich auch gewundert, als ich das gesehen habe. Ich weiß nicht, was die Kollegen da gerechnet haben.“ Die Bayern haben Recht. KLEIN weiß, wo die Bayern schummeln: Natürlich sind bei zwölf Millionen Einwohnern mehr Patentanmeldungen zu erwarten als bei zehn Millionen Einwohnern in Baden Württemberg. Entscheidend ist jedoch, wie viele Patente zehn Millionen Bayern anmelden würden. Die Unterschiede in der Statisitik seien inzwischen so gering, dass sie auch auf statistischen Fehlern beruhen können. KLEIN: „Ich muss ehrlich sagen, ich halte diese Vergleiche für lächerlich.“ Wirklichkeit wird immer erfunden Darauf weist die philosophische Denkrichtung des Konstruktivismus, die etwa um 1980 in den USA bekannt wurde, hin. Forscher aus sehr verschiedenen Disziplinen wie Physik, Psychiatrie, Biologie, Mathematik oder der Literaturwissenschaft vereinigen sich in dieser Denkrichtung. Die Realität wird demnach vom Bewusstsein des Einzelnen konstruiert und ist somit zugleich eine Folge vergangener Weltanschauungen. So ändert sich mit dem Fortschritt der Forschung zugleich auch der Begriff der Wissenschaft. Die folgerichtige Definition lautet dann: Wissenschaft ist das, was eine bestimmte Gruppe von Forschern dafür hält. Die ersten Konstruktivisten betonten die Auffassung, dass der Intellekt des Menschen im Dienste des Organismus steht und deshalb in erster Linie jene Erscheinungen bevorzugt, die ihm Nutzen versprechen. Dazu der Konstruktivist FOERSTER: Jeder Mensch konstruiert seine Wirklichkeit selber. Sie ist deshalb „autopoietisch“ zu nennen und letzten Endes nichts anderes als eine Wahnvorstellung. Das Subjekt lebt so in einer subjektiv konstruier160 SZ,111, 2001, S. 55 BAYERN; Astrid LAGALLE arbeitet im Münchner, KLEIN im Stuttgarter Wirtschaftsministerium. 88 ten Realität (autopoietische Realität). Nach FOERSTER ist somit Objektivität „nichts weiter als die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könne ohne sich selbst.“161 Dahinter steht die Aussage, dass wir niemals imstande sind, die Wirklichkeit zu erkennen, so wie sie ist. Dazu LIBET, Neurophysiologe am Medical Center der University of California: „Es gibt unbewusste Veränderer im Hirn, die versuchen, das Wahrgenommene in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was wir gelernt haben.“162 RAMACHANDRAN formuliert als wichtigstes Prinzip der Wahrnehmung, „dass die Wahrnehmungsmechanismen in erster Linie damit beschäftigt sind, der Welt statistische Korrelationen zu entnehmen, mit deren Hilfe sie ein Modell von zweiteiligem Nutzen konstruieren.“163 Die neuere psychologische Lehrmeinung tendiert zunehmend zu der Annahme, dass die Vorstellung des Menschen, einen freien Willen zu besitzen, illusionär ist. Zumindest sind ernsthafte Zweifel an der Willsenfreiheit des Menschen angebracht. Unser Verhalten wird neben genetischen, neuronalen, emotionalen und kognitiven auch von sozialen Faktoren bestimmt. WEGNER164 stellt die Frage, warum wir unser eigenes Handeln in vielen Fällen als ein bewusstes und eigenes Wollen wahrnehmen, und sieht subjektive Erfahrung in erster Linie als eine Interpretation unserer Gedanken, die zugleich Auslöser unserer Handlungen sind, an. Der Grund dafür ist in dem Bedürfnis der Menschen zu sehen, Zusammenhänge in voneinander unabhängige Beobachtungen hineinzudenken und zu deuten. Aufgrund der immerwährend gleichen Reihenfolge – Denken – Handeln – Kausalität suchen und erkennen – und aufgrund der ständig gesuchten und gefundenen Übereinstimmung von Denken und Handeln wähnen wir uns in der Sicherheit, 161 SZ, 104, 1995, S. 11 DIE ZEIT, 51, 1996, S. 34, Der Wille als Vorstellung 163 RAMACHANDRAN ist Direktor des Center for Brain and Cognition an der University of California in San Diego sowie Professor am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien; Die blinde Frau, die sehen kann , 2001, S. 116 164 SZ, 122, 2001,V2 /11; WEGENER ist Psychologe an der Harvard University in Cambridge, USA. 162 89 kausale Zusammenhänge zu erkennen. Durch die jedem Menschen inne wohnenden Bedürfnisse nach Akzeptanz und Zugehörigkeit imitieren Menschen automatisch Fremdverhalten; ein freier Wille ist dabei nicht zu erkennen. WATZLAWICK165 weist darauf hin, dass unsere sogenannte Wirklichkeit letzten Endes das Ergebnis von Kommunikation und der damit verbundenen Information ist. Da aber die Art und Weise, wie wir uns informieren und wie wir kommunizieren, und auch die Möglichkeiten der Manipulationen unendlich vielfältig sind, besteht meines Erachtens nach keine Hoffnung, zu einer gemeinsamen Wirklichkeitsauffassung zu gelangen. Wir können uns nur annähern, nichts jedoch bestimmt mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit oder Wirklichkeit behaupten. Jeder Mensch lebt in seiner von den eigenen Interessen und Erfahrungen geprägten Wirklichkeit. Erleben zwei Menschen eine bestimmte Situation, so unterscheiden sich dennoch ihre Erinnerungen. HANNIGAN/REINITZ166 wiesen in ihren Untersuchungen an über 300 Studenten einen „UrsachenFolgerungsprozess“ im Gehirn nach, der selbst Zeugenaussagen in ein neues Licht rückt. Menschen konstruieren nach Ansicht der Forscher von selbst die mögliche Ursache eines Geschehens, obwohl nur Vermutungen als Grundlage dienen. Je nach der Länge des Zeitraumes zwischen ursprünglichem Erleben oder Beobachten und der dazugehörigen Aussage ist eine zunehmende Vermischung und Verwischung zwischen Vermutung und Tatsache zu beobachten. Arzneimittelstudien Eine nicht zu leugnende Tatsache ist, dass auch Arzneimittelstudien oftmals nicht so durchgeführt werden oder durchgeführt werden können, wie es erforderlich wäre, um Ergebnisse zu erhalten, die den heute gültigen Standards (CONSORT-Statement) Genüge leisten. Dies gilt sowohl für die Produkte der Naturmedizin als auch für pharmakologische schulmedizinische Arzneimittel oder auch homöopathische Arzneimittelpüfungen. In allen Bereichen gibt es Berichte 165 WATZLAWICK, 1979 Journal of Experimental Psychology, 2001, Bd. 27, Nr. 4; Sharon HANNIGAN und REINITZ sind Psychologen in den USA. 166 90 über Studien, denen die Missachtung wissenschaftlicher Standards vorgeworfen wird. SEEBER167 weist auf den inzwischen üblichen Off-Label-Gebrauch von Medikamenten hin, die versuchsweise bei vielen Erkrankungen eingesetzt werden. „Zu uns kommen häufig Patienten, die mit Mitteln behandelt werden, die ihre Wirkung längst verloren haben und nur noch toxisch sind. Diese überflüssige Therapie belastet nicht nur die Patienten, sondern auch die Kassen. Genauso wichtig wie ein kontrollierter Off-Label-Gebrauch ist deshalb eine kontrollierte Verwendung der zugelassenen Medikamente. Für beides braucht man Spezialisten.“ Die zunehmende Spezialisierung wirft einerseits Fragen der Kontrolle auf und zeigt andererseits, dass genau diese Spezialisten bei schweren Erkrankungen lediglich Experimente am Menschen durchführen. Sie entpuppen sich somit als spezialisierte Experimentatoren. In jedem Falle stehen die Studien, Veröffentlichungen und Gegenveröffentlichungen im Zusammenhang mit enormen Geldmengen, da sie oft langandauernd und sehr aufwendig sind und von wissenschaftlich qualifiziertem Personal durchgeführt werden. In dieser Hinsicht erregte eine in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlichte Studie Aufsehen, die bezüglich der gefäßschützenden Wirkung von Knoblauchdragees in Auftrag gegeben worden war. Diese Studie wurde über vier Jahre mit 280 Probanden durchgeführt. Unübliche Auswertungsmethoden oder fehlende gründliche Erläuterungen oder die Unterschlagung relevanter Daten (Aussteiger bei den Arzneimittelprüfungen) werden von Gegnern bestimmter Ergebnisse immer wieder ins Feld geführt. KIESEWETER, Fachmann für Arteriosklerose und Professor an der Charité in Berlin, war Leiter der Studie. Auf einer Pressekonfernz antwortete er auf die Frage, ob die Ergebnisse zu den Statin-Studien (chemische „Lipidsenker“) nicht erfolgversprechender seien: „Ich kenne keine Statin-Studie, die über vier Jahre gegangen ist“, obwohl er in seiner Studie über die Wirkung von Knoblauch eine von mehreren Studien über fünf Jahre selbst zitiert.168 Dieser Vorfall bestätigt die selektive Blickweise selbst von hochqualifizierten Wissenschaftlern. 167 SZ, 66, 2002, V2 /14; SEEBER ist Professor bei der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie. 168 SZ, 112, 1999, V2 /15 91 Es ist ein offenes Geheimnis, dass bei vielen der als „wissenschaftlich“ deklarierten Studien fundamentale Grundregeln des Wissenschaftsbetriebes außer Acht gelassen und dennoch aus Werbezwecken veröffentlicht werden. Wie auch schon von BUCHWALD festgestellt (Vertauschen von Fotografien bei der Werbung für Impfstoffe) und aus dem Fall HERRMANN/BRACH bekannt, scheuen die Autoren wissenschaftlicher Arbeiten bisweilen auch nicht vor der Fälschung von Bildmaterial zurück. So liegt der Verdacht auch bei der Studie zur gefäßschützenden Wirkung von Knoblauch nahe. Hier wurden zwei einander sehr ähnliche, im Bildausschnitt sogar absolut identische Ultraschallbilder der Halsschlagader eines Patienten als Beweismaterial für die schützende Wirkung veröffentlicht. Dazu ARNING: „Wenn Ultraschallbilder der gleichen Körperregion zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen werden, ist eine so vollkommen identische Schnittführung bei freigehaltener Sonde praktisch nicht möglich.“169 Der Mensch sieht und findet was er gerne sehen und finden möchte. Oftmals wird die entsprechende Wirklichkeit auch konstruiert. Wir halten für wahr, was wir glauben wollen oder wofür wir bezahlt werden und womit wir unser Brot – oder mehr – verdienen. Immer mehr Wissenschaftler machen sich zu „Hilfsarbeitern der Industrie“.170 So wurde eine von DONG im Auftrag der amerikanischen Firma Boots durchgeführte Studie für fehlerhaft erklärt, als sich herausstellte, dass das teuerste, von dieser Firma vertriebene Medikament für Schilddrüsenerkrankungen ebenso gut wirkte als billigere Medikamente anderer Firmen. Hätte die Forscherin ihre Ergebnisse früher veröffentlichen dürfen, wären von Patienten und Versicherungen 365 Millionen Dollar jährlich gespart worden. Auch dieses Beispiel zeigt die ungeheuerlichen Summen, um die es im Medizingeschäft geht. Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen wie „unwissenschaftlich“ in der modernen Medizin oftmals therapiert wird. Eine Studie von 169 170 zitiert in SZ, 224, 1999, V2 /11 SZ, 84, 1999, V2 /11 92 MÜNSTEDT und Kollegen machte deutlich, dass vier von fünf niedergelassenen Ärzten, im Gegensatz dazu aber nur zwei von fünf Klinikern unkonventionelle Heilmethoden der Behandlung anwenden. Speziell die bei Krebserkrankungen gerne aufgrund von Patientenforderungen oder deren Angehörigen verordneten Mistelpräparate stehen bei den unkonventionellen und bis jetzt nicht wissenschaftlich gesicherten Verfahren an erster Stelle. Mehr als die Hälfte der Ärzte, die diese Verfahren anwenden, verschreiben Mistelpräparate. Auch Selen-Medikamente, Vitamine, Homöopathie und Akupunktur sind alternative Verfahren, die noch in 20 bis 25% von der Ärzteschaft angewandt werden. Es soll jetzt auch untersucht werden, ob ökonomische Interessen hinter den einzelnen alternativen Therapien stehen.171 Die uns über die Medien zugänglichen Informationen sind äußerst gegensätzlich, werden uns aber dennoch auf wissenschaftlicher Grundlage präsentiert. Niemand ist in der Lage, die Ergebnisse auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. GABIUS stellt fest, dass die Anregung der körpereigenen Abwehr durch Mistelextrakte einem „russischen Roulette“ gleiche. Er hatte im Jahr 1990 den immunstimulierenden Wirkstoff Mistellektin nachgewiesen, später jedoch seine Meinung revidiert und festgestellt, dass eine Behandlung mit diesem Wirkstoff lebensgefährlich werden kann.172 „Deshalb ist im Einzelfall nicht vorherzusehen, ob das Lektin das Immunsystem oder den Tumor stimuliert.“ BÜSSING entgegnet dieser Aussage mit folgenden Worten: „Der Beitrag über die Mistel ist ärgerlich, schlecht recherchiert und tendenziös . . . Die von GABIUS beschriebenen tumorfördernden Wirkungen wurden in einem wirklichkeitsfernen Experiment mit künstlich isolierten Inhaltsstoffen aus der Mistel, den Mistellektinen, hervorgerufen. Diese wurden von Gabius selber Jahre zuvor als einzig relevanter Inhaltsstoff propagiert . . . diese Form der künstlichen Inhaltsstofftherapie, wird nur von wenigen Arbeitsgruppen 171 SZ, 224, 1999, V2 /11 SZ, 49, 2000; GABIUS ist Professor für Physiologische Chemie in München. 172 93 überhaupt getragen und ausdrücklich nicht von den von ihm gescholtenen anthropsosphischen Mistelextraktherstellern . . . “ 173 Es bleibt erneut die Frage zu stellen, ob es im medizinischen und damit biologischen Bereich jemals möglich sein wird, Ergebnisse im wissenschaftlichen Sinne exakt zu reproduzieren. Dazu KOESTLER: „Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit sind gültige Kriterien in den Naturwissenschaften, aber schon nicht mehr so sehr an den Grenzen der Medizin und noch weniger in jenen der Psychologie, die sich mit den Vorgängen im Unbewussten und mit dem autonomen Nervensystem befassen.“174 Werden bestimmte Medikamente langfristig eingenommen, so besteht der Verdacht, dass die Giftwirkung auf lange Sicht hin gegenüber dem Nutzen überwiegt. In medizinischen Extremsituationen sind positive Wirkungen durchaus denkbar. Das AIDS-Medikament Retrovir ist ebenfalls ein Beispiel, wie manipulationsanfällig Arzneitmittelstudien sind, die mit großem finanziellen Aufwand erstellt werden. Die Überprüfung einer vom Retrovir-Hersteller Wellcome finanzierten Studie ergab, dass Patienten, die Nebenwirkungen des Mittels AZT zeigten, stärker von den Ärzten betreut wurden als ihre Leidensgenossen aus der Placebogruppe. Hier bekamen fünf Patienten lebensverlängernde Bluttransfusionen, in der AZT-Gruppe hingegen 30 der betroffenen Patienten. Eine Mitarbeiterin bei dieser Studie sagte aus, dass sie jetzt noch unter ihrem schlechten Gewissen leide, weil die Ärzte ihr damals gefälschte Werte diktiert hätten, die sie in den Computer eingab175. Interessanterweise ist der gleiche Hersteller auch einer der einflussreichsten bei der Produktion von Impfstoffen. 173 SZ, 53, 2000, S. 13; BÜSSING ist Arzt in Herdecke; dort befindet sich auch eine Projektgruppe „Unkonventionelle Medizinische Richtungen“ (UMR), die in einer eigenen Schriftenreihe auch eine „Bestandsaufnahme zur Forschungssituation“ veröffentlicht hat (0471/ 460 93-95). 174 KOESTLER, 1974, S. 27 175 Co-med, Nr.1, 2001, S. 88/89 94 Der Placebo-Effekt als unbekannter Faktor der (modernen) Medizin176 Allein der Glaube an die Wirkung eines Medikaments soll dem Patienten helfen. Es existieren jedoch keine wirklichen Belege für die Heilkraft von Scheinmedikamenten. Nach weit verbreiteter medizinischer Meinung ist bei einem von drei Patienten mit einer positiven Reaktion auf Scheinmedikamente zu rechnen. HROBJARTSSON/GÖTZSCHE analysierten 114 Studien zur Placebotherapie und kamen zu dem Ergebnis, dass bei einer Reihe von Krankheiten Placebos kaum eine nachweisbare Wirkung zeigten. Nur bei Schmerzbeschwerden konnte nachgewiesen werden, dass Scheinmedikamente eine bessere Wirkung zeigten, als wenn kein Wirkstoff verabreicht wurde. „Außerhalb von Studien gibt es keine Rechtfertigung für den Einsatz von Placebos.“177 Auch die Ergebnisse neuer Doppelblindstudien zur Überprüfung des Placebo-Effektes rücken den oft überstrapazierten Wissenschaftsbegriff in ein fragwürdiges Licht. Sowohl die Firma Genentech (Kalifornien) als auch die Firma Merck (USA) stoppte wegen eines Placebo-Effektes die Weiterentwicklung und Produktion bestimmter Medikamente. Bei den Probanden, die eine wirkstofffreie Pille geschluckt hatten, wurde im Vergleich zum „echten“ Herz-Medikament ein um 25% höherer Erfolg diagnostiziert. Eine „Antidepressionsarznei“ der Firma Merck (MK-869) zeigte im klinischen Test mit 75% Erfolgsquote die gleiche Wirkung wie verabreichte Placebos. Durch weitere elf Studien wird belegt, dass auch bei 50% der Patienten eine Dickdarmentzündung (Colitis) mit Hilfe von verabreichten Placebos nachweisbar nach einiger Zeit verschwand. So stellen Impfstoffe ohne Wirkstoffe, die Verabreichung von Placebos und vorgetäuschte Operationen die Ärzte und Psychologen vor immer neue Rätsel. Insgesamt wird den Medikamenten ohne chemischen Wirkstoff – nicht zu verwechseln mit den nach homöopathischen Vorschriften 176 in MM, 47, 2000, J 4; KIRSCH ist Psychologe an der Universität Connecticut. 177 SZ, 127, 2001, V2 /13 und New England Journal of Medicine, 2001, Bd. 344, S. 1594 95 hergestellten und geprüften Arzneien – eine Heilkraft zwischen 35 und 75% zugeschrieben, in Ausnahmefällen sogar mehr. Auch die vorgetäuschten chirurgischen Experimente des Kardiologen COBB vor 40 Jahren zeigten 90%ige Erfolge. Er hatte einen damals populären Eingriff am Herzen vorgetäuscht. Die Narben wurden ohne die dazugehörige Behandlung gesetzt. MOSELEY führte 1994 an zehn Patienten (alle Soldaten) unterschiedliche Behandlungen durch, ohne dass sie über die Art des Eingriffs informiert wurden. Anzahl Patienten 2 3 5 Beschwerde Arthritis im Knie Arthritis im Knie Arthritis im Knie Art des Eingriffs Übliche Operation Gelenkspülung Hautschnitt Erfolg zufrieden; lange schmerzfrei zufrieden; lange schmerzfrei zufrieden; lange schmerzfrei Diese Ergebnisse lassen auch den Schluss zu, dass jede Krankheit einen spezifischen Verlauf besitzt und ohne Zuhilfenahme von Medikamenten bei entsprechender Lebenskraft, dem Wunsch, gesund zu werden, unter „normalen“ hygienischen Verhältnissen und bei guter Ernährung und Pflege von alleine ausheilen oder sich stark bessern kann. Möglicherweise spielen auch die heilwirksame Ausstrahlung, das Mitgefühl und die menschliche Beziehung zueinander eine wesentliche Rolle im Heilungsprozess. HAHNEMANN selbst hat sehr informative Ratschläge gegeben, worauf man bei der Wahl eines Hausarztes achten sollte.178 Vor allem die letzten Sätze dieses ironisch geschriebenen Kapitels besitzen meines Erachtens nach auch heute noch Gültigkeit: „Erkundigen Sie sich nach einem schlichten Manne mit gesundem Menschenverstande . . . vorzüglich aber wählen Sie einen Mann, der nie auffahrend und hitzig wird . . . der den Nothklagenden ausreden lässt, und nicht eher Bescheid gibt, als er mit Überlegen fertig ist . . . der die guten Seiten der Kollegen nicht verschweigt, ohne sich selber 178 HAHNEMANN, Kleine medizinische Schriften, 1829, Über die Wahl eines Hausarztes, S. 233 bis 238 96 zu rühmen; einen Freund der Ordnung, der Stille, des Wohltuns . . . Belauschen Sie ihn doch, ehe sie ihn wählen, wie er mit den armen Kranken umgeht, und ob er zu Hause, ungesehen, sich mit etwas Würdigem beschäftigt.“ Das Wissen um die Wirksamkeit von Placebos wirft zugleich die Frage auf, ob die Wirkung von „echten“ Medikamenten wirkungslos bleibt, wenn der Glaube daran nicht vorhanden ist. Mit der Durchführung von Doppelblindstudien soll diese Frage jetzt unter Leitung von KIRSCH beantwortet werden. Nach der heutigen Lehrmeinung gib es zwei Erklärungsversuche für den Placebo-Effekt: Die Patienten sind durch frühere Erfolge der Therapie für die Wirkung ähnlich aussehender Mittel „klassisch konditioniert“. Bei der Einnahme von Scheinpräparaten werden körpereigene Endorphine, Nervenbotenstoffe und Hormone freigesetzt. Dies ist durch Studien nachgewiesen worden. HORGAN zitiert Studien, die belegen, dass unterschiedliche Methoden zu gleichen Ergebnissen führen. So wird durch die Behandlung durch eines Analytikers der gleiche Erfolg erzielt wie durch die Unterhaltung mit einem beliebigen Universitätsprofessor, der vortäuscht, Psychologe zu sein. Auch eine Placebo-Therapie mit der vielsagenden Bezeichnung „reflektierendes Zuhören“ führt zu gleichen Ergebnissen. Diese Erkenntisse können auch auf die Psychopharmakologie übertragen werden.179 Bis heute ist trotz des immer wieder propagierten hohen wissenschaftlichen Standards die Frage nicht eindeutig zu beantworten, was denn heilt, was wirklich vor Krankheit schützt. Aus diesem Grunde wird im Kapitel „Impfungen – eine unendliche Geschichte“ aufgezeigt, wie Forschungen ohne klare Erkenntnisse weitergeführt werden und Menschen unter der Vortäuschung, sie sicher zu schützen, mit immer mehr Fremdstoffen belastet werden, ohne dass eine eindeutige Schutzwirkung nachgewiesen ist. Gleichzeitig verändern sich die Krankheitserreger und sind im Ernstfall immer weniger unter Kontrolle zu bringen. 179 HORGAN, 2000 97 Es wird heute von Fachleuten angenommen, dass bereits Spuren einer Substanz imstande sind, Allergien auszulösen. Diese Substanzen müssen nicht einmal toxisch sein, um entsprechende Symptome zu erzeugen. Auch Scheinpräparate, von denen man nur glaubt, sie enthielten einen Wirkstoff, wirken – auch allergisch. Psychiater gehen heute davon aus, dass nur in einem Prozent der Fälle ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheitsbild und Umweltgiften nachweisbar sei. Es wurden Anzeichen dafür gefunden, „dass Symptome Antworten des Körpers auf ungelöste Konflikte sind.“180 Placebo-Effekt und die Persönlichkeit des Arztes Die Persönlichkeit des Arztes spielt zusammen mit seiner Fähigkeit, Patienten zu informieren und emotional zu unterstützen eine weitere Rolle, ob ein Therapieerfolg erzielt werden kann. Auch die folgenden Persönlichkeitsfaktoren tragen wesentlich zu besseren Resultaten bei: Wärme und Freundlichkeit, gepaart mit sicherem Auftreten möglichst eindeutige Aussagen. Nach LEVENTHAL181 lösen Krankheitssymptome bei den Patienten zugleich gedankliche Reaktionen, Sorgen, Ängste und Gefühle über die möglichen Auslöser der Krankheit aus. Durch die Zuwendung des Arztes erfolgt eine günstige Beeinflussung der Selbstheilungskräfte der Patienten. KLEIJNEN fordert die Abgrenzung des Placebo-Effektes vom „Kontext-Effekt“. Gemeint ist damit „ die Situation und die Atmosphäre, die ein Arzt durch die Art und Weise schafft, wie er mit seinem Patienten umgeht: Nimmt er sich Zeit? Geht er auf ihn ein? Wie gut erklärt er die Krankheit?“182 180 Psychiatrie-Kongress in Aachen in der Woche vom 18. September 2000 181 SZ, 66, 2001,V2 /19; Lancet, 2001, Bd. 357, S. 757 182 SZ,127, 2001,V2 /13; KLEIJNEN beschäftigt sich an der Universität New York seit neun Jahren mit dem Placeboeffekt. 98 Diese Faktoren bestimmen den Umgang des Patienten mit seiner Krankheit stärker als die Hoffnung auf die Wirksamkeit bestimmter Therapien. Gibt ein Arzt mit emotionalem Einfühlungsvermögen seinem Patienten verständliche Informationen und Erklärungen, so sind gute Therapiergebnisse zu erwarten. Im Gegensatz dazu erzielen unbeteiligte und verschlossene Ärzte weniger erfolgreiche Behandlungserfolge.183 Der Placebo-Effekt bei Parkinson-Patienten Die auch unter dem Namen „Schüttellähmung“ bekannte Erkrankung wird durch einen Mangel an Dopamin in der Substantia Nigra ausgelöst. Betroffene Menschen verlieren bei dieser Erkrankung die Kontrolle über ihre Bewegungen. Scheinmedikamente sind in der Lage, genau in dieser Region bei Parkinson-Patienten größere DopaminMengen freizusetzen. Diese Wirkung wird dem psychologischen Effekt der Behandlung zugeschrieben.184 Bei Patienten, denen anstatt eines chemischen Wirkstoffs eine harmlose Kochsalzlösung injiziert wurde, war ein deutlicher DopaminAusstoß festzustellen, der mit dem wirksamen Medikament vergleichbar war. Die Patienten wurden allerdings in dem Glauben gelassen, ein wirksames Präparat erhalten zu haben; sie waren über das Scheinmedikament nicht informiert. Wird von Patienten eine medikamentöse Wirkung erwartet, so wird diese Erwartung im Gehirn möglicherweise als Belohnung interpretiert und damit ein Prozess ausgelöst, welcher die Freisetzung von Dopamin einleitet. Bewegungssteuerung, Verhalten, Erkenntnisvorgänge und Reaktionen auf Belohnung sind mit der Ausschüttung von Dopamin verbunden. Hat Recht, wer heilt ? Voreilige Sensationsmeldungen gehören inzwischen zum medizinischen Alltag. STRAUER behandelte einen Herzinfarktpatienten mit erwachsenen Stammzellen aus dessen Knochenmark. 183 184 KLEIJNEN in Lancet, 2001, Bd. 357, S. 757 Science, 2001, Bd. 293, S. 1164 99 Aufgrund des guten „Heilungsverlaufes“ wurde die Krankheitsgeschichte sofort in einer medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht.185 Auf einer Pressekonferenz äußerte sich der Mediziner: „Dem Mann geht es überraschend gut, . . . wahrscheinlich haben die Stammzellen dazu beigetragen.“ 186 Inzwischen wurden Zweifel laut, ob die mit STRAUER zusammenarbeitenden Ärzte das Herz des Patienten überhaupt genau untersucht hatten. Kann ein einziger Therapieversuch Beweis für die erfolgreiche Anwendung einer neuen Methode sein? JONITZ: „Persönliche Erfahrungen beeindrucken Patienten und Ärzte stärker als wissenschaftliche Studien.“ Routinemäßige Anwendungen bestimmter Therapien beruhen nach KÖBERLING oft auf einzelnen Fallbeispielen und Überlieferungen. Zufriedene Patienten erzeugen zufriedene Ärzte. KÖBERLING: „Diese Rückkopplung setzt einen Prozess in Gang, durch den sich der Glaube an Therapien ausbreiten kann . . . Selbst wenn die überwältigende Mehrheit der Ärzte und Patienten zufrieden ist, muss das nicht heißen, dass eine Therapie tatsächlich eine Wirkung hat, die über Placebo-Effekte, also Effekte von Scheinmedikamenten, hinausgeht . . . Ärzte neigen dazu, die Selbstheilungskräfte der Natur ihrem Tun zuzuschreiben.“ Zeitliche Zusammenhänge beeindrucken Patienten besonders, genauso wie das Vertrauen in einen Arzt und das Wunschdenken der Patienten den Zweifel im Keim erstickt. 185 Deutsche Medizinische Wochenschrift; Oktober 2001 STRAUER ist Kardiologe und arbeitet an der Universität Düsseldorf. 186 SZ, 203, 2001,V2 /7; JONITZ ist Präsident der Berliner Ärztekammer; KÖBERLING ist ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. 100 Arzneimittelverabreichungen bei Kindern Bis zum heutigen Tage ist kaum ein Arzneimittel für Kinder geprüft und zugelassen. Aus diesem Grund treten bei Kindern, Früh- und Neugeborenen und bei Säuglingen auch die meisten ernsthaften Schädigungen auf. Die Frage der Dosierung ist oftmals Glückssache, da Kinder, Säuglinge oder Schüler jeweils andere Dosierungen benötigen und die Medikamente in der Kinderheilkunde weder hinsichtlich ihrer Wirkung oder ihrer Nebenwirkungen gezielt untersucht und freigegeben wurden.187 Die bei Kindern gegen Fieber und Schmerzen, aber auch gegen Asthma verabreichten Medikamente üben eine fragwürdige Wirkung aus. Es ist einleuchtend, dass aus diesem Grunde auch die meisten Arzneimittelschäden von den Ärzten bei ungeborenen Kindern, Frühchen und Säuglingen gemeldet werden. Immer dann, wenn Ärzte Kindern Medikamente verabreichen die nur an Erwachsenen getestet wurden, müssen sie mit schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden rechnen. Mehr als 90% aller auf Frühgeborenen-Stationen verabreichten Arzneimittel sind nicht für die kleinen Patienten zugelassen. SEYBERTH: „Falsche Dosierung bei Kindern und Säuglingen kann zu Nierenversagen, Blutdruckabfall und Atemlähmung führen.“ Eine Zunahme von Kindern, die eine Sonderbeschulung benötigen, ist die Folge. Die Frage, ob mit der Verabreichung eines Medikamentes oder aber durch das Unterlassen einer medikamentösen Behandlung mehr Schaden angerichtet wird, ist schwer zu beantworten. Auch Röntgenaufnahmen, Blut- und Gewebeproben bei Frühchen, Säuglingen und Kindern sind riskant, denn niemand vermag die Frage zu beantworten, was dem kleinen Menschen zugemutet werden kann. Dass nach SEYBERTH zwei Drittel der in Kliniken behandelten Kinder mit nicht für sie zugelassenen Arzneimitteln behandelt werden, ist ein Armutszeugnis für die unter dem Prädikat der Wissenschaftlichkeit arbeitenden Medizin- und Pharmabranche. Kinderkliniken in Deutschland, Italien, Schweden, Großbritannien und den Niederlanden therapieren Kinder mit Medikamenten, denen Dosierungshinweise fehlen oder denen die Warnung vor Nebenwirkungen fehlt. 187 MM, 14, 2001, S. 3 101 „Für Kinder ist dies aus medizinischer und für die Ärzte aus juristischer Sicht eine Gratwanderung“.188 Der Körper von Kindern unterscheidet sich sowohl in Aufbau als auch in der Funktion wesentlich von dem der Erwachsenen. Gerade bei Säuglingen wird ein großer Teil der medikamentösen Wirkstoffe durch verhältnismäßig große Organe wie die Leber ausgeschieden, bevor die heilende Wirkung eintritt. So tritt nicht selten der Fall ein, dass Säuglinge bei Beta-Blockern erst auf die vierfache Erwachsenen-Dosis schulmedizinisch positiv reagieren. Schon seit geraumer Zeit weisen die 11 000 deutschen Kinderärzte darauf hin, dass 80% der Arzneianwendungen gefährlich sind. Die Hersteller ließen die Medikamente jedoch bei den Behörden nicht für Kinder registrieren, um bei möglichen Komplikationen nicht haftbar zu sein. Geheimhaltung von Studien Es ist bekannt und durch eine Studie des Kieler Instituts für Therapie und Gesundheitsforschung bestätigt, dass besonders Jugendliche durch Werbung für Zigaretten dazu verführt werden, mit dem Rauchen zu beginnen. Jugendliche sind besonders in der Phase der Identitätsbildung für die Symbole der Erwachsenenwelt und suggerierte Unabhängigkeit empfänglich. Eine internationale Studie bestätigt ebenso wie die des Kieler Instituts die Abnahme des Tabakkonsums durch das Aussprechen von Werbeverboten. In Frankreich, Finnland, Norwegen und Neuseeland ist die Werbung für Tabakprodukte seit Jahren verboten. Hier sank der Tabakkonsum wesentlich stärker als in Deutschland. Die seit Ende Dezember 1997 vorliegenden Ergebnisse der erstellten Expertise wurden nach HANEWINKEL von Gesundheitsminister SEEHOFER und der damaligen Regierung „über Monate unter der Decke gehalten“.189 Sie erhob sogar beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen ein geplantes Tabakwerbeverbot. Dieses Vorgehen zeigt deutlich, dass bei finanziellen Gewinnaussichten durch den Staat Maßnahmen zur Gesunderhaltung der Be188 MM, 5, 2000, S. 1; SEYBERTH ist Kinderarzt und Leiter der Marburger Universitätskinderklinik. 189 SZ, 265, 1998, V2 /13 102 völkerung offensichtlich keine Rolle spielen. Dies ist um so verständlicher, wenn wir uns die Höhe der Summen verdeutlichen, um die es hier geht: Der Fiskus kassierte im Jahr 1999 22,8 Milliarden Mark Tabaksteuer und 5,7 Milliarden Mark Mehrwertsteuer auf Tabakwaren.190 Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Therapie – Irrelevanz der Studien Mehr als 500 Therapie-Studien sind derzeit etwa zum Thema Lymphdrüsenkrebs veröffentlicht. Fachleute haben nach HASENCLEVER191 höchstens 40 davon im Kopf. Durch mehrere Untersuchungen wurde belegt, dass durch Studien belegte Therapien in der Praxis oftmals ein deutlich schlechteres Ergebnis zeigten. Die Erklärung dafür ist einerseits in der Veränderung der Dosierung durch die Ärzte, andererseits in der Einnahmepraxis der Medikamente durch die Patienten zu suchen. Nur ein intensives Studium der Studien und eine Zusammenfassung der besten Erkenntnisse verspricht einen Ausweg aus diesem Dilemma. Fehldiagnosen von Ärzten – Gesundheitszustand der Frauen Frauen sind nach neueren Erkenntnissen anders krank als Männer. Eine frauenspezifische Gesundheitsversorgung gebe es aber in Deutschland dennoch nicht. Etwa neun von zehn Gebärmutterentfernungen bei gutartigen Erkrankungen, für die es alternative Behandlungsmethoden gäbe, werden unnötig vorgenommen. Eine Studie des Gesundheitsministeriums weist 25% der Gebärmutterentfernungen als unnötig aus. Der Herzinfarkt führt bei Frauen doppelt so häufig zum Tod wie bei Männern. Als Ursache wird die Fehlwahrnehmung der Ärzte vermutet, denen wegen des geringeren Infarktrisikos bei Frauen Diagnosefehler unterlaufen. Oftmals erfolgt dann zu spät eine Intervention. Bei gleichem Krankheitsbild werden Frauen doppelt so häufig Beruhigungsmittel verordnet wie Männern. 190 MM, 32, 2000, S. 8 SZ, 25, 2000, V2 /12; HASENCLEVER ist Mitarbeiter an der Universität Leipzig. 191 103 Ein Zusammenhang besteht möglicherweise auch damit, dass von den 13 900 Ärzten in leitender Funktion in Deutschland nur 1,2% Frauen sind.192 Mehr als 40% der Patienten, die an einer schwer behandelbaren Epilepsie leiden, laborieren in Wahrheit an Herz-KreislaufProblemen.193 Epileptiker, deren Anfälle nur schwer durch Medikamente zu beeinflussen sind, sollten sich deshalb einer HerzUntersuchung unterziehen. Ein Erklärungsmodell zum Gesundheitszustand deutscher Männer Eine repräsentative bundesweite Befragung194 entlarvt Männer als Gesundheitsmuffel. Der Grund für die Vermeidung von Arztbesuchen sind die Angst vor langen Wartezeiten, vor schlechten Nachrichten oder vor schmerzhaften Untersuchungen. Ärztliche Ratschläge werden von 42% nicht befolgt, weil sie die Auffassung vertreten, „es wird schon von alleine wieder besser“. Für eine gesunde Ernährung interessieren sich nur 39% der Männer Im Mittelpunkt stehen schöne Frauen und Musik mit 44% Autos: 39% Blutdruck und Sehkraft sind 50% der Befragten bekannt Blutzuckerwerte: 21% Medizinische Fragen sind wichtig für nur 25% Sport: 43% Sex: 35% Cholesterinwerte: 31% Nutzung medizinischer Vorsorgeuntersuchungen: 25% (bei Frauen 50%) Nichtbefolgen von ärztlichen Ratschlägen: 42% 192 SZ, 179, 2000, S. 7 Ärztliche Praxis, 2000, S. 54 194 Institut für Demoskopie in Allensbach im Auftag der Männermagazine „Men`s Health“ und „ Men`s Health Best Life“ an 1071 Männern ab 18 Jahren, in MM, 253, 2001, Journal MedizinForschung; die Zahlen der Urologen stehen direkt neben dem o. a. Artikel. 193 104 Der Berufsverband der Deutschen Urologen wartet mit folgenden Zahlen auf: Behandlung wegen gutartiger Prostatavergrößerung: 2,2 Millionen Männer Häufigster Männerkrebs in Deutschland: Prostatakrebs (15%, zurzeit 770 000 Fälle) Nur 15% der Männer gehen zur Krebsvorsorge. Frauen: mehr als 30% Voraussagen von Ärzten bei Krebspatienten195 Das Endstadium von Krebserkrankungen ist meist kürzer, als die Ärzte voraussagen. VIGANO: „Diese Vorhersagen der Überlebenszeit trafen nur bei einem von vier Patienten zu.“ Er befürchtet eine Verschlimmerung der Leiden bei vielen Patienten, da die starken Mittel zu spät verordnet würden und fordert dazu auf, das Empfinden des Patienten mehr zu berücksichtigen. Ein exemplarischer „Krebs“-Leidensweg Die Krebserkrankung (Kehlkopfkrebs) von George Harrison wurde 1997 erstmals diagnostiziert. Es folgten eine „erfolgreiche“ Operation eine Strahlentherapie im April 2001 eine zweite „erfolgreiche“ Operation Behandlung bei einem Schweizer Krebsspezialisten in Bellinzona Anfang November 2001: Bericht der Ärzte in New York: „Harrison sei in sehr schlechtem Zustand“.196 Ex-Beatle George Harrison erkrankte an Kehlkopfkrebs, Lungenkrebs und einem Hirntumor. In der Universitätsklinik von State Is195 Cancer, 1999, Bd. 86, S. 170; VIGANO ist Arzt am Grey Nuns Hospital in Edmonton, Canada. 196 SZ, 277, 2001, S. 12 105 land bietet der Direktor der Strahlungsonkologie eine besonders starke Strahlentherapie an, die nur für Patienten mit großen und weit fortgeschrittenen Tumoren geeignet sei. LEDERMANN äußerte sich im vergangenen Jahr zu dieser Therapie: „Es gibt keine Garantie. Es ist ein Lotteriespiel. Aber wir glauben, dass wir die Überlebensrate verdoppeln können.“197 Auf reinem Glauben basierende, fragwürdige Therapien mit großem finanziellem und technischem Aufwand, entsprechenden Gewinnen für die Gerätehersteller und die mit ihnen zusammenarbeitenden Ärzten charakterisieren dieses Lotteriespiel. Es gibt keinerlei Wissen über zu erwartende Erfolge – sondern nur Patientenversuche mit ungewissem Ausgang, um das Leben oft unter Qualen zu verlängern. Unabhängig von den Erfolgen werden ungeheuere Summen mit diesem Geschäft umgesetzt. Realitätsflucht oder: „Ein Mangel an Information“ 198 Weil schwer kranke Patienten der Wirklichkeit nicht ins Gesicht blicken wollten, würden sie auch von ihren Ärzten nur unzureichend aufgeklärt. In der Folge entsteht häufig ein „medizinischer Aktionismus“. THE/HAK: „Es liegt im Interesse des Patienten, von Anfang an die volle Wahrheit über das Ausmaß seiner Krankheit zu wissen.“ Die letzten Wochen können so intensiv genutzt werden, um persönliche und familiäre Angelegenheiten zu regeln. Wissenschaftliche Gutachten sind möglicherweise „Schlechtachten“ Sie stehen oftmals im krassen Gegensatz zur Wahrnehmung der Menschen, die von bestimmten Ereignissen betroffen sind. So sieht ein Gutachten, das sich im Auftrag des Umweltministeriums mit der Krebs-Sterberate in Oberlaindern befasst, in der unmittelba- 197 MM, 257, 2001, Weltspiegel; LEDERMANN ist Direktor der Strahlenonkologie. 198 SZ, 6, 2001, V2 /11; ein Zitat des Dramaturgen Heiner MÜLLER, der an einer Krebserkrankung verstarb; Anne Mei THE und HAK arbeiten an der Freien Universität Amsterdam. 106 ren Umgebung des Sendegebietes des umstrittenen US-Senders International Broadcasting Bureau (IBB) kein erhöhtes Krebsrisiko. Es wird zwar zugestanden, dass der Anstieg der Krebs-Sterberate in diesem Gebiet in den letzten fünf Jahren zwar eine Ausnahme bilden würde. Da die Fallzahlen zu klein seien, werde dieses Ergebnis von HÄRTEL aus statistischer Sicht als „Zufall oder natürliche Schwankung“ eingeordnet.199 Betroffene Bürger sprechen bei diesen Aussagen von reinem Zahlenspiel. Wird von wissenschaftlicher Seite der Begriff „Zufall“ ins Spiel gebracht, so gibt HEISENBERG zu bedenken, dass durch den neu geprägten Begriff der Komplementarität die Möglichkeit zum Ausdruck gebracht wird, ein und dasselbe Geschehen mit zwei verschiedenen Betrachtungsweisen zu erfassen: „Diese beiden Betrachtungsweisen schließen sich zwar gegenseitig aus, aber sie ergänzen sich auch, und erst durch das Nebeneinander der beiden widersprechenden Betrachtungsweisen wird der anschauliche Gehalt des Phänomens voll ausgeschöpft.“200 WEAVER bemerkt dazu: „Eine der erstaunlichsten und wichtigsten Eigenschaften der Wahrscheinlichkeitstheorie ist, dass sie die Tatsache zu erklären vermag, dass Ereignisse, die im Einzelnen sprunghaft und unvorhersehbar sind, ein sehr stabiles Durchschnittsverhalten zeigen, wenn sie in großen Mengen betrachtet werden.“201 Auch psychiatrische Gutachten können zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen kommen. BENDER betont, dass kein Gutachter mit absoluter Sicherheit voraussagen kann, ob zum Beispiel ein Sexualstraftäter wieder rückfällig wird.202 Auch die Ergebnisse weiterer Gutachten können sich widersprechen. Es ist mit Sicherheit unumstritten, dass die Ergebnisse von Gutachten in einem Zusammenhang mit öffentlicher Meinung und öffentlich ausgeübtem Druck stehen könnnen. Damit besteht die Gefahr, dass Probleme der Justiz psychiatrisiert werden. 199 SZ, 226, 1999, L 9 HEISENBERG, 1969, 63, S. 115 201 WEAVER, 1964, S. 280 202 SZ, 191, 1998, L 3 200 107 NEDOPIL vertritt die Ansicht, dass mit psychiatrischen Kurzzeitprognosen eine höhere Trefferquote erzielt werden kann. „Prognosen für ein halbes Jahr können wir Psychiater mit über 70%iger Sicherheit abgeben.“203 Sie sollten die Langzeitprognosen in Zukunft ersetzen. Die Rückfallhäufigkeit wird wie folgt angegeben: Sexualverbrechen (Vergewaltigung) über 20% (in den ersten sechs Jahren; Rückfälle sind noch 15 Jahre nach der Haftentlassung möglich) Totschlag oder Mord: 3% Eigentumsdelikte: 60 bis 70% In einem Interview gibt NEDOPIL folgende Prognose zur Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Sexualstraftätern an: „Ein Restrisiko zwischen 1:100 und 1:1000 kann man eigentlich nicht unterschreiten. Das heißt, wenn ich 100 Leute rauslasse, wird wohl einer rückfällig werden. Das ist das Restrisiko, das selbst der sorgfältigste Gutachter eingehen muss. Und wenn er genügend viele Gutachten macht, wird es ihn irgendwann treffen.“204 Erneut stellt sich die Frage: Wie sicher sind sogenannte „wissenschaftliche“ Erkenntnisse, Behauptungen und Ansprüche? Bewegen wir uns letztendlich nicht nur in den Räumen von Wahrscheinlichkeiten? Was nützt die prognostische Aussage zu 80% heilbar? Wer sind die 20%, die nicht geheilt werden? Was hilft es den Betroffenen, wenn sie zu den 20% zählen? KRAUSE: „Gutachter, die einsitzende Täter einzuschätzen haben, geben genaue, allerdings variierende Zahlen an. So werden einmal 16% der als nach menschlichem Ermessen erfolgreich therapierten Täter rückfällig, nach anderen Angaben sind es „nur 24% “ und auch mal 33%. Um eine solche genaue Angabe machen zu können, müssten Tausende von Kindern Opfer von Wiederholungstätern geworden sein. (Das spricht für die Seriosität der Täterentschuldiger.)205 203 MM, 239, 3; NEDOPIL ist Professor an der Psychiatrischen Klinik der LMU in München. 204 SZ, 182, 2001, S. 41, München 205 SZ, 173, 2001, Lesebriefe; KRAUSE ist ein Leser der SZ, den ich einem Fachmann gleichstelle. 108 LEYGRAF vergleicht den forensischen Gutachter mit einem Meteorologen und meint zur Trefferquote von psychiatrischen Gutachten: „Wie das Wetter morgen wird, ist ziemlich sicher. Ob es in vier Wochen regnet, ist ungewiss.“206 Gefälschte Umweltgutachten In den Niederlanden ist es offensichtlich leicht möglich, gefälschte Umweltgutachten zu kaufen. Durch eine im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchgeführte zweijährige Untersuchung wurde festgestellt, dass trotz aller Gesetze die Umwelt auf der Strecke bleibe, wenn es um wirtschaftliche Interessen gehe. Jede erdenkliche und theoretisch durchgespielte Wirtschaftskriminalität wird auch in der Wirklichkeit praktiziert.207 So würden z. B. bei Stichproben so lange Muster genommen, bis ein positives Resultat erzielt werde Bodenuntersuchungen manipuliert wohlmeinende Umweltstudien gekauft giftige Abfallstoffe auf dem Papier zu einem anderen Produkt verwandelt. Die Gutachten und kriminellen Praktiken werden oftmals nach dem Motto: „Wer zahlt, bestimmt“, ausgeführt. So machte GATES dadurch auf sich aufmerksam, dass er Experten, die in dem gegen ihn wegen seines wettbewerbswidrigen Verhaltens geführten Prozess aussagten, für ihre Gutachten üppiger als üblich bezahlte.208 Die Vergangenheit hat gezeigt, dass viele „wissenschaftliche“ Gutachten sich später als völlig unbrauchbar erwiesen. So im „Wormser“ Prozess, im Montessori-Prozess oder im Nordhorner Prozess. 206 SZ, 187, 1998, L 1; LEYGRAF ist Lehrstuhlinhaber der Forensischen Psychiatrie in Essen. 207 SZ, 246, 1999, S. 16 208 SZ, 220, 1999, S. 2 109 Auch die Gutachten des „Missbrauchsexperten“ Dr. Jakob per Ferndiagnose anhand von Kinderzeichnungen, oder aber die Gutachten im Flachslanden-Prozess oder im Ansbacher Fall von 1998 zeigen, auf welch wackeligen Füßen wissenschaftliches Material oder fehlerhafte Glaubwürdigkeitsgutachten präsentiert werden. Anfragen an den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, was er zu tun gedenke, um die nachweisbaren Fehler der Ansbacher Justiz und insbesondere der Staatsanwaltschaft Ansbach in Zukunft zu vermeiden, blieben in der Sache ohne Antwort.209 Auch in der Geschichtsschreibung sind Fälschungen nicht ausgeschlossen. Es erscheint sehr fraglich, ob die Vermittlung eines objektiven Bildes überhaupt möglich ist. So ergaben sorgfältige qualitative und quantitative Analysen des gesamten Bildmaterials einer in Deutschland seit mehreren Jahren heftig umstrittenen Wehrmachtsausstellung, dass viele Bilder zeitlich, räumlich und inhaltlich falsch zugeordnet waren.210 Wissenschaftliche Fachbeiträge in wissenschaftlichen Fachzeitschriften211 Artikel, die von den besten Experten geprüft wurden, sollten mit Vorsicht für wahr gehalten werden. Allein der Name einer Fachzeitschrift suggeriert oftmals besondere Gaubwürdigkeit oder Qualität einer Veröffentlichung. Sie ist kein Garant dafür, dass man sich auf sie verlassen kann. HORTON: „Das System übersieht zu viele Fehler.“ Sowohl die bekannt häufige Unfähigkeit der Gutachter-Systeme, Fehler zu erkennen, als auch die unbeabsichtigten Verzerrungen mit anschließenden Fehlinterpretationen und versteckte Interessen der Gutachter können in der Folge zu einer falschen Behandlung der Patienten führen. 209 SZ, 186, 1999, S. 11; Leserbriefe: Seriöse Gutachter sind selten SZ, 246, 1999, S. 21 211 SZ, 221, 2001, V2 /14; HORTON ist Chefredakteur des Medizinjournals The Lancet; RENNIE ist Redakteur des Medizinjournals JAMA. 210 110 Sowohl der Missbrauch der eigenen Position als Gutachter als auch das Übersehen grober Mängel führt nach RENNIE zu einer paradoxen Situation: „Wir glauben fest an das System, doch wir haben keine Belege, dass es wirklich tut, was wir erhoffen.“ Die statistische Auswertung und Analyse Peer-Review soll die Ergebnisse von Studien bezüglich ihrer Zufälligkeit beurteilen. Dennoch gelangt man auch hier durch die Wahl falscher statistischer Methoden zu falschen Ergebnissen. HORTON: „Lesen Sie wissenschaftliche Zeitschriften mit derselben Skepsis, mit der sie Ihre Tageszeitung lesen.“ Vermischung von Wissenschaft, Glauben und Interessen in der Gentherapie Der 18-jährige Jesse Gelsinger starb während einer experimentellen Gentherapiebehandlung, obwohl ihn seine Leberkrankheit kaum beeinträchtigt hatte. Die University of Pennsylvania gab indessen zu, dass ihr Forschungsprogramm offenbar „Schwächen“ habe. Sie „glaubt aber weiterhin, dass diese Schwächen nicht zu Jesses Tod beigetragen haben.“212 COHEN, der mehr als ein Dutzend Kinder mit einer neuen Reproduktionsmethode erzeugt hat, versicherte, dass alle Kinder völlig gesund seien. Inzwischen wurde bekannt, dass er Negativergebnisse verschwiegen hat und zwei „seiner“ Föten einen genetischen Defekt (Turner-Syndrom) aufwiesen. Bei dieser Krankheit fehlt das XChromosom oder bestimmte Teile desselben. Unfruchtbarkeit und Kleinwuchs sind die Auswirkungen eines solchen Defekts. MURKEN: „Bei Fehlgeburten ist das die häufigste Chromosomenstörung . . . Wenn zwei von 18 Föten das Syndrom haben, ist das sehr viel, aber noch nicht unbedingt ungewöhnlich.“ Einer der betroffenen Föten wurde nach der Diagnose abgetrieben, der andere starb.213 212 SZ, 222, 2000,V2 /11 SZ, 127, 2001,V2 /13; COHEN arbeitet als Reproduktionsmediziner am St. Barnabas-Instiut in New Jersey; MURKEN ist Genetiker an der Universität München. 213 111 Wissenschaft = Studie contra Studie: „Die ideale Studie ist das nicht mehr“ Nach Ansicht von Experten sprengt die Höhe der entdeckten PCBWerte im Blut von Nürnberger Schülern die Dimension aller bisher bekannten Fälle. STIEFVATER: „Bayern hat zu hohe PCBRaumluft-Grenzwerte festgelegt.“214 Zum ersten Mal konnte hier ein Zusammenhang zwischen PCBRaumluftbelastung und Blutwerten hergestellt werden. Daran zweifelt DREXLER der nun im Auftrag des bayerischen Gesundheitsministers ebenfalls eine Studie zur PCB-Belastung der Schule erstellt. Sein Gegenargument: Werden solch niedrige Konzentrationen gemessen, so unterliegen die Werte einer sehr subjektiven Bewertung des Analytikers. Nur durch eine neue Untersuchung kann Klarheit gewonnen werden. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die bisherigen Messungen eines Nürnberger Labors alle falsch seien. Ob sich in den neuen Proben noch PCB nachweisen lässt, sei jedoch fraglich. Deshalb hält DREXLER nicht viel von der Untersuchung durch den Freistaat: „Die ideale Studie ist das nicht mehr.“ Versuch einer Zusammenfassung: 214 Jede Studie ist interessenbestimmt. Die Ergebnisse werden durch die Interessen beeinflusst. Jede Studie kann angezweifelt werden. Jede Studie kann unter anderer Fragestellung und anderen Bedingungen widerlegt werden. Biologische Vorgänge lassen sich wegen ihrer Komplexheit nicht unter exakt gleichen Bedingungen wiederholen. Unbequeme, die Bevölkerung beunruhigende oder wirtschaftsgefährdende Ergebnisse werden nicht immer veröffentlicht. MM, 181, 2001, Bayern; STIEFVATER ist betroffener Elternbeiratsvorsitzender der Nürnberger Georg-Ledebour-Schule; DREXLER ist Umweltmediziner aus Erlangen. 112 Ausblick OKEN weist mit Recht auf das elende Individuum hin, „das zu Grunde geht, wie die eigennützig wuchernde Wissenschaft.“215 Phrasen zur Widerlegung „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse und Studien „Wir können auf Arbeiten anderer Forscher zurückgreifen, die sich mit den gleichen Daten beschäftigt haben und die zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen. Ich gehe nicht davon aus, dass durch diese neue Arbeit eine Umbewertung der Sachlage erfolgen wird . . . “ „Die Studie wirft zur Zeit noch inhaltliche und methodische Fragen auf. “ „Aufgrund des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes besteht momentan kein Handlungsbedarf.“ 215 OKEN, 1809 in der Einleitung zu seiner Zoologie-Vorlesung. 113 Das Individuum als Spiegel der Gesellschaft Was bedeutet der Begriff „Gesellschaft“ ? Mit dieser Bezeichnung verbinden wir oftmals die Homogenität breiter Bevölkerungsschichten, da wir häufig nur mit Menschen Kontakte pflegen, die unserer eigenen „Schicht“ angehören. Es entspricht aber einer zunehmend mehr zu beobachtenden Tatsache, dass „Gesellschaft“ „ . . . zugleich auch Ungeselligkeit, gegenseitige Abstoßung der Individuen“216 bedeutet. GASSET weist mit Recht darauf hin, dass auch Asoziale, Mörder, Diebe, Verräter, Gewaltverbrecher und Rechtsverdreher zur Gesellschaft gehören. Unsere Welt befindet sich seit Jahren in einer schweren Krise, verbunden mit einem Umwandlungsprozess ungeheueren Ausmaßes. Die Zunahme der technischen Möglichkeiten steht nach GEBSER in einem „exakten Verhältnis zu der Abnahme des menschlichen Verantwortungsbewusstseins“.217 Wie sich dieses Verhältnis in unserem Erfahrungs- und Beobachtungsbereich ausdrückt, mögen die folgenden Punkte verdeutlichen. Wenn die These stimmt, dass wir in einer spontan sich selbst organisierenden Welt leben, und sich diese Auffassung auf den Menschen, die Gesellschaft und die gesamte Erde übertragen lässt, so sind die Zusammenhänge zwischen Makrokosmos, Individuum und Mikrokosmos nicht mehr zu leugnen. Bevor eine Bestandsaufnahme des heutigen Zustandes und der momentanen Entwicklung erfolgt, soll ein kurzer Rückblick auf die Ansichten des französischen Nobelpreisträgers CARREL die Möglichkeit zu einem Vergleich mit früheren gesellschaftlichen Zuständen ermöglichen. Der medizinische Nobelpreisträger schrieb die folgenden Worte im Jahre 1949: 216 217 GASSET, 1961, S. 226 GEBSER, Ursprung und Gegenwart, 1992, S. 15 114 Die Krankheit der Zivilisation. Wie das Individuum von ihr befallen wird. „ . . . Die Symptome dieser Krankheit sind vielfältig verwickelt. Sie äußern sich nacheinander im Individuum, in der Gesellschaft und in der Rasse. Der Mensch fügte sich schlecht in die Bedingungen der modernen Demokratie ein. Der geistige Bildungsstand entwickelte sich nicht parallel mit den Fortschritten der Medizin, der Hygiene und der Pädagogik. Die nervöse Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Anstrengung, sogar die Intelligenz haben sich irgendwie vermindert, seitdem Unmäßigkeit, Unverantwortung und Sucht nach Komfort üblich geworden sind. Die ungeheuren Summen, die in den Vereinigten Staaten für die öffentliche Erziehung verwendet wurden, haben nicht das erhoffte Resultat gezeitigt. Wie das Nationale Komitee der geistigen Hygiene bekannt gibt, sind ungefähr 400 000 Kinder zu wenig intelligent, um dem Unterricht zu folgen. Die Analphabeten sind noch sehr zahlreich. Die berühmte, durch HERKES erfolgte Untersuchung im Jahre 1917, ergab, dass von den Offizieren und Soldaten der amerikanischen Armee 46 Prozent geistig unter der Stufe von Dreizehnjährigen standen. . . . In . . . sind eine große Zahl von Arbeitslosen zu wenig intelligent, unwissend oder krank, um arbeitsfähig zu sein; ein Viertel von ihnen ist völlig arbeitsunfähig . . . Die Verminderung der Intelligenz und des Menschenverstandes scheint durch den Alkoholismus, die Ausschweifungen in jeder Hinsicht und die Sittenlosigkeit verursacht zu sein. Es gibt bestimmt eine Beziehung zwischen dem Alkoholismus einer Gesellschaft und deren intellektuellem Herabsinken . . . Die widersinnige Zusammensetzung der Schulprogramme, Kino und Radio tragen bestimmt ebenfalls zu dieser geistigen Krise in . . . bei ... Zur selben Zeit kamen tiefe Störungen und eine Verminderung in nicht intellektuellen, geistigen Tätigkeiten zum Vorschein. Das Gefühl wurde durch die Sucht nach Profit, Befriedigung der Bedürfnisse, Vergnügen ebenso tief beeinflusst wie die Intelligenz. Das Fehlen jeder Moral, die Lüge, die Feigheit und die Unmäßigkeit bringen nacheinander die Verwirrung der affektiven, intellektuellen und organischen Funktionen mit sich . . . Aber kann die intellektuelle und moralische Entwicklung der Minderheit die Dummheit und Verdorbenheit der Mehrheit aufwiegen? . . . 115 Der Optimismus ist eine verführerische Haltung. Es ist verlockend, das Übel zu verneinen; denn das Übel verneinen, heißt dem Kampf ausweichen. Durch den Optimismus entledigen wir uns der Anstrengung. Die Erkenntnis des Fehlers hingegen führt zur Handlung. Man erhebt sich erst, wenn man bewusst ist, gefallen zu sein. Wir müssen zugeben, dass wir uns nicht zu leiten verstanden . . . Diese Krankheit kommt nicht zum ersten Mal in der Weltgeschichte vor. Sie zeigte sich schon zu gewissen Zeiten bei allen großen Völkern des Altertums. Wie es der Dekan INGE ausdrückte, ist die Zivilisation unweigerlich eine verhängnisvolle Krankheit . . .“218 Der vorliegende Text bezieht sich zwar auf die Situation in Frankreich, kann jedoch ohne Weiteres auf die heutigen Verhältnisse in vielen Ländern Europas und so auch auf Deutschland übertragen werden. Die moderne Demokratie ermöglicht ein großes Maß an Freiheit und zugleich die Möglichkeit deren Missbrauchs. Beklagt wird eine verminderte Fähigkeit zur Anstrengung, abnehmende Intelligenz, Unverantwortung und Sucht nach Komfort, Analphabetentum, Alkoholismus und Sittenlosigkeit. Nur durch Anstrengung und Anerkennung von Tugenden können wir der „Zivilisationskrankheit“ entrinnen die unsere Gesellschaft heute zu zerstören droht. Wir kommen nicht umhin, die Frage zu stellen, was heute vonnöten ist, um dieser Krankheit der Zivilisation entgegenzuwirken. Die Antworten ergeben sich zwangsläufig dem nachdenkenden Menschen, wenn er Schlüsse aus dem Zustand der heutigen Gesellschaft zieht. Nur eine radikale, kritische Rückbesinnung auf die wesentlichen Tugenden könnte den Prozess des Untergangs – der allerdings schon immer gesehen wurde – stoppen.219 Nur immense staatliche Investitionen in Bildung, Sport, Behinderteneinrichtungen, Erziehung und Resozialisierungsmaßnahmen können eine Entwicklung stoppen, die sonst zu einem gesellschaftlichen Beben führen wird. Der Staat muss dies als seine Verpflichtung betrachten, denn viele Familien sind aus unterschiedlichsten Grün218 Carrel, 1949, Geist und Psyche im Verlag Kindler erschienen unter: Betrachtungen zur Lebensführung, S. 37 bis 39 219 Vgl. dazu: DREWERMANN, 2001 116 den nicht mehr in der Lage, grundsätzliche Erziehungspflichten wahrzunehmen. Das Geld zu solchen Maßnahmen fehlt jedoch. Offensichtlich wurden über einen langen Zeitraum falsche Schwerpunkte gesetzt. LUTTWAK220 vertritt die Ansicht, dass der neue TurboKapitalismus gleich dem Sowjet-Kommunismus nur ein einziges Modell anbietet. Unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen, Kulturen und Mentalitäten werden jedoch ignoriert. Eine Rückkehr der Armut ist festzustellen. In den USA wuchs jedes fünfte Kind im Jahr 1996 in Armut auf. Den meisten Familien geht es schlechter als in den 70ger Jahren. Eine gute Ausbildung ist immer mehr von den finanziellen Verhältnissen der Eltern abhängig. Immer mehr Wachstum spaltet die Bevölkerung in arm und reich und erzeugt sozialen Sprengstoff, vor allem dann, wenn Jugendliche und sozial ins Abseits geratene Eltern beginnen, Verantwortliche zu suchen. Bei sich selbst werden sie zuletzt beginnen. Die zunehmende Armut trägt zu einer Steigerung der Kriminalität bei. Die Gefängnisse in Amerika sind überfüllt. In Deutschland wurden Hunderte von psychisch kranken Straftätern wegen Platzmangels aus den Gefängnissen entlassen. Zugleich wurden 2,5 Milliarden Mark in den Bau für 10 000 neue Haftplätze investiert.221 Wir sind auf dem besten Weg, den USA auch in dieser Hinsicht zu folgen. Die „Amerikanisierung“ unserer Gesellschaft nimmt schnell zu. PFEFFER erklärt diesen Trend mit einer „veränderten Justizpraxis“ und nicht mit einer veränderten Kriminalitätslage. Ein zweiter Grund sei die Tatsache, dass immer mehr Menschen eine Haftstrafe antreten müssen, weil sie Geldstrafen nicht mehr bezahlen können. Diese Tatsache belegt, dass Armut, die Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit zunehmen. Weniger qualifizierte Jugendliche haben immer größere Probleme, eine befriedigende Arbeit und Ausbildung zu finden. Inzwischen fehlt jedem achten Jugendlichen ein Berufsabschluss; bei ausländischen Jugendlichen ist es jeder dritte. 220 Luttwak, 1999 SZ, 102, 2000, S. 1; PFEFFER ist Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). 221 117 Die Jugendlichen sind als Konsumenten gefragt und stehen unter Konsumzwang, oftmals ohne gelernt zu haben, mit Geld umzugehen. Es wird geschätzt, dass sie ca. 35 Milliarden Mark im Jahr zur Verfügung haben. Die Heranwachsenden gehen länger zur Schule. Förderschulabschluss, Hauptschulabschluss oder mittlere Reife verlieren dadurch an Wert. Waren 1960 noch 8,8% der Schulabgänger Gymnasiasten, so sind es heute knapp 30%. Der Staat besitzt eine Verpflichtung, für die Jugend zu sorgen, gerade deshalb, weil immer mehr Familienstrukturen zerbrechen. Es bleibt nur die Hoffnung auf einen deutlichen „Werteruck“, wodurch auch immer ausgelöst. 118 Die Gesellschaft der Unverbindlichkeit Ehescheidungen Alle im Folgenden geschilderten Fakten sind schwerwiegende Faktoren im Zusammenhang mit der gesunden Entwicklungsmöglichkeit von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen und damit auch Faktoren, die das Lernen schwerwiegend beeinträchtigen. Im Jahre 1996 wurde bereits eine Steigerung der Ehescheidungen um 2% auf 169 400 in Deutschland gemeldet. Somit zerbrachen neun von 1000 Ehen. In Westdeutschland wird inzwischen fast jede dritte Ehe geschieden. In den neuen Bundesländern zeigten sich die Ehen weitaus stabiler. 21 500 Scheidungen im Osten stehen 148 000 Scheidungen im Westen gegenüber. Interessanterweise ist die Zahl der Scheidungen im Osten jedoch im Vergleich zum Zeitraum Mitte der 70er bis Ende der 80er Jahre um die Hälfte gesunken.222 Die Zahl der Ehescheidungen befindet sich weiterhin ständig im Steigen. So wurden im Jahre 1997 laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 187 802 Ehen geschieden. Gegenüber 1996 waren es somit 12 252 (7%) mehr Ehescheidungen. Anders ausgedrückt zerbricht etwa statistisch gesehen jede 10. Ehe. Insgesamt waren nach diesen Erhebungen 163 112 minderjährige Kinder von der Scheidung der Eltern betroffen. Im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 10%. Auffällig ist die Tatsache, dass die Ehehscheidungen bei Paaren mit minderjährigen Kindern im Vergleich zu Paaren ohne Kinder um 8,7% zugenommen haben. In erster Linie stellen Ehefrauen den Antrag auf die Ehescheidung. Länger als neun Jahre hätten 52,9% der Ehen bestanden.223 Dass die Scheidungszahlen so stark zunehmen, wird von BIERHOFF damit erklärt, dass heute im Vergleich zu früher aus unglücklichen Beziehungen Konsequenzen gezogen werden. Er vertritt die Meinung, dass es Unglück in Beziehungen früher ebenso häufig gab wie heutzutage.224 Ein relativ neues Phänomen ist die Tatsache, dass immer mehr langjährige Ehen in Deutschland geschieden werden. 222 SZ, 1996, Nr. 198, S. 10 SZ, 1998, Nr. 226, S. 14 224 BIERHOFF, Ruhr-Unversität Bochum in Münchner Merkur, 1998, Nr. 226, Weltspiegel 223 119 Das Scheidungsrisiko ist zwischen dem 20. und 30. Ehejahr mehr als doppelt so hoch wie in den 70er Jahren. Von Soziologen wird dies einerseits damit erklärt, dass Frauen zunehmend mehr im Berufsleben stehen und somit unabhängiger geworden sind, andererseits bildet auch die höhere Lebenserwartung einen Faktor. Frauen wollen ihren Dienst in der Familie nur noch zeitlich begrenzt leisten. WILLUTZKI stellt fest, dass bei den späten Trennungen zu mehr als 80% die Scheidung von den Ehefrauen eingereicht wird.225 Späte Scheidungen finden oft erst statt, wenn die Eltern der Ehepartner verstorben sind; vor allem dann, wenn sie vor dem Ehepartner gewarnt hatten. Die USA nehmen bezüglich der gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Entwicklungen nur eine Vorreiterrolle ein. Alle derartigen Veränderungen zeigen sich auch bei uns mit einer Verzögerung von etwa zehn Jahren. Ein Grund für die hohe Anzahl der Trennungen sei auch in der zunehmenden Berufsmobilität zu sehen, die sich sehr nachteilig auf viele Beziehungen auswirke. Einen weiteren Faktor stellten die berufstätigen, meist akademisch ausgebildeten Frauen mit einer anspruchsvollen Tätigkeit dar. Zudem spielt die Erwartungshaltung der Menschen eine immer bedeutendere Rolle. Träten erwartete positive Gefühle in einer Partnerschaft nicht ein, würde dies als schlechte Beziehung gewertet. Im internationalen Vergleich liegen die deutschen Zahlen im Mittelfeld. Die USA nehmen die Spitzenposition in dieser Hinsicht ein; dort wird inzwischen fast jede zweite Ehe geschieden. KEUPP weist darauf hin, dass die Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft dramatisch an Bedeutung verliert.226 Familien mit Vater, Mutter und zwei Kindern seien nur noch eine gesellschaftliche Schrumpfgröße. „Mit dem Ende der Arbeitsgesellschaft stiften Arbeitsverhältnisse nicht mehr berufliche Identität . . . traditionelle geschlossene Lebensbedingungen werden zunehmend aufgebrochen . . . Wer bin ich – darauf gibt es immer weniger eine Antwort“. 225 in SZ , 235, 1999, S. 2; WILLUTZKI ist Vorsitzender des Deutschen Familiengerichtstages. 226 MM, 47, 2000, S. 1; KEUPP auf dem 13. Kongress für Klinische Psychologie; er ist Psychologie-Professor in München. 120 Diese Entwicklung ist eine Erklärung für die weitgehende Entfremdung in unserer Gesellschaft. Woran scheitern Ehen in Deutschland?227 Scheidungsgrund Angaben in % Fehlende gemeinsame Zukunftsperspektiven 33 Wir haben uns auseinandergelebt 29 Wir hatten zu unterschiedliche Lebenseinstellungen 29 Fehlendes Vertrauen oder Einfühlungsvermögen 25 Wir konnten nicht miteinander reden 23 Er/sie hatte Gewohnheiten, die mich aufgeregt 22 haben Unsere Beziehung war zu langweilig und zur 19 Routine geworden Ich fühlte mich bevormundet oder eingeengt 18 Er/sie hatte jemand anderen kennen gelernt 18 Ich hatte Gewohnheiten, die sie/ihn aufgeregt haben 16 Eifersucht 15 Untreue 15 Probleme bei der Verbindung Beruf/Familie 13 Alkohol oder Drogen 12 Ich hatte einen neuen Partner kennen gelernt 11 Sexuelle Probleme 10 Finanzielle Probleme 7 Ich habe sie/ihn zu stark eingeengt 6 Körperliche Gewalt 3 Die Situation in Bayern stellt sich folgendermaßen dar: Alleine in Bayern scheitern täglich etwa 70 Ehen. Im vergangenen Jahr (1998) wurden insgesamt 26 533 Ehen geschieden. Damit ist im Vergleich zum Jahr 1997 ein Zuwachs von 1,9% zu verzeichnen. In 227 Tabelle nach Vorlage in SZ Magazin Nr. 53, 1998, S. 26 121 53% der Scheidungsverfahren des Jahres 1998 waren insgesamt 21 880 minderjährige Kinder betroffen.228 Auch hier nimmt die Zahl der Scheidungen zu. So wurden 1997 insgesamt 26 126 Ehen getrennt. Im Jahr zuvor waren es 1770 (7,3%) weniger. Die Hälfte der geschiedenen Ehen wurde etwa nach einem Jahr des Zusammenlebens geschieden. In 59% der Fälle reichten die Frauen den Antrag zur Scheidung ein.229 Im Jahr 1998 wurde ein neuer Höchststand bei den Ehescheidungen erreicht. Das Statistische Bundesamt registrierte 192 438 Ehescheidungen und somit 4636 oder 2,5 % mehr als im Vorjahr. Von jeweils 1000 Ehen wurden zehn geschieden. Die Zahl der von Scheidungen betroffenen Kinder sank hingegen um 2,3%. Ein besonderer Anstieg der Scheidungen wurde in den neuen Ländern registriert.230 Das Statistikamt der Niederlande stellt fest, dass Scheidungskinder – und hier in erster Linie die Buben – schlechtere Noten als der Durchschnitt der Schüler haben. Eine Studie stellte fest, dass 36% der Scheidungskinder einen niedrigeren Schulabschluss erreicht haben als Kinder, deren Eltern sich nicht getrennt hatten.231 In meiner Klasse (Schule zur individuellen Lernförderung) befinden sich in diesem Schuljahr (1998/1999) aktuell in einer „Spezialklasse“ (Kinder, die in anderen Klassen nicht mehr tragbar waren) vier ausländische Buben und drei deutsche Buben. Die Eltern der vier ausländischen Kinder sind nicht geschieden. Zwei der deutschen Buben leben entweder bei den Großeltern oder bei der Mutter. Im Schuljahr 1999/2000 befinden sich momentan 15 Schüler/innen in meiner Klasse. Von den zehn Buben lebt einer im Heim und vier weitere zusammen mit einem Elternteil oder zum Teil häufig wechselnden neuen Partnern zusammen. Zwei Mädchen leben bei einer allein erziehenden Mutter. Zwei weitere Schüler stammen aus äußerst schwierigen Familienverhältnissen (sieben Geschwister in einer 228 in SZ, 281, 1999, S. 62 laut Statisitschem Jahrbuch für Bayern 1999 229 Münchner Merkur, 1998, Nr. 80, S. 1 230 MM, 177, 1999, S. 1 231 Münchner Merkur, 1997, Nr. 8, 1 122 sehr kleinen Wohnung; Eltern Alkoholiker, drohende Verwahrlosung). Kinder und somit auch die Lehrer – haben mit den Folgen einer Scheidung ein soziales Problem: FOOKEN232 weist darauf hin, dass durch Scheidungen und Wiederheirat die Familienbeziehungen immer komplexer werden. Bei den neu entstehenden Verwandtschaftsverhältnissen existieren oftmals weder „Namen noch Umgangsnormen“. Der Kontakt zu Kindern und Enkelkindern geht verloren. So wachsen immer mehr Kinder ohne Großeltern auf. Durch die Zunahme der späten Trennungen vergrößert sich das Heer der Scheidungswaisen. Diese beenden später die eigene Ehe ebenfalls wieder schneller als Kinder aus Ehen, die länger gehalten haben. Die Rolle der Väter Zwischen 15 und 50% (je nach Studie) aller deutschen Väter haben aus den verschiedensten Gründen ein Jahr nach einer Scheidung keinen Kontakt mehr zu den Kindern. Einerseits liegen die Ursachen dafür am Verhalten der Männer selbst (Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Desinteresse). Andererseits benachteiligt das deutsche Recht Väter „systematisch“.233 Kinder haben bis zu ihrem 18. Lebensjahr Anspruch auf Unterhalt. Werden Zahlungen durch den Vater verweigert, tritt das Jugendamt dafür ein. So musste alleine in München im Jahr 1998 in 7678 Fällen ein Unterhaltsvorschuss in Höhe von 17,2 Millionen Mark geleistet werden. Bund und Freistaat müssen für diesen Betrag aufkommen. Die Chance, das Geld wieder einzutreiben, liegt derzeit bei 19%.234 Immer mehr Jugendliche landen im Heim In der Stadt Landsberg am Lech muss alleine für die Heimunterbringung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eine Summe von über 6 Millionen DM ausgegeben werden. Dazu addie232 in SZ, 235, 1999, S. 2; FOOKEN ist Professorin für Psychologie in Gießen. 233 GEO, 1, 2001: Die Väter, S. 161 234 SZ, 235, 1999, L 2 123 ren sich 2,2 Millionen DM für teilstationäre Hilfen, Kosten für ambulante Angebote und Personalaufwendungen. Auch im benachbarten Landkreis Weilheim-Schongau befindet sich mindestens ein derartiges Heim. Mit diesen Ausgaben liegt Landsberg unter den 71 bayerischen Landkreisen an sechster Stelle.235 Es ist unübersehbar, dass die Zahlen in ganz Oberbayern in die Höhe schnellen. HARTL führt folgende Gründe für die stark zunehmende Zahl überforderter Eltern und verhaltensauffälliger Kinder an: Die Konsumgesellschaft – Verschuldung von Jugendlichen aufgrund ihrer Handysucht (teilweise fünfstellige Beträge) Berufstätige Alleinerziehende, die mit den Erziehungsaufgaben häufig überfordert sind. Die Folge: Jungen sind häufig aggressiv und kriminell, haben Leistungsprobleme und Anpassungsschwierigkeiten. Mädchen: Magersucht, Psychosen und ebenfalls aggressives Verhalten. Eltern, die ebenfalls im Heim aufgewachsen sind. Erlebnisgesellschaft und Gesellschaft der „Konfetti-Generation“ (Opaschowski) Wir leben in einem Zeitalter der Sensationen, das geprägt ist durch die Oberflächlichkeit einer hemmungslosen Spaßkultur. Das für die meisten Menschen Interessante spielt sich nur noch im Bereich der Emotionen ab. Gerade auch viele Jugendliche sind ständig auf der Lauer, ja nichts zu verpassen. Die Jagd nach Sensationen verschont niemand. Im Jahre 1996 verbrachte ein/e deutsche/r Büger/in durchschnittlich 183 Minuten am Tag vor dem Fernseher. Bald jeder deutsche Haushalt kann im Durchschnitt 33 Fernsehprogramme empfangen. Kinder zwischen drei und 13 Jahren haben im Schnitt täglich 99 Minuten ferngesehen. Der Fernsehkonsum in Ostdeutschland liegt mit sieben Minuten mehr pro Tag und Person deutlich höher als in Westdeutschland. Für Deutschland ist eine sehr hohe Wettbewerbsdichte kennzeichnend.236 235 236 SZ, 8, 2001, L 8 SZ, 1997, Nr. 59, S. 26 124 Die Folge dieser Entwicklung ist das oftmals nur noch bruchstückhafte Wahrnehmen der umgebenden Wirklichkeit und das schnelle Weiterspringen zum nächsten Ereignis. WISEMAN untersuchte die Möglichkeit der Beurteilung des Wahrheitsgehaltes bei 41471 Rundfunkhörern, Zeitungslesern und Fernsehzuschauern. Durch die starken optischen Reize konnten die Zuschauer besonders gut irregeleitet werden. Zwei Interviews mit einem politischen Kommentator über dessen Lieblingsfilme sollten bei der Studie beurteilt werden. Im ersten Interview wurde die Wahrheit gesagt, im zweiten wurde bewusst mehrfach gelogen. 51,8% der Fernsehzuschauer, 64,2% der Zeitungsleser und 73,4% der Radiohörer erkannten die Irreführungen. Durch die starke Inanspruchnahme des Zuschauers durch die optischen Reize ist dieser weniger als die angeführten Vergleichsgruppen in der Lage, den Wahrheitsgehalt des zu den Bildern gesprochenen Textes korrekt zu beurteilen.237 OPASCHOWSKI weist darauf hin, dass die sozialen Auswirkungen dieses Verhaltens erst Generationen später zum Tragen kommen. Diese „Häppchenkultur“ ist Ursache dafür, „ . . . dass sich diese Generation immer weniger konzentrieren kann, immer nervöser und aggressiver wird . . . “238 Für 40% der 900 befragten Lehrer ist eine Zunahme von Gewaltbereitschaft und Verhaltensstörungen bei den Schülern auffällig. Dabei wächst das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber diesen Auffälligkeiten. 68% der Befragten erklärten, dass die Schüler eine ausgesprochen materialistische Einstellung zeigten. 45% bemängelten das fehlende politische Bewusstsein und das fehlende soziale Engagement. Religiosität sei nicht mehr bemerkbar.239 Gleichzeitig nimmt der Kult um Schönheit, Intelligenz und Erfolg zu. Der zunehmenden Leistungsorienterung kann der „homo effizienz“ oftmals in seiner Funktion als „homo consumens“ nicht mehr folgen. 237 In der Zeitschrift NATURE SZ, 1997, Nr. 174, S. 44 239 Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, in SZ 1996, Nr. 218, S. 5 238 125 Gerade die Kinder, die sich durch unser selektives Schulsystem in einer Außenseiterrolle befinden, werden immer chancenloser, wenn sie mit Erfolg am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen. Nicht mehr Werte, ethische Grundsätze oder Moralvorstellungen sind Leitbilder für die Mehrheit der Jugendlichen. Hollywood lässt grüßen. Der unentwegte Wettbewerb unter Kindern nimmt ständig zu. Es ist chic, „cool“ zu sein. Nicht nur in höheren Schichten, sondern auch im Getto von South Central oder in dem einer beliebigen deutschen Kleinstadt. Cool bist du aber erst, wenn du etwas getan hast, was keiner deiner Freunde getan hat. Die Schilderungen GREENFIELDS sind inzwischen auch in Deutschland Wirklichkeit geworden.240 DEVLIN und Mitarbeiter wiesen darauf hin, dass sowohl Umwelteinflüsse in der frühen Kindheit als auch das Erbgut die spätere Intelligenz des Kindes prägen. Die Umwelteinflüsse sind bereits vor der Geburt im Mutterleib von entscheidender Bedeutung. Durch die Untersuchungen wird die These gestützt, dass Umwelteinflüsse bei der Entwicklung der Intelligenz eine bedeutende Rolle spielen.241 Die Möglichkeit der Kommunikation nimmt mit zunehmendem Fernsehkonsum ab. Die Möglichkeit und die Zeit zum ungestörten Lernen sind oftmals nicht mehr vorhanden. Vielleicht hängt damit auch zum Teil das erschreckende Ausmaß des Analphabetentums in Deutschland zusammen. So können ca. 15% der Erwachsenen (4 Millionen Deutsche) in den alten Bundesländern weder mehr lesen als einfache Überschriften noch mehr als ihre Unterschrift schreiben. Dazu addiert sich noch eine unbekannte Zahl vollständiger Analphabeten. 242 Die Möglichkeit der Erkenntnis wird durch die Jagd nach immer kurzlebigeren Informationen zunehmend mehr verdrängt. Die Jugendlichen sind mit Sicherheit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Das jahrzehntelange Desinteresse für den eigenen Nachwuchs, die dringend notwendige, jedoch unbequeme und über lange Zeit fehlende Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen, das Abschaffen der Krankheit als notwendige Voraussetzung zur 240 Vgl. dazu: GREENFIELD, „Fast Forward: Growing Up in the Shadow of Hollywood“, Verlag Alfred A. Knopf, New York 241 Nature, 1997, Bd. 388, S. 468, in SZ Nr. 180, S. 35 242 SZ, 1996, Nr. 136, S. 16 126 Akzeptanz natürlicher Grenzen, verbunden mit einer zunehmend passiven Haltung haben dazu geführt, dass oberflächliche Betrachtungsweisen und Schuldzuschiebungen an der Tagesordnung sind. Das in weiten Kreisen unserer Gesellschaft gepflegte „blame game“ (Schuld wird durch Tricks und Spielchen bei anderen gesucht, ohne sich selbst dabei in Frage zu stellen) und die Leidenschaft, nur für sich selbst zu leben, wird sich auf das Zusammenleben unserer Nachkommen extrem negativ auswirken. Dazu LASCH: „Für den Augenblick zu leben ist eine weit verbreitete Leidenschaft – für sich selbst zu leben, nicht für die Ahnen oder die Nachkommen. Wir verlieren immer schneller das Gefühl für geschichtliche Kontinuität, das Gefühl zu einer Folge von Generationen zu gehören, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben und sich in die Zukunft erstrecken.“ 243 In der heutigen „Spaßgesellschaft“ – durch die Medien und den Konsum ständig propagiert und gepflegt – haben nicht nur Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft, sondern auch „wichtige soziale Motive wie Nächstenliebe und gesellschaftliche Verantwortung in den letzten Jahren deutlich an Attraktivität verloren“.244 Es hat sich in der heutigen Gesellschaft ein deutlicher Wertewandel vollzogen. OPASCHOWSKI fordert: „Schafft die Spaßgesellschaft ab! Sonst geht die soziale Lebensqualität in Deutschland verloren.“ Die Spaßgesellschaft ist nach Ansicht des Freizeitforschers als Reaktion auf die Stressgesellschaft der vergangenen Jahre zu sehen. Bereits jetzt zeichne sich aber wieder ein Rückgang der egoistischen Lust auf Fun ab. 243 244 77% der insgesamt 2000 der 14- bis 29-jährigen befragten Jugendlichen sind der Ansicht, es mache keinen Spaß, sich gegenseitig zu helfen. 55% der Menschen ab 29 Jahren denkt beim Spaß erst einmal an das eigene Vergnügen. 44% sind der Ansicht, dass das Zusammensein mit anderen mit Spaß verbunden ist. LASCH, 1978, S. 5 OPASCHOWSKI in MM, 85, 2001, S. 1 und 9 (Weltspiegel) 127 128 Ein geschichtlicher Rückblick 1. Die Jugend in Babylonien Die etwa 3000 Jahre alte Inschrift auf einer babylonischen Tontafel lautet: „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein, wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.“245 2. Platons Gedanken zur Jugend Es ist mir bekannt und tröstet mich in gewisser Weise, dass bereits Platon (427 bis 347 v. Chr.) vor über 2000 Jahren über Zustände des menschlichen Zusammenlebens berichtet, die ebenso in der heutigen Zeit gültig sein könnten: „ . . . dass der Vater sich daran gewöhnt, seinem Kind ähnlich zu werden und seine Söhne zu fürchten, der Sohn dem Vater gleichgestellt wird, dass man vor den Eltern weder Ehrfurcht noch Furcht zeigt, damit man ja frei ist (563 A), dass der Zugereiste dem Stadtbürger gleichgestellt wird und ebenso der Ausländer . . . Der Lehrer fürchtet bei solchen Verhältnisssen die Schüler und redet ihnen nach dem Munde, die Schüler aber schauen auf die Lehrer herab wie auch auf ihre Erzieher; und überhaupt spielen die Jungen sich als Erwachsene auf und rivalisieren mit ihnen in Worten und Taten; die Alten lassen sich mit den Jungen ein, sprühen von Scherz und Liebenswürdigkeit, äffen die Jugendlichen nach, damit sie ja nicht griesgrämig und autoritär wirken . . . “246 Also auch bereits vor so langer Zeit gab es Zustände, die Anlass zur Beunruhigung gaben, Einstellungen und Arbeitshaltungen, die kritisiert und nicht verstanden wurden, weil sie den eigenen fremd waren. 245 WATZLAWIK/WEAKLAND/FISCH, 1997, S. 53 PLATON, Der Staat, in einer Übersetzung von SPANNAGEL, Weilheim /Obb. 246 129 3. Melanchtons Gedanken zum Lernverhalten und zur Arbeitshaltung der Jugendlichen Auch Melanchton (1497 bis 1560), der als „Der Lehrer Deutschlands“ bezeichnet wird, beklagt die Bedingungen, mit denen er als Lehrer zu leben hat. In seiner Schrift „De miseriis paedagogorum oratio“ – Rede von den Leiden der Lehrer – beklagt er Zustände, die auch in die heutige Zeit passen könnten. „Sobald dem Lehrer der Knabe zum Unterricht und zur Aneignung humanistischer Bildung und Tüchtigkeit übergeben wird, übernimmt er ein hartes Geschäft, voll unglückseliger Mühe und Gefahr. Denn für literarischen Unterricht scheint dieser eher nicht reif zu sein, da ihn häusliche Schwäche verdorben und er das Böse nicht nur verstehen gelernt, sondern auch gekostet hat. Da bringt er denn nicht nur keine Liebe zum Studium mit, sondern eher grimmigen Hass, Missachtung der Lehrer und die schlimmsten Gewohnheiten. Und mit einem solchen Ungeheuer soll sich der Lehrer herumplagen. Während des Unterrichts gehen die Gedanken des Knaben spazieren, . . . (153) . . . und wenn es gut geht, muss man das Gleiche sechshundertmal eindrillen, bis es in den widerwilligen Köpfen haftet. Man braucht aber nur wegzusehen, und sogleich ist das auch noch so oft Hergesagte verflogen. Soll das Gelernte wiedergegeben werden, dann wird der Lehrer völlig zum Narren gehalten. Denn es macht den Knaben in ihrem Ungehorsam besonders Spaß, sich etwas zu erlauben, was den Lehrer in Aufregung versetzt und ihm zu schaffen macht. Sollte jemand ein Kamel tanzen oder einen Esel geigen lehren, sicher würde man es für ein ganz besonderes Unglück halten, eine so große Arbeit vergeblich leisten zu müssen. Und doch wäre das noch erträglicher, als unsere heutige Jugend zu unterrichten. Denn wenn man auch bei einem Kamel oder Esel nichts ausrichtet, sie vermehren doch nicht die Mühsal durch Ungezogenheit. Aber wenn uns diese artigen Buben müde gehetzt haben, wie frech benehmen sie sich gegen uns! Da gibt es welche, die sich nicht scheuen, den Lehrer öffentlich zu beschimpfen und ihn durch Gebärden zu verhöhnen. Und solches Benehmen bringt man von zu Hause in die Schule. Denn sie haben vorher die Eltern wenig respektvoller behandelt als jetzt die Lehrer. Nach und nach werden solche üblen Gewohnheiten zur zweiten Natur und lassen sich nie mehr ausrotten. Was heißt aber überhaupt 130 noch Unglück, wenn nicht das, in beständiger Sorge und Arbeit vergeblich sich aufzureiben? Und dann noch zum Lohn dafür den Buben zum Spaß und Spiel zu dienen? In der Unterwelt stellt man den Sisyphus dar, wie er einen ungeheueren Stein den Berg hinaufwälzt, der, kaum droben, immer wieder herabstürzt und ins Meer rollt, und man sagt, das bedeute, dass viele Menschen sich in vergeblicher Arbeit verzehren. Ich wäre der Meinung, ein leeres SichAbmühen könnte viel deutlicher ausgedrückt werden, wenn man einen Lehrer mit einem Knaben darstellte, wie ich ihn eben geschildert habe. Weit größer ist die Arbeit des Lehrers als die des Sisyphus, aber höher bewertet wird sie nicht. Wenn jener seinen Stein wälzt, so hat er eine einfache Arbeit, aber keine Sorgen, während die Aufgabe des Lehrers viel lästiger ist. Nie nimmt der Knabe ein Buch zur Hand, es sei denn, dass ihn der Lehrer dazu nötigt. Und wenn er es nimmt, dann schweifen Augen und Sinne in die Weite. Da bedarf es denn der Sporen, um an die Pflicht zu erinnern. Der Lehrer trägt etwas vor, da beschleicht den Weichling der Schlaf, und ungescheut schläft er auf beiden Ohren, während sich der Lehrer müde spricht. So erhält der (154) Lehrer die neue Aufgabe, den Schüler wach zu halten: Da wird das Diktierte repetiert und der wach gemachte Jüngling soll aufpassen auf das, was vorkommt, aber Hippoklides kümmert sich um nichts, seine Gedanken sind fort in einer ganz andern Welt, in der Kneipe, beim Würfelspiel, beim Treiben einer liederlichen Gesellschaft . . . Fragst du daher am nächsten Tag nach dem, was durchgenommen wurde, so ist es zu dem einen Ohr hinein- und zum andern hinausgegangen, nichts hat er behalten. Die Arbeit beginnt von vorne. Der Lehrer hebt die alte Leier an, und nicht einmal nur hat er zu wiederholen, bis endlich in dem Klotz das eine oder andere Wort haften bleibt. Wer hat wohl eine so harte Haut, sich über die Verschwendung so vieler Mühe nicht zu ärgern, zumal auch noch die Gesundheit dabei verlorengeht? Denn die Körperkräfte werden angegriffen und schwinden nicht nur durch das fortwährende Reden, sondern auch durch Sorgen, Aufregungen und Unwillen darüber, dass die Fortschritte der Knaben so gar nicht der aufgewandten Mühe entsprechen. So bringt man über den Anfangsgründen Jahre hin. Aber der Lehrer bilde sich nicht etwa ein, dass wir damit am Ende seien; das war nur die Einleitung zum Trauerspiel, es kommt noch viel schlimmer. 131 . . . (157) Doppelte Mühe kostet es, wenn man sie mit aller Gewalt zum Arbeiten zwingen muß . . .(158) Dagegen sind nun unsere Schüler beim Lernen von einer schimpflichen Kälte, sie werden auf keine Weise warm, sie wollen getrieben sein wie das liebe Vieh. Lob oder Scham können ihnen nichts anhaben, während doch die Scham der menschlichen Natur eingepflanzt ist. Was soll man von unseren Knaben sagen, die sich so gar nicht der Unwissenheit schämen? . . .“247 247 SCHWAB,1997, S. 152 bis 158 132 Die Gewaltgesellschaft Jährlich werden nach BERGMANN248 etwa 150 000 Kinder unter 15 Jahren jährlich von ihren Eltern körperlich misshandelt. Umfragen ergaben folgendes Bild: 80% der Kinder gaben an, von ihren Eltern geohrfeigt zu werden. 30% bekommen von Zeit zu Zeit eine Tracht Prügel. 60% der befragten Eltern gaben an, gelegentlich Gewalt gegen ihre Kinder anzuwenden. Untersuchungen ergaben, dass Kinder, die geschlagen werden, dreimal häufiger zu Gewaltanwendung neigen als Altersgenossen, die ohne körperliche Strafen erzogen werden. In Schweden ist jede Körperstrafe in der Erziehung seit 1979 verboten. GRITZ: „80% aller misshandelten Kinder werden später ihre eigenen Kinder wieder misshandeln.“249 Neueste Schätzungen gehen davon aus, dass 5 bis 10 % der Kinder in Deutschland misshandelt oder missbraucht werden, wobei mehr als 20% der misshandelten Kinder unter bleibenden Schäden zu leiden haben. Andere Berichte gehen davon aus, dass 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche körperlich misshandelt werden. Etwa 420 000 dieser Gruppe hätten bereits als Säuglinge oder Kleinkinder Gewalt häufiger erlebt. In der gleichen Größenordnung tritt noch psychische Gewalt in Form von elterlicher Ablehnung oder Vernachlässigung. 250 Gewalterfahrung ist keine Frage des Ortes oder der Zeit mehr. Gewalt ist alltäglich und allnächtlich, Gewalt ist überall zu beobachten und allgegenwärtig. So ist in Kanada laut einer Befragung von etwa 10 000 zufällig ausgewählten Einwohnern der Provinz Ontario im Alter zwischen 15 und 65 Jahren jedes dritte Kind sexueller oder körperlicher Gewalt 248 SZ, 217, 2000, S. 6; Christine BERGMANN ist Familienministerin der BRD. 249 MM, 69, 2000, S. 1; GRITZ ist Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. Deutschlands. 250 SZ, 68, 2000, S. 16; Veröffentlichung des Bundesfamilienministeriums 133 ausgesetzt. Die aus einer Studie von Selbstauskünften gewonnenen Ergebnisse beruhen nicht auf einer Kriminalstatistik. Männer scheinen sich mehr als Frauen (31% zu 21%) an die Erfahrung körperlicher Gewalt in ihrer Kindheit zu erinnern. Etwa jede/r Zehnte der Befragten mussten, unabhängig vom Geschlecht, schwere Misshandlungen ertragen. Die Eltern waren dabei in den meisten Fällen die Täter. Sexueller Missbrauch wurde bei Frauen dreimal so häufig ausgeübt wie bei Männern (13% zu 4%). Hier waren nicht die Eltern, sondern oft Verwandte oder andere Erwachsenen die Täter. Die Untersuchung stellte noch folgende Zusammenhänge zwischen Häufigkeit von Kindesmisshandlungen und dem Einkommen sowie dem Bildungsstand und Wohnort fest: Die Männer, die in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, lebten häufiger in Familien mit niedrigem sozialen Status, während bei Frauen Misshandlungen in allen Schichten vorkamen. In kleinen Ortschaften mit weniger als 3000 Einwohnern wurden häufiger Frauen missbraucht als Männer. 251 Auch in Bayern ist inzwischen jedes zehnte Opfer von Gewalttaten ein Kind. Im Jahre 1997 wurden 883 Jungen und 394 Mädchen Opfer von Gewalttaten. Mehr als ein Drittel aller Delikte fallen den Rubriken Misshandlung und sexueller Missbrauch zu. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass in Bayern etwa 300 000 Kinder am Rande des Existenzminimums leben.252 Obwohl immer mehr Kinder straffällig werden, sehen Wissenschaftler des Deutschen Jugendinstitutes wie HOLTHUSEN253 keinen Grund zur Panik, da Eigentumsdelikte unter Jugendlichen weit verbreitet seien. REGENSBURGER stellte eine Statistik zu diesem Thema vor: Jeder vierte Strafverdächtige ist in Bayern jünger als 21 Jahre. Im 1. Halbjahr 1999 wurden 6,3% mehr Kinder polizeilich registriert als 251 SZ, 197, 1997, S. 20 Münchner Merkur, 216, 1998, S. 1 253 SZ, 185, 1999, L 8; HOLTHUSEN ist Mitarbeiter des Deutschen Jugendinstitutes im Bereich der Kinder- und kriminalitätsprävention; REGENSBURGER ist Staatssekretär im Innenministerium; KREIENBAUM ist Chef der Polizeidirektion Fürstenfeldbruck bei München. 252 134 im Vorjahreszeitraum. Insgesamt erhielten in Bayern 9030 Kinder bis zu 14 Jahren eine Anzeige. Delikt Körperverletzungen Diebstähle Zunahme 6,7% 3,7% bis 5,7% je nach Alter Abnahme --- KREIENBAUM zum Problem jugendlicher Gewalttaten im Bereich Fürstenfeldbruck, Starnberg, Dachau und Landsberg: „Jede zweite bis dritte Gewalttat wird von Jugendlichen verübt, . . . wir müssen endlich offen darüber reden.“ zudem beklagt er, dass aus dem schulischen Bereich fast keine Taten zur Anzeige gebracht werden. Die Polizei habe ohne Mithilfe der gesellschaftlichen Gruppen kaum Chancen, das Problem zu lösen. Ich selbst weiß aus meiner schulischen Erfahrung in den letzten Jahren, dass sehr häufig auf eine Anzeige verzichtet wird, weil die Schüler noch nicht strafmündig, also unter 14 Jahren alt sind. Wird die Polizei dennoch eingeschaltet, so ist sie oftmals selbst nicht in der Lage, die Wahrheit herauszufinden, obwohl mit sehr großem Zeitaufwand die Vernehmungen vorgenommen werden. Ein Richter bezeichnete die entsprechenden Vorfälle an den Schulen als „pädagogisches Problem“. Auch die Angst mancher Schulleiter um den Ruf der Schule, ist ein Hindernis, die Polizei einzuschalten. Die besondere Problematik besteht darin, dass viele Schüler Gewalt oftmals über lange Zeit „gelernt“ und erfahren haben. Sie wurden selbst misshandelt und geschlagen, sie haben erlebt, dass damit Probleme vordergründig gelöst wurden. Wie soll ein Lehrer handeln, der weiß, dass ein Schüler, der auf Ermahnungen, Gespräche und Strafen nicht reagiert, zu Hause misshandelt wird, wenn eine Schulstrafe ausgesprochen wird? Das Einschalten des Jugendamtes oder eine Heimeinweisung dauern oft zu lange; Schulverbote zeigen nur geringe Wirkung. Wenige Schüler terrorisieren oft diejenigen in der Klasse, die lernen wollen und denen sich durch eine entsprechende Förderung Chancen eröffnen könnten. Es kristallisiert sich in unserer Gesellschaft immer mehr heraus, dass eine oftmals kriminelle und asoziale Minderheit durch ihr Verhalten die redliche Mehrheit nahezu handlungsunfähig macht. 135 Nach meiner Erfahrung besteht die einzige Möglichkeit darin, konsequent mit Polizei, Kinderhort, Psychologen, Neurologen, Kinderärzten und Jugendamt zusammenzuarbeiten. Dabei ist es notwendig, nach kooperativen „Mitstreitern“ zu suchen. Durch eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen ist es möglich, die Kinder aus ihrer oftmals kriminellen Anonymität herauszuholen. Sie bekommen dadurch die Chance zu erkennen, dass es viele Menschen gibt, die ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch helfen wollen, wenn sie selbst dazu bereit sind. Andernfalls muss ihnen die Wirksamkeit des Gesetzes klar vor Augen geführt werden. Die Jugendlichen verlangen nach dieser Klarheit und erwarten sie. Ich selbst habe nach über 20 Dienstjahren an bayerischen Grund-, Haupt- und Sonderschulen zum ersten Mal einen 16-jährigen Schüler wegen Beleidigung angezeigt. Unmittelbar nach dieser Anzeige hatte ich mehrere erfolgreiche und konstruktive Gespräche mit diesem Jungen. Seitdem befolgt er meine Anweisungen. In München wurden folgende Daten zu Gewaltdelikten für das erste Halbjahr 1999 vorgelegt254: Delikt Straftaten, allgemein Gewaltkriminalität Gewalt bei Minderjährigen Gewalt bei 18- bis 21-Jährigen Schwere Körperverletzung Jugenddtypische Gewaltdelikte (Gruppen) Vergewaltigung Sexuelle Nötigung Gewalt in der Ehe Straßenkriminalität Drogendelikte 254 Zunahme Abnahme 3,9% 6,9% 7,5% 10,1% 29,9% 15,3 55,3% 74,2% Von 9 auf 26 Fälle 13,6% 46,8% SZ, 186, 1999, S. 34; KOLLER ist Polizeipräsident in München. 136 Zu den jugendtypischen Gewaltdelikten, verübt von mehreren Tätern, zählen unter anderem: Raubüberfall, Sachbeschädigung, Vandalismus und Graffiti. Vor allem bei der Gewaltkriminalität sind Ausländer mit 48,9% (nach KOLLER) „stark überrepräsentiert“. Nach einem vorübergehenden Rückgang der Gewaltkriminalität in den vergangenen Jahren ist nun ein deutlicher Anstieg um 9,4% auf 1729 Fälle zu verzeichnen. Drei Gründe werden dafür von der Polizei genannt: Der „Mehmet“-Effekt sei verpufft (nach der Abschiebung des türkischen Serienstraftäters verübten ausländische Jugendliche bemerkbar weniger Straftaten) die gestiegene Sensibilisierung der Opfer die wachsende Anzahl der Mobiltelefone. Nach Ansicht der Polizei hat sich das Dunkelfeld aufgehellt. Bei der Gewaltkriminalität stieg der Anteil der Kinder um ca. 25%.255 Mobiltelefone entwickeln sich immer mehr wegen ihrer „Statussymbolfunktion“ zu begehrten Raubobjekten. Statistisch gesehen werden in München jeden Tag etwa 290 Straftaten begangen. Die Familie als ein Ort der Gewalt ist nach Ansicht von Kriminologen als Hauptursache dafür anzusehen, dass sich jugendliche Gewalt- und Straftäter so rasch ausbreiten. Das ergab eine Befragung von 9700 Schüler/innen. Für die meisten Kinder ist die Familie „der wirkliche Ort der Gewalt“.256 So wurden 15,9% der in den neunten Klassen befragten Schüler in den Städten Hamburg, Hannover, Leipzig und Stuttgart von ihren Eltern „massivst geprügelt oder misshandelt . . . Die schlimmsten Raten von innerfamiliärer Gewalt sind bei jungen Türken festzustellen. 18,8% wurden im letzten Jahr misshandelt und etwa 31% haben beobachtet, dass ihre Eltern sich prügeln.“ Im Gegensatz dazu liege die Misshandlungsrate bei deutschen Familien bei 5,8%. 255 SZ, 179, 2000, M 53 Äußerungen von Christian Pfeiffer, 24. Deutscher Jugendgerichtstag 256 137 Gewalt gegen Frauen und in den Familien Jede vierte Frau in Deutschland wir mindestens einmal im Leben Opfer physischer oder sexueller Gewalt durch den Partner. In 25 bis 30% aller Partnerschaften werde Gewalt gegen Frauen ausgeübt. Abende, Wochenenden und Feiertage sind die gefährlichsten Zeiten für Frauen.257 BERGMANN vertritt die Ansicht, dass jede dritte Frau in Deutschland zu Hause von Gewalt betroffen ist; jede siebte Frau ist bereits einmal in ihrem Leben ein Opfer sexueller Gewalt geworden.258 In Deutschland werden jährlich 16 000 Fälle von Kindesmissbrauch registriert, wobei die Dunkelziffer von Experten weitaus höher eingeschätzt wird.259 Von 1991 bis 1994 verzeichnete der ASD bei Gewalthandlungen einen Anstieg um 34%, bei grober Vernachlässigung lebenswichtiger Bedürfnisse eine Zunahm von 54% und bei sexuellem Missbrauch um 39%. Im Jahr 1994 waren von diesen Formen der Gewalt insgesamt 2074 Kinder und 932 Erwachsene betroffen.260 Im Jahr 1996 wird darüber berichtet, dass sich die Anzahl der misshandelten Kinder in München verdoppelt hat. So erfuhr der Allgemeine Sozialdienst (ASD) im Jahr 1995 von 2000 Kindern und Jugendlichen, die vernachlässigt oder misshandelt wurden. Die betroffenen Mädchen spielen nach Erfahrungen des ASD häufig eine heile Welt vor, um die Eltern vor den Folgen zu schützen, während die Buben öfter zur Aggressivität tendieren. 334 Kinder und Jugendliche wurden vom ASD in München in Obhut genommen. Es gilt inzwischen als bewiesen, dass Gewalt gegen Kinder gewalttätige Jugendliche und Erwachsene hervorbringt. Im ersten Halbjahr 1996 war bereits mehr als jeder dritte Verdächtige bei einer Gewalttat unter 21 Jahren alt. Damit war innerhalb eines Jahres ein Anstieg von 30 auf 36% zu verzeichnen. 257 MM, 252, 1998, Oberbayern MM, 279, S. 1, Bundesfamilienministerin Christine Bergmann in Berlin 259 Schongauer Nachrichten , 213, 1998, Jugendseite 260 SZ, 162, 1996, S. 33 258 138 Bei den jugenddtypischen Gewaltdelikten wurde ein Anstieg um 44% verzeichnet.261 WIDOM beobachtete 908 misshandelte Kinder über einen Zeitraum von 20 Jahren. Dabei wurde festgestellt, dass die am häufigsten verprügelten Kinder zugleich die gewalttätigsten Jugendlichen wurden. Mangelnde Fürsorge in der frühen Kindheit hatte im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen 50% mehr Gewalttaten zur Folge. Bei körperlicher Misshandlung verdoppelte sich die Zahl. Auch TREMBLAY beobachtete die Entwicklung von 1037 Kindern über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg und bestätigte diese Zusammenhänge. FERRIS leitete folgende Erkenntnisse aus seinen Tierversuchen zur Aggression ab: Im Gehirn der Tiere (Hamster) wurden in den Schaltkreisen für zwei nervenleitende Substanzen – Vasopressin und Serotonin – auffallende Störungen festgestellt. Vasopressin gilt als der Stoff, der bei Hamstern aggressive Impulse erzeugt, Serotonin wird die Fähigkeit zugeschrieben, diese zu unterdrücken. Die geringe Reaktion auf Serotonin scheint nach COCCARO auch typisch für leicht gewalttätige Menschen zu sein. Frühe Misshandlungen hinterlassen nach Meinung der Forscher somit chemische Spuren im Gehirn, die offenbar dafür verantwortlich sind, dass Aggressionen und Gewaltausbrüche in gehäuftem Maße auftreten.262 Bestätigt wird diese These durch psychologische Untersuchungen des wegen 140-fachen Kindesmordes festgenommenen Kolumbianers Garavito Cubillos. Hier wurde festgestellt, dass er in Folge der Misshandlungen in seiner eigenen Kindheit ernstlich geistesgestört ist.263 Die wachsende Gewalt in Familien zeigt sich auch in Deutschland. So wird in jeder dritten Lebensgemeinschaft geprügelt, wobei die Opfer vor allem Frauen und Kinder sind. Als Folgen zeigen sich zusätzlich körperliche und seelische Verletzungen, langfristige Angstzustände und teils panische Angst vor AIDS und unerwünschten Schwangerschaften. Häufige Ursache für diese Gewaltausbrüche 261 Münchner Merkur, 184, 1996, S. 1 Diese Thesen wurden auf der Konferenz der New Yorker Akademie der Wissenschaften im Jahre 1995(?) geäüßert. 263 SZ, 253, 1999, S. 15 262 139 seine die Arbeitslosigkeit, „ungleiche Ressourcenverteilung von Lebenschancen und asymmetrische Machtverhältnisse“ in der Gesellschaft.264 264 MEIER, Familienwissenschaftlerin, Vorsitzende des Pro-FamiliaBundesverbandes, Mai 1997, auf einer Fachtagung in Potsdam 140 Ergebnisse der deutschen Kriminalstatistik 265 Jahr Art der Gewalt Anzahl der beFolgen troffenen Kinder / Frauen Alter Kindesmisshandlungen (geschätzt von der unabhängigen Regierungskommission zur Ver40% der Kinder hinderung und Bekämpjünger als 6 Jahre fung von Gewalt) 1995 Körperliche Gewalt 229 Todesfolge unter 14 1995 Gefährliche und schwe6165 re Körperverletzung 1995 Vorsätzliche Körperver16637 letzung leichterer Art unter 14 1995 Sexueller Missbrauch 5053 Jungen 15 612 Mädchen Das Ausmaß lässt sich auch dadurch erklären, dass jede dritte bis vierte Frau in ihrer Kindheit wenigstens einmal sexuell missbraucht wurde. Zu 95% waren Männer aus der engsten Familie und dem sozialen Nahbereich die Täter. Erläuterungen 1989 20 000 bis 40 000 265 Auch wenn die Aktivitäten nicht ausdrücklich gegen den Willen des Kindes und ohne Anwendung von Gewalt ausgeübt wurden Report Naturheilkunde, 1bis 2, 2000; Triltsch Verlag Düsseldorf; 48 ff.; Quelle: Gesundheitsbericht für Deutschland 1998 141 1993 In 80% aller Familien Körperliche Gewalt Demütigungen, psychische Erniedrigungen, körperliche MisshandFrauen und Kin- lungen, sexuelle Überder griffe mit Missbrauch, Nötigung, Vergewaltigung Jahrelange Störung des Lebensvollzuges Ältere Menschen Gewalt gegen ältere Menschen 1991 340 000 230 000 50 000 90 000 Keine Angabe 75% aller Befragten Zwischen 16 und 59 44% der Jugendlichen 31% der Jugendlichen 10% der Jugendlichen Gewalt durch nahestehende Personen Vernachlässigung oder Medikamentenmissbrauch Ständige Beschimpfungen Diebstahl, Unterschlagung oder erzwungene Eigentumsübertragung Physische Gewaltanwendung durch die Eltern in der Kindheit Gewalterfahrungen werden von den betroffenen Frauen oft als individuelles und selbstverschuldetes Leid gewertet Das Ausmaß ist sehr schwer abzuschätzen Erhebung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen Deftige Ohrfeigen Eine Tracht Prügel Schläge mit Stock oder Gürtel Schläge sind nach bundesdeutscher Rechtsprechung nicht grundsätzlich verboten 142 Zu den Täterprofilen: Die Täterschaft setzt sich vorwiegend aus erwachsenen Männern zusammen. Zu einem Drittel sind Frauen beteiligt. Die Gewalt gegen Kinder ist vorwiegend in Familien mit belastenden sozioökonomischen Lebensumständen zu beobachten. Ein großer Teil der misshandelnden Eltern leiden unter Alkoholismus oder wurden als Kinder selbst misshandelt. Wurden Mädchen selbst früher mit Gewalt konfrontiert, so besteht für sie ein größeres Risiko, als Frau selbst misshandelt zu werden. Eine Untersuchung266 von 50 Gewalttätern über die Zusammenhänge – Psyche der Täter, ihre Beziehung zu den Opfern (frühere weibliche Intimpartner) und das Ausmaß der angewendeten Gewalt – lieferte folgende Erkenntnisse: 20 waren frühere Intimpartner der Opfer 50 einer von fünf Verhafteten war geistesgestört 70% der ehemaligen Liebhaber wurden wegen Mord/ Mordversuchs oder Körperverletzung angeklagt 18 waren Bekannte der Opfer 73% litten unter psychischen Störungen 12 völlig Fremde Ihre Annäherungen führten in 8 Fällen (27%)zu schwerer körperlicher Gewalt Besonders misshandlungsgefährdet sind auch: 266 ehemalige Frühgeborene und untergewichtige Neugeborene behinderte Kinder Kinder mit abweichendem Aussehen. Lancet, Bd. 355, 2000, S. 119 143 SCHULZ untersuchte die psychozozialen Begleitumstände bei 99 jugendlichen Tätern, die schwere Gewalttaten begangen hatten. Jeder zweite jugendliche Gewalttäter wuchs der Studie nach in einer „disharmonischen“ Familie auf. In fast jedem dritten Fall war die elterliche Kontrolle unzureichend. In jeder vierten Familie war mindestens ein Familienmitglied von einer psychischen Störung betroffen. Für nur 17% der Täter waren psychische Belastungen außerhalb der Familie negativ belastend. Kinder, die vor dem zehnten Lebensjahr auffällig werden (durch gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen, besondere Trotzigkeit und Aggressivität), entwickeln oftmals eine antisoziale und gewaltbereite Persönlichkeit und sind außerdem extrem alkohol- und suchtgefährdet.267 Die Zahl der gewaltsamen Todesfälle von Kindern liegt in den USA besonders hoch. So hat sich die Mordrate bei amerikanischen Kindern unter 15 Jahren zwischen 1950 und 1993 verdreifacht. Der Schusswaffengebrauch spielt dabei eine überragende Rolle. Auch die Selbstmordrate stieg in dieser Zeit um das Vierfache. Als Ursachen für diese Entwicklung werden eingeschränkte Sozialprogramme, hohe Scheidungsraten, ökonomische Härtefälle bei gleichzeitiger Akzeptanz von Gewalt angegeben.268 GRATZER bestätigt, dass an Grund- und Hauptschulen bis zu 40% der Unterrichtsenergie der Lehrkräfte durch störende Schüleraktivitäten und Ermahnungen verlorengeht. Verantwortlich sind dafür seiner Meinung nach zerbrochene Familien, beengte Wohnverhältnisse, der erlebte Gegensatz von Überflussgesellschaft und Arbeitslosigkeit oder aber Überforderungen in der Schule.269 Es ist auch eine Tatsache, dass immer mehr Kinder ihre Eltern schlagen. Ursache dafür ist nach Meinung von DUBOIS die soziale Isolation der Erwachsenen und die damit einhergehende enge Bindung an das Kind, parallel zur Arbeitslosigkeit der Eltern. Von Japan ausge267 SCHULZ, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg auf dem 4. bundesweiten Kongress für Jugendmedizin des Kinder- und Jugendärzteverbandes (BVKJD) in Weimar, April 1998 268 Morbidity and Mortalitiy Weekly Report, 1997, Bd. 46, S. 101 in SZ 48, 1997, S. 19 269 GRATZER, Schulleiter und Lehrbeauftragter der Universität Regensburg, 1996, Vortrag in der Hardtschule Weilheim /Obb 144 hend sei dieses Problem Mitte der 80er Jahre auch in Deutschland aufgetreten. Schwere Störungen entstehen oftmals im Säuglingsalter, betont SCHMIDT.270 Erziehung zur Gewaltausübung GROSSMAN271 prägte den Begriff „Killology“. Gemeint ist damit die Wissenschaft der Ausbildungsmethoden bei Armeerekruten zur Überwindung der natürlichen Hemmungen, ihre Artgenossen zu töten und deren Auswirkungen auf die Psyche. Er nennt beunruhigende Beweise dafür, dass die gleichen Taktiken, die zur Ausbildung von Soldaten benutzt werden, auch in unseren Medien und Videospielen zum Tragen kommen. Brutalisierung, Desensibilisierung und klassische Konditionierung werden in den Medien gezielt eingesetzt, um die natürliche Hemmschwelle der Menschen, und vor allem der Kinder systematisch zu zerstören. Konsequenzen für die Lehrkräfte Nach ENZMANN272 belegen die jüngsten Ergebnisse einer groß angelegten Studie (9700 Jugendliche aus ganz Deutschland wurden dabei über ihre Gewalterfahrungen, Lebensstile, Ängste und Perspektiven befragt), dass die Jugendkriminalität in Deutschland weiter zunimmt. Zwischen 1984 und 1997 sei demnach die Zahl der Straftaten Jugendlicher um mehr als 240% gestiegen. „Dabei sind gut 6% der kriminellen Jugendlichen für fast drei Viertel aller Straftaten verantwortlich.“ 270 DUBOIS, Chefarzt der Klinik für Kinder u. Jugendpsychiatrie in Stuttgart; SCHMIDT, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Münchner Merkur, 115, 1997, S. 1 271 GROSSMAN ist Militärpsychologe; die folgenden Informationen sind einem Script mit dem Titel: „Jugend und Gewalt“ entnommen; Herausgeber: Jugend für Christus Deutschland e.V., Postfach 1180, 64355 Mühltal 272 MM, 202, 1999, S. 1; ENZMANN arbeitet am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover. 145 Seit 1990 hat die Kinderkriminalität etwa um ein Drittel bundesweit auf insgesamt 125 000 Delikte zugenommen. Kinder bis 14 Jahre fielen jeweils zu 41% durch Diebstähle und Sachbeschädigung auf, zu 18% durch Körperverletzung. KRÜGER dazu: „Dies zeigt, dass die Kinderkriminalität ganz wesentlich eine Folge von Armut in der Gesellschaft ist.“ Durch massive Einsparungsmaßnahmen werde die Prävention in Form von Unterstützung kinderreicher Familien durch kulturelle Projekte und in Form von Hilfen durch Sozialarbeiter auch an den Schulen verhindert. Die zunehmende Kriminalität an den Schulen sei auch bedingt durch eine zu einseitig ausgerichtete Wissensvermittlung. Eine Verschärfung der Strafen und eine Herabsetzung der Strafmündigkeit bei Jugendlichen biete keine Lösung für diese Problematik.273 Äußerungen zur Androhung oder Anwendung von Gewalt sollten keinesfalls in irgendeiner Art befürwortet oder „überhört“ werden, sondern klar verurteilt und im Wiederholungsfall durch Gespräche mit den Eltern oder entsprechende, individuelle und wohlüberlegte Schulstrafen geahndet werden. Ironische Gegenreaktionen auf Gewalt sind völlig fehl am Platz, da diese von den Kindern häufig missverstanden oder aber wörtlich genommen werden. Auch „Wenndann“-Sätze sollten vermieden werden, denn sie beinhalten meist eine Drohung und führen zur Niederlage des Kindes ebenso wie Beleidigungen und Bloßstellungen. Hierbei werden Lehrer oftmals auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Wenn möglich sollte Wiedergutmachung statt einer Strafe möglich sein. Die Kinder haben auf diese Weise die Möglichkeit, sich zu bessern. Der Weg der kleine Schritte zeigt oft die meisten Erfolge. Aus der Sicht des Lehrers ist es auch pädagogisch sinnvoll, sich zu entschuldigen, wenn von seiner Seite Fehler gemacht wurden, oder aber Strafen zurückzunehmen, wenn sich eine andere Situation nach eingehender Untersuchung darstellt. Alte Vorfälle sollten nicht mit neuen vermischt werden. Eine klare Trennung ist hier immer vonnöten. Das sorgfältige Führen eines Beobachtungsbogens für jeden einzelnen Schüler ist auch zur Sicherheit des Lehrers unverzichtbar. Wenn Gewalt an einer Schule vertuscht wird, um den Ruf der Schule nicht zu schädigen, sind dieser Tür und Tor zur Weiterverbreitung 273 KRÜGER, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, in: Neue Osnabrücker Zeitung, März 1996 146 geöffnet. Der Autor selbst hat erlebt, dass an „seiner“ Schule der Schulleiter von einem Schüler ins Gesicht geschlagen wurde, ohne dass die Polizei eingeschaltet wurde. Nur durch eine konsequente Zusammenarbeit der Schulen untereinander und auch mit der Polizei kann die Situation entschärft werden. Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist inzwischen oft die einzige Möglichkeit, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Zusätzlich müssen besonders junge Kolleginnen und Kollegen dabei in ihrer Arbeit durch ältere Kollegen, Schulleitung und Schulamt unterstützt werden. Das Gespräch mit Eltern ist von großer Wichtigkeit, um herauszufinden, ob etwa Profilneurosen der Eltern auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden und in der Folge Gewalt entsteht. Gewaltmittel in der Schulkleidung sollten unter keinen Umständen geduldet und grundsätzlich eingezogen werden. BALSER/SCHREWE/WEGRICHT/SCHARF fanden bei einer Befragung von Lehrkräften heraus, dass 85% der Lehrkräfte der Meinung waren, dass sie alleine nicht mehr mit ihren Schülern zurecht kommen. Das Auftreten von Gewalt in Schulen sei neben familiären Problemen auch durch die mangelnde Kooperation der einzelnen Beratungsstellen zu erklären. So waren viele Hilfsmaßnahmen aufgrund einer fehlenden Vernetzung zum Scheitern verurteilt. Im sogenannten LAHN-DILL-MODELL greifen verschiedene Instanzen – sowohl schulintern als auch schulübergreifend – ineinander, um „Reparaturarbeiten“ zu ermöglichen, bevor es zu schwerwiegenden Schäden kommt. Dabei kommen eine intensive Lehrerfortbildung, Konfliktlösungsangebote und auch Möglichkeiten zur Steigerung des Selbstwertgefühls im Rahmen der schulischen Möglichkeiten, Elternfortbildungen und auch Studentenpatenschaften zur Anwendung. Schulcafé oder Schul-Fahrradwerkstatt bieten gute Möglichkeiten für gewaltfreie Begegnungen und die Möglichkeit, sich zu helfen und sein Können unter Beweis zu stellen. Das Hauptrezept heißt: durch Bewegung Gewalt vermeiden. Auch die gute Beziehung zur Polizei gehört zum Programm. Besonders deutlich ist die Auffassung der Autoren zu spüren, dass Gewaltprävention nicht unbedingt nur eine 147 Aufgabe des Staates ist. Gewaltprävention ist nur möglich in Zusammenarbeit aller Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten.274 Auch Schüler/innen, die als Streitschlichter ausgebildet wurden, können einen wichtigen Beitrag leisten, schulinterne Streitereien zu bearbeiten. An der Hauptschule in Weiler/Allgäu wird nach folgendem Modell gearbeitet:275 Beide streitenden Parteien schildern den Vorfall aus ihrer Sicht. Die jeweils andere Partei muss diese Version wiederholen – als Zeichen, dass sie zugehört hat. Innerhalb von 30 Sekunden muss dann eine Lösung für das Problem aufgeschrieben werden. Nach einer Einigung wird ein Vertrag aufgesetzt und unterschrieben. Die Einhaltung wird in regelmäßigen Abständen überprüft. Weitere Maßnahmen, die durch Lehrer gefördert werden sollten: In Gesprächen die Eltern darauf hinweisen, wie wichtig das „Nein-Sagen“ in der Erziehung ist Zusammenarbeit mit Kinderhort, Mobilen Sonderpädagogischen Diensten und Schulpsychologen Einheitliche Reaktionen der Lehrer bei der Pausenaufsicht Unmittelbare Reaktionen bei Verstößen Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern, Polizei und Justiz Eine feste Unterrichtsstunde zur Konfliktlösung täglich einplanen. In einer achten Klasse der Führich-Hauptschule in München wurde ein Projekt in Zusammenarbeit von Polizei, Jugendamt und Schule erfolgreich abgeschlossen..276 Hierbei wurden Rollenspiele mit ho274 BALSER, SCHAAF, SCHREWE, WEGRICHT, 1997, Regionale Gewaltprävention, Strategien und Erfahrungen und Schulprogramm Gewaltprävention 275 Allgäuer Zeitung, 27, 2000, S. 12; RIED ist Beamter der Kemptener Polizeiinspektion. 276 SZ, 51, 2000, L 2 148 hem Konfliktpotenzial mit Beteiligung der Erwachsenen durchgeführt, wobei die Schüler in verschiedene Rollen schlüpften (Täter, Opfer Außenstehende). Dabei wurden verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchgespielt, um zu erfahren, wie in der konkreten Situation das Handeln für den Einzelnen richtig sein kann. Auch ein zweitägiger Besuch bei der Bereitschaftspolizei in Dachau war Bestandteil des Projektes. Die Schüler konnten hier wiederum in Rollenspielen etwas vom Leben, Denken und Handeln der Polizisten erfahren. Selbst eine Bürgermeisterin spielte als Ladendiebin mit und wurde von „Schülerpolizisten“ in Handschellen abgeführt. Peer-Mediatoren (Streitschlichter) benötigen eine spezielle Ausbildung und wachsen mit der Ausübung ihrer Tätigkeit. Es geht immer darum, einen von beiden Streitparteien akzeptierten Kompromiss zu erzielen. Fundamentale Kenntnisse in der Gesprächsführung sind ebenso Voraussetzung zur Lösung von Konflikten wie die Fähigkeit zum genauen Zuhören. Auch die Stimmung des Gegenübers und seine Körpersprache müssen verstanden oder intuitiv erfasst werden. Peer-Mediatoren vermitteln den Jugendlichen vor allem das Gefühl und die Erfahrung, dass sie selbst in der Lage sind, verantwortlich mit Problemen umzugehen. Bei ausländischen Jugendlichen ist zu beachten, dass in der alten Heimat oftmals das Dorf die soziale Kontrollfunktion übernommen hatte und sehr autoritäre Erziehungsstile vorherrschten. Eine relativ kleine Gruppe von „Intensivtätern“ aus sehr desolaten Familienverhältnissen ist nach Ansicht von RIED das Hauptproblem. Der Anteil tatverdächtiger Jugendlicher hat sich nach einer Statistik der Poizeidirektion Kempten von 1991 bis 1998 verfünffacht. Inwieweit das selektive Schulwesen in Deutschland zur steigenden Gewaltbereitschaft beiträgt, ist noch nicht endgültig geklärt. JUUL dazu: „Sonderpädagogik ist unethisch.“277 Er fordert eine intensive Supervision für Lehrer und vertritt zugleich die Auffassung, dass Spezialisten als Forscher zwar wichtig seien, sich aber als Praktiker hilflos erwiesen. „Die Überweisung von Menschen mit Problemen an Spezialisten ist Zeit- und Geldverschwendung.“278 Gelingt es den 277 JUUL, 1992, Ein Apfel für den Lehrer und 1997, Das kompetente Kind 278 JUUL in SZ, 222, 1998, VI 149 Lehrer/innen ihre starren Rollenmuster zu überwinden, dann erübrigt sich in vielen Fällen die Sonderbehandlung von Schulkindern. Eine Lösung vieler Probleme sei nur durch eine respektvolle, authentische und persönliche Kommunikation möglich. Eine Demokratie kann es nicht dort geben, wo Abhängigkeitsstrukturen vorliegen, also auch nicht innerhalb der Familie – und nicht in der Schule. Es gibt für ihn somit keine Gleichheit, wohl aber eine gleiche Würde. Seine Einrichtung demonstriert diese Haltung konkret. Die Mitarbeiter können ihn als Direktor jederzeit loswerden, wenn sie sich einig sind. Die Gewaltbereitschaft ausländischer Jungen wird von TOPRAK durch folgende Erkenntnisse besser verständlich: Viele dieser Jugendlichen: 279 können den Zwiespalt zwischen Herkunft/Familie und Außenwelt nicht ausbalancieren. Dadurch entstehen psychische Probleme. Sie haben diskriminierende Erfahrungen bei der Jobsuche oder auch bei der Ausländerbehörde gemacht. Ausländische Jungen werden oftmals anders erzogen und sozialisiert als die Mädchen; in der Familie sollen sie stark sein, nicht nachgeben, Stärke zeigen. Die Mädchen sollen nachgiebig, gehorsam, schweigsam und ehrenhaft, also jungfräulich sein. Die extrem männlich geprägte Identität ist bei ausländischen Jungen stärker ausgeprägt als bei deutschen Jungen. Ausländische Jungen wollen zwar gerne mit deutschen Mädchen befreundet sein, es kommt jedoch selten zur Heirat, weil die deutschen Mädchen durch wechselnde Freundschaften gleichsam als unehrenhaft angesehen werden. 90% der gewaltbereiten ausländischen Jungen, die bei TOPRAK in München Anti-Aggressionskurse besuchen, haben weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung; bei der reichlich vorhandenen Freizeit sind Kontakte zu Drogenkreisen oder in der kriminellen Szene wahrscheinlich.279 SZ, 241, 1999, L 3; TOPRAK leitet Anti-Aggressionskurse für türkische Jungen in München. 150 In den Kursen sind ausschließlich Jugendliche, die bereits einschlägige Erfahrungen mit der Justiz gemacht haben. Alle sind auf richterliche Anordnung da (§10/JGG). Das Konzept richtet sich nach den Grundsätzen von WEIDNER und den Erfahrungen an der „GlenMills-Schools“ für gewalttätige Gang-Jugendliche in den USA.280 Ein Konzept gegen die Gewalt:281 Das Ziel der angebotenen Anti-Agressionskurse: Die Sinnlosigkeit und die Manipulierbarkeit „übereilter“ Kämpfe soll begreiflich gemacht werden Inszenierung von provozierenden Situationen durch sog. „Provokationstests“ Vermittlung der Grenzen von Selbstkontrolle, Erregbarkeit und Aggressivität durch unangekündigte Provokationen während der Gruppensitzungen Ständige Wiederholungen der Provokationen, bis die Teilnehmer in der Lage sind, in angespannten Situationen mit Humor, Abwiegeln oder Ironisieren zu reagieren und diese so zu entschärfen. Beispiele: Wenn jemand ein Käppi aufhat, wird es abgenommen und in die Ecke geschmissen. Wenn die Jungs sich weigern, irgendeines der vielen Rollenspiele mitzumachen, werden sie „Memme“ genannt. Auch Äußerungen wie: „Du bist ja kein richtiger Mann, du hast ja Angst!“ oder „Ihr seid ja lauter Hosenscheißer“ gehören zum Repertoire. Die Jugendlichen werden erst einmal „heruntergeholt“ und dann wieder aufgebaut. Die zu Beginn starken Provokationen durch den Kursleiter lassen allmählich nach, um zunehmend mehr eine normale Kommunikation anzubahnen. 280 SZ, 151, 1999, L 3; WEIDNER ist Professor für Kriminologie in Hamburg. 281 SZ, 151, 1999, L 3 151 Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen in Ostdeutschland PFEIFFER sieht als wichtigste Ursache dafür und auch für die Fremdenfeindlichkeit das Erziehungssystem der ehemaligen DDR mit dem „Unterdrücken von Individualität, dem im Gleichschritt denken und im Gleichschritt marschieren.“282. Im Osten besteht eine 25mal höhere Wahrscheinlichkeit, dass Ausländer auf der Straße angefallen werden. Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivenmangel bieten alleine keine ausreichenden Erklärungen für dieses Phänomen. Eine Schülerbefragung in Stuttgart und Leipzig brachte die Erkenntnis, dass in Stuttgart 20% der jugendlichen Gewalttäter – im Gegensatz zu 50% in Leipzig – ihre Taten in Gruppen verübt haben. Gewalt an Schulen BÖTTGER/TILLMANN283 kommen 1996 unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass Gewalthandlungen nicht in dem Ausmaß vorkommen, wie sie oftmals dramatisiert in den Medien dargestellt werden. Immerhin werden 28% der an einer Studie beteiligten Schüler mehrmals im Monat Zeugen einer ernsthaften Prügelei. Ca. 80% von befragten Lehrkräften äußerten die subjektive Meinung, dass zwischen 1989 und 1993 die körperliche Gewalt angestiegen sei. Das Klima an vielen Schulen wird als zunehmend aggressiver beschrieben. In der1995 veröffentlichten Bochumer Studie „Gewalt in der Schule“ sahen knapp 60% der Eltern die Ursachen dafür in der „unzureichenden pädagogischen Lehrerausbildung“. Anfangs der 90er Jahre wurde noch der Autoritätsverzicht der 68er Generation für dieses Problem verantwortlich gemacht. FUNK (Soziologe an der Universität Erlangen-Nürnberg) weist auf den Erziehungsstil der Eltern als wesentliche Ursache für die Gewaltbereitschaft der Kinder hin. Autoritäres und aggressives Verhalten erzeuge diese wiederum zwangsläufig. Wissenschaftler der Universität Greifswald kommen aufgrund einer Studie zu dem Ergebnis, 282 SZ, 56, 1999, S. 2; PFEIFFER ist Direktor des Kriminologischen Institus in Hannover. 283 SZ, 118, 1996, Beilage Aus- und Weiterbildung 152 dass hart strafende Eltern die Kinder aggressiv mache.284 Die Eltern der 33 als aggressiv eingestuften Jugendlichen hätten härter auch für kleine Sünden gestraft sich emotional ablehnender verhalten als die Eltern nicht aggressiver Heranwachsender. Der Anteil der körperlich misshandelten Kinder war in der aggressiven Gruppe doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe mit nicht aggressiven Jugendlichen. Knapp 80% der aggressiven Teenager stammten aus Trennungsfamilien. In der Kontrollgruppe waren es nur 40% der Jugendlichen. Erst nach dem Mord an einer Lehrerin in Meißen während des Unterrichts häufen sich die Berichte über Gewalt an Schulen. Die Angst, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu treten, nimmt ab. SCHILLINGER285 weist darauf hin, dass keine Statistik darüber geführt wird, wie oft Lehrer bedroht oder geschlagen werden. So wurden im Dezember 1999 der Polizei drei Fälle alleine in München mitgeteilt. Fälle von Gewalt gegen Lehrer/innen waren der Öffentlichkeit meist nur aus der Presse oder aus Amerika bekannt. Lehrer sollten sich immer dann, wenn ein Schüler handgreiflich geworden ist, an die Polizei wenden, da die Schule kaum Sanktionsmöglichkeiten besitzt. „Sie kann Einzelgespräche führen oder ein Schulverbot für ein, zwei Wochen verhängen. Das ist in den Augen der Betroffenen ja nicht die ganz große Strafe. Schlimmstenfalls wird der Jugendliche zur nächsten Schule weitergeschoben . . . Wenn die Polizei kommt, dann macht das in der Regel schon Eindruck auf Jugendliche. Vor allem, wenn wir schnell hinzugezogen werden und nicht erst ein halbes Jahr später zufällig darauf stoßen, dass da etwas vorgefallen ist. Meine Erfahrung ist, dass die Strafverfolgung auch präventiven Charakter hat . . . Es wäre schon hilfreich, wenn zunächst einmal die Waffengesetze verschärft würden . . . Und Messer sind erst ab einer Klin284 in Psychologie Heute, Weinheim; SZ, 135, 2000, S. 16 SZ, 15, 2000, L 1; SCHILLINGER ist Experte für Jugendgewalt und stellvertretender Leiter des Komissariats für jugendtypische Gewaltdelikte in München. 285 153 genlänge von 8,5 Zentimeter verboten. Die Industrie hat sich darauf eingestellt. Sie produziert eben Klingen, die 8,4 Zentimeter lang sind.“ Das vielschichtige Phänomen der Gewalt an Schulen überfordert Einzelne. Nur durch eine Vernetzung von Stadtviertel und Schule und eine entsprechende Schulsozialarbeit (Organisation von Mediatorenkursen) zusammen mit den Jugendbeamten der Polizeiinspektionen kann der Gewalt wirkungsvoll begegnet werden. Im Jahr 1999 wurden in München knapp 900 Straftaten an Schulen registriert. Es waren damit 80 Fälle mehr als im Vorjahr. So wurden 161 Roheitsdelikte gemeldet. Gestiegen ist die Anzahl der Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Raub-, Drogen- und Sexualdelikte bewegen sich laut Statistik auf niedrigerem Niveau, seit Jahren immer im gleichen Rahmen. Eine starke Zunahme sei vor allem im Bereich des „sozialen Mobbings“ zu verzeichnen.286 Besonders Mädchen drangsalieren nach Aussagen von Polizeibeamten und Lehrkräften an Münchens Schulen ihre Mitschüler. Die Mädchen prügeln weniger, dafür tragen sie Psychokämpfe aus, unter denen vor allem die jüngsten Schüler leiden. Fachleute betonten, dass die psychische und verbale Gewalt besonders die seelische Entwicklung der Schulanfänger bedrohe.287 Das aufrichtige Interesse und die aufrichtige Anteilnahme der Erwachsenen sind die wichtigsten Bedingungen zur Lösung vieler Gewaltprobleme und vieler Verhaltensstörungen. Diese Haltung erinnert auch die Axiome von TZI. Gerade in der Schule, speziell in Förderschulen ist es außerordentlich wichtig, die Potenziale der Gruppe zur Gewaltprävention zu nutzen. Die Humanistische Psychologie sollte bereits in der Lehrerbildung wesentlich stärker berücksichtigt werden. Das Setzen von klaren Grenzen ist eine weitere Bedingung zur Verhinderung von Gewalt. Doch hier muss sich das Kollegium einig sein, da sonst schnell eine Aufspaltung in die bösen und die guten Lehrer erfolgt. Vor allem erfahrenere Lehrer haben hier die Pflicht, jüngere Kollegen klar zu unterstützen! Es muss auch sehr jungen 286 287 SZ, 132, 2000, L 2 MM, 132, 2000, S. 1 154 Schüler/innen sehr deutlich klar gemacht werden, dass für Gewalt kein Platz in der Schule ist. Kraftlosen, unerfahrenen, desinteressierten, entmutigten und ausgebrannten Lehrkräften fällt dies sehr schwer. Hilfsmaßnahmen nach LEUBEN288: Familienstress möglichst früh erkennen. Gespräche und entlastende Hilfen anbieten (Vermittlung einer Familienhelferin, Vermittlung kostenloser Beratungsgespräche bei z. B. kirchlichen Beratungsstellen oder dem Jugendamt). Die Gesprächsangebote einfühlsam vorbringen, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit dem Signal, dass man die Probleme der Familie versteht. Aufgedrängte Angebote führen zu einer Erhöhung des sozialen Stresses. Zwangsweises Eingreifen, zum Beispiel durch das Jugendamt, wenn die Angebote nicht angenommen werden und dennoch massive Störungen auffallen. Wirksame Hilfe ist nur dann möglich, wenn Kindergärten, Schulen, Jugendämter, Beratungsstellen, Ärzte Polizei und Justiz künftig eng zusammenarbeiten; dabei müssen die ver schiedenen Helfer ihre Unsicherheit und ihre Vorurteile im Umgang miteinander überwinden lernen. Hilfe statt Strafe im Jugendstrafrecht. Forderung nach einem gesetzlich verankerten Recht der Kinder auf eine Erziehung ohne psychische und physische Gewalt. Information der Hauptmasse der Eltern, die meinen, gelegentliche Schläge seien nützlich. Konflikte im Gespräch lösen – nicht mit Gewalt. Alle oben angeführten Maßnahmen sind nach LEUBEN als langfristiges Projekt anzusehen; die Umsetzung wird ein bis zwei Generationen dauern. 288 SZ, 72, 2000, L 8; LEUBEN ist Familientherapeut und Vorsitzender des bayerischen Kinderschutzbundes. 155 Filmpädagogik Das Konzept beruht darauf, den Schülern Filme zu zeigen, die Gewalt thematisieren, um die Jugendlichen davon abzuhalten, selbst Gewalt auszuüben. Der Vorteil dieser Pädagogik ermöglicht es den Jugendlichen, über eigene Probleme zu sprechen, ohne gleich von sich selbst reden zu müssen. Im Anschluss an einen gezeigten Film wird eine Analyse durchgeführt. Durch eine Diskussion wird gemeinsam nach Lösungs- und Präventionsmöglichkeiten gesucht. Durch eine Zusammenarbeit mit den Jugendsachbearbeitern der Polizei und die anschließende Nachbearbeitung im Unterricht sollen die Erkenntnisse vertieft werden. Filme wie „Das Baumhaus“ (über 12 Jahre), „Der Taschendieb“ (7 bis 11), „Trainspotting“ (ab 16) ermöglichen sicherlich eine interessante Art des Unterrichts. Kinobesitzer zeigen sich in der Regel gerne bereit, Sondervorstellungen mit Preisermäßigung anzubieten. Resümee: Gewalt ist inzwischen ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Eine gewaltfreie Schule und eine gewaltfreie Gesellschaft werden immer illusionär sein. Nur durch das Miteinander- und Voneinander-Lernen – welches niemals langweilig sein wird, wenn es Konflikte aufgreift und als Lernstoff versteht, kann die Gewalt an Schulen reduziert werden. Traditioneller Lernstoff muss immer mehr in den Hintergrund treten, da das Wissen sich immer schneller ändert. Es sollte miteinander gelernt werden, sich Informationen zu beschaffen und diese gemeinsam zu nutzen. Wenn die Schule nicht stellvertretend für das Elternhaus diese Aufgabe übernimmt, wird die Gewalt zunehmen. Der Lehrer übernimmt dabei eine neue Rolle. Er wird zum Moderator, muss aber gleichzeitig auch bereit sein, mit harten disziplinarischen Maßnahmen die Schwächeren zu schützen. „Üben“ muss wieder geübt, „Lernen“ wieder gelernt werden. Schulverbot und Entfernung aus der Schule kann eines von vielen Mitteln sein, die helfen können, einen möglichst störungsfreien Unterricht zu gewährleisten. Das „Schulmilieu“ muss gesund sein. Aktive Auseinandersetzung mit Gewalttätern ist eine Möglichkeit des sozialen Lernens; eine andere ist diejenige, zu zeigen, dass wir in einem Rechtstaat leben, der sich auch mit Gewalt (Macht) zur Wehr setzen kann, wenn Menschen geschlagen, erniedrigt und bedroht werden, einem Rechtstaat, der auch bereit ist, die Schwachen zu 156 schützen und zu fördern, wenn pädagogische Konzepte und Bemühungen wiederholt gescheitert sind. (M)Eine Vision Auch ein neues gesellschaftliches Leitbild von Erziehung mit der Ausrichtung auf Förderung, Fürsorge und Respekt ist dringend erforderlich. Dies kann nur durch couragierte und gut ausgebildete Lehrer verwirklicht werden. Bereits deren Ausbildung müsste „vernetzt“ erfolgen (Praktika bei Polizei, Juristen, Ärzten, in Gefängnissen und bei Psychologen und Jugendämtern). Nur wenn wir die Menschen kennen, die in den verschiedenen Institutionen leben und arbeiten, können wir die Gesellschaft besser verstehen lernen und aus unserer eigenen Welt heraustreten. Das Wissen, das wir vermitteln müssen, wird weniger; Lerntechniken müssen intensiver vermittelt werden, die Stätten des ruhigen Arbeitens vermehrt angeboten werden und eine Zusammenarbeit der Schulen untereinander sollte gefördert werden (Gymnasiasten, Realschüler oder Hauptschüler zeigen zum Beispiel an einigen Tagen im Jahr ihre Projekte den Förderschülern, lassen sie Fragen stellen und an ihrem Wissen teilhaben). „Störenfriede“ sollten keine Chance erhalten, Lernwillige vom Lernen abzuhalten. Beide Gruppen müssen ihren Begabungen gemäß gefördert werden. Warum sollte es nicht möglich sein, dass besonders künstlerisch oder sportlich begabte, hyperaktive Kinder von Förderschulen in Gymnasien zumindest zeitweise im Fachunterricht ganztägig „mitlaufen“ und sich so weiterentwickeln? Die schwierigen einzelnen Kinder könnten in entsprechenden leistungswilligen „normalen“ Gruppen möglicherweise eine „Gleichrichtung“ erfahren. 157 158 Die kranke Armutsgesellschaft Der Maßstab für die Armut wird von der EG-Kommission wie folgt definiert: Als arm gilt, wer über weniger als 50% des durchschnittlichen nationalen Nettoeinkommens pro Kopf der Bevölkerung verfügt. Dabei beträgt der Schwellenwert für Mehrpersonenhaushalte 669 Mark pro Kopf, während bei Alleinstehenden ein Nettoeinkommen unterhalb von 1117 Mark mit Armut gleichgesetzt wird. Offiziell wird zwischen absoluter und objektiver (nur bei akutem Nahrungsmangel und nicht vorhandener Behausung) und relativer Armut (deutlich schlechter gestellt sein als der Durchschnitt der Altersgenossen) unterschieden. Arme Kinder in Deutschland (2000) Von 100 Kindern aus armen Familien können Ausflüge nicht bezahlen leben in beengten Verhältnissen kommen hungrig in die Einrichtung sind ungepflegt, vernachlässigt sind häufig krank haben eine chronische Erkrankung sind in der körperlichen Entwicklung zurück haben nicht die notwendige Kleidung 44 27 16 15 15 11 10 4 Im Jahr 1980 gehörten noch etwa 81 000 Kinder unter sieben Jahren einem Sozialhilfe-Haushalt an.289 289 SZ, 84, 2001, S. 11 159 1,07 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren erhielten Ende 1997 Sozialhilfe. 220 000 dieser Kinder waren jünger als drei Jahre, 259 000 zwischen drei und sechs Jahren alt.290 Im Jahr1999 lebten allein in westdeutschen Ländern fast 382 000 Kinder in Haushalten die Sozialhilfe empfingen. In ganz Deutschland stieg die Zahl inzwischen auf mehr als eine Million betroffener Kinder. Gerade die relative Armut kann zu deutlich schwerwiegenden Problemen in der Entwicklung führen. Nach einer neuen Studie des ISS aus dem vierten Quartal 2000291 ist mehr als jedes dritte relativ arme Kind in mehreren lebenswichtigen Bereichen, z. B. in der materiellen Versorgung dem Gesundheitszustand der kognitiven Entwicklung den sozialen Fähigkeiten stark eingeschränkt. Bei den materiell besser gestellten Altersgenossen waren entsprechende Lebensbereiche nur bei jedem siebten Kind eingeschränkt. Vor allem bei der Beurteilung der Schulreife im Alter von sechs Jahren wurden große Differenzen deutlich. In Bayern gelten ca. 300 000 Kinder als arm. Besonders betroffen sind vor allem Kinder, deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Damit verbunden sind oftmals eingeschränkte Entwicklungschancen, Resignation, schlechte Gesundheitsvorsorge und eine Zunahme der Verarmung. Alleine in München wurden im „Münchner Armutsbericht 95“ die Zahl von 15 000 Kindern genannt, welche in Armut leben müssen. Viele ältere Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, wurden dabei nicht mit berücksichtigt. Zwischen 1986 und 1995 stieg die Zahl der in Armut lebenden Münchner von 83 500 auf 145 700 an. Damit hat sich die Zahl der Armen pro 1000 Einwohner um knapp 71% von 65 auf jetzt 111 erhöht. Im vorigen Jahrzehnt waren oftmals unzureichende Versorgungsansprüche und Krankheit Ursache für die Armut, jetzt steht die Arbeitslosigkeit an erster Stelle. 290 MM, 180, 1999, S. 1; Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage 291 Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt 160 Die Entwicklung der Situation bei Kindern ist besonders alarmierend: Im Jahr 1985 waren 56 von 1000 Kindern auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, während die Zahlen für das Jahr 1995 diesen Zustand bei 98 von 1000 Kindern angeben. Ausländische Arbeitnehmer (64 von 1000) sind häufiger von Armut betroffen als deutsche (48 von 1000). Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass ausländische Arbeitnehmer ein um 26% niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als Deutsche haben. Auch die hohe Mieterbelastung in München spiele eine große Rolle bei der Zunahme der Armut.292 Dass der Gesundheitszustand bei Schülern offenbar in Zusammenhang mit dem Typ der besuchten Schule steht, bestätigt eine Studie des Heildelberger Krebsforschungszentrums. Befragt wurden 3828 Kinder in 128 Klassen von 73 verschiedenen Schulen. 5,04% der männlichen und 4,42% der weiblichen befragten Hauptschüler/innen fühlten sich nicht gesund. Bei den Gymnasiasten waren es vergleichsweise 1,9% der Buben und 2,03% der Mädchen. Unter Müdigkeit litt jeder sechste Jugendliche. Die am häufigsten aufgetretenen Beschwerden innerhalb der letzten vier Wochen waren Husten oder Heiserkeit bei 12% der weiblichen und 10% der männlichen Hauptschüler/innen. Bei den Gymnasiasten lauten die Vergleichszahlen 6% bei den Mädchen und 9% bei den Jungen. Des Weiteren klagten Hauptschüler doppelt so oft wie Gymnasiasten über Bauchschmerzen.293 Nach Angaben von Medizinern raucht inzwischen jeder vierte Jugendliche im Alter von 15 Jahren, wobei hier die Haupt- und Förderschüler sicher einen Spitzenplatz einnehmen. In einer 9. Jahrgangsstufe unterrichtete ich 16 Schüler/innen. Davon waren zehn regelmäßige Raucherinnen, das bedeutet 62,5%. Auch in den Klassenstufen 3/4/5 ist das Rauchen keine Seltenheit. So rauchen in meiner jetzigen Klasse fünf von acht Schülern regelmäßig. Im ersten Schulhalbjahr 2001/2002 wurden 100 Fehltage von Schülern allein in meiner Jahrgangsstufe 7/8 (15 Schüler/innen) festgestellt. 292 293 GRAFFE, Münchner Sozialreferent, in SZ, 276, 1996, S. 45 Münchner Merkur, 227, 1998, S. 4, Medizin-Forschung 161 Untersuchungen des GSF-Forschungsinstitutes für Umwelt und Gesundheit zeigen auf, dass bereits in der ersten Klasse 10,4% der befragten Schüler/innen angaben, bereits einmal geraucht zu haben.294 In Deutschland leiden zudem etwa 266 000 Kinder unter 16 Jahren an Epilepsie. SANS vermutet, dass in Deutschland auf vier Sozialhilfeempfänger drei „verdeckte Arme“ kommen, welche ihren Anspruch auf Sozialhilfe gar nicht erst geltend machen.295 WIEGEMANN stellt in einer Fersehreportage des ZDF fest: „Armut hat inzwischen einen intimeren Charakter als Sexualität. Die meisten schämen sich, kein Geld zu haben, und das in einem reichen Land.“296 Durch die soziale Not steigen auch gleichzeitig die ernährungsbedingten Krankheiten wie Allergien, Mangel- und Infektionskrankheiten an, die besonders in sozial schwachen Regionen gehäuft auftreten. Neueste Untersuchungen in Hannover bestätigen, dass Kinder aus ärmlichen Verhältnissen überproportional an gesundheitlichen Defiziten leiden. Dem Datenreport aus dem Jahre 1997 ist zu entnehmen, dass im Jahre 1990 in Westdeutschland 3,9% der Bevölkerung in strenger Armut lebten. Bis zum Jahr 1995 stieg der Prozentsatz auf 6,1%. In den neuen Ländern stieg der Anteil der Bevölkerung, der nur über 40% eines durchschnittlichen Einkommens verfügt, zwischen 1990 und 1995 von 0,8 auf 3,1%. Im Jahre 1965 musste jedes 25. Kind von Sozialhilfe leben, heute ist es jedes zwölfte.297 Verarmte Kinder schämen sich für ihre Eltern und ihre eigene schäbige Kleidung. Durch den Geldmangel entsteht häufig Streit in den Familien, was für die Kinder wiederum vermehrten Stress bedeute. 294 Münchner Merkur, 233, 1998, 4, Medizin-Forschung, Spektrum SANS, Sozilarechtler und Experte im Sozialhilferecht beim Deutschen Caritasverband (DCV) in SZ, 8, 1997, S. 10 296 ZDF, 24. Mai, 1997: Macht Armut krank? Immer mehr Kinder armer Familien leiden an Krankheiten. 297 HILGERS, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes am 23.5.1997 in Hannover vor dem Beginn der „Kinderschutztage“ zitiert in Münchner Merkur, 117, 1997, S. 1 295 162 HILGERS: „Die Eltern haben so viele eigene Sorgen und sind so demoralisiert, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht mehr wahrnehmen und befriedigen können.“ Auch ECKARDT beschäftigt sich mit dem Thema Armut in Deutschland. Er weist darauf hin, dass es der deutschen Gesellschaft immer noch recht gut gelingt, Armut und Armsein in Deutschland gut zu verstecken.298 WILKEN zum Thema Armut und Gesundheit: „Je ärmer die Kinder sind, desto schlechter ist ihr Gesundheitszustand.“299 HURRLEMANN kommt bei seinen Untersuchungen zu folgendem Ergebnis: Während sich in der oberen Schicht 47% der Kinder als „rundherum gesund“ einschätzen, sind es in der untersten Schicht nur 21%. Die letztgenannten Kinder klagen zu 22% über „häufige Kopfschmerzen“ im Vergleich zu den bessergestellten Kindern (9%). Eine Mangelernährung bei Kindern bis zu zehn Jahren wirke sich „unglaublich auf Wachstum und Entwicklung der Kinder“ aus. 300 Neuere Untersuchungen bestätigen die Wichtigkeit eines Frühstücks im Hinblick auf gute schulische Leistungen und die emotionale Stabilität bei Kindern. Neben besseren Schulleistungen in Mathematik wurden auch eine geringere Depressivität, Ängstlichkeit und Hyperaktivität festgestellt, im Vergleich zu Kindern, die morgens nicht gefrühstückt hatten.301 Dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer mehr wächst, wird auch durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt. So verfügten die reichsten 6% der westdeutschen Haushalte über fast ein Drittel des Geldvermögens.302 298 ECKARDT, 1996, Arm in Deutschland. Eine sozialpolitische Bestandsaufnahme 299 WILKEN, Bundes-Geschäftsführer des Kinderschutzbundes, 1997 300 HURRLEMANN, Soziologe aus Bielefeld in SZ, 254, 1997, S. 16 301 MURPHY in Archives of Pediatric and Adolescent Medicine, 1998, Bd. 152, S. 899, in SZ, 235, 1998, V2 /9, UWT 302 in SZ, 255, 1997, S. 2 163 Die UNICEF weist mit Recht darauf hin, dass auch in Europa für die Kinder neue Gefahren auftauchen: Umweltverschmutzung, Aids, Armut, Drogen und Gewalt. Etwa 6000 Kinder werden gegenwärtig als vermisst gemeldet. Nach einem anderen Bericht gelten in Deutschland 2,2 Millionen Kinder als arm. In unserem Staat leben inzwischen 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger, wobei jeder dritte jünger als 18 Jahre ist. Eine Studie des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums gibt zu bedenken, dass es inzwischen etwa 25 Millionen Menschen in Deutschland gibt, die unter dem Strich am Ende des Monats zu wenig Geld zum Leben haben – meist Familien mit Kindern.303 42% der Familien mit drei oder mehr Kindern sind in Ostdeutschland auf Sozialhilfe angewiesen. Auf dem Berliner Kongress „Medizin und Armut“ wurde betont, dass arme Menschen zwei- bis dreimal häufiger krank werden als alle übrigen Bürger. Neben der ungesunden Ernährung wird über folgende Begleiterscheinungen berichtet: Bettnässen, Stottern, Schlafstörungen, Asthma, Bronchitis, Traurigkeit, Aggressivität, Gewaltbereitschaft. Kinder, die in sehr beengten Wohnverhältnissen leben müssen, sind auf vielfältige Weise benachteiligt. Vor allem albanische und türkische Familien leben oft bis zu acht in zwei Zimmern. Diese Kinder haben weder einen ruhigen Platz, an dem sie ihre schulischen Arbeiten verrichten können, noch genügend Gelegenheit, so mit Gleichaltrigen zu spielen, dass ihre Entwicklung kindgerecht verlaufen kann. Zudem lernen sie aufgrund der finanziellen Situation nicht, mit Geld umzugehen. Die meisten der Kinder müssen tagtäglich schauen, wie sie durch Tricks, schnelles Zugreifen und durch Mogeleien zu ihrem Vorteil und Recht kommen. In einer anderen Reportage wird von 3 Millionen Kindern in Deutschland gesprochen, welche in Armut leben.304 Es ist keine Seltenheit, dass Familien mit vier Kindern nur 1200 DM monatlich zum Leben übrig haben. Die Armut bringt viele demütigende Begleitumstände mit sich, die als dauerhafte Kränkungen bezeichnet werden können. Diese dauerhaften Kränkungen wiederum führen zu Krankheit. 303 in SZ, 297, 1997, VI, Gesellschaft: Arme Kinder sind vernachlässigte Kinder 304 in SZ, 233, 1998, VI, Armut lässt sich nicht einfach wegstecken 164 Dazu WANNICKE: „Schämen, das hat was mit Kränkungen zu tun, ein gesunder Körper kann eine Kränkung besser wegstecken. Wenn man eine Fünf schreibt, mal kein Taschengeld bekommt, das geht in Ordnung. Aber die demütigenden Seiten der Armut stellen oft eine dauerhafte Kränkung dar. Und zu viele Kränkungen führen zu Krankheit. Es gilt dann herauszufinden, wo die Schwachstelle des Kindes ist. Manche werden zu dick. Wenn schon kein Selbstwertgefühl, dann wenigstens Eigengewicht. Manche werden fahrig, andere gewalttätig, um ihren Kränkungen etwas entgegenzusetzen." 305 Im Schulalltag zeigt sich die Armut auf vielfältige Weise: Ein ungepflegtes Äußeres, die Schulsachen sind oft das ganze Jahr hindurch nicht vollständig, für ein Pausenbrot reicht das Geld nicht mehr. An Schullandheimaufenthalte, die oftmals bis zu 300 DM kosten, ist nicht zu denken. Der Verfasser musste schon Beträgen, die vom Jugendamt an die Bedürftigen bereits überwiesen waren, über ein Jahr lang „nachrennen“, da falsche Angaben gemacht wurden. Die ständige Scham führt auch zu einer Verunsicherung der Kinder, verbunden mit zunehmendem Zweifel am eigenen Zuhause. Abwehrhaltungen, Aggressionen, charakterliche Labilität und damit erhöhte Anfälligkeit für kriminelle Handlungen einerseits, als auch Selbstzweifel andererseits resultieren aus der Armutssituation. Die oftmals depressive Struktur im Elternhaus überträgt sich auf die Kinder. Apathie macht sich breit, die Wertschätzung gegenüber den Dingen und Menschen nimmt ab. Sündenböcke werden gesucht und gefunden. Eltern entwickeln in vielen Fällen auf Dauer ein schlechtes Gewissen, da Versprechungen – vielleicht unter Alkoholeinfluss gegeben – nicht eingehalten werden. Wagen es die Kinder, auf Versprechungen aufmerksam zu machen, werden Schläge oder böse Worte ausgeteilt. Verhaltensstörungen sind die Folge bei vielen von ihnen. Nach WIBUSCH zeigen sich Entwicklungsstörungen in aller Deutlichkeit: Ängste, Schulprobleme, Bettnässen, Konzentrationsschwächen, Bauch- und Kopfschmerzen. Er spricht von 5 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik. 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche sind direkt betroffen. Jugendliche unter 18 Jahren sind mit einem Anteil von 37,5% vertreten. 305 WANNICKE ist Gesundheitspädagoge in Berlin. 165 1,7 Millionen Kinder leben in Haushalten, die unter der Arbeitslosigkeit leiden. „Und das führt zu einem nachweislich hohen Anstieg der Kinderkriminalität. Die Zukunftsängste werden größer, auch der Hang, sich durch Drogen oder Alkohol zu betäuben. Eines der reichsten Länder zeigt sich besonders armselig, wenn es diese Entwicklung zulässt.“306 „Gute Eltern“ werden in solchen Situationen selten. In Deutschland leben schätzungsweise 5000 bis 20 000 Kinder auf der Straße und überleben nur durch Betteln, Drogenhandel, Prostitution oder Hehlerei. Diese Situation betrifft nicht mehr allein die Großstädte. GÜTHOFF geht davon aus, dass in unserem Land ca. 7000 Mädchen und Buben im Alter zwischen 15 und 17 Jahren auf der Straße leben.307 Weitere 50 000 Jugendliche sind ebenfalls der Gefahr ausgesetzt, ihr Leben auf der Straße verbringen zu müssen. Dieses Ergebnis beruht auf Umfragen, die hochgerechnet wurden. In Berlin, Frankfurt/Main, Dresden und im Ruhrgebiet gebe es inzwischen feste Straßenkinder-Szenen. Schulversäumnisse – wenn die Schule überhaupt besucht wird – resultieren aus dieser Lebenssituation. Im Schuljahr 1997/98 fehlten die 16 Schüler/innen meiner Klasse zusammen 48 ganze Schultage – zumeist entschuldigt – wegen Krankheit oder Tätigkeiten, die sie zu Hause übernehmen mussten. Die Eltern sind oftmals gezwungen Schicht zu arbeiten; die Ältesten übernehmen dann die Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister und erledigen den Haushalt. Sie fragen die Jüngeren nicht, wie der Tag war, sie haben kein Ohr für die Begeisterung oder die Sorgen der kleineren Geschwister, werden aber verantwortlich gemacht, wenn Kleidungsstücke fehlen. Geschwister als unfreiwillige „mothers little helper“. Die meisten dieser Schüler/innen haben keine konkreten Berufspläne und erleben die Kindheit trostlos und ohne Fantasien. 306 Rainer WIBUSCH ist beim Kinderhilfswerk tätig. MM, 30, 2000, S. 1; GÜTHOFF ist Experte für Straßenkinder; Deutscher Kinderschutzbund in Nordrhein-Westfalen 307 166 Etwa 10 bis 20% Prozent der Kinder Deutschlands verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Der weitere Weg zeichnet sich relativ klar ab: ungelernter Arbeiter, häufiger Jobwechsel, Haltlosigkeit, Alkoholismus, Schulden, Kriminalität und zunehmende Perspektivenlosigkeit. Als besonders bedrohlich dabei zeigt sich die andere Wahrnehmung der Realität. Die Schuld für eigene Fehler wird – nicht ganz zu Unrecht – immer bei den anderen gesucht. Der Staat scheint die Konvention über die elementaren Rechte der Kinder vergessen zu haben. Das Wohl des Kindes hat in Deutschland seit langem in den Gesetzen, der Fürsorge oder in den Institutionen keine Vorrang mehr. Auch wenn die finanzielle Situation des Staates nicht zum Besten bestellt ist, darf er sich dieser Verpflichtungen nicht entledigen. Aus einer Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen geht hervor, dass in Deutschland jedes zehnte Kind in Armut lebt.308 Mitte der neunziger Jahre bezifferte sie die UN-Organisation auf 10,7%. Andere Untersuchungen gehen von 15% und mehr aus. Der Kinderschutzbund geht von über drei Millionen armen Kindern in der Bundesrepublik aus. Diese Zahl entspricht etwa 20%. Die unterschiedlichen Zahlen lassen sich durch die Umrechnung nationaler Statistiken auf internationale Vergleiche erklären. Der finanzielle Bedarf einzelner Familienmitglieder werde international niedriger gewichtet als in Deutschland. Die Kinderarmut wird in anderen Staaten mit folgenden Zahlen angegeben: Schweden USA 2,6% 22,4% Die Benachteiligung der Kinder aus armen Familien zeigt sich durch: beengte Wohnverhältnisse schlechte Schulen in vernachlässigten Stadtteilen häufiges Auftreten von Lernproblemen Überdurchschnittliche Verbreitung von Drogenkonsum und Kriminalität durch die unzureichende Ausbildung, dadurch schlechte Berufschancen, häufigere Schwangerschaften. 308 SZ, 135, 2000, S. 5 167 Durch die oben angeführten Faktoren verfestige sich eine „Armutsfalle“, aus der es für die meisten kein Entrinnen gibt. Unter den momentanen Bedingungen ist eine Förderung dieser Kinder an den Förderschulen und Grund- und Hauptschulen nicht so möglich wie von Regierungsseite propagiert. Die zweiklassige Selbstbedienungsgesellschaft Im Gegensatz zur sich ausbreitenden Armut wirkt die „Selbstversorgungspraxis“ vieler politisch Verantwortlicher besonders unglaubwürdig. Diese Menschen haben es geschafft, für ihr persönliches Wohlergehen Vorsorge zu treffen oder treffen zu lassen. So wurden zum Abschied der zu dieser Zeit amtierenden Bundesregierung vor dem Regierungswechsel (1998) ca. 70 „korrekte“ Beförderungen mit „Gehaltssprüngen“ bis zu 10 000 Mark vorgenommen.309 Die ständige Erhöhung der Diäten in einer Zeit, in welcher der Bevölkerung immer neue Sparmaßnahmen erklärt werden, passt nicht zu dem Motto einer „moralischen Erneuerung“. Die Altersversorgung ehemaliger Minister oder für andere PolitPensionäre läuft auf Hochtouren. Neben Amtsgehältern zwischen 15 000 und 23 000 DM monatlich steigern sich zusätzliche Versorgungsbeträge in erheblichem Maße mit den entsprechenden Jahren der Regierungszugehörigkeit. So hat sich z. B. Familienministerin NOLTE nach vier Jahren bereits 7000 DM monatliche Ministerpension gesichert. Ein normaler Angestellter müsste 144 Jahre lang in die Rentenkasse einzahlen, um für solch eine Summe empfangsberechtigt zu sein. Offensichtlich führt eine solch leichtfertige Versorgungspraxis zu einem krassen Realitätsverlust – vor allem dann, wenn die Familienministerin behauptet: „Armut ist, wo Leute ihren Problemen nicht gewachsen sind.“ „Kindheit in Deutschland ist eine gute Kindheit.“310 Im Gegensatz dazu fällt mir auf, dass es Kinder an „meiner“ Schule gibt, die mich immer wieder fragen, ob ich Brot oder einen Apfel dabeihabe, oder die sich noch echt über einen billigen Kugelschreiber freuen können. 309 310 Münchner Merkur, 228, 1998, S. 12 „Abschiedsgeschenke“ Zitiert in SZ, 195, 1998, S. 6 : NOLTE bestreitet große Armut. 168 Die ständige Zunahme der Ungleichheit muss früher oder später zu einem gewaltsamen Umsturz der Gesellschaft führen. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt – ein Indikator für den Gesamtwohlstand eines Landes – wuchs seit dem Jahr 1994 um etwa 2% pro Jahr. Schätzungen für die Jahre 1998/1999 prognostizieren ein Wachstum von 2,5%. Es müsste somit den Bürger/innen immer besser gehen, jedoch nur um den Preis einer ständig weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich. Bei den Jugendlichen, die später auch Garanten unserer Rente sein sollen, wird weiter gespart. Sie müssen weiterhin auf Ausbildungsplätze, Jugendclubs, Betreuungsstellen, Ganztagesschulen mit Sportmöglichkeiten, auf Krippen, Horte und andere Einrichtungen verzichten. Die Anzahl der gefährdeten Kinder steigt ständig, ebenso die Jugendkriminalität. Die rücksichtslose und kriminelle Gesellschaft „An dem Tag, an dem das Verbrechen sich mit dem Bann der Unschuld umgibt, wird durch eine seltsame Verkehrung, die für unsere Zeit typisch ist, die Unschuld gezwungen sein, sich zu rechtfertigen.“ (Albert Camus) Rücksichtslosigkeit und Unrechtsbewusstsein Ein ausschlaggebender Grund für die Zunahme der Verbrechen liegt im fehlenden Unrechtsbewusstsein der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Umfrage eines Autoversicherers ergab, dass es bei 70% der Autofahrer als völlig normal gilt, gegen Verkehrsregeln zu verstoßen.311 Vor allem jüngere Autofahrer hätten kaum ein Unrechtsbewusstsein. Als völlig in Ordnung gelte es zum Beispiel, vor einer gelben Ampel kräftig zu beschleunigen, um noch über die Kreuzung zu kommen. Aggressive Manöver (Drängeln, Lichthupe und Rechtsüberholen auf der Autobahn) gehören für jeden dritten 311 Umfrage des Autoversicherers „Sicher direct“; MM, 130, 2000, S. 1 169 Fahrer dazu, um sich gegen andere Autofahrer durchzusetzen. Die Befragten bekennen sich ganz offen zu den Regelverstößen. Regelverstöße sind auch in der Schule an der Tagesordnung. Hier kann ein nahezu identisches Verhalten beobachtet werden. Auch im politischen Bereich lassen sich ohne große Anstrengung genügend Beispiele für mangelndes Unrechtsbewusstsein finden. Die Korruption wird nach Aussagen des Bundesverbandes Deutscher Psychologen (BDP) in Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr zur Alltagspraxis. Nach SMETTAN laufe ohne Tricksereien und Mauscheleien nichts mehr im Geschäftsalltag.312 Nach GEBERT313 werden in Deutschland „gekonnte Schwarzgeldgeschäfte sogar vielfach als intellektuelle Leistung bewundert“. Das Schuldbewusstsein der Täter sei in einer Gesellschaft, die Ehrlichkeit nicht als Tugend ansehe, entsprechend gering. Mit derlei Manipulationen hätten besonders die Mächtigen keine Gewissensprobleme. Diese Einstellung deute auf einen gewissen Größenwahn hin, der bereits auch schon auf kommunaler Ebene anzutreffen sei. „Wird den Drahtziehern das Handwerk gelegt, klagen sie regelmäßig über Undank und fühlen sich ungerecht behandelt.“ Wie der Herr, so `s Gscherr ALBERTS: „Die Norm zu befolgen, hat schon fast Ausnahmecharakter. Ja, es kann einem passieren, dass einer gemobbt wird, wenn er innerdienstlich darauf besteht, dass Normen eingehalten werden. In der Analyse verschiedener Mobbing-Fälle hat sich herausgestellt, dass ein Typ gemobbter Polizisten der korrekte ist, der übliche Rechtswidrigkeiten nicht mitmacht. So verkehrt ist die Rechtstaatswelt mittlerweile. Und es wirken daran kräftig die da oben mit. Sie machen die Anomie (Gesetzeslosigkeit) vor, die da unten machen es nach . . . “314 312 SZ, 81, 2000, S. 26; SMETTAN ist im BDP zuständig für Marktund Organisationspsychologie. 313 MM, 59, 2002, S. 1; GEBERT ist Professor für Wirtschaftspsychologie in Münster. 314 ALBERTS ist Berufsethiker; in SZ, 23, 2000, II 170 Die gewaltbereite Gesellschaft Zeitungsüberschriften wie „Gewalt macht Schule“ bestätigen die jahrelangen Beobachtungen des Verfassers. Es ist offensichtlich, dass immer mehr Kinder und Jugendliche schwere Gewalttaten begehen. SCHILLING stellt fest, daß die Brutalität zunimmt: „Bei einer Schlägerei hat man vor 20 Jahren aufgehört zu schlagen, wenn einer am Boden lag. Heute wird einfach weitergedroschen.“315 Die Situation in München Unter 47 314 Tatverdächtigen, die 1998 in München ermittelt wurden, befinden sich 1713 Kinder und 4525 Jugendliche. Das sind 7,1 respektive 1,8% mehr als im Jahr zuvor.316 Weniger Jugendgewaltdelikte, ja sogar von einem deutlichen Rückgang wurde von der Münchner Polizei gemeldet, ohne jedoch Zahlen zu nennen.317 Die Kriminalitätsbilanz für München zeigt für das Jahr 1999 die Tendenz: „Mehr Sicherheit, aber auch mehr Brutalität“, bei steigender Zahl der Vergewaltigungen und der Körperverletzungen.318 Auffallend ist, dass auch die Mädchen gewaltbereiter werden. Allein an Münchner Schulen wurden der Polizei 826 Fälle von Gewalt gemeldet, davon waren zwei Drittel Diebstähle, ein Achtel Körperverletzungen. Die Rauschgiftdelikte verdoppelten sich von 11 auf 20, schwere Sexualdelikte von drei auf sechs. Opfer sind nicht nur Mitschüler, sondern auch Lehrer. Dabei muss insgesamt berücksichtigt werden, dass oftmals versucht wird, kriminelle Vorfälle schulintern zu regeln, ohne die Polizei zu informieren. Die mehrfache Erpressung von Ruhpoldinger Hauptschülern und Ingolstädter Berufsschülern geriet in diesem Zusammenhang in die Schlagzeilen der Presse.319 Solche Mitteilungen 315 Zitiert in SZ, 221, 1997, S. 43 SZ 94, 1999, S. 57 317 SZ, 75, 1999, L 2 318 SZ, 77, 2000, S. 57 319 SZ 101, 1999, L 8 316 171 werden oftmals von der Schulleitung vermieden, um den Ruf der Schule nicht zu schädigen. Der Zusammenhang zwischen unterentwickeltem Selbstwertgefühl und dem Hang zur Gewaltbereitschaft ist offensichtlich. Für die Schulen empfiehlt DEMMER, den Jugendlichen mehr Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen, sie ernst zu nehmen und eine Schülerselbsthilfe einzurichten. Die Gewaltbereitschaft von Schülern müsse durch sie selbst thematisiert werden.320 WIENHOLTZ plädiert für eine Verschärfung des Waffenrechts und für strengere Kontrollen in den Schulen. Dies bedeute in der Praxis die Einführung eines „kleineren Waffenscheines“ und die Einführung von Zuverlässigkeitsnachweisen, die beim Verkauf von Schreckschuss- oder Reizstoffwaffen verlangt werden sollten. Der Handel mit Faustmessern und Wurfsternen solle verboten werden. Eine Entwicklung zu amerikanischen Verhältnissen hin ist unübersehbar. In Bayern stieg die Zahl der verurteilten jugendlichen Straftäter nach Angaben SAUTERS auf 16 147 im Altersbereich zwischen 14 und 17 Jahren. Dies bedeutet gegenüber 1996 eine Steigerung um 12,5%. Unter den den 18- bis 21-Jährigen wurden 9875 (1997) verurteilt. 1996 waren es noch 8337. Er fordert einen „Einstiegsarrest“ für Jugendliche, um diese Entwicklung zu stoppen.321 Die bayerische Kriminalstatistik für das Jahr 1996 zeigt die folgende Entwicklung: Gefährliche und schwere Körperverletzung: von 1995 auf 1996 Anstieg um 7,5%; werden nur jugendliche Täter (14 bis 18 Jahre) betrachtet, so liegt der Anstieg bei 39%. Raub und räuberische Erpressung: Anstieg um 9,1% Werden nur jugendliche Täter (14 bis 18 Jahre) betrachtet, so liegt der Anstieg bei 37,8%. Opfer von Gewaltverbrechen: Anstieg um 8,4% Bei Kindern bis 14 Jahre Anstieg um 30,3% und bei Jugendlichen um 17,5% PFEIFFER sieht diese Entwicklung als eine europäische an.322 320 SZ, 97, 1999, S. 16 MM, 282, 1998, S. 1 322 SZ, 89,1997, S. 1 321 172 Ladendiebstähle: Anstieg um 20% Dies entspricht einem Schaden von 150 Millionen Mark.323 Andere Schätzungen gehen von einem durch Ladendiebe verursachten Schaden in Höhe von 5 Milliarden DM aus.324 Auffallend ist, dass die Langfinger immer jünger werden. So ist bereits jeder Dritte unter 18 Jahre alt. Das Stehlen hat sich laut FRANZEN zu einem Sport unter Jugendlichen entwickelt. Ein nachahmenswertes Projekt In Hagen haben Polizeibeamte und Einzelhändler Schulen besucht, um die Jugendlichen über die Problematik aufzuklären – offenbar mit Erfolg: FRANZEN: „Die Polizei hat dort 8% weniger Ladendiebstähle registriert.“ Auch bundesweit steigt die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen. Bei den unter 14-Jährigen erhöhte sich allein der Anteil der tatverdächtigen Kinder um 5,9%. Im Münchner Merkur wurde dieser Prozentsatz am gleichen Tag auf der Titelseite mit 152 774 Personen angegeben. In diesem Zusammenhang wandte sich SCHILY jedoch gegen die Absenkung des Strafmündigkeitsalters sowie die Ausweitung von Jugendstrafen.325 Bei der Gruppe der unter 14-Jährigen besteht die Mehrzahl der Delikte vor allem aus Ladendiebstählen. Im Alter zwischen 14 und 18 Jahren sei die hohe Zahl an Körperverletzungen und Rauschgiftdelikten auffällig. Im Bereich der Rauschgiftdelikte sei ein Anstieg von 27,9% zu verzeichnen. Fast jeder dritte Straftäter in Deutschland (29,2%) ist laut Polizeistatistik unter 21 Jahre alt. 1997 wurden insgesamt ca. 2,3 Millionen Tatverdächtige registriert, darunter 140 000 Kinder unter 14 Jahren, 290 000 Jugendliche und 230 000 Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren. Bei Autoaufbrechern ist sogar schon mehr als jeder zweite Tatverdächtige unter 21 Jahre alt ( 57,3% und 58,8%).326 323 MM, 100, 1997, S. 1 MM, 215, 1999, S. 1; FRANZEN ist Präsident des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels (HDE). 325 SZ, 118, 1999, S. 1 326 MM, 31, 1999, S. 1 324 173 Wie gegensätzlich und verwirrend die einzelnen Zeitungsmeldungen sind, auf die wir uns bei unserer Meinungsbildung verlassen, macht der folgende Artikel deutlich. Bielefelder Wissenschaftler konnten nach ihrer Einschätzung keine zunehmende Gewalt an hessischen Schulen beobachten. „Das öffentliche Bild einer massiven und weit verbreiteten Gewaltbelastung an den Schulen stimmt nicht und muss erheblich differenziert werden.“327 Im Vergleich zum Jahr 1973 sei die Gewalt zwar gestiegen, jedoch nicht in erheblichem Maße. Die Gewalt sei in den unterschiedlichen Schultypen sehr ausgeprägt. Die Kriminalstatistik des Bundesinnenministeriums für das Jahr 1996:328 Immer mehr Kinder werden straffällig. Kinderkriminalität: Anstieg um 12,3% Rauschgiftdelikte: Anstieg um 18% Wirtschaftsstraftaten: 23,8% 131 000 Kinder wurden 1996 als Tatverdächtige ermittelt. 57,3% wurden beim Ladendiebstahl erwischt. In den neuen Ländern sanken die Delikte vergleichsweise um 3%. Über eine starke Zunahme von Jugendkriminalität und Gewalt wird auch im folgenden Zeitungsartikel berichtet.329 Die Strafverfolgungsstatistik zeigt 1998 eine Erhöhung der Zahl der verurteilten Jugendlichen um 11,3% im Vergleich zum Vorjahr auf 45 600. Das Statistische Bundesamt meldet: Raub und Erpressung: Anstieg um 11,0% auf 10 388 Fälle. Die Gesamtzahl der rechtskräftig Verurteilten stieg 1997 im früheren Bundesgebiet einschließlich Ostberlin um 2,2% auf 780 500. Somit wurde die bisherige Höchstzahl der Verurteilungen von 782 100 aus dem Jahre 1994 fast erreicht. 327 MM, 24, 1999, S. 1 SZ, 107, 1997, S. 5 329 SZ, 265, 1998, S. 2 328 174 Für die neuen Länder lag keine Statistik vor. Körperverletzung: 9,7% mehr Täter ( 40 547 ) als 1996 Diebstahl und Unterschlagungen: Zunahme um 2,5% auf 170 258 Drogendelikte: überdurchchnittlicher Anstieg um 11,6% auf 41 332 Betrugsfälle: Anstieg um 2,6% auf ca. 59 000 Sexueller Missbrauch von Kindern: Zunahme um 8,3% auf 2207 Fälle Die Zahl der Verurteilten spiegle die Kriminalitätsentwicklung jedoch nicht hinreichend wider, da einerseits nur ein Teil der Straftaten bekannt wurde, andererseits nicht jeder ermittelte Tatverdächtige auch verurteilt wurde. Die über die Jugendkriminalität geführten Diskussionen zeigen, wie verschieden von den einzelnen Beteiligten die Statistiken interpretiert werden.330 Während für die Politiker Justiz und Jugendhilfe versagt haben, sehen Kriminologen die Situation so: Die Auswertung der Zahlen für das Jahr 1997 zwingen zu der Erkenntnis, dass die Delikte von Jugendlichen und Kindern nicht gravierender geworden seien. Die Zahl der Raubdelikte sei zwar von 6% auf 27% , im Bereich des Schadens bis zu 25 Mark, gestiegen, aber die Zahl, wo Jugendliche teuere Gegenstände erbeutet hätten, habe sich halbiert. Eine Befragung von fast 10 000 Hauptschülern durch das KFN (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen) ergab, dass Kinder von arbeitslosen oder bedürftigen Eltern öfter Gewalt ausüben als ihre Altersgenossen aus materiell gesicherten Verhältnissen. Diese Zahl erhöht sich noch einmal stark, wenn die Kinder von ihren Eltern misshandelt wurden. 1997 erlebten mehr Kinder Gewalt innerhalb der Familie als außerhalb. 330 SZ, 217, 1998, S. 2 175 In den Niederlanden erwägt die Regierung für kriminelle Jugendliche Arbeitslager einzurichten. Dort sollen vor allem Jugendliche untergebracht werden, die schon mehrmals gestohlen haben oder wiederholt durch Gewalttätigkeiten aufgefallen sind. Diese Umerziehung in Arbeitslagern findet nach amerikanischem Vorbild statt.331 In Frankreich sieht sich die Regierung mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Der wachsenden Jugendkriminalität soll dadurch begegnet werden, dass auch Kinder mit der Autorität des Staates konfrontiert werden sollen. Zudem sollen sich die straffälligen Jugendlichen in geschlossenen Anstalten mit zusätzlichen pädagogischen Bemühungen konfrontiert sehen. Minderjährige Straftäter sollen in 50 Zentren noch vor dem endgültigen Urteil der Richter eingewiesen werden. Dazu JOSPIN: Selbst wenn die Türen geschlossen seien, lebten die Kinder dennoch in einem Milieu, in dem der Erziehungsgedanke im Vordergrund stünde.332 Zusätzlich sollen noch 10 000 ehrenamtliche Erziehungshelfer dazu beitragen, die Probleme in den besonders gefährdeten Stadtvierteln besser zu bewältigen. Gleichzeitig betonte der Regierungschef, dass die Rolle, die Vater und Mutter spielten, durch nichts zu ersetzen seien und dass es kein Leben innerhalb der Gemeinschaft und auch keine persönliche Entwicklung ohne Respekt und ohne Regeln gäbe. Dies müssten die jungen Leute begreifen. Diebstähle Nach Einschätzung der Einzelhändler klauen die Kinder und Jugendlichen in Deutschland wie die Raben. Alle Schüler meiner Klasse gaben im Schuljahr 1998/99 an, schon mindestens einmal geklaut zu haben. Das Erschreckende ist nicht diese Tatsache selbst, sondern dass viele der Jugendlichen der Meinung sind, sie hätten kein Unrecht begangen, wie ich in vielen Gesprächen in Erfahrung bringen konnte. Laut DIHT (Deutscher Industrie- und Handelstag) wird durch die Diebstähle – auch der Erwachsenen – ein jährlicher Schaden von 4 bis 7 Milliarden Mark angerichtet.333 331 MM, 214, 1998, S. 1 SZ, 23, 1999, S. 8 333 MM, 257, 1997, S. 3 332 176 Im Jahr 1998 stieg die Anzahl der tatverdächtigen Kinder unter 14 Jahren um 6,8% auf über 86 000. Jeder dritte Ladendieb ist nach LORENZEN unter 18 Jahre alt.334 Im Jahre 1993 wurden noch 8,7% Kinder als Ladendiebe registriert. Im Jahr 1998 stieg der Anteil auf 15,7%. Im gleichen Zeitraum war eine Zunahme von 5,5% bei den Jugendlichen zu beobachten. Die Kriminalstatistik weist Magdeburg, Halle und Schwerin als Spitzenreiter aus. Die Dunkelziffer liege allgemein bei über 90%, so ein Sprecher des HDE (Hauptverband des Deutschen Einzelhandels), Köln. In einer anderen Zeitungsmeldung steht zu lesen, dass die Kriminalität von Kindern sich laut des Deutschen Kinderhilfswerkes im Vergleich zu 1997 um 3% erhöhte. So seien 1998 ca. 148 000 Verdächtige gezählt worden. In mehr als 54% dieser Fälle seien Kinder wegen Ladendiebstahls aufgefallen. Die Stadtstaaten Berlin und Bremen wurden als einzige genannt, bei denen ein Rückgang der Kriminalität in dieser Altersgruppe zu verzeichnen war. Die deutlichste Zunahme sei in Rheinland-Pfalz (plus 17%) und in Bayern (plus 14%) festzustellen. KRÜGER sieht als beste Handlungsweise von Seiten der Erzieher auf diese Entwicklung unmittelbar folgende Sanktionen an, die die Kinder mit der Tat in Verbindung bringen könnten.335 Nur durch ein absolut konsequentes Verhalten der Lehrkräfte, die Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und durch Schulleiter, die nicht um den Ruf ihrer Schule besorgt sind, kann dieser Entwicklung sinnvoll begegnet werden. Vor allem Grund-, Haupt- und Förderschulen müssen mit großem Zeitaufwand und starkem menschlichem Einsatz ethische und moralische Erziehung betreiben, vor allem deshalb, weil viele Kinder aus sozial schwachen Familien kommen, in denen es häufig unlösbare Probleme gibt. In der Folge entwickeln sich die Kinder zu Einzelkämpfern ohne moralische Vorstellungen. Die Arbeitswelt zeigt sich anders. Arbeitgeber dürfen ihre Mitarbeiter ohne Zustimmung des Betriebsrates heimlich auf ihre Ehrlichkeit hin testen (Az: 2 AZR 743/98). Wird diese Ehrlichkeit als Haltung nicht eingehend geübt, haben die uns anvertrauten Kinder nichts von ihrem Leben zu erwarten. 334 335 SZ, 136, 1999, S. 25 SZ, 77, 1999, S. 6 177 Dazu Vergleichszahlen aus dem Landkreis Weilheim-Schongau, in welchem sich auch die Schule befindet, an welcher ich unterrichte: Knapp 30% der Tatverdächtigen bei Rohheitsdelikten war unter 21 Jahre alt. Bei den Diebstählen war eine Zunahme um 9% auf 2240 zu verzeichnen. 336 Solange Diebstahl, Beleidigung, Sachbeschädigung, Nötigung und Erpressung in den Schulen nicht konsequent als Straftat geahndet wird, sind wir Lehrer in entscheidendem Maß mit dafür verantwortlich, wie sich die Jugendlichen entwickeln. Wenn die Eltern oftmals nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen – und dafür gibt es ernstzunehmende Gründe (Erkrankungen, Armut, Gewalt) – müssen die Lehrer hier einspringen. Den Lehrstoff bietet das Leben. Einige mögliche Gründe für diese Entwicklung Als einen Hauptgrund für diese Entwicklung sind möglicherweise krasse soziale Gegensätze verantwortlich. WALTER nennt außerdem Angst vor sozialem Abstieg und zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit als Ursachen. Auch Desorientierung, Normenund Wertewandel, Ellenbogendenken anstelle von Solidarität zählen dazu.337 Durch die Werbung geschürte und ständig wachsende Konsumwünsche tragen ebenfalls zu dieser Entwicklung bei. Folgen einer übersteigerten Leistungsgesellschaft Auffällige Kinder werden häufig zu kriminellen Jugendlichen. Viele der Jugendlichen leiden auch unter Verletzungen, die ihnen zu Beginn ihres Lebens und während der ersten drei Lebensjahre zugefügt wurden. WINKLER338 betont, dass in diesen ersten drei Jahren das seelische Gefüge festgelegt wird. Die Zunahme der vernachlässigten 336 MM, 48, 1999, SOG 1 SZ, 221, 1997, S. 43 338 SZ, 297, 2000, L 11; WINKLER ist Chefarzt der Jugendpsychiatrie am Augsburger Josefinum. Seit 1985 hat sich die Zahl der Fälle, in denen „Störungen der Geistestätigkeit“ vorliegen, annähernd verzehnfacht. Bei den stationären Behandlungen ist ein Anstieg von 250 pro Jahr auf 650 zu verzeichnen. Zur Zeit klopfen jährlich etwa 4000 junge Menschen an. 337 178 Kinder ist auffällig. Es sind Kinder, die „nicht fähig sind, die normalen Triebbedürfnisse mit den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenlebens zu vereinbaren“. Die Lücken in ihrem Seelenleben versuchen die jungen Menschen dann dadurch zu füllen, indem sie sich Drogen oder Sekten zuwenden oder indem sie die Raffsucht ihrer Eltern nachahmen. WINKLER: „Der dritte Weltkrieg war der Kalte Krieg, der vierte Weltkrieg ist der des Kapitals gegen den Menschen, im nächsten Weltkrieg wird der Mensch gegen sich selber kämpfen.“ Da oftmals beide Eltern berufstätig sind, um den Lebensunterhalt zu sichern oder aber um durch Luxusgüter ihren Wert zu demonstrieren, fehlt den Kindern die notwendige Geborgenheit. Um sie zu erhalten, müssen Eltern genügend Zeit für ihre Kinder haben. Die Lehrpläne der Schulen sind an diesen Wahnsinn der übertourten Leistungsgesellschaft gekoppelt. Den Erwachsenen fehlt das Selbstverständnis, während sie Geld und Gut nachjagen. In der Freizeit stehen viele Eltern ihren Kindern ebenfalls nicht zur Verfügung. Die Kinder verstehen dieses Verhalten ihrer Eltern nicht und nehmen in der Folge die Realität nicht mehr wahr. Werden in den ersten drei Jahren nicht die Grundlagen für eine gesunde seelische, körperliche und geistige Entwicklung bereitgestellt, erfolgt eine andere Programmierung, deren Folgen erst später sichtbar werden: Intelligenzstörungen Mängel in der Feinmotorik Hyperaktivität Konzentrationsmängel Legasthenie Unfähigkeit zum sozialen Miteinander Unfähigkeit zum Aufschieben von Triebimpulsen. Menschen mit einer solch schwierigen Persönlichkeit sind in unserer Gesellschaft nicht beliebt, und ihr Weg in die Kriminalität ist oft vorgezeichnet. Elterliche Geschenke als Ausgleich für eine reduzierte Beziehung und für nicht gut zu machende Versäumnisse können nicht die erwünschten Hoffnungen erfüllen, zumal die neuen Medien die Bereitschaft zur Gewalt enorm fördern. 179 Dazu kommt das Phänomen der „Globalisierung der Patientenströme.“ Das sind die behandlungsbedürftigen Kinder Asyl suchender Mütter Kinder aus Kasachstan, die ihre Großfamilien vermissen die in bosnischen Lagern vergewaltigten jungen Frauen Adoptivkinder aus Kambodscha Mischlingskinder Kinder arbeitsloser Eltern – auch aus Ostdeutschland Kinder, die in kleinen Förderschulklassen unterrichtet wurden und in eine andere Förderschule mit 22 Kindern pro Klasse wechseln mussten. (Alles war kaputt, was bis dahin erreicht worden war.) 180 Weitere gesellschaftliche Aspekte Eine Gesellschaft der schlechten Vorbilder und der Verdrängung – Programme, die diese Entwicklung stoppen sollen Pro Jahr verlassen mehr als 1000 Jugendliche, die als „ausbildungsunfähig“ gelten, die Schule. In München bemühen sich Schulsozialarbeiter in 28 Projekten um Hilfe. Gespräche mit Lehrern, überforderten Eltern und Hausbesuche bei den überforderten Eltern gehören in die Liste der Hilfsmaßnahmen. Zusätzlich sollen 1,5 Millionen Mark bereitgestellt werden, um verhaltensauffällige Buben und Mädchen im Kindergartenalter besser zu erkennen und zu betreuen.339 Wenige Monate nach dieser Zeitungsmeldung erscheint ein Bericht, wonach die Stadt die Hilfe für Problemkinder kürzen will. Von den 850 Plätzen für sechs- bis 15-jährige Kinder und Jugendliche in München sollen 10% gestrichen werden, „obwohl nachweislich nicht genügend Plätze vorhanden sind und die Störungen der Kinder an Häufigkeit und Schweregrad zunehmen.“340 Diese Beobachtung kann ich nach jahrelanger Erfahrung an unserer Schule absolut bestätigen. Die Klassen werden größer, neue Klassen dürfen nicht gebildet werden, das Geld für den Aufbau einer Schulsozialarbeit fehlt. Die wehrlose und abwehrgeschwächte Gesellschaft Es ist in Fachkreisen unbestritten, dass bei jugendlichen Straftätern Sanktionen so schnell wie möglich folgen müssen, wenn eine größtmögliche und zugleich präventive Wirkung erwartet werden soll. Obwohl die Straftaten Jugendlicher dramatisch zunehmen, werden durch den Staat Stellen im Jugendgerichtsbereich abgebaut. Das Münchner Jugendgericht verfügte im Jahr 1994 noch über 15,25 Planstellen für Richter; 1998 waren es 13,7 und im Jahr 2000 12,7 Stellen. 339 340 SZ, 290, 1998, L 1 SZ, 16, 1999, L 1 181 Diese Tendenz ist umso bedenklicher, da die Zahl der Verfahren mit mehreren Tätern im Ansteigen begriffen ist und so einer erhebliche Mehrbelastung mit einem größeren Arbeitsaufwand für die betroffenen Richter erfordert. Standen im Jahr 1993 noch 211 Richter-Planstellen im Bereich des Jugendgerichts zur Verfügung, so sind es im Jahr 2000 nur noch etwa 203 Stellen. Jugendgerichtshelfer wissen in der Regel nicht mehr, was in der Familie der jugendlichen Straftäter los ist. Unsere Gesellschaft kann sich nicht mehr genügend schützen. Ein Beispiel dafür findet sich in Nordrhein-Westfalen. Hier wurden 70 Verbrecher vorübergehend freigelassen, weil es an Plätzen im Maßregelvollzug (Unterbringung von psychisch kranken Tätern) mangelt. Unter den Freigelassenen waren auch Täter, die schwerwiegende Straftaten begangen haben. MORON: „Das Angebot an hochgesicherten Einrichtungen ist zu gering, um die immer problematischer werdende Klientel sicher unterbringen zu können.“341 Eine Reihe von Patienten, die aus Sicherheitsgründen in der forensischen Psychiatrie besser aufgehoben wären, befindet sich inzwischen zur Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie. Bisher sei auch kaum untersucht, welche therapeutischen Konzepte in welchem Zeitraum zu nachweisbaren Behandlungserfolgen und zu geringen Rückfallquoten führten. Auch gewalttätige oder kriminelle Schüler in Förderschulen können oftmals nicht einer Therapie zugeführt werden. Um die lernwilligen Schüler zu schützen, müssen sie vom Unterricht ausgeschlossen und ihre Straftaten konsequent angezeigt werden. Eine Gesellschaft der Alleinerziehenden In Deutschland gibt es im Jahr 2000 ca. 1,6 Millionen allein erziehende Mütter. Sie leben mit einem Risiko von 17%, bald auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. 341 SZ, 70, 2000, S. 2; MORON ist Vorsitzender eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. 182 Die Senioren-Gesellschaft Immer mehr Deutsche leben von Rente, Pensionen und Arbeitslosengeld. Das monatliche Gehalt ist nur noch bei vier von zehn Menschen die Lebensgrundlage. Von den 82 Millionen in Deutschland lebenden Menschen bestritten im April 1999 nur noch 40,9% der Gesamtbevölkerung ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit. (1991: 44,5%) 21,6% der Deutschen lebten 1999 vorwiegend von Renten und Pensionen.342 Die kinderfeindliche Gesellschaft In deutschen Familien leben immer weniger Mädchen und Jungen unter sechs Jahren. Im April 1999 gab es im Vergleich zu 1991 etwa 4,5 Millionen (13%) weniger kleine Kinder. Im Ostteil Berlins und in den neuen Ländern war ein besonders drastischer Rückgang zu beobachten.343 Die Bereicherungsgesellschaft Es gilt vor allem in den Industrienationen als „chic“, wenig zu arbeiten, viel Geld zu haben und sich viel leisten zu können. Oftmals gelingt dies nur, wenn kriminelle Machenschaften im Spiel sind. Dies ist vor allem aus den Bereichen der Politik, der Medizin und auch der freien Wirtschaft bekannt. Sechs Zahnärzte und drei Betreiber von Dentallabors wurden wegen Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt. Zwischen 1987 und 1992 sollen Steuern in Millionenhöhe hinterzogen worden sein. In 2300 Fällen sollen Patienten und Krankenkassen betrogen worden sein. So wurden z. B. billige Prothesen, Kronen und Brücken als hochwertiger Zahnersatz deklariert.344 Mühelos ließen sich weitere Beispiele aufzählen – auch aus dem Bereich des Beamtentums. Die „Seitensprung-Gesellschaft“ Jeder vierte Deutsche zwischen 20 und 40 Jahren fühlt sich machtlos gegen Seitensprünge.345 342 MM, 83, 2000, S. 1; Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes SZ, 93, 2000, S. 16; Mitteilung des Statistischen Bundesamtes. 344 SZ, 249, 1999, S. 16 345 SZ, 92, 2000, S. 16; Repräsentative Umfrage des Männermagazins GQ 343 183 Aussage Gegen Fremdgehen kann man nichts unternehmen Sexuelle Treue ist „eine Verhöhnung der menschlichen Natur“ Ein Seitensprung bringt uns nicht auseinander Ich verzeihe einen Seitensprung Angaben in Prozent (M=Männer / F=Frauen) 24 12 12 M/14 F 12,5 Die Spar-am-falschen-Platz-Gesellschaft Nur fünf von 30 Schülern schafften es in einer fünften Klasse einer Münchner Schule, mehr als drei Klimmzüge zu machen. Ein Drittel aller Kinder schaffte keinen einzigen Klimmzug. Zunehmende Aggressivität, abnehmende soziale Kompetenz und die große Anzahl von Einzelkindern bei gleichzeitiger Kürzung der Sportstunden bereiten den Pädagogen zunehmende Schwierigkeiten. FICHTNER betont, „dass durch die Kürzung des Sportunterrichts mittelfristig gewaltige Probleme und finanzielle Belastungen auf uns zukommen. Schon jetzt warnen die Beteiligten – Ärzte, Krankenkassen, Pädagogen – vor einer Verschärfung der Situation . . . Durch Kürzungen ist Bayern auf einen der letzten Plätze abgerutscht . . . “346 Nach HESSE wurde der Schulsport in Bayern durch Sparmaßnahmen fast bis zur Bedeutungslosigkeit heruntergestutzt.347 VOSS zur Situation in Bayern: „Statt 90 Minuten werden an Gymnasien gerade noch 24 Minuten Differenzierter Sport gehalten, gerade sechs sind es an Realschulen, 17 an 346 SZ, 84, 2000, L 12; FICHTNER ist Lehrer am Gymnasium Unterhaching und bayerischer und oberbayerischer Landesschulobmann für Leichtathletik. 347 MM, 93, 2000, Jugendsport; HESSE ist Sportlehrer und Vorsitzender des TSV München-Ost. 184 Hauptschulen.“348 Die Minutenzahl verringert sich an den Förderschulen aus eigener Erfahrung nochmals erheblich. Trotz der vielen Argumente für den Schulsport (Gesundheit, Sozialerziehung, Gewalt-, Drogen- und Suchtprävention) ist der Schulsport für die Staatsregierung zur Manövriermasse geworden. GROFFIK zur Wichtigkeit des Schulsports: „Körperkontrolle ermöglicht selbstständiges Handeln, gibt Selbstsicherheit, stärkt Selbstvertrauen. Bewegung, Spiel, Sport, Integration in eine Gruppe fördert das Wohlbefinden.“ 6 bis 7% der Schulanfänger leiden an Übergewicht, sogar 30 bis 40% der Neuntklässler, darunter sind einige, die mehr als 100 Kilo auf die Waage bringen und damit Gelenke, Hüften und Kreislauf über Gebühr strapazieren. 20 bis 24% der Kinder haben Störungen in der Koordination, die Zahl der Legastheniker nimmt zu. Abhilfe „könnte eine Sporttherapie mit gezieltem Bewegungstraining schaffen . . . durch Bewegung wird auch die geistige Potenz gefördert“. Die müde Gesellschaft Eine Befragung von mehr als 10 000 Jugendlichen ergab, dass jeder dritte Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren über schnell eintretende Müdigkeit klagt. Mädchen sind mit 36% deutlich stärker betroffen als männliche Jugendliche (27%). Über Rückenschmerzen klagten 19%, über Nervosität 20% der Befragten. Insgesamt waren besonders bei Kopfschmerzen die Befindlichkeitsstörungen bei jungen Frauen höher als bei den Männern.349 Die „Verschwendergesellschaft“ Durch die Verschwendung öffentlicher Mittel werden nach DÄKE jährlich Schäden in Höhe bis zu 60 Milliarden Mark verursacht. Nach Ansicht des Bundes der Steuerzahler (BdST) bleiben die Staatskassen ein „Selbstbedienungsladen“. Die Staatsverschuldung in Deutschland betrug (am 19. 9. 2000) 348 MM, 93, 2000, Jugendsport; VOSS ist Präsidiumsmitglied des bayerischen Landes-Sportverbandes und Vertreter des „ Aktionsbündnis für den Schulsport“; GROFFIK ist leitender Münchner Schularzt. 349 MM, 93, 2000, S. 1; die Befragung wurde von der Gmündener Ersatzkasse (GEK) durchgeführt. 185 2 381 275 312 736 DM (=2,381 Billionen DM). Pro Sekunde ist ein Schuldenzuwachs von 2544 DM zu verzeichnen. Die Pro-KopfVerschuldung beträgt 29 104 DM.350 350 SZ, 217,2000, S. 25; DÄKE ist Vorsitzender des BdST. 186 Die verhaltensauffällige und psychisch auffällige Gesellschaft Psychische Auffälligkeiten bei Jugendlichen und Erwachsenen Ein Vorwort zu den „Psychischen Auffälligkeiten“ Dieser Beitrag soll bereits vorhandene Lehrbücher zu diesem Thema nicht ersetzen, wohl aber durch aktuelle, persönliche Informationen und Perspektiven ergänzen. Alle Gesellschaften in den modernen Industrienationen zeigen nicht nur starke Auflösungserscheinungen sondern sind auch durch den Bruch zur Vergangenheit und die fehlende Verbindung zur Zukunft gekennzeichnet. Zerbrechende Familienstrukturen und die kulturellen Verschiedenheiten innerhalb der einzelnen Nationen, gepaart mit einem unfassbaren technischen Fortschritt und einer Wirklichkeitsauffassung, die in erster Linie durch die Medien geprägt ist, führen zu einer Zunahme von psychischen Störungen und Auffälligkeiten. LAMNEK351 belegte in einer Studie zu Beginn der neunziger Jahre die Unwissenheit in der Münchner Bevölkerung in Bezug auf das Wissen, was eine psychische Störung ist. 53% der Befragten hatten kaum eine Vorstellung davon, was eine psychische Störung ist. Bezüglich der gängigen Therapieformen glaubten viele der Befragten noch an Gummizellen, Zwangsjacken, Einheitskleidung und die Verabreichung von Elektroschocks. Das Unwissen wurde mit „steinzeitmäßigen Vorurteilen“ und „bornierter Uniformiertheit“ kommentiert. Die Zunahme psychischer Erkrankungen und Auffälligkeiten wird vielleicht nur von den Berufsgruppen bemerkt, die über einen längeren Zeitraum mit Betroffenen zu tun haben. Es ist jedoch unabdingbar, eigene Einstellungen zu überprüfen und notfalls zu verändern, wenn man mit diesen Menschen Kontakt halten und immer wieder aufnehmen will. Dieses Kapitel soll helfen, mehr Wissen zu erlangen und einen Beitrag leisten, interessierte Laien zu sensibilisieren, um psychisch kranke Menschen besser zu verstehen. Auch schwer behinderte 351 LAMNEK, „Psychische Krankheit und Psychiatrie im Meinungsbild der Münchner“ in SZ, 192, 1999, VI 187 Menschen sind durchaus lernfähig. Es kommt nur darauf an, ob wir bereit sind, den Dialog zu wagen. Eine Gesellschaft, in der die Erwachsenen selbst unter so vielfältigen psychischen Störungen leiden und die immer weniger imstande ist, sinnvoll miteinander zu kommunizieren, muss zwangsläufig für das Zustandekommen von psychischen Störungen bei Kindern verantwortlich gemacht werden. Nicht nur Lehrer oder Lehrerinnen, Eltern, Kriminelle, Mediengestalter, sondern auch Politiker, Ärzte und Pharmaproduzenten tragen eine Mitschuld an der Zunahme der Störungen. Die gesamte Gesellschaft – auch die Menschen, die diese Auffälligkeiten ignorieren – ist für die ständige Zunahme dieser Störungen verantwortlich. Eine repräsentative Umfrage ergab nach HÄFNER352, dass jeder vierte Deutsche behandlungsbedürftig sei und entweder Beratungsgespräche oder aber eine weitergehende Behandlung in Anspruch nehmen sollte. Von psychischen Problemen besonders betroffen seien Angestellte im Schichtdienst sowie Pendler. Es gibt – wie in der Wissenschaft üblich – auch andere Ansichten, die durch Untersuchungen belegt werden. BULMAHN353 kommt aufgrund seiner Studien zu folgenden Erkenntnissen: Die Deutschen sind seelisch gesünder geworden. Die seelische Gesundheit hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Immer weniger Bundesbürger litten unter mentalen Belastungen; Klagen über Einsamkeit, Depressionen und Nervosität würden seltener. Die Selbstmordrate sei so niedrig wie nie zuvor. Die Unterschiede im Wohlbefinden zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen werden jedoch größer. Symptom Unglücklich, niedergeschlagen Wiederkehrende Ängste und Sorgen Ständig aufgeregt oder nervös Öfter erschöpft oder erschlagen Frei von all diesen Symptomen (altes Bundesgebiet) 352 Prozent 10 17 9 34 60 (1978: 41%) MM, 220, 1999, S. 3; HÄFNER ist Mitarbeiter bei der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. 353 SZ, 131, 2000, S. 14; BULMAHN ist Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). 188 Auch in den neuen Ländern hat sich die Situation nach dieser Studie verbessert. 1990 waren nur 37% der Ostdeutschen frei von mentalen Belastungen, heute sind es 52%. Glück und Unglück sind in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ungleich verteilt. Die Jüngeren genießen vor allem die neuen Freiheiten, ältere Menschen leiden unter der Auflösung der familiären Bindungen. Vor allem bei den über 75-Jährigen ist ein dramatischer Anstieg der Suizidrate zu verzeichnen. ZEHETMAIR weist 1997 darauf hin, dass die Zahl der verhaltensgestörten Schüler an deutschen Schulen weiterhin zunimmt. So seien 25% der Schüler Scheidungswaisen. Weitere 30% der Schüler werden von Alleinerziehenden betreut. Die Familie als die Keimzelle der Demokratie sei brüchig geworden. So könnten Schulen keinesfalls das nicht Vorhandensein von Elternhäusern oder aber eine falsche Erziehung kompensieren.354 Anlässlich der 12. Bundeskonferenz für Schulpsychologie in Münster wurde von Experten jedes fünfte Schulkind in Deutschland als psychisch gestört eingeschätzt. Für mehr als 10 000 Schüler gebe es im Schnitt nur einen Schulpsychologen.355 Nach Berichten von MAGIC ist jedes vierte Kind psychisch gestört. Bei einem europaweiten Kongress über Kinder- und Jugendkriminalität in Paris bestätigten Mediziner, Sportpädagogen, Kriminologen und Psychologen einhellig, dass der physische und psychische Zustand der Kinder sich enorm verschlechtert hat und Störungen erschreckend zunehmen.356 Die Mitarbeiter der Universitätskinderklinik Köln befragten in einer ersten deutsche Studie über psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen 2900 vier- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche. Dabei stellte sich heraus, dass sich mehr als sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland wegen ihrer Depressivität, ihrer Ängstlichkeit oder ihren Zwängen schon einmal in psychotherapeutischer Behandlung befanden.357 Ein wesentliches Ergebnis der Studie war die Erkenntnis, dass die Eltern nicht in alle Lebensbereiche ihres Nachwuchses Einblick haben und dass die Kinder sich selber anders 354 MM, 9/3, 1997, S. 1 MM, 232/41, 1996, S. 1 356 MM, 41, 2000, J 5 357 MM, 138, 2000, S. 1 355 189 einschätzen, als dies ihre Eltern tun. Vielen Eltern entgehe so der Alkohol- und Drogenkonsum ihrer Kinder. BÜSCHING sieht eine Gefährdung der Jugendlichen nicht in erster Linie durch Infektionen oder Erkrankungen, sondern vor allem durch Risikoverhalten wie unersättlichen Erlebnishunger, Risikobereitschaft und Reizüberflutung in allen Lebensbereichen.358 Nach einem Bericht, der auf einem Internistenkongress vorgestellt wurde, erkranken in Deutschland immer mehr Menschen an psychischen Störungen.359 Im Jahr 2000 gab es wegen solcher Leiden im Schnitt 1,32 Fehltage pro Versicherungsnehmer. Damit ergibt sich eine Zunahme von einem halben Tag im Vergleich zum Jahr 1991. Bei den Männern wurden Klinikeinweisungen in erster Linie wegen Alkoholmissbrauchs vorgenommen, während bei den Frauen Depressionen die häufigste Ursache waren. In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil psychischer Störungen bei allen Krankheitsfehltagen um 62,5 %. Bei psychisch bedingten Klinikaufenthalten war im gleichen Zeitraum eine Steigerung von 40,3% zu verzeichnen. „Die Gesellschaft im übrigen tut ihr Äußerstes, jede Art von Sucht zu fördern, nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen, um an den umgesetzten Suchmitteln über die Steuern Anteil zu gewinnen, sondern um die Schwäche von Menschen in jeder Form auszubeuten.“360 Bei dem Versuch der Beschreibung und Klassifizierung psychischer Störungen sollte nach SCHULZ stets die folgende Tatsache berücksichtigt werden: „Beinahe die ganze deutsche Psychologie stammt aus Amerika. Wir übernehmen kritiklos die amerikanischen Störungsbilder und Therapieprogramme. . . . Die Frage nach unserem eigenen kulturellen Umgang und darauf basierenden Therapien in der Psychologie wird gerade erst gestellt. “361 Zum Teil oftmals erhebliche kulturelle Unterschiede werden nicht oder in zu geringem Maße berücksichtigt. 358 BÜSCHING ist Arzt; auf einem Medizin-Kongress in Weimar; in SZ, 59, 2000, S. 16 359 MM, 94, 2001, S. 1 360 DREWERMANN, 2001, S. 171 361 SZ, 94, 2002, V2 /15; SCHULZ arbeitet als Psychologe an der Universität Braunschweig. 190 ROSENHAHN weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich ergeben, wenn Diagnosen im psychiatrischen Bereich gestellt werden: „Wann immer das Verhältnis von dem, was wir wissen, zu dem was wir wissen sollten, sich dem Punkt Null nähert, neigen wir dazu, »Wissen« zu erfinden und anzunehmen, dass wir mehr davon besitzen als tatsächlich der Fall ist. Wir scheinen nicht anerkennen zu können, dass wir etwas schlicht nicht wissen. . . . In Wirklichkeit wissen wir seit langem, dass Diagnosen häufig weder sinnvoll noch zuverlässig sind. . . . Wir wissen jetzt, dass wir Geisteskrankheit nicht von Normalität unterscheiden können.“362 WATZLAWICK: „Da wird die Pathologie als bekannt angenommen, die Normalität dagegen als schwer, wenn überhaupt definierbar. Dies öffnet sich selbst erfüllenden Diagnosen Tür und Tor.“363 Die folgenden Versuche einer Zusammenfassung und eines fragmentarischen Überblicks sind somit nur als „Mosaiksteine“ zu verstehen, die der Leser selbst überdenken muss, um sich ein Bild vom Zustand unserer Gesellschaft zu verschaffen. 362 ROSENHAHN in: „Gesund in kranker Umgebung“ in WATZLAWICK, 2001, S. 132 und 133 363 WATZLAWICK/KREUZER, 2001, S. 64 191 192 Ein Überblick über (häufig) beobachtete Störungen und Auffälligkeiten Aggressivität Eine Umfrage unter 3011 Familien ergab, dass Jungen doppelt so häufig betroffen seien wie Mädchen. 6% der männlichen Kinder und Jugendlichen zwischen vier und 18 Jahren verhalten sich nach Beschreibung ihrer Eltern bösartig. Bei den Mädchen sind es 3%. In Deutschland gelten 600 000 Kinder als „ausgeprägt aggressiv“. Stadtkinder zeigten nur leicht höhere Werte von Aggressivität. Es wurde kein Unterschied zwischen armen und reichen Familien festgestellt. Im Verhalten der Kinder von alleinerziehenden Eltern wurde bei den Mädchen eine offenbar deutlichere Aggressivität festgestellt als bei den Mädchen, die beide Elternteile hatten. Bei den Jungen war dies nicht der Fall.364 Nach einer im Raum Heidelberg durchgeführten Studie an Grundschulen zeigen bereits 15% der Schulkinder aggressives Verhalten. 2% dieser Schüler wiederum gelten als „hoch risikobelastet“. Diese Kinder werden von Gleichaltrigen und Lehrkräften wegen ihres impulsiven und aggressiven Verhaltens zurückgewiesen und überfordern Lehrer und Erzieher.365 Analphabetismus – Problemkinder Laut UNESCO gibt es in Deutschland rund 1 Million funktionale Analphabeten, allein in München Zehntausende. Zu ihnen gehören in erster Linie die Jugendlichen, die ohne Abschluss von der Schule gehen; das sind ca. 11% nach Schätzungen des Stadtschulamtes in München. Diese jungen Menschen sind die Langzeitarbeitslosen von morgen, da sie keine Chance auf eine Berufsausbildung besitzen. Das Projekt „Gilgamesch“ in München, das unter Mitarbeit von BERTAU366 in Zusammenarbeit mit der LMU München und der 364 SZ, 261, 1996, S. 12 Maximilianeum, 6 / 99, S. 85 366 SZ, 187, 1999, L 2; Marie-Cecile BERTAU ist Psycholinguistin am Institut für Phonetik und sprachliche Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität München; der Unterricht findet in der Oettingerstraße 67 in München statt. 365 193 Volkshochschule geleitet wird, versucht, durch Darbietung der „Sprache in allen Formen“ den betroffenen Menschen zu helfen. Neben dem Ziel, Spaß am Lernen zu vermitteln, wird vor allem auch durch regelmäßige rhythmische Übungen bei Rhythmik-Spezialisten versucht, die Lernvorgänge zu intensivieren und effektiv zu gestalten, da Lese- und Schreibstörungen oft mit Wahrnehmungsschwächen gekoppelt sind. Als hauptsächliche Ursache für den funktionalen Analphabetismus bei Mädchen und jungen Frauen sieht BERTAU besonders den Zwang zur Mithilfe zu Hause. „Im Grunde ist das eine Form von Missbrauch“. Anorexia nervosa (siehe auch Essstörungen) Diese Erkrankung gilt als eine der gefährlichsten psychosomatischen Erkrankungen. Zwei von 100 jungen Menschen in den modernen Industriestaaten leiden daran, einer von zehn Patienten stirbt.367 Amokläufe Amokläufe sind Panikreaktionen, bei denen alle Hemmvorgänge aussetzen. FREISLEDER368 nennt als Ursachen von Amokläufen folgende Gründe: ein chronisch schwelender, psychischer Konflikt Charaktere, die primär aggressiv gehemmt sind, also alles in sich hineinschlucken Zustände enormer innerer Anspannung Einzelgängertum (vor allem bei Erwachsenen); Kontaktprobleme fehlender Rückhalt im persönlichen Umfeld Verfügbarkeit gefährlicher Waffen Amokläufer fühlen sich immer ungerecht behandelt, senden dabei keine Alarmzeichen aus. Auslöser von Amokläufen sind meist kränkende Provokationen. 367 SZ, 289, 2001, VII SZ, 254, 1999, L 10; FREISLEDER ist Leiter der HeckscherKlinik für Jugendpsychiatrie in München. 368 194 Angststörungen Etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland leidet an krankhaften Angstanfällen, Panikstörungen oder Angstattacken.369 10% der Jugendlichen und Kinder in Deutschland leiden unter schweren seelischen, meist chronischen Angstzuständen. Mädchen sind viermal häufiger betroffen als Buben. Als am häufigsten auftretende Störung wird von den Experten eine Phobie angegeben. Die davon betroffenen Kinder fürchten sich vor einer Situation oder einem Ort. Auch Ängste vor bestimmten Objekten, vor Leistung, Blamage oder Trennung kommen häufig vor. Unbestimmte Panikattacken, Zwangshandlungen und Angstzustände als Folge von extremen traumatischen Erlebnissen, z. B. Misshandlungen, sollten fachärztlich behandelt werden. Angst tritt oft im Zusammenhang mit Depressionen oder Hyperaktivität auf. Besonders die jugendlichen Patienten haben oftmals Probleme in der Schule, mit der Familie und mit dem Aufbau von Freundschaften.370 Die größte Angst von Kindern ist die vor einem Unglück in der Familie. Im Auftrag der „R+V Versicherung“ wurde vom Institut für Jugendforschung eine Untersuchung an 1000 Kindern im Alter zwischen sechs und 14 Jahren durchgeführt. Danach folgen Ängste vor einem Krieg, und davor, dass es immer mehr Verbrecher gibt, die Kindern Böses antun. Von den Mädchen wurden größere Ängste als von den Jungen geäußert – besonders bei den Themen Sittlichkeitsverbrechen und Krieg. Außerdem wurden von den ostdeutschen Kindern zum ersten Mal mehr Ängste geäußert als von den westdeutschen. Die Ängste vor schlechten Noten in der Schule, vor Arbeitslosigkeit und Geldnot waren hier mehr vorhanden. An letzter Stelle rangierte bundesweit die Angst vor Problemen mit Ausländern.371 GLANZMANN 372 weist darauf hin, dass durch den frühen Weihnachtskommerz starker Stress ausgelöst werden kann. Diese wochenlange Zusatzbelastung kann dazu führen, dass manche Menschen 369 MM, 258, 2001, S. 1; Angaben von Psychiatern und Psychotherapeuten auf einem Kongress an der Universität Münster 370 Münchner Medizinische Wochenschrift 371 SZ, 137, 1999, S. 16 372 MM, 260, 2001, S. 1; GLANZMANN ist Psychologie-Professor in Mainz. 195 regelrechte Angstsymptome entwickeln, an Übelkeit leiden oder in ihrer Arbeitsfähigkeit nachlassen. „Sie haben einfach das Gefühl, nicht mehr zurechtzukommen.“ Behandlung von Angststörungen a) Expositionstherapie373 Bei dieser in speziellen Kliniken praktizierten Therapie sollen die Patienten die Erfahrung machen, dass sie nicht von der Angst beherrscht werden, sondern die Angst in den Griff bekommen können. In Situationen, die erfahrungsgemäß Angst auslösen, wird gelernt, diese selbst so zu verstärken, dass sie weiter zunimmt. Durch die aufkommende Erschöpfung wird der Angstzustand „von selbst“ beendet. Durch das Einsperren in eine Dunkelkammer wird dann Angst erzeugt. b) Spieltherapie Kinder, die depressiv sind, unter Angststörungen oder Zwangszuständen leiden, können mit einer Spieltherapie, die zwischen 25 und 50 Sitzungen mit jeweils 50 Minuten umfasst, therapiert werden. Elterngespräche ergänzen die Behandlung. Auch Gruppensitzungen eignen sich gut zur Behandlungen dieser Störungen, weil sich nach HOCKEL die Kinder hier „in ihren unterschiedlichen Fähigkeiten ergänzen“.374 Das Kind macht bei der Spieltherapie mit einem entsprechend großen Angebot die Erfahrung, „ . . . dass es hier in eine Welt kommt, die für Kinder gemacht ist“. Das Spielen wird „in unserer Welt total unterbewertet“. Obwohl gerade die Industrie Spielzeug in Massen herstellt, müssen Kinder immer häufiger in Lebenswelten aufwachsen, in denen für sie eigentlich kein Platz und keine Zeit vorhanden ist. 373 SZ, 160, 2001, VI MM, 271, 2001, S. 4; HOCKEL ist Kinderpsychotherapeut und Leiter des Münchner Instituts für Kinder- und JugendlichenPsychotherapie. 374 196 Arzneimittel – regelmäßige Einnahme 30% der Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren nehmen laut HURRELMANN nach dem Vorbild der Erwachsenen regelmäßig Arzneimittel ein. Die Eltern prägten durch ihr Verhalten die Einstellung der Heranwachsenden zu Pillen, Kapseln und Tropfen. 10% der Jugendlichen seien Konsumenten von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, 6% hätten Erfahrungen mit Aufputschmitteln.375 Autismus Nach internationalen Untersuchungen sind vier bis fünf von 10 000 Kindern autistisch. Buben sind drei bis viermal häufiger von dieser Störung betroffen als Mädchen. Die Anzahl der Autisten in Europa wird auf etwa 1 000 000, die Anzahl in Deutschland auf 60 000 geschätzt. Die Ursachen für diese Erkrankung sind noch nicht erforscht, neuere Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass ein genetischer Defekt bei der Beteiligung mehrerer Gene charakteristisch bei Autisten ist. POUSTKA gelang es zusammen mit anderen europäischen und amerikanischen Forschern, zwei Regionen im menschlichen Erbgut zu identifizieren, die an der Entstehung des Autismus beteiligt sind. Bei der Analyse des Erbgutes wurde der lange Arm von Chromosom 7 und der kurze Arm von Chromosom 16 als mitbeteiligt entdeckt.376 Jetzt beginnt die Suche nach den entscheidenden Genen. Autismus ist eine schwere Beziehungs- und Kommunikationsstörung, die als angeboren gilt. Von dieser Störung betroffene Kinder können keine Beziehung zu den eigenen Eltern oder anderen Kindern herstellen. Gesten, Worte oder Lächeln werden zunächst nicht verstanden. Bei der intellektuellen Begabung sind viele Varianten zu beobachten. Sowohl eine geistige Behinderung als auch das Vorhandensein einer normalen Intelligenz (soweit Intelligenz überhaupt gemessen werden 375 SZ, 279, 1999, S. 16; HURRELMANN bei der Tagung des Instituts für Lehrerfortbildung und der Techniker Krankenkasse (TK) 376 MM, 81, 1998, S. 3; POUSTKA ist Professorin in der Abteilung für molekulare Genomanalyse an der Universität Heidelberg und zugleich am Deutschen Krebsforschungszentrum. 197 kann) sind möglich. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Menschen mit autistischen Störungen oftmals zu erstaunlichen Teilleistungen in der Musik, im Rechnen, im technischen Bereich oder auf anderen Gebieten fähig sind. Spielzeug wird oftmals in zweckentfremdender oder in immer gleicher Weise benutzt. Häufig werden auch Stereotypien entwickelt wie das Drehen und Kreiseln von Rädern oder das Wedeln mit Fäden oder Papier.377 Ungewohntes irritiert autistische Menschen auf das Äußerste. Die genauen Ursachen des Autismus sind unklar. Geschwister von autistischen Kindern sind von diesem Leiden etwa 75mal so häufig betroffen wie der Durchschnitt der Bevölkerung (zwei bis vier von 10 000 Geburten). Bei einer Untersuchung von 99 Familien mit mindestens zwei autistischen Kindern wurden Blutproben analysiert. Dabei wurden sechs Bereiche auf verschiedenen Chromosomen gefunden, in denen mit größter Wahrscheinlichkeit Autismusgene vermutet werden. Das funktionelle Zusammenspiel im Gehirn wird offenbar durch mehrere Gene beeinträchtigt.378 Nach neuesten Forschungsergebnissen sind zwei Gen-Defekte – Varianten auf den Genen 15 und 7 – für Autismus verantwortlich. Dies wurde bei einem Gen-Vergleich von über 100 Familien mit mindestens zwei autistischen Kindern festgestellt.379 Die Diagnose soll durch einen Fragenkatalog mit 117 Fragen erleichtert werden. Weitere Beobachtungen: 377 Jedes zweite autistische Kind schneidet bei einem Intelligenztest mit einem IQ unter 70 ab. 40% der autistischen Kinder unter 16 Jahren haben einen größeren Kopfumfang als ihre Altersgenossen. An den Nervenzellen wurden Veränderungen festgestellt. Etwa jedes dritte Kind produziert den Nervenbotenstoff Serotonin im Überschuss. MM, 8, 1997, J 6 Human Molecular Genetics, März 1998 379 MM, 53, 2000, S. 4; Duke Universität in Durham, North Carolina, USA 378 198 Nach SINGER ist Autismus auch darauf zurückzuführen, dass es den Kleinkindern nicht gelingt, aus Gestik und Mimik der Bezugspersonen die emotionalen Signale zu dechiffrieren.380 Berufliche Probleme – Risiko der Entstehung von Depressionen durch mangelnde Bereitschaft zum Zuhören Männer wollen sich nach einer Studie von CROSSFIELD381 abends nicht die Probleme ihrer Partnerinnen anhören. Viele Männer fühlen sich belastet, wenn zu ihrem eigenen Berufsstress noch die Auseinandersetzungen mit dem Erzählten ihrer Partnerin dazukommt. Bei den Männern bestehe im Vergleich mit den Frauen ein doppelt so hohes Risiko, dadurch depressiv zu werden. Diese Tatsache wird dadurch erklärt, dass Männer außerhalb der Partnerschaft geringere emotionale Unterstützung erfahren. Frauen seien dagegen nicht so ausschließlich auf ihren Partner angewiesen wie Männer. Für viele Männer sei die Partnerin der einzige Mensch, von dem sie emotionale Unterstützung bekämen. Bettnässen GONTARD nimmt als Ursache für das nächtliche Bettnässen ( Enuresis nocturna) eine vorübergehende Reifungsstörung des Gehirns an. Etwa 10% der Siebenjährigen haben mit diesem Symptom Probleme. Bei den Erwachsenen wird das Vorkommen auf 1:100 geschätzt. Wurden bisher eine Blasenschwäche oder aber Erziehungsfehler der Mütter als Ursachen vermutet, so gehen neuere Forschungsansätze von einer Störung des Hormon- und Nervensystems der Kinder aus. Sowohl der feste Schlaf der Kinder als auch die erhöhte Urinproduktion und das Versagen des Wecksystems tragen zu dem Problem bei. Die Aufwachstörung wird nun auf eine von den Eltern geerbte genetische Veranlagung zurückgeführt, da in 60 bis 70% der Familien auch andere Mitglieder betroffen seien. Untersuchungen des Erbgutes von 42 betroffenen Kindern brachten den Hinweis darauf, dass 380 www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/mckinsey.htm; SINGER ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung. 381 SZ, 4, 2000, S. 12; Sophie CROSSFIELD ist Psychologin an der Universität Hertfordshire. 199 die Anfälligkeit nicht auf ein einziges Gen zurückgeführt werden kann, sondern dass in verschiedenen Familien unterschiedliche Gene für dieses Symptom verantwortlich sind. 10 bis 20% der Kinder nässen nachts allein dadurch nicht mehr ein, dass sie einen Kalender führen, in welchen nasse und trockene Nächte eingetragen werden. Auch eine apparative Verhaltenstherapie kann bei 50 bis 70% der Kinder das Problem lösen. Eine sekundäre Enuresis kann durch einschneidende Lebensereignisse wie Scheidung der Eltern, Geburt eines Geschwisters oder den Tod eines Familienmitgliedes erneut auftreten. Ein Fehlverhalten von Eltern wird nicht mehr als Ursache angenommen.382 Binge-Eating-Disorder (BED) In Deutschland leiden 400 000 Menschen an Essanfällen ohne anschließendes Erbrechen. Etwa 83 000 Männer haben ein krankhaft gestörtes Verhältnis zum Essen. FICHTER: „Bei Männern dürfte BED prozentual gesehen etwas häufiger als bei Frauen vorkommen, Magersucht dagegen etwas weniger oft.“383 Männer besitzen ein intensiver ausgeprägtes Verlangen nach einem Traumkörper mit perfekt ausgeprägten Muskeln. Essgestörte Männer finden sich in allen Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten. In vielen Fällen steht die Einstellung zur Sexualität in engem Zusammenhang mit den Esstörungen bei Männern. So stellte sich bei 95% von 42 magersüchtigen Männern heraus, dass durch das Hungern versucht wurde, den Sexualtrieb zu unterdrücken. Das Thema Sexualität war bei 80% dieser Männer innerhalb der Familie ein Tabu. Die Identifikation mit dem Vater sei oftmals gestört gewesen. Dies zeige Auswirkungen in der Annahme von männlichen Attributen und Rollen. Ein Drittel der untersuchten Männer beschrieb sich als homosexuell. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass nur Homosexuelle gefährdet sind. Der Krankheitsverlauf zeigt sich bei Männern vielfältiger als bei Frauen. Bei Männern treten Essstörungen in vielen Fällen im Zusammenhang mit Alkoholismus, Angsterkrankungen, Depressionen 382 GONTARD, Universitätsklinik Köln in SZ, 235, 1998, V 2 /9 SZ, 55, 2000, V 2 /14; FICHTER ist Neurologe und Psychiater; er leitet die Psychosomatische Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. 383 200 und Persönlichkeitsstörungen auf, wurde durch die bisher größte europäische Studie an über 100 Männern ermittelt. Eine andere Studie aus den USA stellte ein erhöhtes Risiko für psychiatrische Krankheiten fest.384 Die Krankheit wird in der Regel bei Männern später erkannt als bei Frauen. Die Ursache liegt darin begründet, dass die Männer sich selbst nicht eingestehen wollen, dass sie an einer „Frauenkrankheit“ leiden. „blame game“ Die Schuld für bestimmte Entwicklungen (familiär, wirtschaftlich, staatlich) wird durch Tricks und Spielchen bei anderen gesucht, ohne sich selbst dabei in Frage zu stellen. Beim „blame game“ geht es nicht um die Suche nach konstruktiven Lösungen zum Wohle aller Beteiligten, sondern in erster Linie darum, andere auch unter Zuhilfenahme unfairer Methoden aus dem Spiel zu werfen. Die Ausbreitung dieses „Gesellschaftsspiels“ trägt zur Entstehung psychischer Störungen bei. Es wird gefördert durch entsprechende Medien-Events wie Big Brother; hier werden Mitspieler, die sich nicht entsprechend behaupten können, durch Zuschauer aus dem Spiel geworfen, ohne sich rechtfertigen zu können. Borderline-Gesellschaft KREISMAN/STRAUS weisen darauf hin, dass wir in einer Borderline-Gesellschaft leben. Wie häufig bei psychischen Erkrankungen werden mehrere Faktoren in wechselseitiger Abhängigkeit für die Entstehung dieser Krankheiten verantwortlich gemacht: das biochemische Ungleichgewicht neurologische Faktoren genetische Faktoren Aufwuchsbedingungen/Erziehung Medikamente. Interessanterweise wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit folgenden neurologischen „Unterfaktoren“ in Verbindung gebracht: 384 Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Bd. 38, 1999, S. 829 201 Lernschwächen, Hyperaktivität, Epilepsie, Kopftrauma und Gehirnhautentzündung.385 Besonders bei Gehirnhautentzündungen ist wiederum die Frage zu stellen, ob diese nicht in vielen Fällen durch Impfungen verursacht wurden. STEINHAUSEN weist ebenfalls auf die Möglichkeit der Entstehung organischer Psychosyndrome durch Impfungen hin.386 Diese Meinung wird auch von BUCHWALD, DELARUE, COULTER und COURNOYER vertreten.387 Bruxismus Unverarbeiteter Stress ist nach FRANZ388 die Ursache für das bei vielen Kindern und Erwachsenen vorkommende nächtliche Zähneknirschen. Etwa 30% der Zahnarztbesuche sind auf Schäden des nächtlichen Knirschens zurückzuführen. Zahnmediziner und Psychologen befassen sich derzeit mit der Entwicklung eines verhaltensmedizinischen Gruppentherapieprogrammes. Down-Syndrom389 Durch jahrzehntelange Vorurteile galten Kinder mit diesem Syndrom als geistig behindert, körperlich schwach und kaum entwicklungsfähig. Dadurch wurden viele mögliche Entwicklungen verhindert. Kinder mit Down-Syndrom weisen eine erbbedingte Chromosomenverschiebung auf. Etwa jedes 600. Kind wird mit einem DownSyndrom geboren. Kinder mit Down-Syndrom sind überdurchschnittlich häufig von Herzkrankheiten betroffen und dadurch körperlich weniger robust; sie lernen langsamer als andere Kinder. Am leichtesten lernen sie, indem sie die Mitmenschen nachahmen. Sie 385 KREISMAN/STRAUS, 1997, S. 91 STEINHAUSEN, 1996, S. 95 387 BUCHWALD, 1995, COULTER, 1995, DELARUE, 1995, Cynthia COURNOYER, 1996 388 MM, 41, 2000, J 5; FRANZ ist Professor für psychophysiologische Affektforschung der Westdeutschen Kieferklinik in Düsseldorf. 389 SZ, 190, 1998, L 6 386 202 befinden sich oft in einer besonders heiteren Stimmung und sie sehen auch anders aus : Die Augen liegen nicht so tief im Gesicht und das Kinn ist oft nicht so stark ausgeprägt. Manche Kinder mit Down-Syndrom fallen durch besondere Begabungen auf. Entweder sind sie musikalisch besonders begabt oder sie lesen gerne und viel, andere wiederum haben ein besonderes Talent im Umgang mit Farben. Der Umgang mit Zahlen und Mathematik bereitet im Gegensatz zum Erlernen des Lesens und Schreibens wesentlich mehr Schwierigkeiten. Im Umgang mit diesen Kindern gilt als oberste Regel: Es ist wichtig, sie zuallererst als Kinder wie andere zu behandeln und auch zu verstehen und sie nicht als Behinderte auszugrenzen. Drogen Vererbung – Erziehung . . . oder . . . ? Eine neuere Studie Die Gene spielen offenbar doch eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Suchtkrankheiten (Nikotin, Medikamente, Heroin). Durch Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien wurde die Veranlagung zur Sucht deutlich belegt. Bei vielen Patienten zeigte sich, dass der genetische Faktor weitaus stärker beteiligt war als soziale oder familiäre Probleme. GOLDMANN: „Adoptivkinder beispielsweise, die einen Alkoholiker als Elternteil hatten, haben auch in ihren neuen Familien, in denen kein Alkoholmissbrauch betrieben wird, ein drei- bis viermal höheres Risiko, abhängig zu werden, als andere adoptierte oder in Pflege gegebene Kinder.“390 Die vorhandenen Daten der durchgeführten Studien lassen den Schluss für die westlichen Industriestaaten zu, dass die hier besonders verbreitete Alkoholabhängigkeit zu 50 bis 60% genetisch bedingt sei. Besonders den Genen, die für die Ausbildung der Rezeptoren an den Nervenzellen verantwortlich seien, könnte bei der Entstehung von Sucht eine besondere Rolle zufallen. Sie sorgen auch für 390 MM, 161, 2001, S. 3; 7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie; GOLDMANN ist Professor am Nationalen Institut für Alkoholmissbrauch in Bethesda, USA. 203 das Andocken der Nervenbotenstoffe Serotonin und Dopamin oder die Verstoffwechslung von Opioiden. 204 Versuch einer Bestandsaufnahme Rauschgift Die Zahl der Drogentoten ist in den ersten acht Monaten des Jahres 1999 laut Rauschgiftstatistik des Bundesinnenministeriums gestiegen. 1004 Menschen starben an ihrer Sucht. Das waren 44 mehr als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Die Anzahl der Erstkonsumenten reduzierte sich von 11 813 auf 11 622. Der Anteil an Kokain- und Amphetaminkonsumenten ist jedoch gestiegen. In den ersten acht Monaten des Jahres 1997 koksten laut dieser Statistik 2803 Menschen (1998: 3152). Zu Amphetaminen griffen in diesem Jahr 3569 Personen, im Vorjahr waren es 3047. Der Konsum von Ecstasy und LSD wird als rückläufig bezeichnet.391 Die Zahl der Drogentoten in Bayern stieg im Jahr 1998 sprunghaft an. Gegenüber dem Jahr 1997 war mit 312 Todesfällen eine Steigerung von 42% zu verzeichnen. In München war eine Steigerung von 14% (von 57 auf 66) zu beobachten; dies bedeutet 5,8% mehr als im Bundesdurchschnitt. Suchthilfe-Experten vermuten, dass der vom Gesetzgeber erzwungene Codein-Ausstieg für die zusätzlichen Opfer mit verantwortlich ist.392 Im Jahr 1999 stieg die Zahl der Drogentoten auf den höchsten Stand seit 1993. Mindestens 1723 Menschen starben 1999 am Rauschgiftkonsum.393 Im Jahr 1993 waren 1738 Todesfälle (1998: 1674) zu verzeichnen. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg war der stärkste Anstieg zu beobachten. Im Jahr 2000 starben bundesweit 2023 Menschen an Drogen. Dies bedeutet eine Steigerung um 12% im Vergleich zum Vorjahr.394 Im Jahr 2000 starben 40 000 Menschen nach Alkoholmissbrauch 100 000 an den Folgen des Rauchens. 391 MM, 222, 1998, S. 1 SZ, 11, 1999, L 3 393 SZ, 2, 2000, S. 13; Länderumfrage der Nachrichtenagentur AP 394 SZ, 50, 2001, S. 2; eine Information der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marion Casper-Merk 392 205 Auffällig sei ein steigender Anteil junger Aussiedler unter den Drogentoten. Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen hat sich die Drogenerfahrung erhöht, so eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Cannabis, Ecstasy und Amphetamine würden häufiger konsumiert. Mädchen und junge Frauen sind für illegale Drogen anfälliger als früher. In Ostdeutschland hat sich die Drogenerfahrung der Zwölf- bis 25Jährigen verdreifacht (von 6% auf 17%).395 Die DHS spricht von 250 000 bis 300 000 Menschen, die harte Drogen nehmen, davon 100 000 bis 150 000 mit riskantem Konsumverhalten.396 Drogen spielen auch eine zunehmende Rolle bei dem Zustandekommen von Verkehrsunfällen mit Personenschaden. Waren es im Jahr 1997 noch 109 bekannt gewordene Fälle, so stieg die Anzahl im Jahr 1998 auf 157.397 In Bayern sind 1998 knapp 42% mehr Menschen ihrer Drogensucht zum Opfer gefallen als ein Jahr zuvor. So waren 312 Drogentote zu beklagen, im Vorjahr vergleichsweise 220. Bundesweit gab es einen Anstieg um 7,9% schon bis Ende November. 1997 waren 1501 Menschen an Drogen gestorben.398 Einer weiteren Meldung nach hat die Zahl der Drogentoten in Bayerns Ballungszentren im laufenden Jahr (2000) dramatisch zugenommen. STAMM teilte mit, dass die Zahl der Todesfälle in München um 50%, in Nürnberg sogar um 65% im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sei. Bayernweit sei ein Zunahme um 7% zu verzeichnen. Die genauen Ursachen des Anstiegs seien unklar.399 395 MM, 291, 1998, S. 2 SZ, 292, 1998, S. 12 397 MM, 115, 1999, S. 1 398 MM, 3, 1999, S. 1 399 MM, 136, 2000, S. 1 396 206 Als Drogentote werden statistisch folgende Gruppen erfasst: Tod durch eine Überdosis durch ein oder mehrere Rauschmittel Tod durch Langzeitkonsum Tod durch Unfälle, die auf den Einfluss von Drogen zurückzuführen sind Selbstmorde wegen existenzieller Not, die sehr häufig mit der Abhängigkeit einhergeht. Altersdurchschnitt der Drogentoten in München: 32,7 Jahre Alter Prozent über 50% 30 bis 40 älter als 40 12,5 unter 20 1 Obduktionen ergaben, dass nur zehn der Opfer (25%) Konsumenten einzelner Drogenarten waren. Der Anteil unter den Tatverdächtigen erhöhte sich bei den Minderjährigen um mehr als 6%. Jünger als 18 Jahre war jeder dritte (1742 von 4884).400 In München ist die Zahl der Drogentoten im Jahr 1999 im Vergleich zum Vorjahr (1998: 72 und 1997: 60) gesunken. In den vergangenen zwölf Monaten starben 61 Männer und Frauen an den Folgen des Drogenkonsums. Eine Erklärung für diese statistischen Schwankungen gibt es nicht.401 Ein besonderes Problem stellen die drogenabhängigen Frauen mit ihren Kindern dar. In München leben wenigstens 2000 weibliche Junkies mit etwa 1800 Kindern, die zumeist süchtig auf die Welt gekommen sind. Dazu SOLTAU: „Schon allein der Konsum einzelner Substanzen und der dazu gehörende Lebensstil hat stark schädigende Auswirkungen in der Schwangerschaft und auf die weitere Entwicklung der 400 401 SZ, 135, 2000, L 1 SZ, 2, 2000, L 1 207 Kinder – durch den Mischkonsum verschärfen sich die Komplikationen.“402 Sie zeigen sich bei polytoxikomanen Müttern und ihren Kindern in Form von: Früh- und Krisengeburten Babys mit Entzugssyndromen Entwicklungsstörungen im Embryonalstadium Wachstumsstörungen bei den Säuglingen Die Säuglinge erhalten zu wenig fürsorgliche Zuwendung Ein kindgerechter Lebensrhythmus wird nicht wahrgenommen Fehlen einer ruhevollen Atmosphäre Fehldeutungen einzelner einfacher Bedürfnisse des Kindes (trinken, essen, schlafen). Nach LEUNE konsumiert jeder sechste bayerische Schüler außerhalb der Großstädte regelmäßig Drogen. Diese sei das Ergebnis einer Studie mit 3020 Schülern aus München und Umgebung. 40% der Schüler nahmen danach ab und zu Rauschmittel. LOBINSKY geht davon aus, dass es statistisch gesehen beim Drogenkonsum keinen großen Unterschied zwischen Stadt und Land gebe.403 Noch nie starben in München so viele Menschen an den Folgen ihrer Drogensucht wie im Jahr 2000.404 Es wurde der bisherige Höchstwert von 1993 erreicht. München steht mit diesem Trend allein. Selbst in Drogen-Metropolen wie Frankfurt sinken die Zahlen. Experten bemängeln fehlende Hilfsangebote. 402 SZ, 129, 2000, L 2; Roswitha SOLTAU ist Diplom-Psychologin und Leiterin der Beratungsstelle „extra“ in München. 403 MM, 112, 2000, S. 1; LEUNE ist Geschäftsführer des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel; LOBINSKY ist Suchthilfekoordinator der Stadt München. 404 MM, 288, 2000, S. 1 208 In Berlin starben nach JOHN405 225 Menschen im Jahr 2000 an ihrer Drogensucht. Diese Zahl ist die höchste seit 1992 (217 Drogentote). Das durchschnittliche Alter der Toten betrug 33,1 Jahre. Der Trend gehe zum risikoreichen Mischkonsum. HABERKORN: „Je mehr Mischkonsum betrieben wird, desto unkalkulierbarer sind die Folgen für den Körper.“ Insgesamt gebe es eine hohe Dunkelziffer bezüglich der Drogentoten, da es fraglich sei, ob statistisch auch Drogenabhängige erfasst werden, die beispielsweise an Infektionen sterben. Erklärungen für den Anstieg sind nur schwer zu finden: Einerseits wüssten viele Drogenabhängige in Notsituationen nicht, was zu tun sei. Aus Angst vor Strafverfolgung würde oftmals keine qualifizierte Hilfe gesucht. Auch die wechselnde Qualität des Stoffes könne eine Rolle bei dem Anstieg spielen. Im Landkreis Weilheim-Schongau (Oberbayern)406 wird die Zahl der jungen Leute, die Erfahrungen mit der „Modedroge“ Ecstasy gemacht haben, von Mitarbeitern des Gesundheitsamtes auf knapp unter 7000 geschätzt. Ecstasy wirkt direkt auf das Gehirn. Der Wirkstoff 3,4-Methylendioxymethamphetamin verhindert die Wiederaufnahme des Botenstoffes Serotonin in die Nervenzellen. Die Droge verursacht eine Verengung der Blutgefäße und führt in der Folge zu Sauerstoff- und Glukose-Engpässen. Dadurch sterben die Nervenenden vermehrt ab. Dies wurde durch die PositronenEmissions-Tomographie belegt. Ehemalige Ecstasy-Konsumenten besitzen weniger „Serotonin-Transporter“ (sie befinden sich an den Enden der Nervenzellen) im Vergleich zu Menschen, die diese Droge nie eingenommen haben. Das Ausmaß der Zerstörung der Nervenenden war unabhängig von der Länge der Abstinenz und steht offenbar in einem Zusammenhang mit einer individuellen Anfälligkeit. Auch energieverbrauchende Aktivitäten (Hitze und Bewegung) beschleunigen das Absterben der Nervenenden.407 405 SZ, 32, 2001, S. 10; JOHN ist Sprecher der Senatsjugendverwaltung in Berlin; HABERKORN ist Suchtreferent bei der Landesstelle Berlin gegen Suchtgefahren e.V. 406 MM, 236, 1999, WM-SOG, SOG 1 ; Die Informationen zu dieser Droge stammen von BREU, Leiter des Gesundheitsamtes WeilheimSchongau. 407 Lancet, 1998, Bd. 352, S. 1433 209 Bei dieser Droge ist es schwierig, direkte auffällige körperliche Symptome festzustellen. Weit geöffnete Pupillen, die auch durch Lichteinwirkung nicht kleiner werden, werden in den wenigsten Fällen bemerkt. Konsumenten sind in der Regel wach, angeregt, fühlen sich weniger gehemmt und offener. Dabei besteht das Gefühl, alles intensiver zu erleben. Bei Personen, die psychisch labil sind, kann die Droge auch depressive Wirkung erzeugen. Die Wirkungsdauer wird mit zwei bis sechs Stunden angegeben. Schwäche und Müdigkeit werde danach nur in einzelnen Fällen gespürt. Bei Jugendlichen besteht häufig die Tendenz, mehrere Pillen hintereinander einzunehmen, um die Wirkungsdauer zu verlängern. Eine Gewöhnung und das Verlangen nach immer höheren Dosen ist die Folge. Ecstasy hemmt auch die Produktion des Nerven-Botenstoffes Dopamin. Ein Dopamin-Mangel wird unter anderem als Auslöser der Parkinson-Krankheit angesehen.408 Untersuchungen an Affen, denen Ecstasy verabreicht wurde, zeigten eine um 90% verminderte Aktivität der serotoningesteuerten Zellen. Es gibt bei dieser Droge nach heutigem Wissensstand keine sichere Dosis.409 Als Langzeitschäden können sich Depressionen, Schlafstörungen und Nieren- oder/und Leberschädigungen einstellen. Die Herstellungskosten pro Tablette liegen bei etwa 20 Pfennigen, der Verkaufspreis etwa um 25 DM. Die Produktionsstätte Nr.1 – Holland Holland gilt inzwischen als die Nummer eins der Produktionsstätten von Ecstasy. Die Zahl der – auch mobilen – Laboratorien wird dort auf 100 geschätzt. Allein im Jahr 2000 wurden in den Niederlanden 37 Produktionsstätten für synthetische Drogen entdeckt. Etwa ein Drittel aller Pillen wird durch Kuriere mit dem Flugzeug verschickt, 13% auf dem Postweg. Im Jahr 1999 wurden 9,7 Millionen Tabletten, im Jahr 2000 bereits 16,2 Millionen Tabletten beschlagnahmt. Mehr als 40% der beschlagnahmten Drogen war für die USA bestimmt. Die Empfänger sitzen in etwa 45 Ländern. 408 RICAURTE auf dem Weltkongress für Medizin in Hannover; MM, 179, 2000, S. 3 409 Ärzte-Zeitung, August 2000 210 Die Zahl der in den letzten Jahren auf dem Flughafen AmsterdamSchiphol verhafteten Drogenkuriere beläuft sich auf 5000. In Holland sind Drogen ebenso leicht zu kaufen wie eine Schachtel Zigaretten. Neben Ecstasy (Herstellungskosten etwa 1 €, Verkaufspreis für eine Tablete 15 €) wird zunehmend mehr das Narkosemittel „ghb“ eingenommen. Mit Alkohol kombiniert führt es in vielen Fällen zum Tod. Allein in England werden jährlich etwa 35 Tonnen Ecstasy geschluckt. Diese Menge verspricht einen Gewinn von einigen Milliarden € pro Jahr.410 MÖLLING sieht diese Pille als einen Teil unser Kultur. Bei uns wird schnell etwas gegen Zahnschmerzen oder Migräne geschluckt. Der Handel mit diesen Drogen wird von Zuwanderern ohne Aussicht auf legale Jobs bestimmt. Herstellung und Vertrieb von Ecstasy erfolgen in erster Linie durch israelische und einheimische Banden. Laut Angaben von EUROPOL werde trotz der täglichen Verurteilung von Drogenhändlern keine Pille weniger gedreht. Seit dem Jahr 1988, als die UNO-Mitglieder sich in Wien zur WeltDrogen-Konferenz getroffen hatten, stieg die Zahl der Süchtigen von damals 20 bis 50 Millionen weltweit auf heute rund 190 Millionen. Etwa 30 Millionen nehmen zur Zeit Amphetamine.411 Der Caritas-Verband schätzt die Anzahl der Heroinabhängigen in Deutschland auf 120 000 bis 150 000 Menschen.412 Jugendliche neigen heute eher zu Essstörungen, Drogenmissbrauch und Depressionen als vor 10 bis 15 Jahren. Immer häufiger greifen auch schon Acht- bis Zehnjährige regelmäßig zur Flasche. 3000 Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren wurden im Rahmen einer Untersuchung des Max-Planck-Institutes befragt und untersucht.413 Jugendliche greifen immer früher und immer häufiger zu Alkohol, Zigaretten oder illegalen Drogen. WITTCHEN (Max-Planck-Institut 410 SZ, 284, 2001, S. 12; MÖLLING arbeitet bei Europol. SZ, 77, 1999, V 1/28 412 SZ, 38, 1999, S. 2 413 MM, 51, 1999, S. 1 411 211 für Psychiatrie, München) zu diesem Problem aufgrund einer repräsentativen Studie des Instituts: „Ihre ersten Züge nehmen Kinder schon mit neun Jahren, Alkohol konsumieren sie ab dem zwölften Lebensjahr, Hasch oder Ecstasy zwei Jahre später.“414 Etwa zwei Drittel aller Erwachsenen würden regelmäßig trinken und rauchen, ein Drittel greife zu illegalen Drogen. SOLTAU geht davon aus, dass ca. ein Viertel der etwa 5000 Drogensüchtigen in München selbst Kinder hat. Es sind vermutlich wenigstens 1500 Kinder. Es kommt immer wieder vor, dass Eltern, die wegen ihrer Sucht substituiert werden, auch ihren Kindern gelegentlich oder regelmäßig Suchtersatzstoffe geben. Kinder von Drogenabhängigen sind immer wieder den affektvollen Zuständen ihrer Eltern hilflos ausgeliefert. Schreiende oder quengelnde Kinder von Drogenabhängigen würden oftmals mit Methadon ruhiggestellt. Die Eltern machen das in der Annahme, ihren Kindern etwas Gutes zu tun – sie machen mit ihnen, was sie mit sich selbst machen.415 Synthetische Drogen – so die neue Modedroge „Crystal“ (ein Amphetaminderivat „das stärker und gefährlicher ist als alles was es bisher auf dem Rauschgiftmarkt gegeben habe“ 416), die in tschechischen Labors in Nordböhmen hergestellt wird – sind bei Jugendlichen nach Ansicht von Experten mittlerweile fast so verbreitet wie Haschisch. „Crystal-Speed“ (das Aussehen erinnert von der äußeren Form her an Kandiszucker oder Bergkristalle) führt bereits bei der ersten Einnahme zur Abhängigkeit und ist durch eine lang andauernde Rauschwirkung (bis zu 70 Stunden) besonders gefährlich. Auch die bei der Einnahme auftretende hohe Aggressivität der Konsumenten gibt Anlass zu großer Sorge. „Crystal“ wird entweder in einer Glaspfeife geraucht oder auf andere Art inhaliert. Die neue Droge „Yaba“ wirkt wie ein Aufputschmittel. 414 zitiert in MM, 151, 1999, S. 1 SZ, 254, 1999, L 2; SOLTAU ist Diplom-Psychologin des Beratungszentrums „extra“ für drogenabhängige Frauen und Mädchen in München. 416 SZ, 93, 2000, S. 16; HOFER, LKA-Sprecher in Dresden 415 212 PORZUCEK417 zu den Wirkungen: Bereits eine einmalige Einnahme macht süchtig. Das chemische Rauschgift wird geschnupft, geraucht oder geschluckt. Zudem macht diese Droge extrem gewalttätig. Auch Handlungen, die mit Selbstmord enden, wurden beobachtet. Die Konsumenten litten außerdem an Schlafstörungen und Verfolgungswahn. Die Droge stammt aus dem asiatischen Raum und wird vor allem in Thailand, Japan und China konsumiert. Auch in Tschechien werde der Stoff bereits in größeren Mengen hergestellt und eingenommen. Drogentote und Drogenkonsum in der EU – ein Vergleich 418 Italien: Auf 1000 Erwachsene kommen etwa acht Konsumenten von harten Drogen. Großbritannien: vergleichbar mit Italien Deutschland: Etwa zwei von 1000 Deutschen injiziieren sich Suchtstoffe oder nehmen regelmäßig Opiate, Kokain oder Amphetamine ein. Niederlande: vergleichbar mit Deutschland In der EU sterben, so wie in den Jahren zuvor jedes Jahr mehr als 7000 Drogensüchtige. Rauschgifttote in Deutschland 1989 bis 2001419 (bis 1990 nur alte Bundesländer / 2001 bis November) Jahr Anzahl Jahr Anzahl 1989 991 1996 1712 1990 1491 1997 1501 1991 2125 1998 1647 1992 2099 1999 1812 1993 1738 2000 2030 1994 1642 2001 1552 1995 1565 Von 1989 bis 2001 zusammen 21 905 Rauschgifttote. 417 Jutta PORZUCEK ist am Rauschgiftreferat des Landekriminalamtes tätig. 418 SZ, 268, 2001, S. 9; Jahresbericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) 419 SZ, 292, 2001, S. 6 ; Quelle: AP/ Drogenbeauftragte der Bundesregierung; Bundeskriminalamt 213 Neuere Zahlen zur Drogeneinnahme420 27% der Zwölf- bis 25-Jährigen haben schon einmal eine illegale Droge eingenommen. 21,8% der 18- bis 59-Jährigen haben in den alten, 11% in den neuen Bundesländern mindestens einmal illegale Drogen eingenommen. Die Zahl der drogenerfahrenen jungen Menschen ist in den vergangenen acht Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen. 4% der Befragten hatten Erfahrung mit Ecstasy. 3% der Befragten konsumiere bereits Aufputschmittel. 30% der Zwölf- bis 25-Jährigen trinken mindestens einmal in der Woche Alkohol. Seit 1980 deutlicher Rückgang des Zigarettenkonsums. Seit 1995 nimmt der Anteil der Raucherinnen zu, während die Zahl der männlichen Raucher weiter abnimmt. 17% der Frauen und 12% der befragten Männer (hochgerechnet 7 Millionen Menschen) nehmen mindestens einmal pro Woche psychisch beeinflussende Medikamente (Schlafmittel, Antidepressiva, Appetitzügler). Frauen erhalten die entsprechenden Rezepte doppelt so häufig wie Männer. Nikotin Neuere Erkenntnisse zur Nikotin-Sucht Nach PERKINS421 liegt die Erklärung dafür, warum bereits abstinente Raucher wieder rückfällig werden, in ihrer Toleranz gegenüber Nikotin. Während des Anfangsstadiums einer Sucht sinkt die Empfindlichkeit gegenüber Nikotin. Sie bleibt auf niedrigem Niveau, auch wenn mit dem Rauchen aufgehört wird. Die bisherige Ansicht war, dass nach dem Aufhören mit dem Rauchen die Nikotintoleranz abnimmt. Offensichtlich finden nach dem Beginn mit dem Zigarettenrauchen im Körper beständige Veränderungen in der Reaktion auf das Nikotin statt, die dazu beitragen, dass sich alte Verhaltensmuster wegen der niedrigen Nikotin420 SZ, 141, 2001, S. 7; Vorstellung zweier Studien durch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion CAPERS-MERK 421 Journals Psychopharmacology, 11, 2001; PERKINS arbeitet an der University of Pittsburgh School of Medicine, USA. 214 Empfindlichkeit schneller als bei Neu-Rauchern entwickeln. Sowohl bei aktiven Rauchern, die das Rauchen aufgeben wollten, als auch bei Ex-Rauchern, die zwischen einem und 19 Jahren nicht mehr geraucht hatten, wurde die gleiche Nikotin-Toleranz festgestellt. Insgesamt rauchen nach NICKELS in Deutschland derzeit etwa 17 Millionen Menschen, mehr als 40% der erwachsenen Männer und 30% der Frauen. Unter den rauchenden Männern konsumiert fast die Hälfte und unter den Frauen ca. ein Drittel täglich mehr als 20 Zigaretten. Jährlich sterben ca. 100 000 Menschen an den Folgen ihrer Nikotinsucht. In Westdeutschland rauchen inzwischen 26% der Jugendlichen (1993 waren es 21%). In Ostdeutschland sind es 34% (1993: 19%). Unter jungen Frauen ist derzeit der stärkste Anstieg zu verzeichnen.422 Mehr als ein Drittel der Erwachsenen sei nikotinabhängig. 7% der Jugendlichen im Alter von 14 Jahren seien bereits abhängig von Zigaretten. So seien alleine in München etwa 7000 Jugendliche dieser Gruppe als abhängig zu bezeichnen. Zwischen 1993 und 1997 stieg in Deutschland der Anteil der Raucher unter Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren von 21% auf 26%.423 BOSS (DHS) erklärt, dass im vergangenen Jahr 1,4 Millionen mehr Zigaretten geraucht worden seien als im Vorjahr. In der Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen sei ein Zuwachs von 18% im Vergleich zu 12% im Jahr 1993 zu verzeichnen. Laut DHS gab es 111 000 Todesfälle im Jahr 1997, die auf Tabakkonsum zurückzuführen seien. Nach PÖTSCHKE-LANGER greift bereits jeder zweite Jugendliche zu Zigaretten. „Hinter diesen Zahlen steckt eine ungeheuere Dramatik.“424 Für das Jahr 2020 wird Lungenkrebs als die häufigste Krebsart bei Frauen erwartet. Der Konsum von Light-Zigaretten trägt dazu bei, denn diese werden tiefer inhaliert. Das meist stärker zusammen- 422 SZ, 289, 1999, S. 6; Christa NICKELS, Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf einem internationalen Kongress der WHO in Bonn 423 SZ, 33, 2000, S. 14 424 MM, 65, 2000, S. 4; Martina PÖTSCHKE-LANGER arbeitet im Krebsforschungszentrum Heidelberg. 215 gepresste Filterstück hält deutlich weniger Abfallstoffe zurück. Die krebserzeugenden Substanzen gelangen so tiefer in die Lunge. Junge Raucher tragen dabei ein höheres Lungenkrebsrisiko. Das Alter, in dem die erste Zigarette geraucht wurde, steht in einem direkten Zusammenhang mit der Anzahl der Veränderungen bestimmter Gene. WIENCKE vertritt die Ansicht, dass jüngere Menschen offenbar sensibler auf die krebsauslösenden Bestandteile des Tabaks reagieren könnten.425 Eine inaktive Form des Biokatalysators „CYP2A6“, welche Nikotin im Körper abbaut und damit einen gestörten Nikotinstoffwechsel verursacht, ist nach Ansicht kanadischer Wissenschaftler dafür verantwortlich, dass bestimmte Raucher nicht nikotinabhängig werden. Eine Untersuchung brachte folgende Ergebnisse426 : 164 Raucher 12,2% tragen ein inaktives CYP2A6 184 Nichtraucher die das Rauchen zwar versucht hatten, aber nie abhängig wurden 80 Alkohol- und Nikotinabhängige 19,6 % der untersuchten tragen mindestens ein inaktives CYP2A6 Raucher mit dem inaktiven Enzym brauchen weniger Zigaretten, um ihren Nikotinspiegel im Körper konstant zu halten. Auch das Krebsrisiko könnte bei dieser Gruppe geringer sein, da die aktive Form zusätzlich Nitrosamine aus dem Tabakqualm in krebserregende Stoffe umwandelt. Warum die Blutgefäße von Rauchern schneller verkalken und sie deshalb anfälliger für Herzinfarkte und Durchblutungsstörungen sind, ist dadurch zu erklären, dass das Enzym NO-Synthase durch den Tabakrauch beeinflusst wird. In der Gefäßwand wird durch dieses Enzym bei gesunden Menschen Stickstoffmonoxid hergestellt. 425 SZ, 80, 1999, S. 15; Studie des nationalen Krebsinstitutes der USA; WIENCKE ist an der Universität San Francisco tätig. 426 Nature, 1998, Bd. 393, S. 750 und in SZ, 147, 1998, V 2 /9 216 Durch diese Substanz wird eine Gefäßerweiterung sichergestellt. NO-Synthase besitzt auch präventive Wirkung hinsichtlich des Verschlusses von Gefäßen. Die im Zigarettenrauch enthaltenen Stoffe bewirken bei der Arbeit des Enzyms eine Umstellung der Produktion auf freie Radikale. Dadurch verengen und verkalken die Gefäße schneller. Durch Gaben von Tetrahydrobiopterin können Fehlfunktionen des Enzyms rückgängig gemacht werden. Dieser Wirkstoff ist für eine reibungslose Funktion des Enzyms von entscheidender Bedeutung.427 Passivrauchen428 Der Wert der koronaren Fließgeschwindigkeitsreserve (CFVR) fällt bei Passivrauchern nach 30 Minuten drastisch ab, während sich die Werte bei den aktiven Rauchern im gleichen Zeitraum unverändert zeigen. Damit gelang japanischen Experten der direkte Nachweis, dass durch das Passivrauchen die koronare Blutzirkulation von Nichtrauchern geschädigt wird. Der CFVR-Wert lässt Rückschlüsse über den Zustand der Zellen zu, die die Herzkammern und die Blutgefäße auskleiden. Diese Endothelzellen sind wichtig für die Blutzirkulation und die Weitung der Gefäße. Vom wirtschaftlichen Nutzen des Rauchens429 Eine Studie von Wirtschaftswissenschaftlern des Tabakkonzerns Philip Morris, der in Tschechien, aber auch in anderen, ehemals kommunistischen Staaten, die absolute Vormachtsstellung hält, soll belegen, dass Zigaretten der Staatskasse nutzen, weil sie den Menschen schaden. So soll in Tschechien der frühzeitige Tod von Rauchern im Jahr 1999 Einsparungen (Behandlungskosten, Renten, Wohnraumentgelte) in Höhe von etwa 71 Millionen Mark ermöglicht haben. Bei Berücksichtigung der Tabaksteuern und nach dem Abzug der Allgemeinkosten der Nikotinsucht ergibt sich nach dieser Studie ein Reingewinn von 345 Millionen Mark für die tschechische Staatskasse. 427 Circulation Research, 2000, Bd. 86, S. 36 JAMA, 2001, Bd. 286, Nr. 4 429 SZ, 163, 2001, S. 12 428 217 Entwöhnung Eine Entwöhnung der Raucher ist nur in 25% der Fälle erfolgreich. Nikotinersatz per Pflaster, Nasenspray, Akupunktur und InhalationsAerosol, oder aber Bupropionhydrochlorid können Hilfen zur Entwöhnung sein. Am wichtigsten ist jedoch neben den vielen unterschiedlichen Methoden ein gutes Arbeitsbündnis zwischen dem Patienten und einem verständnisvollen und motivationsfähigen Arzt. Alkohol Durch das Robert-Koch-Institut wurde 1995 eine Wiederholungsstudie (erste Durchführung 1983 bis1985) mit der Bezeichnung „Gesundheit im Kindesalter“ durchgeführt. Dabei wurde der Alkoholkonsum der siebten bis zehnten Klassen untersucht. Obwohl der Anteil der abstinenten Jugendlichen insgesamt gestiegen ist, war dennoch eine Steigerung des Gesamtverbrauchs an Alkohol um 32% zu beobachten. Diese Angabe bezieht sich jedoch nur auf Schüler im Westteil Berlins. Im Jahre 1985 wurden Schüler in Westberlin und in Bremen befragt. Besorgnis erregend ist die Tatsache, dass der Mehrverbrauch von einer Gruppe von Vieltrinkern verursacht wird. „5 bis 6% Prozent aller untersuchten Schüler trinken täglich und sind damit in Gefahr, eine Suchtkarriere zu beginnen.“430 Bei zwei der untersuchten Gruppen nahm der Gesamtverbrauch an Alkohol und die durchschnittlichen Trinktage zu: Bei männlichen Hauptschülern und weiblichen Gymnasiastinnen. Dazu KAHL: „9,9% der von uns Untersuchten trinken fünf und mehr Gläser Alkohol pro Gelegenheit. Bei 15% der Schüler muss ein problematisches Trinkverhalten angenommen werden.“ Das Einstiegsalter für den Alkohol- und Tabakkonsum ist in Deutschland inzwischen auf zehn Jahre gesunken. So trinken 65% aller 14- bis 24-Jährigen bereits regelmäßig Alkohol. HÜLLINGHORST betont, dass diese Entwicklung die Zukunft einer ganzen Generation gefährde.431 Mehr als 35% aller 14- bis 24-Jährigen sind 430 pluspunkt, 2, 1999, S. 14 MM, 65, 2000, Weltspiegel und Zeitschrift „Sucht“; HÜLLINGHORST ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS). 431 218 Raucher; jeder sechste konsumiert Cannabis. Dabei bestehe kein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Nach dem jüngsten Suchtbericht trinkt ein Drittel aller Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren regelmäßig Alkohol.432 Andere Studien aus München ergaben, dass mehr als sechs Prozent der 14- bis 25-Jährigen alkoholabhängig sind. Die meisten der Jugendlichen und Kinder stellen sich einen Cocktail aus Drogen zusammen. Alkohol ist aber immer noch der Herrscher im Reich der Drogen. LEHNERT weist darauf hin, dass 90% der Süchtigen mit Alkohol einsteigen. Süchtige Jugendliche haben oftmals Koordinationsprobleme und reagieren langsamer; sie ziehen sich daher auch leichter Sportverletzungen zu. Durch eine Spieltherapie werden wieder viele Instinkte wach, die durch die Sucht unterdrückt wurden. In vielen Familien gibt es schon seit Generationen Alkoholprobleme, die in der Klinik durch einen Stammbaum verdeutlicht werden können. Für viele Kinder ist es erleichternd, das zu erfahren. Eine sinnvolle Therapie ist nur mit strengen Regeln durchzuführen. Der Tagesablauf in der Klinik Ahlhorn ist mit seinem verpflichtenden Stundenplan streng geregelt: Um 7 Uhr morgens: Wiegen Frühsport Arbeitstherapie (Saubermachen , Wäscherei, Gärtnerei, Küchendienst) Arztbesuch Autogenes Training Disco ist in der Klinik verboten, da die Musik erfahrungsgemäß zu viele Erinnerungen bei den Jugendlichen wachrief. Ein Verstoß gegen die Regeln wird mit einem Punktesystem beobachtet. Immer wieder wird versucht, die Erzieher auszutricksen. Wird das Punktelimit überschritten, wird eine Telefon- oder Aus432 SZ, 43, 2001, S. 3; Bericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Frühjahr 2001; Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München; Barbara LEHNERT ist Leiterin der Dietrich-BonhoefferKlinik in Ahlhorn; SCHLIECKAU ist pädagogischer Leiter der Klinik, REINERS arbeitet als Therapeut in Ahlhorn. 219 gangssperre verhängt. Durch die Arbeitstherapie wird Personal gespart und den Jugendlichen zugleich der normale Alltag nahegebracht. Für Gewalt ist keinerlei Platz. Jugendliche, die Gewalt ausüben, werden sofort auf die Straße gesetzt. Die Erfolge der Alkoholtherapie bei den Jugendlichen werden so beurteilt: Aussagekräftige Statistiken für die Zeit nach der Entlassung gibt es nicht. LEHNERT: „Die Therapie müsste unbedingt ambulant weitergehen, die Jugendlichen bräuchten eigentlich sieben Jahre intensive Betreuung.“ SCHLIEKAU: „Vielleicht schafft es die Hälfte unserer Patienten, auf Dauer trocken zu bleiben.“ Ein paar haben Glück, und die Sucht „wächst sich aus“. Die allermeisten bleiben aber ein Leben lang abhängig. REINERS: „Viele sind zu jung, um ihre Sucht zu verstehen . . . Die versprechen beim Abschied, trocken zu bleiben, und sagen mir dann, dass sie sich wahnsinnig auf das Mon cheri zu Hause freuen.“ Kurze Zeit später wird bezüglich des Suchtverhaltens der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren der Prozentsatz von 7,5 veröffentlicht.433 Behandlung von Alkoholikern mit Hilfe der Akupunktur 434 Suchttherapeuten akupunktierten in einem Modellversuch 228 Klienten, von denen 182 alkoholsüchtig waren, über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen täglich 45 Minuten. Es folgte im Anschluss daran noch eine weitere zweimonatige regelmäßige Behandlung. Patienten, die zur Entwöhnung an dieser Studie teilnahmen, konnten in besonderem Maße von dieser Behandlung profitieren. Die Akupunktur erwies sich als weniger effizient hinsichtlich der Rückfallprophylaxe. Aus einer Befragung der Patienten wurden folgende Erkenntnisse gewonnen: 433 SZ, 58, 2001, S. 55 SZ, 150, 2001, V 2 /9; auch in Suchttherapie, Heft1, 2001, S. 35; die Studie wurde am Universitätsklinikum Eppendorf und in Hamburg in der Suchtberatungsstelle „Die Hummel“ durchgeführt. 434 220 Verbesserung des körperlichen und seelischen Allgemeinzustandes Abnahme der Depressionen, Entzugssymptome und der Ängste. Bei einer Nachbefragung von etwa 60 Personen gab über die Hälfte an, keinen Alkohol mehr zu konsumieren. Der Erfolg kann auch dadurch erklärt werden, dass die Patienten überhaupt den Willen aufbrachten, sich helfen zu lassen, denn die meisten der alkoholkranken Menschen suchen keine Hilfsangebote, sondern lehnen diese eher ab. In Deutschland sind 3,5 Millionen Menschen alkoholkrank.435 Nach WITTCHEN sind knapp 15% aller Erwachsenen alkohol- und 7% drogenabhängig. Nach Erklärungen der Bundesregierung leiden 11 Millionen Deutsche unter Alkoholproblemen. Davon tränken rund 8 Millionen Bürgern übermäßig, weitere 3,2 Millionen seien abhängig zu nennen. Jährlich sterben etwa 42 000 Menschen an den direkten oder indirekten Folgen des Alkoholkonsums.436 Nach anderen Schätzungen437 sind in Deutschland 1,6 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren alkoholabhängig. Weitere 12 Millionen Menschen trinken mehr, als gut für sie ist. Alkohol ist inzwischen eine Familienkrankheit, da die meisten Alkoholkranken zwei, drei Angehörige mit in den Teufelskreis hineinziehen. Die Mitmenschen von Alkoholikern sind nach Angaben einer Sucht-Spezialistin selbst suchtkrank: „Was für den Alkoholiker die Flasche ist, das ist für den Angehörigen der Alkoholiker selbst.“ Oftmals geben sich die Lebenspartner von Alkoholikern selbst die Schuld für die Krankheit ihrer Partner. Männer seien in der Regel gefährdeter, doch verringere sich der Vorsprung. Bei dem Konsum von Zigaretten bestehe kein Unterschied mehr. Nach LEUNE hat jeder zweite deutsche Mann mittleren 435 MM, 180, 1999, J 4 MM, 31, 2000, S. 1 437 MM, 183, 2001, Weltspiegel; Schätzungen der Hauptstelle gegen Suchtgefahren 436 221 Alters soziale und gesundheitliche Probleme wegen zu hohen Alkoholkonsums.438 Der Alkoholverbrauch bleibe auf hohem Niveau in der BRD konstant, während der Zigarettenkonsum steige. Von den jährlich rund 800 000 Verstorbenen in der Bundesrepublik haben 150 000 ihr Leben wegen alkohol- und tabakbedingten Krankheiten verkürzt. Diese Menschen sterben 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung teilt mit, dass in Deutschland etwa vier Millionen Erwachsene durch Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit gefährdet sind.439 Die Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS) sieht 4,4 Millionen Menschen zwischen 18 und 69 Jahren vom Alkohol abhängig. Fast jeder 18. Bundesbürger hat sich bereits krank getrunken.440 Jede vierte suchtkranke Frau ist nach BEUTEL als Kind sexuell missbraucht worden. Die Täter waren der eigene Vater oder aber Bekannte und Verwandte. Missbrauch erhöht das Risiko einer Suchterkrankung erheblich.441 Alkoholkonsum der Jugendlichen in Europa Immer früher und immer öfter betrinken sich Jugendliche in Europa.442 Unter den 15- bis 29-Jährigen sterben in der Europäischen Union mehrere Tausende an den Folgen des Alkoholkonsums. Besonders der Bierkonsum ist nach einer Studie der WHO (1998) sehr hoch. 438 LEUNE (DHS); „ Jahrbuch Sucht 2001“ und in SZ 293, 2000, S. 14 439 MM, 291, 1998, S. 2 440 SZ, 292, 1998, S. 12 441 MM, 191, 1999, S. 1; BEUTEL ist leitender Arzt des Therapiezentrums Münzesheim und der Fachklinik Haus Kraichtalblick; er führte die bisher größte Studie über den Zusammenhang zwischen Suchtabhänigkeit von Frauen und sexuellem Missbrauch in der Kindheit durch. 442 SZ,128, 2001, S. 7; Ergebnis von Studien, die beim Treffen der EU-Gesundheitsminister vorgestellt wurden. 222 Wales: 50% aller 15-jährigen Jugendlichen trinken regelmäßig Bier Dänemark: 43% Griechenland: 42% England: 40% In Schottland, England und Wales werden von den 15-jährigen Mädchen mehr Wein und Spirituosen getrunken als von den Jungen. Einen Vollrausch haben nach den Studien mehr als 50% dieser Altersgruppe in Finnland, Dänemark, England, Schottland und Wales erlebt. Weitere Daten zum Alkoholkonsum in Deutschland nach EISENBURG:443 Konsum an reinem Alkohohl Menge in l/pro Kopf und Jahr 3,3 Liter 10,9 Liter Im Jahr 1950 1997 Kritische Mengen sind für Frauen und Männer unterschiedlich: Frauen Höchstmenge reiner Alkohol pro Tag 20g entspricht 1 l Bier, oder 0,5 l Wein oder sechs klare Schnäpse in 2-cl-Gläschen Männer 40g Die Werte sind jedoch individuell verschieden; grundsätzlich vertragen Frauen weniger Alkohol, weil er in ihrem Körper aufgrund des geringeren Vorhandenseins von Alkohol-Dehydrogenase in der Magenschleimhaut langsamer abgebaut wird. 443 EISENBURG, 2001; Professor und Spezialist für Lebererkrankungen 223 Die Kosten für die Behandlung alkoholbedingter Erkrankungen werden auf jährlich 40 Milliarden Mark geschätzt.444 Besonders häufig sind Erkrankungen der Leber, der Bauchspeicheldrüse, des Herzens, der Muskulatur und des Nervensystems. Langfristige Folgen des Alkoholkonsums für das Gehirn: Persönlichkeitsveränderungen Epileptische Anfälle Wahnvorstellungen Depressionen bis hin zu einer Demenz (allmählicher Verlust der Hirnfunktionen) Korsakow-Syndrom (meist im Anschluss an ein Entzugsdelirium oder aufgrund des für Alkoholiker typischen Vitamin-B1Mangels; durch das Absterben von Hirnstrukturen wird ein unumkehrbarer Verlust von Gedächtnis und Orientierung ausgelöst. Betroffen sind vor allem Merkfähigkeit und Kurzzeitgedächtnis. Die Patienten füllen die entstandenen Gedächtnislücken nur noch mit Inhalten, die ihnen spontan einfallen.) Depressionen Weltweit wurde die Anzahl der Menschen, die unter Depressionen leiden, im Jahr 1996 auf 50,8 Millionen Menschen geschätzt.445 Depressionen sind vor allem in den Industrienationen weiter verbreitet als der Alkoholismus. Etwa 8 Millionen Menschen leiden in der BRD an einer depressiven Störung. MÖLLER weist darauf hin, dass viele der auftretenden Symptome, wie Interessenverlust, Freudlosigkeit oder Schlafstörungen von den Kranken nicht richtig eingeordnet werden. Hausärzte würden nur jede zweite Depression erkennen. Nach HOLSBOER ist eine Depression eine potenziell tödliche Erkrankung. Von den 15bis 35-Jährigen sterben die meisten durch Unfälle. Die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe ist jedoch der Selbstmord. 15% der Erkrankten nehmen sich jährlich das Le444 445 MM, 286, 2001, S. 3 SZ, 192, 1999, VI 224 ben; 1998 waren das 12 000 Menschen. Aufgrund der hohen Dunkelziffer müsse mit der doppelten Anzahl gerechnet werden.446 Bei depressiven Menschen sinkt mit der Zeit das Selbstwertgefühl. Sie leiden unter einer ständigen Unruhe und sind nicht in der Lage, sich selbst aus diesem Zustand zu befreien. Konzentrationsstörungen und Erschöpfungszustände sind die Folge. Zwischen September und April ist etwa jeder zehnte Europäer von einer saisonal abhängigen Depression betroffen. („SAD“). Sie wurde von Forschern erst 1980 in den USA entdeckt. Diese Winterdepressionen sind durch spezielles Kunstlicht, das ein bis zwei Stunden über die Augen wirkt, heilbar. Die Therapie dauert in der Regel zwei bis drei Wochen.447 Jeder siebte Deutsche hat in seinem Leben eine oder mehrere Depressionen zu bewältigen, stellte die Gmünder Ersatzkasse (GEK) in München fest. In nur der Hälfte der Fälle werde die Krankheit erkannt. 11 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage fallen wegen Depressionen jährlich aus.448 Depressionen sind nach den Erkenntnissen der WHO derzeit die zweithäufigste Erkrankung nach den Herz-Kreislauferkrankungen. 40% aller Depressionen in Deutschland werden nicht erkannt. Frauen sind doppelt sooft betroffen wie Männer. Der Beginn der Erkrankung beginnt immer früher. Depressionen, die sich meistens in einem Symptomenkomplex von trauriger Verstimmung, Gedrücktheit und Niedergeschlagenheit äußern, sind nach den bisherigen Erkenntnissen auf das bisher noch nicht aufgeklärte Zusammenspiel von Stoffwechselstörungen im Gehirn, psychischen Ursachen und sozialen Faktoren – neuerdings verstärkt auch auf Stress – zurückzuführen. RAHE geht von einem 44-prozentigen Zuwachs an Stress aufgrund eigener Umfragen über positive und negative Lebensveränderungen seit 1960 aus. Seiner Erklärung nach entsteht durch die zunehmend komplexer und unübersichtlich werdenden Lebensbedingungen, an die sich die Menschen immer schneller anpassen müssen, immer mehr Stress.449 446 MM, 159, 1999, J 3 MM, 222, 1998, S. 1 448 MM, 43, 1999, J 3 449 MM, 44, 1999, J 3 447 225 Durch eine Untersuchung des Karlsruher Instituts für Arbeits- und Sozialhygiene an 6000 Führungskräften wurde festgestellt, dass 85% von ihnen an Beschwerden ohne erkennbare organische Ursache litten. Übermäßiger Stress war nach Einschätzung der Experten der Auslöser der Beschwerden. Der durch Stress entstehende jährliche wirtschaftliche Schaden wird auf 100 Millionen DM geschätzt.450 Der geschätzte Umsatz für Antidepressiva wird sich von 1994 bis zum Jahre 2004 auf dem europäischen Markt auf mehr als 3,57 Milliarden DM verdoppeln. Auch Kinder können bereits an Depressionen erkranken. Erhobene Stichproben geben Anlass zu der Vermutung, dass etwa 4% unter depressiven Verstimmungen leiden. Verminderte Konzentrationsfähigkeit, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, aber auch Schuldgefühle, Selbstverletzungen und Selbstmordhandlungen gehören zu den auftretenden Symptomen.451 Jeder neunte Jugendliche leidet unter ernsthaften depressiven Erkrankungen. Mädchen und junge Frauen sind viermal so häufig davon betroffen wie männliche Jugendliche.452 Viele der Jugendlichen tragen sich mit Selbstmordgedanken oder haben bereits einen Suizidversuch hinter sich. Weitere psychiatrische Symptome wie Essstörungen, Schulängste oder Störungen des Sozialverhaltens wie etwa beim Drogenmissbrauch stünden oftmals im Vordergrund und verdeckten die depressive Grunderkrankung. In der Folge werde die Depression häufig gar nicht erkannt. Beinahe jeder depressive Mensch kennt Angst als ein Symptom dieser Erkrankung. Am Zustandekommen von Gefühlen sind nach HOLSBOER453 etwa 1000 verschiedene Stoffe beteiligt, von denen erst ca. 100 identifiziert sind. Für Hochgefühle sind in unserem Hirn Endorphine verantwortlich. Sie haben eine Halbwertszeit von nur fünf Minuten. Das ist auch der Grund dafür, dass Trauer, Angst oder Freude zeitlich meist eng begrenzt sind. Die Aktivitäten des Gehirns 450 Psychologie heute, 1999 und HOLSBOER im Magazin der SZ, vom 8. 10. 1999, S. 20 451 MM, 18, 1999, J 3 452 Angaben des Zentrums für Psychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main in MM, 162, 1999, J 4 453 HOLSBOER im Magazin der SZ, vom 8.10.99, S. 20 ff. 226 sind so programmiert, dass eine Rückkehr zum „normalen“ Zustand möglichst bald erfolgt. Bei depressiven Patienten ist unter anderem die Ausschüttung des Botenstoffes Serotonin gestört. RUJESCU: „Bei eineiigen Zwillingen erkrankt der Zwillingspartner des depressiven Patienten in 40% der Fälle ebenfalls.“454 Nach dem bisherigen Wissensstand wird vermutet, dass sowohl bei den Angsterkrankungen als auch bei den depressiven Erkrankungen ungefähr 40 Gene zusammenwirken, von denen jedoch die wenigsten bereits identifiziert sind. Weit unterhalb der Hirnrinde, im limbischen System, wird die Region vermutet, die das Gefühlsleben entscheidend mitprägt. Appetit, Schlaf, Libido und Gedächtnisleistungen werden hier organisiert. Sowohl der Hypothalamus als auch Zwischenhirn, Hirnanhangdrüse und Nebennierenrinde, die sogenannte Stressachse (in der Cortisol – ein Stoff, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzt –, ausgeschüttet wird) sind für die Ausschüttung von Stresshormonen zuständig. Depressionen bei Männern durch die Schwangerschaft der Frauen Nicht nur angehende Mütter, sondern auch deren Männer leiden ebenso häufig während der Schwangerschaft unter Depressionen. In erster Linie sind davon jüngere Männer betroffen, die in einer schlecht funktionierenden Partnerschaft leben.455 Neuere Behandlungsmöglichkeiten Im Jahr 1981 wurde ein aus 41 Aminosäuren bestehendes Molekül gefunden, das den Namen CRH erhielt (corticotropin releasing hormone) und das ab 1983 synthetisch hergestellt werden kann. Ein neues Medikament, das diese Substanz enthält und das am MaxPlanck-Institut in München entwickelt wurde, soll in der Lage sein, 454 MM, 161, 2001, S. 3; RUJESCU arbeitet an der Münchner UniKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie. 455 SZ, 56, 1999, V 2 /15; die Studie wurde auf einem Gynäkologenkongress in Adelaide vorgestellt. 227 ohne Nebenwirkungen die Aufnahme von CRH an den Rezeptoren zu blockieren. So wird die Stressachse unterbrochen und damit Angst- und Stressgefühle ausgeschaltet. Eine neue schmerzlose neuropsychiatrische Methode zur Behandlung von Depressionen ist die „Transkranielle Magnetstimulation“. (TMS) Hier werden durch ein Magnetfeld elektrische Impulse in den entsprechenden Bereichen des Gehirns oder des Rückenmarks ausgelöst. Durch die dosierten Magnetimpulse können länger anhaltende plastische Veränderungen im Gewebe erzeugt werden. Eine Schwierigkeit besteht nach TERGAU darin, die Intensität, Frequenz, Dauer und die Wiederholungsraten der Stimulation festzulegen.456 Personen, die an einer Depression erkrankt sind, können in einem neuen „Kompetenznetz Depression“457 Hilfe finden. Die Internetseite der Psychiatrischen Klinik der Universität München soll Erkrankten den Weg zum Therapeuten erleichtern. Ein Selbsttest ermöglicht eine Einschätzung des eigenen Zustandes. Diogenes-Syndrom (= Vermüllungssyndrom) Erst seit etwa zehn Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft mit dieser Erscheinung. MAVROGIORGOU458 sieht aufgrund ihrer Erfahrung mit etwa 40 Patienten eine psychische Erkrankung, etwa eine Depression, als die häufigste Ursache. Auch Alkoholsucht, Schizophrenie oder Unfälle mit Schädel/Hirn-Trauma ziehen diesen Effekt häufig mit sich. Bundesweit gibt es etwa 40 sogenannte „Anonyme Messies“ (Selbsthilfegruppen) mit ca. 7000 Mitgliedern. Nach MAVROGIORGOU ist „Messie“ ist ein Modewort für Personen, die häufig an Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen litten oder die als „bizarre Vögel“ bezeichnet werden können. 456 SZ, 5, 1998, S. 23; TERGAU, Universitätsklinik Göttingen http://www.kompetenz-netz-depression.de 458 MM, 151, 1999, S. 3; Paraskevi Mavrogiorgou ist Assistenzärztin an der Psychiatrischen Klinik an der Münchner Nußbaumstraße; in München existiert ein Selbsthilfezentrum an der Bayerstraße; jeden Dienstag abend ist Treffpunkt. 457 228 Messies erhalten im Gegensatz zu Menschen mit dem „Vermüllungssyndrom“ die äußere Fassade noch aufrecht, etwa in der Kleidung. Diese Menschen leiden häufig unter der Zwangsvorstellung, alles noch einmal gebrauchen zu können; sie sammeln deshalb alles, werfen nichts weg, können den Alltag meist nicht organisieren und pflegen die totale Unordnung. Der Begriff „Messies“ kommt aus dem englischen Sprachgebrauch; „mess“ bedeutet soviel wie „totale Unordnung“. Entwicklungsverzögerungen aufgrund von Kommunikationsdefiziten Die Entwicklung der Sprache beginnt schon vor – spätestens aber mit der Geburt, denn die Kommunikation und die akustische Wahrnehmung setzen bereits vor der Geburt ein. MARTINIUS: „Die Kommunikation in den ersten Lebensjahren ist dialogisch und emotional, und die Verbindung von Emotion und Dialog ist der beste Boden, auf dem Kulturtechniken angebahnt werden . . . Kinder fragen mehr als Eltern antworten können. Man weiß, dass solche Dialoge schichtabhängig geführt werden, Eltern, die geduldig die Fragen ihres Kindes beantworten oder aber, vor allem in unteren Schichten, sie kurz abfertigen . . . Man hat bei Kindern, die weniger Dialog erlebt haben, festgestellt, dass später ihre schulischen Leistungen schwächer waren . . . Wenn in einer Institution genügend Menschen sind, die wissen, worum es geht, dann können sich auch dort Denken, Gefühle und Sprache entwickeln. Ob das so gut gelingt wie in der Familie, das bezweifle ich . . . Wenn die Denk- und Sprachentwicklung in den ersten Lebensmonaten extrem vernachlässigt wurde, dann bleiben Schwächen zurück. Die frühe Entwicklung von Sprache und Denken ist eng miteinander verknüpft und sie ist ein komplizierter Prozess. Bei vernachlässigten Kindern ist die emotionale Seite nicht gut entwickelt, dazu kommen kognitive Defizite. Und das ist die Tücke, solche Kinder haben nicht so gute Chancen wie die anderen. Die Defizite setzen sich fort . . . Abstraktionsfähigkeit, die man für das Rechnen braucht, kann sich mit dem frühen Dialog besser entwickeln. Kinder, die viel fragen dürfen und viele Antworten bekommen, verstehen viel mehr, als sie es nach der entwicklungspsychologischen Hierarchie dürften, etwa den hintergründigen Witz einer Geschichte. Kleinkinder entwickeln ihr Welt- 229 wissen im Dialog mit anderen und mit sich selbst, beflügelt von der in diesem Alter lebhaften Fantasie . . . Notwendig ist der Dialog, den man spielerisch macht, mit dem man die Fantasie anregt . . . Nicht nur die kognitive Reife ist entscheidend, mindestens so wichtig sind Integrationsfähigkeit und emotionale Belastbarkeit . . .“459 Ess-Störungen Eine Erhebung unter 650 Münchner Schülern ergab, dass sich die Risikofaktoren für schwerwiegende Essstörungen wie Magersucht und Bulimie häufiger und vor allem immer früher zeigen. 30% der befragten Buben und 36% der Mädchen hatten bereits versucht abzunehmen. Noch weiter verbreitet war der Wunsch, dünner zu sein. In einer spezialisierten Tagesklinik und Abteilung des Max-PlanckInstitutes existiert ein neues Präventionsprojekt des TherapieCentrums für Essstörungen. (TCE). In einer dreijährigen, vom Sozialministerium geförderten Phase werden Eltern und Schüler in Seminaren zur Selbsthilfe ausgebildet.460 Von über 3000 befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren leiden über 5% der jungen Frauen und fast 1% der Männer an Magersucht oder Bulimie.461 In Deutschland sind bis zu 3 Millionen Menschen an einer Bulimie erkrankt. Als magersüchtig werden 60 000 zumeist junge Frauen und Mädchen bezeichnet.462 Jeder zwölfte Mann in Deutschland leidet unter schweren Essstörungen. Besonders betroffen sind Männer im Alter zwischen 15 und 35 Jahren. 463 Begleitet wird das Krankheitsbild bei jungen Männern – im Gegensatz zu Frauen – häufig von Depressionen, Alkoholproblemen oder Persönlichkeitsstörungen. 459 SZ, 295, 2001, S. 10; MARTINIUS ist Kinder- und Jugendpsychiater in München. 460 SZ, 160, 1999, L 2 461 MM, 51, 1999, S. 1 462 SZ, 29, 2000, S. 16 463 MM, 284, 2000, S. 1; Angaben des Instituts für Ernährungsmedizin und Diätetik in Aachen 230 GERLINGHOFF sieht Ess-Störungen als die häufigste psychiatrische Erkrankung bei Frauen zwischen zwölf und 24 Jahren. 0,5 bis 1% gelten als magersüchtig, 2 bis 5% als bulimisch. „Und dann muss sofort der Zusatz kommen: bei einer riesigen Dunkelziffer, auch bei Männern.“464 Eine Studie am Therapie-Centrum ergab, dass schon 40% knapp elfjähriger Mädchen mit ihrer Figur unzufrieden sind. Eine Untersuchung in England brachte Erkenntnisse über die Wahrnehmung von Dreijährigen: „Dünn ist lieb, dick ist böse.“ Jede zweite Frau in Deutschland möchte gerne schlanker sein. Jede vierte Frau hätte gerne einen größeren Busen oder längere Beine, jede fünfte Frau mag ihren Körper gar nicht und jede sechste Frau meint, dass sie zu viele Falten habe. WIENAND-KRANZ dazu aus psychologischer Sicht: Wer mit seinem Körper nicht viel anfangen kann, habe ein zu geringes Selbstwertgefühl.465 Schwierige, emotional belastende Situationen stehen oftmals am Anfang von Ess-Störungen. Häufig kommen Magersüchtige aus Familien, in denen sie ihre Bedürfnisse nicht ausleben durften. Konflikte wurden nicht offen ausgetragen und bearbeitet, die Kinder wurden vielfach zum Angepasstsein erzogen und vor allen Gefahren beschützt. Die Entwicklung eines eigenen Selbstwertgefühls wurde dadurch erschwert. Bei bulimischen Patienten wurde vermehrt sexueller Missbrauch als Ursache festgestellt. Auch die starke Leistungsorientierung und der Hunger nach Liebe und Zuwendung ist häufig zu beobachten. „Pathways“ ist ein Modellprojekt mit betreutem Wohnen, in welchem die Frauen mit Ess-Störungen sechs bis 12 Monate zusammenleben und während dieser Zeit von einem pädagogischen Team und 464 SZ, 263, 1999, S. 51; Monika GERLINGHOFF ist Ärztin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und Leiterin des Therapie-Centrums für Ess-Störungen, der ersten Tagesklinik in Europa. 465 MM, 259, 2001, S. 1; WIENAND-KRANZ ist Psychologin in Hamburg; nach einem Bericht des Magazins „Wellfit“, November 2001 231 einem Psychiater betreut werden. Dadurch soll ein Klinikaufenthalt vermieden werden.466 Alles, was in der begleitenden Therapie gelernt wird, kann im Alltag sofort umgesetzt werden, denn die Patienten arbeiten tagsüber, studieren oder gehen in die Schule. Ess-Störungen sind ein gesellschaftliches Problem, ganz besonders unter Sportlern, Models und Tänzerinnen. Durch eine Studie des Bundesinstituts für Sportwissenschaft aus dem Jahr 1996 wurde herausgefunden, dass 25% dieser Frauen essgestört sind. Bei Sportlern, die Wettkampfsportarten mit vom Gewicht abhängigen Wettkampfklassen betreiben liegt die Zahl der von Ess-Störungen betroffenen Sportler laut KUGELMANN bei geschätzten 25 bis 50%.467 LEBENSTEDT zu den Auswirkungen gewollter Gewichtsreduzierungen vor Wettkämpfen: „Hungern erhöht die Stressreaktion, die durch den Wettkampf schon gegeben ist, und das führt zu Leistungseinbrüchen.“468 Dazu kommen noch noch körperliche Reaktionen wie Zyklusstörungen, mangelndes Knochenwachstum, depressive Verstimmungen und Osteoporose. Sogenannte Stressfrakturen sind die Folge einer zu geringen Knochendichte. Etwa 60% der Magersüchtigen werden bulimisch und entwickeln infolge der veränderten Nahrungsaufnahme eine Magenerweiterung, Verätzungen durch Magensäure oder 466 MM, 257, 1998, Journal; SCHNEBEL ist Psychotherapeut, Leiter des Münchner Arbeitskreises für Ess-Störungen und Ansprechpartner für dieses Projekt; München, Seitzstraße 8, Tel: 0 89/24 23 99 60 . Weitere Hilfsangebote in der Region München: „Cinderella“ Fachambulanz für Ess-Störungen; Fachambulanz im Klinikum rechts der Isar; Ambulanz im Schwabinger Krankenhaus mit familientherapeutischer Betreuung; im Krankenhaus in Harlaching gibt es eine psychoanalytisch ausgerichtete Abteilung; am Chiemsee die psychosomatische Klinik Roseneck; in Simbach am Inn die Inntalklinik. 467 Claudia KUGELMANN ist Professorin am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. 468 LEBENSTEDT ist Biologin. 232 Nierenversagen. Der im Jahr 1996 eingeführte Begriff Anorexia athletica ist lediglich die Umschreibung eines Suchtverhaltens. Das Essverhalten wird nach REMSCHMIDT469 durch kulturelle Wertvorstellungen erheblich beeinflusst. So gelten rundliche Frauen im Tschad als schön, während Mädchen in Ländern mit extremen Schlankheitsidealen besonders häufig an Ess-Störungen litten. Durch eine Studie wurde festgestellt, dass die Vermittlung dieser Normen über ultradünne Models in Modezeitschriften nur eine untergeordnete Rolle spielt. Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren lasen über einen Zeitraum von 15 Monaten regelmäßig ein solches Magazin. Danach waren die jungen Damen im Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne eine derartige Lektüre mit ihrem Aussehen nicht unzufriedener als zuvor. Bereits bestehende Unzufriedenheiten mit der Figur wurden durch die Modezeitschriften allerdings noch bestärkt. Heilungschancen: Eine Langzeitstudie der Harvard Medical School470 an 246 Frauen kam nach 7,5 Jahren zu folgenden Ergebnissen: Diagnose Anorexia nervosa Bulimie Vollständige Heilung 33% Rückfälle „geheilter“ Patienten 33% 74% 33% Nach UPHOFF471 stirbt in Deutschland jede sechste schwer erkrankte Magersüchtige an den Folgen ihres Leidens, während nur bei jeder zweiten eine vollständige Heilung gelingt und jede zehnte noch unter starken Symptomen litt. 469 SZ, 218, 1999, V 2 /11; REMSCHMIDT ist Kinderpsychiater; die Studie wurde im August 1999 auf der Jahrestagung der American Psychological Association vorgestellt. 470 Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Bd. 38, 1999, S. 829 471 MM, 199, 2000, S. 3 233 Dies ergab eine Untersuchung der Lebenswege von 84 Magersüchtigen, die bereits einen Klinikaufenthalt hinter sich hatten, nach 21 Jahren. Nach FICHTER liegt die Problematik bei Ess-Störungen darin, dass bei Männern und Frauen sehr schwer zu erkennen ist, welche psychischen Probleme sich durch die Krankheit manifestieren. Nach außen zeigen sich die Patientinnen und Patienten „glänzend und stabil“.472 BRUCH sieht als Ursache für Ess-Störungen „ein alles durchdringendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit“.473 Die Zahl der in Deutschland an einer Ess-Störung leidenden Frauen wird auf ca. eine Million geschätzt. 400 000 Frauen sind an einer Bulimie (Ess-Anfälle mit Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln folgen auf Hungerphasen) erkrankt. Mehr als 130 000 Frauen leiden an Anorexia nervosa. Diese Form gilt als schwerste Form der Ess-Störungen, da hier systematisch gehungert wird.474 Fluchtverhalten – vor Leistung, Schule und Lehrern475 Etwa 70 000 Kinder und Jugendliche verweigern in Deutschland den Schulbesuch. Das sind 1,5% aller Haupt-, Real-, Gesamt- und Berufsschüler. In Großstädten bleiben bis zu einem Drittel der Schüler dem Unterricht fern. Nach drei Fehltagen ohne Attest schaltet sich das Schulamt ein. Bei einer Schulsäumnisklage können bis zu 2000 DM Bußgeld oder in schweren Fällen Jugendarrest verhängt werden. Ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes Modellprojekt soll dieser Entwicklung gerecht werden. So wurde eine Fernschule für Schulverweigerer im Schwarzwalddorf Oberrimsingen gegründet. Als Ursachen nennt OPPERMANN die Tatsache, dass Kinder in den Familien nicht mehr die Stabilität vorfinden, die sie brauchen. Da die 472 SZ, 55, 2000, V 2 /14; weitere Informationen zu Essstörungen: http://www.uni-leipzig.de/~anorexia/index1.htm 473 Hilde BRUCH, Der goldene Käfig 474 SZ, 55, 2000,V 2 /14 475 SZ, 273, 1999, S. 6; Untersuchung des Christlichen Jugenddorfwerks / Sprecher: DIETER OPPERMANN 234 Schule weitgehend zum „Leistungsort“ verkommen sei, könne sie diesem Phänomen nichts entgegensetzen. Frühe Warnzeichen psychischer Störungen (Kleinkindalter, Grundschule) Jugendliche Straftäter fallen oft schon im Kleinkindalter durch Wein- und Schreikrämpfe, die über das übliche Maß hinausgehen, auf. In der Grundschule sind häufig Schwänzen, Stehlen, Tierquälerei oder Brandstiftung zu beobachten. Fälle aus dieser Gruppe werden von Fachleuten unter dem Begriff „Psychiatrische Störungen des Sozialverhaltens“ oder „aggressive Form des hyperkinetischen Syndroms“ zusammengefasst.476 TROTT: „Bei Zweijährigen kommt es zu Beißen und Wutausbrüchen, und im Kindergarten reagieren die Kleinen – vorwiegend Jungen – schon bei geringen Anlässen extrem aggressiv.“477 Um Gewalt und Kriminalität vorzubeugen, müssen den Kindern und Jugendlichen nach Ansicht von MORITZ klare Grenzen gesetzt werden. Durch das Setzen von klaren Grenzen und das Anbieten von alternativen Beschäftigungsprogrammen wird den Jugendlichen eine Orientierung ermöglicht.478 Frühgeburten – Psychische Störungen bei betroffenen Müttern Mütter von Kindern, die mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm zur Welt kamen und länger als vier Wochen beatmet werden mussten, litten über einen Zeitraum bis zu drei Jahren vermehrt unter psychischen Störungen.479 476 Journal of Child Psychology and Psychiatry, 1999, Bd. 40, S. 347 TROTT, Uni Würzburg, in SZ, 176, 1999, V 2 /9 478 MM, 230, 1999, S. 1; MORITZ ist Geschäftsführerin des Landespräventionsrates in Niedersachsen. 479 Journal of the American Medical Association, 1999, Bd. 281, S. 799 477 235 Geistig behinderte (Seelenpflegebedürftige 480) Menschen – Gedanken zu ihrer Sexualität Dieses Thema wurde lange Zeit stigmatisiert. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Teil der Menschenwürde – auch bei behinderten Menschen. Seit 1992 regelt das Betreuungsgesetz, dass nur mit der Einwilligung der Behinderten bei ihnen eine Sterilisation vorgenommen werden darf. Sind die betroffenen Menschen nicht zu einem eigenen Urteil fähig, muss durch einen Betreuer, der vom Vormundschaftsgericht ernannt wurde, und durch zwei Fachärzte bestätigt werden, dass der Eingriff „dem natürlichen Willen“ des Betroffenen entspricht. 480 Vor allem die Eltern der behinderten Menschen können sich oft nur schwer eine selbstbestimmte Sexualität ihrer Kinder vorstellen. Die geistig behinderten Kinder werden lebenslang als Kinder angesehen – Sexualität findet in dieser Vorstellung nur schwer einen Platz. Während der Pubertät werden die erwachenden sexuellen Bedürfnisse weniger als bei nicht behinderten Menschen vom Verstand kontrolliert und unvermittelt zum Ausdruck gebracht. Es bestehen weit verbreitete Vorurteile: Die Sexualität geistig behinderter Menschen sei triebhaft und primitiv. DAHLHAUS geht davon aus, dass die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Partners bei behinderten Menschen nicht so ausgeprägt ist und z. B. durch Massageübungen erlernt werden muss. Durch die weitaus emotionalere Lebensbetrachtung und einstellung ergeben sich mehr Konflikte. „Gutes Aussehen oder Kleidung spielen einfach keine Rolle, selbst wenn einer ein schiefes Gesicht hat und sabbert, wird er nicht weniger geliebt.“ Partner verzeihen nach einem Streit leichter einander. Bei einer eher schwachen Behinderung entstehen höhere Ansprüche an den Partner. Begriff nach DAHLHAUS, Heimleiter der Lebensgemeinschaft Höhenberg ; in SZ, 267, 2001, V 2 /13; FEGERT ist Leiter eines Modellprojektes, das vom Bundesfamilienministerium gefördert wird. 236 Möglicherweise entstehen vor allem dann Probleme, wenn die Sexualität unterdrückt wird. FEGERT weist darauf hin, dass geistig behinderte Menschen aufgrund ihrer extremen Abhängigkeit überproportional häufig Opfer von Missbrauch werden, sowohl durch andere Behinderte als auch durch Betreuer. Gesunde Vergewaltiger reden sich oft daraus hinaus, den Widerspruch des Opfers nicht erkannt zu haben. Fehlende Einzelzimmer in Behindertenheimen bilden oft ein großes Hindernis für sexuelle Beziehungen. Die zuverlässige Verhütung durch Pille und Präservativ gestaltet sich schwierig. Wenn Seelenpflegebedürftigen die verantwortliche Betreuung von Kindern übertragen wird, entsteht bei ihnen oft die Einsicht, selbst nicht fähig zu sein, Kinder großzuziehen. Die Kinder von geistig behinderten Menschen sind bei weitem nicht so häufig selbst behindert, wie allgemein angenommen wird; sie wurden früher oft gleich zur Adoption freigegeben. Heute werden die Eltern massiv bei der Betreuung unterstützt. Mit dem Eintritt in das Schulalter ergeben sich vielfach Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn die Kinder eine höhere geistige Entwicklungsstufe erreichen als ihre Eltern. FEGERT: „ . . . einem schwer alkoholabhängigen Mann wird auch nicht automatisch verboten, ein Kind zu zeugen. Dabei steht diesem manchmal ein weitaus schlechteres Leben bevor als mit geistig behinderten Eltern.“ Hyperaktivität Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Experten schätzen, dass mittlerweile allein in Nordrhein-Westfalen etwa 10 000 Schüler Medikamente gegen Konzentrationsstörungen einnehmen. Der Anteil in anderen Bundesländern scheint ähnlich hoch zu liegen. CASPERS-MERK weist darauf hin, dass der Verkauf der verschreibungspflichtigen Substanzen Ritalin und Medikinet 237 sprunghaft gestiegen ist.481 DÖPFNER/LEHMKUHL gehen davon aus, dass die Krankheit vermutlich vererbbar ist und auf leichten Funktionsstörungen des Gehirns beruht. Die ADHS-Häufigkeit habe objektiv betrachtet zugenommen. Mangelnde Bewegung und TVKonsum gelten als „Verstärker“. Lehrern und Eltern wird eine Teilschuld zugesprochen, da sie oftmals keine Kontrolle ausübten oder keine Grenzen setzten. CASPERS-MERK: „Ein großer Teil der MethylphenidatVerordnungen wird nicht von Kinderärzten oder Kinderpsychiatern vorgenommen, sondern vor allem von Hausärzten, Laborärzten, HNO-Ärzten, Frauenärzten, Radiologen und sogar von Zahnärzten.“ Im Jahr 2000 nahmen fast 14-mal so viele Kinder die beiden oben angeführten Medikamente ein wie im Jahr 1993. Im Jahr 2001 ist mit einer weiteren Verdoppelung der Verordnungen durch Ärzte zu rechnen.482 Der Pharmakonzern Novartis verkauft 90% seiner Ritalinchargen in den USA. Amerikanische Wissenschaftler schätzen, dass 4 bis 11% der Schulkinder hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört sind. Als Spätfolgen treten ungünstige soziale und berufliche Entwicklungen auf. Jungen sind neunmal häufiger als Mädchen von dieser Störung betroffen. Der Wirkstoff Methylphenidat ist eigentlich ein Psychostimulans, entfaltet jedoch im Gehirn eine entgegengesetzte Wirkung. In Deutschland wurden laut MARTINIUS strenge Kriterien für die Diagnosestellung formuliert. Die Ärzte verordnen in der BRD jährlich 10 000 bis 13 000 Kindern Ritalin. Seiner Schätzung nach sind höchstens 2% der Schüler – ca. 150 000 sechs- bis 16-jährige – von einer mit Hyperaktivität verbundenen Aufmerksamkeitsstörung betroffen. Wird die Diagnose nach den internationalen Richtlinien gestellt, liegt sie in Deutschland bei 2 bis 4%. Die häufig höher genannten Werte (bis zu 12%) sind seiner Meinung nach auf ungenaue Diagnosen und Bezeichnungen wie etwa „ADS“ (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) 481 SZ, 298, 2001, S. 6; Marion CASPERS-MERK ist Drogenbeauftragte der Bundesregierung; DÖPFNER/LEHMKUHL arbeiten an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln. 482 SZ, 285, 2001,V 2 /9; Angabe der Bundesopiumstelle 238 zurückzuführen. Dieses Kürzel ist jedoch in keiner Klassifikation als Diagnose enthalten. 483 Hyperkinetischen Kindern fehlt nach MARTINIUS kein Neurotransmitter. Nachgewiesen sind Ungleichgewichte zwischen Neurotransmittern und Genen, die für deren Regulationsmechanismus zuständig sind. Noch nicht vollständig aufgeklärt ist die zugrunde liegende Hirnfunktionsstörung. Bezüglich der Diagnostik wird es in der derzeit wissenschaftlich gültigen Lehrmeinung als Fehler angesehen, nachträglich aus der Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung auf das Vorhandensein der Krankheit zu schließen. So wirke das meistens angewendete Mehtylphenidat auch bei Gesunden, wenn sie unaufmerksam sind. Bis jetzt gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, warum das Problem so häufig auftritt. Es wird jedoch ein nicht geringer Anteil seelischer und erzieherischer Ursachen vermutet. Die Vererbungstheorie als alleinige Ursache genügt nicht zur Erklärung dieses Phänomens. In den USA werden etwa 8% der Schulkinder mit Methylphenidat behandelt. Seit einigen Jahren werden durch die Gesundheitsbehörde der USA Schritte eingeleitet, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Wichtige Maßnahmen zum Umgang mit dieser Störung sind Therapien zur Kontrolle der Impulsivität und Gespräche mit Lehrern und Eltern, um angemessene Reaktionen zu ermöglichen. Im DSM-IV wird das Syndrom als Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (ADHD: Attention Deficit/Hyperactivity Disorder) bezeichnet. Bei Buben tritt dieses Krankheitsbild doppelt so häufig auf, wie bei Mädchen. Körperliche Unruhe, Aufmerksamkeitsschwäche, starke Impulsivität und in Folge davon auch Aggressivität sind häufig zu beobachtende Symptome. Auch Sprachstörungen und ein gestörtes Essverhalten werden in diesem Zusammenhang beobachtet. Ursachen sind oftmals stark belastende Lebensumstände wie die Scheidung der Eltern. Auch der Verlust von Werten und Traditionen in Schule, Umwelt oder Familie können Auslöser für diese psychische Störung sein. 483 SZ, 85, 2001, S. 49; die genauen diagnostischen Leitlinien finden sich im ICD-10, 1995, S. 294 ff. 239 Alkoholmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft, Rauchen oder die Überempfindlichkeit gegen bestimmte Nahrungsmittel können ebenso zu einer Entwicklung dieser Störung beitragen. MURPHY-WITT484 geht davon aus, dass etwa 8% aller Kinder in Deutschland unter der mittlerweile anerkannten Krankheit ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) leiden. Jungen sind fünfmal häufiger betroffen als Mädchen. Nach gegenwärtigem Forschungsstand ist ADS angeboren, aber keine Erbkrankheit. Eine intensive Beschäftigung mit dem Kind ist notwendig, wenn keine Spätschäden zurückbleiben sollen. Der immer hektischer werdende Alltag trägt möglicherweise zum Auftreten von ADS bei. Nach KROWATSCHECK485 sind etwa 10 bis 20% aller Schulkinder in Deutschland hyperaktiv. Ca. 20 bis 30% aller Schulkinder litten unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Etwa jedes zehnte Kind falle durch aggressives Verhalten gegenüber Lehrern, Eltern oder anderen Kindern auf. Oft sind kindliche Entwicklungsstörungen oder -verzögerungen Begleit- oder Folgeerscheinungen vorherrschender Familienverhältnisse. Neben den Dauersitzungen am Computer oder vor dem Fernseher sind auch die rasch zunehmenden veränderten Familienstrukturen wie Scheidung oder Alleinerziehung, Arbeitslosigkeit der Eltern und große Schulklassen mit überforderten Lehrern für Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich. „70% der Kinder, die wir betreuen, kommen aus einer allein erziehenden oder geschiedenen Familie.“ In den letzten zwanzig Jahren gab es verschiedene Versuche, dieses Syndrom zu erklären: Seit Ende der 70er Jahre überlebten mehr Frühgeborene. In späteren Tests wurden kleinere Wahrnehmungs- und Verhaltensdefizite aufgedeckt. Hirnschäden wurden als Ursache vermutet. 484 Monika MURPHY-WITT ist Politologin und PsychologieJournalistin, in: Wie Zappelkinder ruhig werden; (ein Ratgeber) 485 MM, 206, 2000, S. 12; KROWATSCHECK ist Leiter des Schulpsychologischen Dienstes in Marburg. 240 Ab etwa 1980 wurden Zucker und Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln als Auslöser betrachtet. Gestützt wurde diese Theorie durch das bei hyperaktiven Kindern im Vergleich zu gesunden abweichende Stoffwechselmuster in manchen Hirnregionen. Heute besteht die Lehrmeinung, dass die Datenverarbeitung im Gehirn gestört ist. Die Arbeitsweise der Botenstoffe Noradrenalin, Serotonin und Dopamin funktioniert offenbar nicht einwandfrei. Erklärt wird das durch die Erhöhung der Menge von Noradrenalin an den Verknüpfungspunkten von Nervenzellen, wenn Ritalin zugeführt wird. Im Gehirn ist Dopamin an Nervenprozessen beteiligt, welche die Bewegungssteuerung, das Verhalten und Erkenntnisprozesse steuern und regulieren. Auch die Reaktion auf eine Belohnung steht mit diesen Prozessen in Verbindung. Die bisher am meisten vertretene Hypothese besagt, dass hyperaktive Kinder unter einem Dopaminmangel leiden. Im Bereich des Frontalhirns finden sich bei solchen Kindern ungewöhnlich viele „Transporter“. Das freigesetzte Dopamin wird dadurch möglicherweise zu schnell wieder gebunden. Die Konzentration im Gehirn sinkt in der Folge unter den normalen Stand. Durch den Wirkstoff Methylphenidat wird eine erneute Freisetzung stimuliert. 241 Die Funktion von Dopamin bei Hyperaktivität Im Kreislauf der Botenstoffe wird eine Störung vermutet. Das Dopamin wird nach bestehender Lehrmeinung zu schnell wieder von der abgebenden Zelle aufgenommen. Dieser wichtige Neurotransmitter fehlt dann im Gehirn. Bei willkürlichen Bewegungen, Lern- und Gedächtnisvorgängen sowie bei emotionaler Erregung spielt Dopamin eine Rolle. Diese Nervenzelle produziert Dopamin Die Dopaminbläschen enthalten Dopamin Das ist die Synapse, der Kontaktraum zwischen den Nervenfortsätzen Dopamin Durch einen Transporter wird das Dopamin wieder aufgenommen Der Dopaminrezeptor an der Empfängerzelle 242 Eine weitere – der Dopaminmangel-Theorie entgegengesetzte Hypothese nach HÜTHER486 „Eine verstärkte Dichte von Transportern kann ebenso gut Ausdruck eines stärker entwickelten dopaminergen Systems sein.“ Bis zur Pubertät steigt die Dichte der Nervenfortsätze an. Äußere Reize beeinflussen nach TEUCHERT-NOODT offenbar diese Entwicklung. Das dopaminerge System von besonders wachen und aufgeweckten Babys und Kindern ist durch Reize wesentlich leichter zu stimulieren. Eine verstärkte Axon-Bildung wird somit immer wieder angeregt. Der Grad der Wachheit und der Unruhe nimmt zu. Nach dieser Theorie herrscht bei hyperaktiven Kindern kein Dopaminmangel, sondern ein Überschuss an Dopamin vor.487 Mit Hilfe der entsprechenden Medikamente würden die Dopaminspeicher geleert. Das Antriebssystem der Kinder wird somit außer Kraft gesetzt, bis die Speicher wieder aufgefüllt sind. BARKLEY konnte mit Hilfe von bildgebenden Verfahren zeigen, dass bei hyperaktiven Patienten im Gegensatz zur Kontrollgruppe drei Hirnbereiche, welche mit Hilfe von Dopamin Aufmerksamkeit und Bewegungen steuern, kleiner erscheinen. Das gestörte, komplexe Zusammenspiel der Botenstoffe Serotonin und Dopamin ist eine mögliche Erklärung für das Auftreten von Hyperaktivität. SKRODZKI hält in Deutschland etwa 100 000 Kinder für „dringend behandlungsbedürftig“. Er sieht die bewegungsfeindliche Umwelt als ausschlaggebend dafür an, dass angeborene oder erworbene Unterschiede im Bewegungsdrang auffällig werden. Die heute häufig benutzten Video- und Gameboy-Spiele, aber auch das Fernsehen können Bewegungsspiele in keiner Weise ersetzen. Augen und Finger werden ohne den übrigen Körper zu einseitig eingesetzt. Dazu komme eine zu wenig eingeübte Selbstkontrolle. 486 SZ, 285, 2001, V 2/9; HÜTHER ist Neurobiologe an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen; Gertraud TEUCHERT-NOODT führte entsprechende Studien an der Universität Bielefeld durch. 487 Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 2001, Bd. 112, S. 471 243 Folgende Therapiehinweise können hilfreich sein: Unterstützung des kindlichen Bewegungsdranges dabei Unterschiede tolerieren zu üben, genau hinzuschauen und zuzuhören Ziele stecken und lernen mit Ablenkungen umzugehen Hausaufgaben in einem reizarmen Raum machen ein regelmäßiger Tagesablauf Unnachgiebigkeit der Eltern und Lehrer, wenn es darum geht, etwas Begonnenes zu beenden Einnahme von Medikamenten nach sorgfältiger Abwägung. DOLL-TEPPER berichtet über eine Besserung des hyperaktiven Verhaltens durch psychomotorisches Training, das über ein halbes Jahr hinaus stattgefunden hatte.488 Die Ritalin-Verordnungen haben sich in den letzten zehn Jahren verzehnfacht. LEHMKUHL vertritt die Ansicht, dass die Erkrankung wahrscheinlich nicht häufiger geworden ist, sondern häufiger diagnostiziert wird. Möglicherweise sind 2 bis 4% aller Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren vom „Aufmerksamkeits-DefizitHyperaktivitäts-Syndrom“ betroffen. „Bei den betroffenen Kindern macht sich das unaufmerksame, impulsive und hyperaktive Verhalten im Alltag mehrfach bemerkbar. Zum Beispiel sind die Schulnoten so schlecht, dass die Sonderschule droht; das Kind streitet sich ständig mit Eltern oder Geschwistern; es findet keine Freunde.“489 Die Therapie: Beratung der Eltern Verhaltenstherapie Behandlung mit Medikamenten Einbeziehung der Lehrer 488 SZ, 20, 1999, V 2 /9 SZ, 186, 2001, V 2 /8; LEHMUHL ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Köln. 489 244 Durch diese Kombination werden kurzfristig gute Erfolge erzielt. „Viele Kinder werden trotz Behandlung irgendwann sozial auffällig, bekommen Schulschwierigkeiten. Aber die Prognose ist mit Behandlung wesentlich besser als ohne.“ Bei 10% der Kinder treten bei der Einnahme von Ritalin (ein dem Coffein ähnliches Psycho-Stimulans, das den gestörten DopaminStoffwechsel verändert) kurzfristige Nebenwirkungen auf: Ess- und Schlafstörungen leichte Kreislaufstörungen Stimmungswechsel verstärkte Tics Ursachen für die Entstehung dieser Symptomatik nach LEHMKUHL: biologische Faktoren psychosoziale Faktoren: Elternhaus und Schule „Kindern etwa, die unter chaotischen Umständen aufwachsen, fällt es schwer, eine Orientierung zu finden.“ Erblichkeit bestimmter Eigenschaften des Temperaments Die genetische Disposition führt zu Besonderheiten im zentralen Nervensystem. „Es gibt aber keine Belege dafür, dass Kinder, die sehr viel fernsehen oder viele PC-Spiele machen, besonders gefährdet sind.“ Im Vorschulalter sollte Ritalin wegen der verstärkten Nebenwirkungen nicht verordnet werden. SIMONSOHN490 bezeichnet die Ritalin-Therapie als eine völlig verfehlte Schein-Therapie, da bis heute nicht eindeutig belegt ist, dass die Erkrankung auf biologische Ursachen (Störungen der Neurotransmitter) zurückzuführen ist. Bisher ist kein Test verfügbar, um ADS auf der körperlichen Ebene nachzuweisen. Somit kann ADS auch nicht offiziell diagnostiziert werden. Ritalin gerät zunehmend in den Verdacht, eine Droge mit einem bedeutenden Suchtpotenzial zu sein. 490 Barbara SIMONSOHN ist Sozialwissenschaftlerin, 2001: Hyperaktivität – Warum Ritalin keine Lösung ist 245 Als Nebenwirkungen werden aufgeführt: Appetitverlust Seh- und Schlafstörungen Blutgerinnungsstörungen Blutdruck- und Pulsveränderungen Haarausfall Tourette-Syndrom Benommenheit Kopfschmerz Erhöhte Krampfbereitschaft EEG-Veränderungen Epileptische Anfälle Angina-pectoris-Anfälle Gehirnblutungen mit Dauerschäden oder tödlichem Ausgang Durch die Somatisierung der Hyperaktivität und die damit häufig verbundene medikamentöse Behandlung werden die eigentlichen Ursachen in den Hintergrund gedrängt. Nur durch eine ganzheitliche Behandlungsmethode sei die Symptomatik zu verbessern. Dazu zählen: spezielle Ernährungsprogramme Klassische Homöopathie Entspannungstechniken – Meditation Familientherapie (Betrachtung und Analyse der Kinder „als Teil einer größeren Struktur“) ein ausgewogenes Erziehungskonzept (Beschränkung von Fernseh- und Computerspielen, Aufbau sozialer Kompetenz und des kindlichen Selbstwertgefühles) FREISLEDER491 über die Ursachen einer ADHS, deren Behandlungsmöglichkeit und die Risiken bei der Einnahme von Ritalin: Ursachen: leichte Funktionsstörungen im Gehirn genetische Disposition wenig stabiles Umfeld des Kindes (Verstärkung) 491 SZ, 270, 2001, S. 55, Bayern; FREISLEDER ist ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in München. 246 Behandlungsmöglichkeiten: 1. 2. 3. genaue Beratung der Eltern einschließlich genauer Tipps für den Umgang mit dem Kind psychotherapeutische Behandlung – vorrangig mit Mitteln der Verhaltenstherapie entsprechende Medikation Ritalin als abhängig machende „chemische Keule“? „Das kann man so nicht stehen lassen. Es ist kein einziger Fall dokumentiert, bei dem Ritalin unter angemessener ärztlicher Überwachung zur Abhängigkeit führte. Bei vielen Kindern ist Medikation notwendig, um sie erst erreichbar für weiterführende Therapien zu machen. Richtig ist aber, dass eine Medikation niemals einzige Maßnahme sein darf, ärztlich indiziert und streng überwacht werden muss. Zusätzlich sollte Verhaltenstherapie erfolgen. Natürlich darf kein Arzt akzeptieren, dass da Eltern nur schnell ein Medikament wollen, weil ihr Kind so unruhig oder unaufmerksam ist.“ Angemessenes Lehrerverhalten und daraus resultierende Unterrichts-Prinzipien: 492 492 „grenzenlose“ Geduld (der Lehrer) „Auszeiten“ für Schüler oder Lehrer Ignorieren einer „Schuldfrage“ (die Schüler können nicht anders) Die Schüler sollten gefordert – nicht überfordert werden „Verstärkung“ als wichtiges verhaltenstherapeutisches Prinzip (Plus-Punkte; Minus-Punkte gibt es nicht) Vernetzung von Eltern, Kinderhort, Erziehern, Lehrern, Heilpädagogen, Therapeuten, Jugendamt und Arzt Weitere Infos: www.ads-hyperaktivitaet.de und www.mww.de/krankheiten/kinderkrankheiten/ads.html 247 Neuere „wissenschaftliche“ Erkenntnisse und Vermutungen zu Nebenwirkungen oder Spätfolgen der Medikamente Ritalin/Medikinet:493 Der enthaltene Wirkstoff Methylphenidat kann schwerwiegende Spätschäden bis hin zur Schüttellähmung verursachen. BAIZER: „Ärzte dachten bislang, dass Ritalin nur kurze Zeit wirkt.“ Der Forscher stellte fest, dass Ritalin sowohl in der Funktion als auch in der Struktur der Gehirns langanhaltende Veränderungen erzeugen kann. Prognose für den Behandlungserfolg nach DU BOIS: „Ein entscheidender Faktor ist ist das soziale Umfeld . . . ADHSKinder aus intakten Elternhäusern haben meist eine gute Prognose – mit und ohne Ritalin.“ Bei schwierigen häuslichen Verhältnissen seien die Aussichten auch mit Medikament und Psychotherapie langfristig deutlich schlechter. Ein Blick über die Grenzen nach Schweden Dort muss das Medikament durch jeden Arzt und bei jedem Behandlungsfall schriftlich beantragt werden. Die gleichzeitige Vorlage eines Therapieplanes und die Dokumentation sowohl der Nebenwirkungen als auch des Behandlungsverlaufes sind zwingend vorgeschrieben, um einem Missbrauch vorzubeugen. Hypochondrie Diese Erkrankung gehört zur Gruppe der somatoformen Depressionen und Angststörungen und ist in erster Linie gekennzeichnet durch die „beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden“.494 Die Patienten beschäftigen sich ständig mit ihrem körperlichen Zustand, den sie durch ständiges „DoctorShopping“ (ein Sprechstundentermin zieht automatisch den nächsten 493 SZ, 285, 2001,V 2 /9; BAIZER arbeitet an der University of Buffalo; DU BOIS arbeitet als Kinder- und Jugendpsychiater in Stuttgart. 494 ICD-10, 1993, S. 186 248 nach sich) zu erleichtern suchen. Zwischen den einzelnen Arztbesuchen sind die Patienten mehr oder weniger von dem Vorhandensein ihrer „eingebildeten“ Krankheiten, für die sich kein Nachweis finden lässt, überzeugt. Der Rat und die Versicherung der Ärzte, dass keine Erkrankung vorliegt, werden ignoriert. Wahnvorstellungen über die eigene Körperform oder über Körperfunktionen zählen nicht zur Symptomatik. Hypochonder haben das Grundvertrauen in ihren Körper verloren und verzerren registrierte körperliche Empfindungen zu Vorstellungen ernsthafter Erkrankungen. Sie können ohne Hilfe dem Teufelskreis der Angst nicht entrinnen Über die Verbreitung dieser Erkrankung gibt es in Deutschland keine gesicherten statistischen Erkenntnisse. NUTZINGER495 geht in einer Schätzung davon aus, dass etwa 3 bis 5% der sich in ärztlicher oder physiotherapeutischer Behandlung befindlichen Patienten Hypochonder sind. Eine in den 80er Jahren in den USA veröffentlichte Studie geht davon aus, dass Patienten mit eingebildeten Störungen 10% der Kosten im Gesundheitswesen verursachen. Nach NUTZINGER ist diese Studie auf Deutschland übertragbar. Damit würden sich Kosten von etwa 50 Milliarden Mark für die Behandlung von Hypochondern und ähnlichen Angstkranken ergeben. Ziel einer Behandlung ist, die Patienten nach sechs- bis achtwöchigem Klinikaufenthalt dazu zu befähigen, ihr Leiden zu kontrollieren. Arzttermine werden nur in festgelegten Rhythmen vergeben. BACH zur Diagnose von Hypochondrie: „Die Diagnose ist eine heikle Sache. Konfrontiert man einen Hypochonder damit, seine Krankheit habe eine psychische Ursache, fühlt er sich missverstanden. Wenn man die Hypochondrie aber als besonders intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Krankheit interpretiert, können die meisten Betroffenen damit besser umgehen.“ 495 SZ Magazin , 20, 2001, S. 31ff. NUTZINGER ist Professor und ärztlicher Direktor der einzigen Klinik in Deutschland (Bad Bramstedt) in welcher die Krankheit behandelt wird; BACH ist ein auf Angsterkrankungen spezialisierter Psychiater in Wien. 249 Psychosomatische Erkrankungen durch elterlichen Druck Eine Untersuchung der Universität Bielefeld an rund 100 Grund- und weiterführenden Schulen ergab, dass ca. 30% der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren in Deutschland unter psychosomatischen Beschwerden leiden. Vor allem Mädchen seien von Allergien, Asthma, Bronchitis, Hautausschlägen oder von Neurodermitis besonders betroffen. Diese „erschreckende Entwicklung“ werde neben anderen Faktoren auch durch den „von den Eltern ausgeübten Druck“ ausgelöst, so HURRELMANN.496 So leide jeder zehnte Schüler in Deutschland unter psychosomatischen Beschwerden.497 SCHLEU498 weist darauf hin, dass wissenschaftlichen Studien zufolge ca. 3% der Bevölkerung psychotherapeutisch behandlungsbedürftig sind. Die Versorgungssituation liegt jedoch bei 0,4%, bei Kindern noch schlechter. Wartezeiten von einem Jahr sind keine Seltenheit. 3% der Zwölf- bis 17-Jährigen unternehmen einen Selbstmordversuch; 30% dieser Altersgruppe leidet an psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen. Jedes fünfte Schulkind ist verhaltensauffällig. „Psychisch kranke Kinder haben keine Lobby.“ Familiengeheimnisse und ihre zerstörerische Macht499 BRADSHAW in seinem Buch „Familiengeheimnisse“: „Viele dunkle Geheimnisse resultieren aus einer Perversion des Privaten und haben ihren Ursprung in der Verletzung von Anstand und natürlicher Scham. Sie kreisen um Themen wie Geburt und Tod und den Bereich des Heiligen mit seinen Normen von Gut und Böse, Sünde und Erlösung.“ Die Geschichte der Familie wird über Generationen hinweg durch solche Geheimnisse negativ belastet. Es gibt viele Formen dieser Schuld: 496 MM, 282, 1998, J 3 MM, 288, S. 1 498 SZ, 12, 2000, L 1; Andrea SCHLEU ist Vorsitzende des Verbands der bayerischen Vertragspsychotherapeuten. 499 SZ, 110, 1999, VI 497 250 Kinder, die verlassen, abgetrieben oder missbraucht wurden. Verstorbene Kinder, die keine Erwähnung finden, aber auch Inzest, Sucht, Perversion, verbotene Liebesbeziehungen oder Geisteskrankheiten gehören zu solchen Familiengeheimnissen. Die über Generationen hinweg mögliche „Vererbung“ und die damit verknüpften dunklen Ahnungen, Belastungen und Empfindungen werden von FREUD als „archaisches Erbe“ bezeichnet. SHELDRAKE nennt morphogenetische Energiefelder als mögliche Ursache für die Weitergabe an nachfolgende Generationen. Die Erkenntnisse HELLINGERS500 zu diesem Thema decken sich mit denen von BRADSHAW. Menschen, die ein Familiengeheimnis unbewusst in sich herumtragen, beschreiben ihre Lebenssituation wie „in einem Nebel lebend“ „einen klebrigen Schleier“ „ein sanftes, luftdurchlässiges Tuch, das über mir liegt“ Als Folge ziehen sich Kinder oftmals in sich selbst zurück, erzeugen paradoxe Symptome oder haben große Schwierigkeiten, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Dabei wird von führenden Familientherapeuten vermutet, dass eine zunehmende Verleugnung mit einem noch größeren Rückzug oder einem noch größeren Ausleben korrespondiert. HELLINGER begreift die Familie als ein soziales System. Hier wirken alle Bestandteile zusammen und erzeugen so ein unverwechselbares Individuum mit einer unverwechselbaren Identität. Ein vergessenes, ausgestoßenes oder ausgeklammertes Familienmitglied vorausgehender oder jetziger Generationen wird später von Stellvertretern repräsentiert, da es in der Seele keine Zeit gibt. Dazu HELLINGER: „Veränderung gibt es nur, wenn man der Wirklichkeit ins Auge schaut.“ Koro Diese Störung war bisher nur im asiatischen Kulturraum zu beobachten. Die betroffenen Patienten erleiden einen Panikanfall. Dabei befürchten sie, dass sich ihr Penis sich in den Unterleib zurückziehen 500 HELLINGER, 1993, 1996, 1997 251 könne. Bei dem Versuch, den Penis aufzuhalten, entstehen oft erhebliche Verletzungen. Die bei dieser Störung angewandte „Therapie“ zeigt kulturspezifische Eigenheiten. So sind mehrere Fälle bekannt, bei denen der Penis mit Essstäbchen abgeklemmt wurde. Die weltweite Migration trägt dazu bei, dass diese Störung auch auf westliche Kulturkreise übergreift. Sie wurde vor kurzem erstmals bei weißen Amerikanern beschrieben.501 Das vorwiegende Auftreten dieser Störung in asiatischen Kulturen wird mit der dort wichtigeren Bedeutung der männlichen Potenz erklärt. „Kriegskinder“ Im Jahr 2000 befinden sich weltweit etwa 10 Millionen Kinder auf der Flucht vor dem Krieg. In 25 Ländern der Erde kämpfen Kinder unter 15 Jahren mit der Waffe. „Kriegskindern“ fehlt oftmals jedes Gefühl von Sicherheit. Sie sind die wirklichen Verlierer, durch ihre Erlebnisse oft stark geprägt und müssen aufgrund ihrer oftmals ungeklärten Asylsituation ständig mit Überraschungen und Unvorhersehbarem rechnen. Dazu gehört die ständige Angst vor der Abschiebung, Angst, als Schmarotzer angesehen zu werden, und die Angst, anders zu sein als die Menschen im Gastgeberland. Neben den sprachlichen Problemen bereiten die materiellen Sorgen zusätzliche Schwierigkeiten. Kinder, die unter solchen psychischen Belastungen leiden, sind hochgradig selbstmordgefährdet. Allein in Berlin halten sich ca. 1500 Flüchtlingskinder ohne Begleitung auf.502 Sie leiden zudem unter der Angst, wie es ihren Angehörigen wohl gehen mag. Therapie- und Hilfsmöglichkeiten: Gesprächstherapie; viel Zeit, Geduld, Zuhören, Offenheit und Verständnis sind Voraussetzungen Möglichkeit, das Erlebte zu malen (Träume, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte) Katatymes Bilderleben Tanzen 501 502 SZ, 94, 2002, V2 /15; auch in Addiction, 2001, Bd. 96, S. 1663 SZ, 17, 2000, VI 252 Schreiben Theaterspielen Die Chance, wieder heil zu werden, besteht nach einer entsprechenden Therapie erst dann, wenn sie so weit gekommen sind, dass sie schreien können. Der Ausdruck des Schreiens durch den Mund, durch Farben oder Bewegung ermöglicht die Verarbeitung des unermesslichen Grauens, das sie oft erlebt haben. Legasthenie und LRS Es wird zwischen einer angeborenen, genetisch bedingten Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) im Zusammenhang mit einer hirnorganischen Störung und einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) unterschieden, die meist nach der Geburt erworben wurde. Besondere Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen müssen nichts mit der Intelligenzentwicklung zu tun haben. An einer angeborenen Legasthenie leiden rund 4% aller Menschen. Sie ist meist gar nicht oder nur sehr schwer zu therapieren. Von der LRS sind ca. 7 bis 10% aller Kinder im Einschulungsalter betroffen. Hier wird eine Hilfe durch Fördermaßnahmen erwartet und angeboten. Eine Richtlinie des Kultusministeriums legt erstmals Folgendes verbindlich fest: Legasthenische Kinder müssen während ihrer gesamten Schulzeit keine Diktate mehr schreiben. Außerdem darf ihre Rechtschreibleistung bei allen schriftlichen Arbeiten in allen Unterrichtsfächern keinen Einfluss mehr auf die Noten haben. Lese- und rechtschreibgestörte Kinder bekommen bei Schulaufgaben mehr Zeit als ihre Mitschüler . . . Auch in Fremdsprachen werden Rechtschreibfehler nicht mehr für die Note gewertet . . . Alle diese Maßnahmen sind für lese- und rechtschreibgestörte Kinder zwingend vorgeschrieben, für lese- und rechtschreibschwache Schüler/innen dagegen weiter ins Ermessen der Lehrer gestellt . . . Die Anerkennung als Legastheniker erfolgt durch ein Gutachten eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zusammenarbeit mit dem Schulpsychologen. 253 Die Feststellung der Lese- und Rechtschreibschwäche allein erfolgt in der Regel durch einen Schulpsychologen. Die neuen Richtlinien sollen keine therapeutischen Maßnahmen ersetzen; sie werden in der Zuständigkeit der Jugendämter durchgeführt.503 Lese- und Rechtschreibschwäche an Schulen zeigt sich nicht mehr als ein Randproblem. In Bayern besuchen rund 41 000 Grundschüler und ca. 8000 Hauptschüler im Schuljahr 1999/2000 einen von insgesamt 6113 Förderkursen. In der BRD leidet jeder 17. Schüler unter Legasthenie. Bisher konnte dieses Phänomen medizinisch nicht nachgewiesen werden. SHAYWITZ fand nun mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) eine frühzeitige Diagnosemöglichkeit. Die Hirntätigkeit von 32 guten Lesern und 29 Legasthenikern wurde anhand dieser Aufnahmetechnik verglichen. Während der Aufzeichnungen mussten die Kinder zunehmend schwerere Aufgaben im Lesen und Schreiben lösen. Die Hirnregion, die für die Verbindung zwischen dem geschriebenen Wort und der phonetischen Aussprache zuständig ist, wurde bei Legasthenikern im Vergleich zur Kontrollgruppe kaum aktiviert. Diese reduzierte Aktivität im hinteren Hirnbereich wurde jedoch durch eine Überforderung des Broca-Zentrums im Vorderhirn kompensiert. Bei Menschen ohne Leseschwäche ist dieses Zentrum mit anderen Aufgaben betraut.504 Bei Legasthenikern zeigt die aktive seitliche Hirnwindung des Stirnlappens beim Entziffern von Phonemen ein anderes Aktivitätsmuster als bei Menschen ohne diese Schwäche. Der Unterschied für das häufigere Auftreten von Legasthenie bei Männern wird von SHAYWITZ so erklärt: Während der phonologischen Verarbeitungsphase ist bei Männern nur die linke Vorderhirnwindung aktiv, während bei Frauen Aktivitäten in beiden Hemisphären zu beobachten sind. Mädchen können 503 SZ, 290, 1999, L 10 Proceedings of the National Academy of Sciences, Band 95 in MM, 61, 1998, J 4 504 254 also auf die andere Region zurückgreifen und so Defizite eher kompensieren. Nach der Ansicht von Ärzten, Psychologen und Pädagogen sind legasthene Kinder weder faul noch dumm. Sie haben auch keine psychischen oder offensichtlichen neurologischen Schäden, keine Seh- oder Hörbehinderung, kein problematisches Elternhaus oder auffällig schlechte Lehrer, obwohl jeder dieser Faktoren zu Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens führen kann. Durch eine gestörte oder unzureichend trainierte Verarbeitung der Sprachlaute wird das Auftreten von Legasthenie neuerdings erklärt. Die deutsche Sprache setzt sich aus 40 verschiedenen Lauten, den Phonemen, zusammen. Das Wort Haus z. B. enthält drei Phoneme, nämlich h, au, und s und unterscheidet sich von dem Wort Klaus nur durch den ersten Laut. Dem aktuellen Forschungsstand entsprechend werden während des Hörvorganges alle Wörter unbewusst in die Einzellaute zerlegt. Beim Lesen begegnen wir einem ähnlichen Vorgang. Hier werden die Wörter nicht als Ganzes erfasst, sondern es erfolgt eine Zuordnung der entsprechenden Phoneme zu den Buchstabenfolgen (Grapheme). Voraussetzung für das Gelingen der Umwandlung optischer Zeichen in Laute ist die eindeutige Identifikation und Differenzierung der einzelnene Laute, Silben und Wörter. Dieser Prozess erzeugt „phonologische Bewusstheit“. Diese nur unzureichend ausgebildete Fähigkeit ist eng gekoppelt mit dem Abrufen, der Verarbeitung und dem Speichern von Gedächtnisinhalten.505 MARX und Mitarbeiter entwickelten ein ScreeningVerfahren mit dessen Hilfe im Vorschulalter eine Prognose bezüglich des Auftretens von Legasthenie mit einer 90%igen Sicherheit erfolgen kann. SCHNEIDER und Mitarbeiter entwickelten ein Trainingsprogramm für Vorschulkinder zur Verbesserung des Lautbewusstseins.506 Ein halbes Jahr lang werden in täglichen Sitzungen von 10 bis15 Minuten Übungen durchgeführt, die Lausch- und Reimspiele enthalten; 505 MARX und Mitarbeiter in einer Studie der Universität Bielefeld an 200 deutschsprachigen Kindern in SZ, 132, 1997, S. 27 506 SCHNEIDER, Abteilung für Pädagogische Psychologie an der Universität Würzburg in SZ 132, 1997, S. 27 Auskünfte erteilt auch der Bundesverband für Legasthenie e.V. Königsstraße 32, 30175 Hannover, Tel: 05 11/31 87 38 255 anschließend werden Sätze in die einzelnen Wörter zerlegt und danach wieder zusammengefügt. Dieses Prinzip der Analyse und Synthese wird dann auch auf Wörter, Silben und einzelne Laute übertragen und geübt. Wichtig dabei ist die Aktivierung aller Sinne. Dazu KÜSPERT: „Die Kinder sollen beobachten, wie etwa beim „d“ ihre Zunge herunterschnalzt oder an der Bewegung einer Feder den unterschiedlich starken Lufthauch sehen, der durch verschiedene Laute entsteht.“ Seit 1993 unterzogen sich ca. 500 zufällig ausgewählte Kinder diesem Trainingsprogramm. In einer nicht geförderten Kontrollgruppe traten bei 5% der Kinder im Gegensatz zu den trainierten Kindern in der ersten Klasse Leseund Rechtschreibprobleme auf. Nach MOLFESE ist eine Leseschwäche schon bei Säuglingen durch charakteristische Hinweise bei der Auswertung der aufgezeichneten Gehirnströme wenige Stunden nach der Geburt zu erkennen.507 Die Gehirnströme wurden aufgezeichnet, während 186 Neugeborene mit Musik und gesprochenen Texten beschallt wurden. Bis zum 8. Lebensjahr wurden die Kinder weiter untersucht. Bei 24 stellte sich eine eindeutige Leseschwäche heraus. Deutliche Unterschiede der Gehirnstrom-Muster waren bei 22 von ihnen durch einen späteren Vergleich zu erkennen. Weitere neuere Forschungsergebnisse zur Lese- und Rechtschreibschwäche Durch die Untersuchung der Gehirne verstorbener Legastheniker entdeckte GALBURDA einige minimale Veränderungen und auch geringe Fehlbildungen. Nach seinen Erkenntnissen waren sie während der Schwangerschaft etwa im 4. Monat nicht weitergereift oder der normalen Entwicklung gemäß weitergewandert. Die Sprachzentren der linken Hirnhälfte sind von diesen Störungen betroffen. Die Befunde GALBURDAS wurden inzwischen durch bildgebende Verfahren auch an lebenden Gehirnen nachgewiesen (Kernspintomographie und spezielle EEG-Ableitungen). 507 New Scientist, 1999, Nr. 2200 ; MOLFESE ist amerikanischer Psychologe an der Southern Illinois University. 256 Die Untersuchungen konzentrierten sich auf die Sehwege im Gehirn, über welche die visuellen Reize verarbeitet werden. Dabei wurde festgestellt, dass bestimmte große Zellen in einem dieser Verarbeitungskanäle in der „Schaltzentrale“ (eingegangene Laute werden hier zur Hirnrinde weitergeleitet) nur in verminderter Zahl nachgewiesen werden konnten. Rasch aufeinander folgende und wenig kontrastreiche Sinneseindrücke werden aber offensichtlich genau von diesen Zellen verarbeitet. Buchstabenfolgen erfüllen diese Voraussetzungen (m/n/d/b/p/q). Die ordnungsgemäße Aufnahme und Unterscheidung ist bei Legasthenikern gestört. Die Buchstaben fließen ineinander über. Wegen der fehlenden oder geschädigten Zellen gelingt die richtige Entschlüsselung und Verarbeitung nicht mit ausreichender Schnelligkeit und Sicherheit. Die Blickbewegungen der Augen sind nicht angepasst (die Verweildauer der Blickbewegungen passt sich nicht an den Schwierigkeitsgrad und die Wortlänge an) und werden im Gehirn nicht so „abgebremst“, wie es für das richtige Lesen eine Voraussetzung wäre. In der Folge werden die Buchstaben nicht richtig erkannt und es wird die Reihenfolge von Buchstaben vertauscht; ebenso verschwinden ganze Satzteile. HUBER spricht von einem „Blickbewegungsdschungel“.508 Auch das Hören bereitet offensichtlich Probleme; in der oben angeführten „Schaltzentrale“ wurden die entsprechenden Zellen kleiner und ungeordneter vorgefunden. Bei Legasthenikern erreichen Geräusche das Gehirn über ein Ohr schneller als über das andere. Der Nachweis dafür gelingt mit dem „Dichotischen Hörtest“. ESSER fand heraus, dass auch die Geräusche offensichtlich „ungebremst“ verarbeitet werden müssen. Sie werden so zu laut gehört und können nur schlecht differenziert werden. Das Lesen gelingt den meisten Legasthenikern nur in einer ruhigen Umgebung. Beide Gehirnhälften sind durch den sogenannten Balken verbunden, der wichtige Nervenverbindungen enthält, die zum Austausch der Informationen zwischen linker und rechter Gehirnhälfte notwendig sind. Bei legasthenen Kindern wurde beobachtet, dass dieser Balken an zwei Stellen dünner ist. Es liegt die Vermutung nahe, dass ähnliche Ursachen auch bei der Dyskalkulie eine Rolle spielen könnten. 508 in: LRS, BECHER, KINZINGER, SEGER, 2000, S. 74; ISBN 3-88720-067-5 257 TALCOTT stellte fest, dass Lese- und Rechtschreibschwächen einen Bezug zu Schwächen beim Erkennen von Punktbewegungen und vibrierenden Tönen haben.509 Er untersuchte eine Gruppe von 32 Kindern ohne Lernprobleme und stellte dennoch charakteristische Diskrepanzen fest.: „Unsere Untersuchungen zeigen erstmals, dass die Lesefähigkeit über die ganze Bandbreite mit der Empfindlichkeit für schnelle Seh- und Hörreize zusammenhängt.“ TALLAL kommentiert seine Ergebnisse: „Sie unterstützen die Hypothese, dass Lesestörungen wie Legasthenie am ungünstigen Ende einer Normalverteilung liegen, statt ein eigenständiges Krankheitssyndrom darzustellen . . . Gezieltes Training der dynamischen Empfindlichkeit der Sinne ist wahrscheinlich die effektivste Methode, um die Leseleistungen zu verbessern.“ Wichtig scheint dem Verfasser vor allem, eine Reizüberflutung in der Kindheit zu verhindern (wenig Fernsehen) für eine möglichst ruhige Umgebung während des Schlafes bei Kindern zu sorgen eine Sinnesschärfung durch Vorlesen und Bildbetrachtungen mit entsprechenden Erklärungen zu fördern dass Eltern darauf beharren, dass ihr Kind an den entsprechenden Schulen alleine oder in Kleingruppen gefördert wird dass Eltern erkennen, dass auch sie Verantwortung bei der Erziehung haben (Fernsehzeiten, lautes Musikhören verbieten) Sportunterricht und Musikunterricht wichtig nehmen (Angebot der Musikschulen nutzen, musikalische Früherziehung) dass Eltern rechtzeitig die Seh- und Hörfähigkeit ihrer Kinder beobachten und überprüfen lassen dass die Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen Eltern immer wieder auf die Problematik aufmerksam machen. 509 PNAS, 2000, Bd. 97, S. 2952; TALCOTT arbeitet an der Universität Oxford; Paula TALLAL ist Neurowissenschaftlerin an der Rutgers University in New Jersey; in SZ, 181, 2000,V2 /10; PTOK ist Arzt an der Medizinischen Hochschule Hannover, Abteilung Kommunikationsstörungen; ARO Abstracts, 2000, Bd. 23, S. 94 258 PTOK weist darauf hin, dass viele, jedoch nicht alle Legastheniker Seh- und Hörprobleme haben. „Und umgekehrt ist eine gestörte schnelle Wahrnehmung keine hinreichende Bedingung für Legasthenie.“ Er verweist mit Recht auf den Wirtschaftszweig der Lernprogramme in den USA, der auch von TALLAL mitbegründet wurde. Eine Untersuchung von über 400 Kindern durch PTOK/FISCHER im Alter zwischen sechs und 17 Jahren ergab: Angabe in Jungen und % Mädchen 50 JuM 40 JuM Beobachtungen Schulprobleme, Schwierigkeiten mit der Blicksteuerung der Augen Schwierigkeiten mit dem genauen Hören Die Lese- und Rechtschreibleistungen bleiben bei vielen Legasthenikern etwa zwei bis drei Jahre hinter denen ihrer Klassenkameraden zurück. Für Förderschulen würde sich aus diesem Grund ein „Kurssystem“ anbieten, um hier effektive Förderarbeit zu leisten, denn ohne ein spezielles Training ist der Rückstand nur schwer aufzuholen. PTOK entwickelte ein spezielles Hörtraining für Kinder, die Geräusche schwer differenzieren können. Dadurch soll „phonologische Bewusstheit“ (Verständnis dafür, wie die gesprochene Sprache aus einzelnen Lauten aufgebaut ist) entwickelt werden. „Denn um sich klar zu machen, aus welchen Lauten ein Wort besteht, muss man erst einmal in der Lage sein, diese auch getrennt voneinander zu hören.“ Dies scheint häufig die Ursache der Lese- und Rechtschreibprobleme von Legasthenikern zu sein. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein achtjähriger Junge soll das Wort „Kreide“ aufschreiben. Es gelingt ihm nicht. Zuerst zögert er, dann beginnt er gar nicht zu schreiben. Auf die Frage nach seinen Schwierigkeiten antwortet er: „Den Buchstaben für „kr“ kenne ich nicht.“ 259 Lügengeschichten Nach WIESSE 510sorgen immer mehr Kinder mit Sensationsstorys für Schlagzeilen. Diese Geschichten sind Hilfeschreie nach mehr Aufmerksamkeit. Die Ursache für die Zunahme der Kinder, die häufig lügen und sich fantastische Geschichten ausdenken, sei Einsamkeit, die Suche nach Zuneigung und Unterstützung. Lehrer, Eltern und Polizei werden mit solchen Geschichten mehr und mehr konfrontiert. In manchen Fällen werde unbewusst Rache für eine als ungerecht empfundene Behandlung oder für zu wenig geschenkte Beachtung ausgeübt. Dies erkläre auch die oftmals sehr genaue Täterbeschreibung. Eine Bestrafung sei der schlechteste Weg, damit umzugehen. Das Aufsuchen einer Beratungsstelle wirke meist Wunder. Nach Angaben von Psychologen lügt jeder Mensch mindestens 160 Mal am Tag. Durch diese Unehrlichkeiten wollten Menschen sich oder andere schützen. Nach Ansicht von Experten sind Lügen manchmal weniger verletzend als die Wahrheit.511 Eine Befragung512 von 2031 Kindern und Jugendlichen zum Tema „Lügen“ ergab, dass 91% Höflichkeitslügen akzeptabel finden mehr als 80% lassen auch Not-Fantasie- und Spaßlügen „durchgehen“ 13% der Befragten finden „Ausredelügen“ in Ordnung. Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit von Frauen513 Ewa 1,4 Millionen Frauen in Deutschland sind nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren medikamentenoder alkoholabhängig. Die meisten der betroffenen Frauen seien sich aber ihrer Suchtprobleme nicht bewusst oder verdrängten sie. 510 MM, 241, 1997, S. 5; WIESSE ist Chefarzt der Nürnberger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. 511 MM, 85, 2001, S. 1 512 Umfrage der Zeitschrift „Eltern“, 10 / 2001 513 MM, 243, 2001, S. 1; Claudia Sussmann ist im Frauentherapiezentrum in München beschäftigt. 260 SUSSMANN: „Eine Behandlung dieser Frauen ist sehr schwierig, weil die meisten sich gar nicht bei uns melden.“ Mobbing unter Kindern Unter Mobbing verstehen SCHÄFER/KULIS die „systematische Ausgrenzung einer schwächeren Person für einen längeren Zeitraum, verbunden mit Aggressionen und Schikanen.“514 Diese Art von Schikane stellt ein Problem der ganzen Klasse dar, da sowohl diejenigen, die den Aggressor anstacheln, als auch die Schüler, die sich als Mitläufer zeigen oder aber so tun, als wüssten sie nichts von dem Problem, die überwiegende Mehrheit der Klasse darstellen und den Vorgang erst möglich machen. In der sechsten bis neunten Klasse wurden innerhalb eines Jahres 41% der Jungen und 28% der Mädchen mindestens einmal Opfer verbaler oder psychischer Gewalt.515 ETZEL bezeichnet Mobbing als „Psychoterror“ und als Verhaltensweisen, „wie sie in totalitären Staaten zielgerichtet gegen missliebige Personen eingesetzt werden.“516 Die Reaktion der Lehrer erfolgte meist in Form von Bestrafung oder Androhung von Sanktionen. SCHÄFER:517 „In jeder Klasse werden mindestens ein bis zwei Schüler gemobbt.“ Dies geschieht sowohl durch die Klassenkameraden, aber auch durch Lehrer. Die Täter haben gelernt, dass man mit aggressiven, durchsetzungsstarken Strategien weiter komme. Sie seien impulsiv und wüssten instinktiv, auf wessen Kosten sie sich aufwerten könnten. Bei den Opfern zeigen sich folgende Symptome: sie werden oft krank morgens Bauchschmerzen oder Übelkeit 514 SCHÄFER/KULIS sind Mitarbeiter der LMU München; sie betreuen das Internetprojekt Mobbingzirkel für Lehrer (http://mobbingzirkel.emp.paed.uni-muenchen.de) und www.kidsmobbing.de 515 Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Niedersachsen, 1998 516 ETZEL ist Mobbing-Anwalt in München; er wurde wegen dieser Definition von der Stadt München wegen Beleidigung angezeigt, aber freigesprochen; MM, 195, 2000, München 517 MM, 168, 2000, München 261 panische Reaktionen auf die Schule Nachlassen der Schulleistungen. Eltern sollten das Problem gelassen bei den Lehrkräften ansprechen und sich die Bösewichte nicht wutentbrannt selbst vorknöpfen. Lehrer sollten nach Meinung von SCHÄFER/KULIS zur Lösung des Problems möglichst ruhig und sachlich mit allen Schülern reden niemanden persönlich ansprechen das Sozialverhalten der Klasse während des Unterrichts zur Diskussion stellen über Videos, die eine Mobbing-Problematik zeigen, in der Klasse diskutieren und nach Lösungsstrategien in der eigenen Klasse suchen gemeinsam mit der Klasse ein Regelwerk entwickeln, in dem die Umgangsformen und entsprechende Sanktionen bei einer Verletzung festgelegt werden sollen Anti-Mobbing-Konzepte entwickeln, die sowohl für die Klasse als auch für die gesamte Schule gültig sind. Mobbing zeigt sich auch in der Form von Gewalt und wird nicht gestoppt, wenn der andere schon unten liegt. Nach ZWENGERBALINK gibt es in jeder Klasse inzwischen eine Handvoll auffälliger Kinder.518 Die Lehrer sind angesichts der immer größeren Klassen auf Unterstützung angewiesen, um mit diesem Problem besser umgehen zu können. In der Klasse sind folgende Beobachtungen wichtig: Wie gehen die Buben mit den Mädchen um? Wer zählt zu den Außenseitern, wer zu den beliebtesten Kindern? Wie verhalten sich die Kinder im Pausenhof? Im Laufe des Jahres sollen die Kinder für folgende Fragen sensibilisiert werden: 518 SZ, 151, 1999, L 3; ZWINGER-BALINK ist Pädagogin und Kindertherapeutin und am Kinderschutzzentrum in München tätig. 262 Sind wir eine Gemeinschaft? Wann geht es mir gut, wann geht es mir schlecht? Am Anfang steht oftmals ein schlechtes Gefühl, das sich später in Gewalt umwandelt, weil die Kinder viel zu viel alleine gelassen werden. Mobbing an Kindern durch Erwachsene DEEGENER519 vertritt die die Ansicht, dass Erwachsene oft ein Erziehungs-Mobbing an den Tag legen. Jugendliche und Kinder werden demnach zu häufig und zu krass diszipliniert, bestraft oder gezüchtigt. Die so erlebte Gewalt kann sich bei den Betroffenen in der Folge durch Selbstverletzungen, Magersucht oder motorische Unruhe ausdrücken. Mobbing in Betrieben ZAHN 520schätzt den bundesweiten volkswirtschaftlichen Schaden durch Mobbing in Form von Arbeits- und Produktionsausfall einschließlich der Krankheitskosten auf ca. 40 Milliarden Mark. Nach Schätzungen von ZAPF521 werden zwischen 1,2 und 4% der Beschäftigten in deutschen Betrieben gemobbt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Vorgesetzter in 70% der Fälle beteiligt ist. Von Mobbing kann gesprochen werden, wenn Personen über einen längeren Zeitraum (im Durchschnitt drei Jahre) 519 häufig und regelmäßig schikaniert oder ausgegrenzt werden mit sinnlosen oder kränkenden Arbeitsaufgaben betraut werden die Gemobbten ihren Widersachern unterlegen sind das Gefühl bei den Gemobbten besteht, den vorhandenen Konflikt auf keine Weise lösen zu können. MM, 206, 2000, S. 12; DEEGENER ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uni-Nervenklinik Homburg /Saar. 520 Barbara ZAHN ist Soziologin; in MM 197, 2000, S. 1 521 MM, 68, 2000, S. 9; ZAPF ist Professor für Psychologie in Frankfurt; seine Annahmen basieren auf Untersuchungen von 400 Betroffenen und der Lektüre der Fachliteratur, die sich auf 30 000 Mobbing-Opfer bezieht. 263 Ursachen: Missmanagement Persönlichkeitsstrukturen von Tätern und Opfern Chefs, die hypersensibel, feindselig, ängstlich oder cholerisch sind Opfer, die sich selbst sozial isolieren, bieten sich oftmals als Opfer an Zunehmende Arbeitsverdichtung – es muss immer mehr in immer weniger Zeit geleistet werden Dadurch ist es nicht mehr möglich, Meinungsverschiedenheiten auf den Grund zu gehen. Prävention: ZAPF: „Wer mit den Kollegen ein starkes soziales Netz geknüpft hat, ist schwer zu mobben.“ Auswege: Trennung der Konfliktparteien, da sich das Arbeitsumfeld leichter ändern lässt als die Einstellung der Beteiligten. MOS (Medienopfersyndrom)522 Medienopfer weisen oftmals eine ähnliche Symptomatik wie Opfer von Geiselnahmen auf. Folgende Beobachtungen wurden bisher gemacht: Medienopfer kämpfen oftmals mit der „sozialen Todesangst“, oder anders ausgedrückt mit der „Existenzvernichtungsangst“. Sie fürchten sich nach GMÜR vor allem „vor einer Fortsetzung des Dramas in der Realität durch Medienkampagnen mit Ausweitung zur Lynchjustiz“. Nur wenige Leute können aus der kurzen Zeit ihrer Berühmtheit einen narzistischen Gewinn für das ganze Leben ziehen. Sie leiden vor allem unter dauerndem Rechtfertigungsdruck Überangepasstheit zwanghaften Verhaltensweisen. 522 Der Begriff wurde von dem Schweizer Psychiater Mario GMÜR geprägt; SZ, 132, 2000, S. 3 264 Die gesellschaftlichen Bedingungen – die perfekte Ergänzung von Voyeurismus und Exhibitionismus – sind die Vorraussetzungen, die Menschen zu Medienopfern werden lassen. Berühmtheit wird nicht durch Leistung, durch Training und Übung ohne Ende – sondern einfach nur durch das Dasein in all seiner Schlichtheit – erzielt. Die innere Legitimierung für die Berühmtheit fehlt und erzeugt ein psychisches Vakuum. Mukopolysaccharidose MPS (Galaktosämie) Diese Erkrankung ist eine seltene Erbkrankheit, die nur ausbricht, wenn zwei kranke Gene aufeinander treffen. Von dieser Krankheit betroffene Kinder können dadurch auffallen, dass sie sich z. B im Kindergarten aus der Gruppe zurückziehen. Gleichzeitig kann eine motorische Ungeschicklichkeit beobachtet werden. So ist es für betroffene Kinder oft nur unter großer Anstrengung möglich, mit einer Schere richtig zu schneiden. Buschige Augenbrauen, struppige Haare und eine „Steckkontakt-Nase“ sowie knubbelige Hände können weitere Anzeichen dieser Erkrankung sein. Durch das Fehlen eines Enzyms ist der von dieser Krankheit betroffene Körper nicht in der Lage, Ketten von Zuckermolekülen abzubauen. Aus diesem Grund wird alles Erlernte mit der Zeit wieder vergessen, auch elementare Dinge wie Laufen, Schlucken und Sprechen. Die Lebenserwartung geht oftmals nicht über die Pubertät hinaus. Betroffene Familien benötigen eine intensive Unterstützung und Begleitung. Online-Sucht (Net-Addiction oder Internet-AbhängigkeitsSyndrom – IAS)523 Der Begriff Online-Sucht wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Auch der Begriff „Zwangsneurose“ steht zur Diskussion. 523 SZ, 69, 1999, L 10; SEEMANN ist Psychiater und führt in München an der Universitätsklinik die erste „Online-Ambulanz“; www.med.uni-muenchen.de/psywifo; Test von Chris Löwer(?) ergänzt durch den Autor 265 SEEMANN wehrt sich gegen den Begriff der Sucht, weil dieser Begriff Selbstzerstörung und Siechtum impliziere. Jeder wisse, dass das Arbeiten am Computer keine reine Zwangshandlung sei. „Da werden neue Heime und Städte gebaut. Das heißt doch nicht zufällig homepage.“ Noch sieht SEEMANN das ganze nicht als Massenphänomen, „aber wenn die Bildschirmoberflächen authentischer, die Computer schöner und die Spracherkennung perfekter wird, wenn der Computer also Gesprächspartner ist, dann ist auch die Vision vom globalen Dorf gefährlich“. Im Zeitalter des Nihilismus sei da jeder gefährdet. Heimat- und Machtgefühl, alles zu haben am Schreibtisch.524 Weltweit gibt es derzeit 42 Millionen Netznutzer. Im Jahr 2000 sollen es 400 Millionen sein. Sie ist bis jetzt noch eher als ein Phänomen denn als eine anerkannte Krankheit zu bezeichnen. Telefonrechnungen in Höhe von 1000 DM sind bei Online-Süchtigen keine Seltenheit. Vor allem alleinstehende Menschen benutzen die Möglichkeit, Partner „online“ kennen zu lernen zunehmend mehr. Eine Frau berichtet: „Ich liebe das schnelle Kennenlernen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Gleich ist man per Du und sehr vertraut . . . Früher oder später wollen die meisten sich zum Sex verabreden, aber das ist nicht meins“ . . . Das Internet ist „meine zweite Welt“. Bei Süchtigen werden folgende Phänomene beobachtet: Partnerschaftsprobleme Leistungsabfall in der Schule oder bei der Arbeit teilweise Vereinsamung oder sogar autistische Tendenzen Verlieren des Zeitgefühls Entzugserscheinungen beim Ausschalten des Monitors zwanghaftes Schauen, ob ein neues e-Mail eingetroffen ist Unruhe, Schlafstörungen, Alpträume, innere Leere, Vereinsamung und Abdriften in eine Fantasiewelt 524 SEEMANN auch in SZ, 216, 1999, VII 266 Selbsttest zur Überprüfung der eigenen Suchtgefährdung: Wenn drei oder mehr Kriterien zusammen mindestens einen Monat lang zutreffend sind oder innerhalb eines Jahres vorgelegen haben, sind Sie suchtgefährdet: Sie verspüren den Zwang, das Internet zu nutzen, um ein Glücksgefühl zu erzeugen. Sie verlieren beim Surfen das Zeitgefühl. Sie bleiben länger im Netz, als Sie wollen. Sie wollen weniger Zeit im Netz verbringen, schaffen es aber nicht. Wenn Sie nicht „online“ sind, stellen sich Entzugserscheinungen ein. Sie denken zwanghaft darüber nach, was gerade im Netz passiert. Sie vernachlässigen Freunde, Hobbys oder Beruf und sonstige Verpflichtungen (siehe auch im Kapitel: Internet). Sie wissen sowohl über die finanziellen Belastungen, die persönlichen Schwierigkeiten und die beruflichen Auswirkungen Bescheid, die Ihr Internet-Verhalten zur Folge hat, und verbringen dennoch weiterhin viel Zeit im Netz, ohne beruflich oder privat dazu zwingende Gründe zu haben. Sie suchen hauptsächlich Seiten mit sexuellen Inhalten auf. Im Netz geht es Ihnen am besten. Nach dreijähriger Behandlungserfahrung mit 40 Internetsüchtigen weist SEEMANN525 darauf hin, dass die meisten der Süchtigen zudem an einer klassischen psychiatrischen Erkrankung litten, wobei die Internetsucht nur als „Epi-Phänomen“ zu bewerten sei. Die eigentlichen Leiden bei vielen Süchtigen seien Beziehungsprobleme oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. SEEMANN: „Online-Beziehungen bieten ihnen ein Gefühl der Autonomie ohne Risiko.“ In einer Studie der Berliner Humboldt-Universität wurden 7000 Internetnutzer nach ihrem Onlineverhalten befragt. Die Psychologen kamen zu dem Schluss, dass 3% aller User süchtig sind. Bei mehr als 16 Millionen Onlinenutzern in Deutschland wären das somit ca. 500 525 MM, 82, 2001, S. 3 267 000 Betroffene. Die unter 18-Jährigen sind mit 8% besonders stark betroffen.526 PLATZ spricht nur dann von Sucht, wenn das Internet so sehr im Mittelpunkt steht, dass alles andere bedeutungslos wird. Suchtkriterien: 80 bis 90% der Tageszeit wird für das Internet genutzt, wobei neben der Onlinezeit auch das Kaufen von Computerzubehör oder das Einrichten von Software eine bedeutende Rolle spielen. Die tägliche Dosis wird ständig erhöht. Es gelingt den Süchtigen nicht, ein selbstgesetztes Limit einzuhalten. Der Offline-Status verursacht Entzugserscheinungen, z. B. Schlaflosigkeit. HAHN527 geht davon aus, dass derzeit mit rund 300 000 ChatSüchtigen zu rechnen ist. Knapp 5 Millionen aller deutschen Internet-Nutzer pflegen eine regelmäßige Online-Unterhaltung mit Partnern in aller Welt. Die Onlinezeit dient meist als Flucht vor wenig Anerkennung im realen Leben. Die Behandlung durch eine Verhaltenstherapie ist nur dann sinnvoll, wenn die Gründe für diese Flucht bekannt sind. Auch Selbsthilfegruppen bieten unter der unten genannten Adresse Hilfe an. Pädophile Neigungen NEDOPIL528 führt dazu aus: „Zum Teil ist das anlagebedingt, zum Teil ist die frühe Entwicklung eines Menschen entscheidend, in der solche Menschen oft selbst missbraucht worden sind. Das Opfer wird dann zum Täter. Das ist 526 MM, 89, 2000, J 4; PLATZ ist Psychiater an der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik; eine Selbsthilfegruppe im Internet: www.onlinesucht.de 527 HAHN ist Psychologe an der Humboldt-Universität in Berlin; in MM, 197, 2000, S. 1 528 SZ,182, 2001, S. 41, München; NEDOPIL ist Gerichtsgutachter am Universitätsklinikum Innenstadt; ein Interview über seine Arbeit mit Sexualstraftätern; PICKERT ist Kriminalrat in München. 268 häufig. Organische Erkrankungen (Gehirnhautentzündung) können eine Mitursache sein. Die alleinige Ursache sind sie wohl in den seltensten Fällen. Pädophilie entsteht nicht von heute auf morgen. Das bahnt sich langsam an und wird dann fixiert. Die ersten Grundlagen werden in der frühen Kindheit gelegt, und dann entwickelt sich die Neigung in der Pubertät im Lauf von Jahren. Pädophile zeigen zwei Altersgipfel: In der Postpubertät – zwischen 17 und 22 – und dann so ab 50. Doch jugendliche Täter sind weitaus häufiger. Normalerweise vergehen sich Pädophile an vorpubertären Kindern zwischen acht und zwölf Jahren. Je jünger die Opfer sind, desto schwerwiegender ist die Störung des Täters. Die stationäre Therapie dauert mehrere Jahre. Dann muss noch mehrere Jahre ambulant behandelt werden. 50% Prozent werden rückfällig. Ohne Therapie sind es 80% . . . Wenn die ursprüngliche Straftat nicht besonders gravierend war, dann kann das Gericht den Täter nicht ewig festhalten. Für ein Gutachten brauche ich 40 bis 60 Stunden. Zuerst schaue ich alle Akten durch. Anschließend untersuche ich den Betroffenen bis zu 20 Stunden. Das mache ich zusammen mit einem Psychologen und einer Sozialpädagogin. Dann diskutieren wir, aber die letzte Empfehlung muss ich dann selber geben.“ Jedes Jahr werden 250 bis 260 Fälle von Kindesmissbrauch bei der Münchner Polizei angezeigt. PICKERT geht davon aus, dass bundesweit etwa 15 000 Fälle vorliegen, weist jedoch auf eine extrem hohe Dunkelziffer hin. In den meisten Fällen stamme der Täter aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Opfers, vor allem aus der Familie. Etwa 10% der Delikte werden von Fremden begangen (siehe auch: Spiegel der Gesellschaft). Ein Täterprofil: Vor vier Tagen Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus Haar bei München, dann Entführung und Missbrauch eines dreijährigen Mädchens. Nach ca. drei Stunden Festnahme und Geständnis; der Täter war sich jedoch wegen seiner psychischen Störung nicht bewusst, ein Kind verletzt und Unrecht begangen zu haben. 269 Kindheit und Jugend In München geboren und in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Im schulischen und sozialen Bereich bis zum elften Lebensjahr völlig unauffällig. Im Alter von elf Jahren Gehirnhautentzündung mit bleibenden Schäden. Der Sexualtrieb stand von jetzt an im Vordergrund. 1982 Banküberfall in Günzburg; Geiselnahme aus sexuellen Motiven. Für acht Jahre Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung in Straubing und Haar. 1990 Verlegung in die Einrichtung Herzogsägemühle in Peiting bei Schongau/Oberbayern. 1990 wurde von ihm ein zweijähriger Bub in sein Zimmer gelockt. Erneute Unterbringung in Haar; auch dort gelang es nicht, seinen Sexualtrieb zu bändigen. Der Täter wurde selbst von zwei Männern vor mehreren Jahren am Hauptbahnhof vergewaltigt. Intervention des Rechtsanwaltes wegen der Unterbringung in Haar mit dem Ergebnis: 1. Von den Psychologen in Haar wurde Täter weiterhin als hochgefährlich eingestuft; eine offene Therapie mit Freigang wurde strikt abgelehnt. 2. Ein Gutachter des Landgerichts München war der Meinung, eine Wiederholungsgefahr könne generell nicht ausgeschlossen werden, sei aber als gering einzuschätzen. Das Gericht folgte der Einschätzung des Gutachters. 30. Juli Verlegung in das Piusheim nach Glonn bei Ebersberg. 4. August Entführung und Missbrauch eines dreijährigen Mädchens. COULTER betont, dass kriminelle Menschen mit einem Minimalhirnschaden (häufig verursacht durch Hirnhautentzündungen, die durch Krankheit oder Impfungen hervorgerufen werden können) oftmals nicht in der Lage sind, Gedanken und Begriffe und damit ihr Leben richtig zu organisieren (siehe dazu im Kapitel: Impfungen – eine unendliche Geschichte). 270 „Zusammen mit ihrer Gedächtnisschwäche hindert sie das daran, die Gegenwart mit den Erfahrungen der Vergangenheit zu verknüpfen, was die Voraussetzung für >ein urteilendes Denken oder für die reflexive Pause< wäre, die einer wohl überlegten Handlung vorausgehen muss.“529 Es kann in diesem Zusammenhang nicht genügend darauf hingewiesen werden, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dass gerade für diese Menschen große Geldsummen aufgebracht werden müssten, um ihnen eine hervorragende Erziehung, Betreuung und Pflege angedeihen zu lassen, da das Elternhaus aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen diese Aufgabe in vielen Fällen nicht mehr erfüllen kann. Das eigentliche Phänomen sehe ich auch im Verschwinden des Unrechtsbewußtseins vieler hirngeschädigter Menschen, wenn sie keine Erziehung genossen haben (Anm. d.Verf.). Pibloktoq Diese Störung ist auf den Kulturkreis der Eskimos beschränkt. Die Betroffenen zeigen kurze, extrem aggressive Anfälle und fallen danach in ein mehrstündiges Koma. Schulische Leistungen und deren Beeinträchtigungen durch Umweltgifte Schulische Leistungen können nach Ansicht von Alternativmedizinern durch Umweltgifte, z. B. Blei, beeinträchtigt werden. Dieses Umweltgift wird vor allem in ausländischen Keramikglasuren, die das Schwermetall enthalten, vermutet; es reichert sich in den Nervenzellen an und verhindert deren Kommunikation. BONNET,530 der ca. 150 Fälle umweltbedingter Erkrankungen pro Jahr in seiner Praxis behandelt, berichtet von einem Mädchen mit überdurchschnittlicher Intelligenz, aber mit großen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Erst die Untersuchung des Blutes und des Urins auf Schadstoffe erbrachte den Hinweis auf eine Bleivergiftung. Als er- 529 530 COULTER, 1993, S. 211 SZ, 107, 1999, V 2 /15; BONNET ist Kinderarzt in Reutlingen. 271 folgreiche Therapie wurde eine Entgiftung mit Hilfe von Komplexbildnern und Spurenelementen durchgeführt. Auch Vergiftungen mit High-Tech-Chemikalien nehmen nach Ansicht von KAISER531 zu. Nitro-Moschus-Verbindungen, die als Duftstoffe tonnenweise in Waschmitteln und Kosmetika eingesetzt werden, zählen zu diesen Chemikalien. Die größte Belastung für Kinder stellt aber immer noch das Passivrauchen dar. Bereits in den 70er Jahren wurde bei männlichen Säuglingen in einer sich langsam aufbauenden und erst Anfang der 80er Jahre wieder abflauenden Welle die Zunahme von Schäden an den Genitalien beobachtet. „Erst hinterher haben wir begriffen, daß das die Folge des massiven Einsatzes von DDT in Haushalt, Garten und Landwirtschaft war.“ (Bonnet) Häufig sind trotz des frühen Erkennens der schädigenden Wirkung bestimmter Substanzen wegen der wirtschaftlichen Interessen Verbote nicht möglich. So auch bei den polychlorierten Biphenylen (PCB), die als Weichmacher in Kunststoffen verwendet werden. Trotz der Einhaltung von Grenzwerten ist es möglich, dass erst die Summe aller Belastungen die Kinder erkranken lässt. BONNET ist überzeugt davon, dass Umweltbelastungen als Ursache für viele Lernschwächen anzusehen sind. So kann PCB die Konzentrationsfähigkeit von Schülern beeinträchtigen. ASHFORD rät dazu, bereits einzugreifen, wenn nur der Verdacht besteht, dass ein Stoff die Gesundheit gefährdet, da in den vergangenen 25 Jahren wissenschaftlicher Fortschritt immer mit einem bloßen Verdacht begonnen hätte. In den meisten Fällen hätte sich dieser dann bestätigt.532 531 SZ, 107, 1999, V 2 /15; KAISER ist Umweltmediziner an der Dokumentationsstelle für Umweltfragen (DISU) in Osnabrück. 532 s. o., ASHFORD ist Professor für Recht und Technologie am Massachusetts Institute of Technology. 272 Schädel-Hirn-Trauma533 Mehr als 20 000 Menschen werden jährlich mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma und lang anhaltender Bewusstlosigkeit (STH) in deutsche Krankenhäuser eingeliefert. Ursache sind meistens Verkehrsunfälle. Werden noch schwere Stürze aus großer Höhe und die Folgen von Selbstmordversuchen dazugerechnet, so erhöht sich die Zahl auf nahezu 40 000 Patienten. Jedes Jahr werden etwa 4250 Menschen durch diese Verletzungen pflegebedürftig. Das STH ist die häufigste Todesursache bei den unter 45-Jährigen. Mit zunehmender Dauer der Bewusstlosigkeit sinken die Chancen auf eine dauerhafte Heilung. In Ausnahmenfällen ist bei Erwachsenen auch nach sechs Monaten und bei Kindern auch noch nach zwölf Monaten eine Heilung möglich. Ist eine Kontaktfähigkeit nach diesen Zeiträumen nicht erlangt, so stehen die Chancen für eine Besserung nur noch bei 1:5. Die häufigsten zurückbleibenden Schäden sind neuropsychologische Störungen wie: verlangsamte Reaktion, Gedächtnisstörungen, Beeinträchtigung des Problemlösungsdenkens oder aber Verhaltensänderungen. Eine US-Studie stellte fest, dass 16% der Langzeitbewusstlosen später unter epileptischen Anfällen leiden.534 Weitere Spätfolgen können krampfhafte Gelenkversteifungen und Muskelverkürzungen infolge von psychischen Einflüssen wie Erschrecken, Angst oder Schmerz sein, die während des Komazustandes eintreten. In den meisten Fällen werden durch das Trauma Nervenfasern zerstört. Sie können jedoch zum größten Teil vom Körper neu gebildet werden. „Sekundärschäden“ bilden die weitaus größere Gefahr, da bei diesen Schäden, die aufgrund einer mangelhaften Durchblutung des Gehirns entstehen, Nervenzellen dauerhaft zugrunde gehen. Vielen Patienten gelingt es nach der Entlassung nicht, zu Hause wieder Kontakte zu knüpfen. Andere werden in der Folge depressiv. Ein „Zentrum für ambulante und mobile Rehabilitation bei erworbenen Hirnschädigungen“ (ZAMOR) in Ingolstadt bietet Beratung und Hilfe an. 533 SZ, 77, 1998, S. 27; diesem Artikel sind alle nachfolgenden Informationen entommen. 534 New England Journal of Medicine, 1998, Bd. 338, S. 20 273 Schizophrenie – Behandlungskosten KISSLING535 geht davon aus, dass ein überwiegend ambulant behandelter Patient Kosten in Höhe von ca. 33 000 DM jährlich verursacht, während für einen stationär betreuten Patienten etwa 126 000 DM jährlich aufgewendet werden müsse. Allein in München gebe es rund 13 000 Menschen, die an Schizophrenie litten.536 Nach neueren Schätzungen leidet jeder vierte Patient, der bei einem Hausarzt behandelt wird, an einer psychischen Erkrankung. Somit avancieren psychische Krankheiten zu den häufigsten in unserer Gesellschaft. Zu den 300 000 schizophrenen Patienten, die momentan in Deutschland durch eine Anamnese erfasst sind, gesellen sich jährlich etwa 9000 Erstaufnahmen. Bei jedem vierten von 4000 jährlich behandelten Patienten einer Fachklinik in Rottenmünster wird bereits eine Schizophrenie diagnostiziert. Die Behandlungskosten für diese „kostenintensivste psychiatrische Störung“ liegen bei 7 Milliarden Mark pro Jahr.537 Das Ergebnis einer Studie aus der Schweiz besagt, dass bei männlichen Schizophreniepatienten ein viermal so hohes Gewaltrisiko im Gegensatz zu gesunden Menschen besteht. Entsprechende Erkenntnisse aus Finnland gehen davon aus, dass entsprechende Patienten siebenmal häufiger Mord und Totschlag begehen als Gesunde. Bei alkoholkranken Menschen ist dieses Risiko um das Elffache erhöht. ANGERMEYER/SCHULZE gehen davon aus, „dass zwischen psychischer Erkrankung und Gewalttätigkeit ein moderater, aber zuverlässiger Zusammenhang besteht.“ Alkohol und Drogen stehen jedoch noch vor den psychischen Erkrankungen als Auslöser für Gewalttätigkeiten. „Das mit psychischer Krankheit verbundene Gewaltrisiko ist in seinem Ausmaß vergleichbar mit der von jungem Alter, niedrigem Bildungsstand und männlichem Geschlecht.“ Ein viel versprechender Ansatz von ANGERMEYER/SCHULZE ist der Versuch, Informationen über psychische Erkrankungen in die 535 in SZ, 192, 1999, VI; KISSLING ist Oberarzt der Psychiatrischen Abteilung der TU in München. 536 MM, 92, 2001, S. 10; MÖLLER, LMU München 537 SZ, 41, 2000, VI; ANGERMEYER/SCHULZE sind als Psychiater in Leipzig tätig. 274 Lehrpläne der Schulen aufzunehmen und so ein Verständnis für die Betroffenen anzubahnen. Gerade an Schulen für erziehungsschwierige und lernbehinderte Kinder wäre dies eine effektive Möglichkeit, Präventionsarbeit zu leisten. Viele Elternteile dieser Kinder leiden nach meiner Erfahrung unter psychischen Erkrankungen; auch Alkoholprobleme der Eltern tragen dazu bei, dass die Kinder entsprechende Schulen besuchen. In meiner jetzigen Klasse weiß ich bei einem Drittel der Schüler von einer entsprechenden Problematik. MURRAY538 geht davon aus, dass Faktoren wie Frühgeburt, eine Vireninfektion im Mutterleib oder sogar die Geburt im Winter das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, zu erhöhen scheinen. Erst die Kombination von Eigenschaften, die jede für sich genommen in der Bevölkerung nicht ungewöhnlich sind, kann gefährlich werden. Begünstigende Faktoren zur Entstehung einer Schizophrenie: eine verzögerte Entwicklung leichte geistige Probleme oder Angststörungen soziale Außenseiterrollen Drogen und soziale Not. Schlafstörungen Beinahe jeder dritte Deutsche leidet nach Angaben des Schlafmedizinischen Zentrums der TU München unter Schlafstörungen. Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich in Form von Tagesmüdigkeit, Erschöpfung, Leistungseinbußen, depressiven Verstimmungen, Konzentrationsstörungen und erhöhter Reizbarkeit.539 Eine krankhafte Schlafstörung liegt nach Ansicht von Ärzten dann vor, wenn ein Mensch über ein Vierteljahr hinweg an drei bis fünf Tagen pro Woche Probleme hat. Bei Personen, die regelmäßig weni- 538 SZ, 216, 2000,V2 /10; MURRAY ist Psychiater am Institute of Psychiatry in London. 539 MM, 137, 2000, S. 1 275 ger als sechs Stunden schlafen, erhöht sich nach ZULLEY das Sterblichkeitsrisiko um 30%.540 In der modernen Gesellschaft werde ein ungestörter und erholsamer Nachtschlaf oftmals als vergeudete Zeit angesehen. Beim gesunden, erwachsenen Menschen tritt eine Phase des Tiefschlafes nach etwa einer halben Stunde ein. Beginnt die Einschlafphase um 23.00 Uhr, so ist nach einer Einschlafphase (SEM Schlaf = Slow Eye Movement) und einer Leichtschlafphase, in der das Gewecktwerden leicht möglich ist, gegen 23.30 die Tiefschlafphase erreicht. Sie dauert etwa bis 2.00 Uhr nachts. Danach folgen Leichtschlafphasen unterschiedlicher Tiefe. Schlafstörungen durch hochfrequente Strahlungen (900 bis 1800 Megahertz – Handystrahlung) Versuche im Schlaflabor zeigen, dass die Traumphasen des Schlafes kürzer sind, sobald der Mensch hochfrequenten Strahlungen ausgesetzt ist. Dies ist aus dem Grund bedenklich, weil das Gedächtnis in diesen Zeiträumen Erinnerungen fixiert.541 Schlafstörungen durch Lärmbelästigung542 JANSEN/GRIEFHAHN erforschten in den 60er und 70er Jahren die Reaktionen von Schlafenden auf Lärm. Nach ihren Erkenntnissen sind Gesundheitsbeeinträchtigungen erst zu erwarten, wenn Geräusche mit mehr als 75 Dezibel mehr als sechsmal pro Nacht auf Schlafende einwirken. GUSKI geht nach neueren Untersuchungen von einem Wert aus, der bei 65 Dezibel liegt. Das „Aufwachkriterium“ von JANSEN gilt inzwischen als überholt. ISING: „Unser Körper 540 MM, 139, 2000, A 1; ZULLEY ist Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg. 541 SZ, 118, 2000, V2 /12 542 SZ, 144, 2001, V2 /9; JANSEN/ Barbara GRIEFHAHN arbeiten an der Universität Düsseldorf; GUSKI arbeitet als Psychologe an der Universität Bochum; ISING ist Direktor des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene im Umweltbundesamt; SPRENG arbeitet an der Universität Erlangen; BABISCH ist Mitarbeiter im Umweltbundesamt. 276 reagiert auf Lärm schon lang bevor wir aufwachen.“ Bei lauten Geräuschen steigen die Werte des Stresshormons Cortisol auch dann, wenn man nicht durch die Geräusche erwacht. Ein Nebeneffekt der Lärmeinwirkung während des Schlafs sind die sogenannten „Arousals“. Darunter versteht man unbewusste Wachperioden, die eine Dauer von einer bis zu 30 Sekunden haben. Der normale Schlaf-Rhythmus wird gestört, wenn zu viele dieser Wachperioden auftreten. In der Folge leidet der Betroffene am nächsten Tag häufig unter Müdigkeit und der Unfähigkeit, die gewohnte Leistung zu erbringen. SPRENG weist darauf hin, dass der Mensch während des Schlafes viel mehr Reize unterbewusst verarbeitet als allgemein angenommen. „Unser Gehör schläft nie.“ Es weckt den Schläfer jedoch selektiv. BABISCH weist darauf hin, dass das Herzinfarktrisiko bei den Menschen, die an verkehrsreichen Straßen (Tagespegel von 60 bis 75 Dezibel) wohnen, um 20% erhöht sei. Eine statistische Signifikanz gebe es zu diesen Erkenntnissen nicht. Schlafstörungen durch das RLS-Syndrom (Restless-Legs-Syndrom /unruhige Beine) RLS wird inzwischen als Krankheit angesehen. KARLBAUER schätzt, dass bei etwa 2 bis 5% der Bevölkerung charakteristische Symptome zu finden seien, ohne dass alle davon Betroffenen behandlungsbedürftig wären. Eine Diagnose erfolgt durch eine parallele Messung der Gehirnströme und der Aktivität der Beinmuskulatur in einem Schlaflabor. Zur Behandlung eignen sich Medikamente, die den Botenstoff Dopamin im Gehirn ersetzen und auch bei der Parkinson-Krankheit eingesetzt werden. In schweren Fällen werden auch Opiate verordnet. Die Medikamente kosten pro Monat etwa 300 bis 400 Mark. DZAJA zu den Ursachen der Krankheit: „Es besteht der Verdacht, dass Hormone einen gewissen Einfluss haben.“543 Bei Frauen tritt RLS häufiger auf als bei Männern, und zwar hauptsächlich nach 543 SZ, 161, 2001, S. 42; KARLBAUER ist Facharzt für Neurologie in München; Andrea DZAJA ist Ärztin am Max-Planck-Institut in München; Informationsmaterial zu RLS bei: RLS e.V., Schillerstraße 3a, 80336 München, Frau Lilo HABERSACK 277 einer Hormoneinnahme nach den Wechseljahren und während der Schwangerschaft. Schlafbezogene Atmungsstörungen (OSAS: Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom) Ein OSAS kann nur in einem Schlaflabor diagnostiziert werden. Extremschnarcher bekommen schätzungsweise mehrere hundert Mal pro Nacht keine Luft, da Zunge Gaumensegel und Zäpfchen zeitweise die Atemwege verschließen. Begleitend treten dabei folgende Symptome auf: kurzfristige Blutdrucksteigerung und Ansteigen von Muskelspannung und Herzfrequenz erhebliche Gefäßbelastung Abfall des Blutsauerstoffgehalts Atempausen erhöhen nach GROTE544 anhaltend den Spiegel von Stresshormonen starke Übermüdung am Tage mit erheblichen Konzentrationsschwierigkeiten verstärkte Neigung zu: Depressionen, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und/oder Impotenz verringerte Lebenserwartung durch ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall. Vermutete Auslöser für das Schnarchen: Übergewicht Alkoholkonsum Möglichkeiten der Hilfe: mehr Sport und Bewegung Umstellung der Ernährung Reduzierung des Übergewichtes weniger Nikotin Überprüfung und Reduzierung der Einnahme von schlaffördernden Medikamenten Beatmungsmasken 544 SZ, 221, 2001,V2 /15; GROTE arbeitet an der Universität Göteborg. 278 Zahnspangen, die den Unterkiefer während der Nacht nach vorne verlagern Operationen mit Lasern oder Radiowellen, vor denen jedoch gewarnt wird, beseitigen zwar häufig die Schnarchgeräusche, aber nicht die Atemstillstände. Vorsichtige Schätzungen gehen von etwa 800 000 betroffenen Menschen in Deutschland aus. Faktoren, die das Einschlafen fördern: ZULLEY545 weist in einer neuen Studie darauf hin, dass entgegen den bisherigen Erkenntnissen aktiver Sport am Abend das Einschlafen fördere. Auch sexuelle Aktivität (in dieser Studie nicht berücksichtigt) habe den gleichen Effekt. Rund 7% der Deutschen sind mit ihrem Schlaf unzufrieden. An erster Stelle stehen dabei Personen, die mehr als 25 Zigaretten täglich rauchen. Schulversagen Nach den Erfahrungen des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) in München werden jedes Jahr Hunderte von verwahrlosten Kindern in München registriert, die in vermüllten Wohnungen bei meist Älteren und psychisch Kranken anzutreffen seien. Grobe Vernachlässigung äußere sich in Schulversagen. Im Jahr 1998 war der ASD in 661 Haushalten mit Gewalthandlungen an Minderjährigen und in 311 Haushalten mit sexuellem Missbrauch konfrontiert.546 Seelische Erkrankungen Bereits Zehnjährige leiden immer häufiger unter Ess-Störungen, Angstneurosen und Schulphobien. WINKLER547 sieht die Ursache dafür in der Gesellschaft. 545 MM, 255, 2001, S. 1; ZULLEY ist Professor an der Universität Regensburg. 546 SZ,153, 1999, L 1 547 SZ, 266, 1996, S. 38; WINKLER ist Chefarzt am Augsburger Josefinum. 279 Die Anzahl der ambulant behandelten Patienten stieg von Null im Jahre 1985 auf eine Anzahl von 1200 pro Jahr. Die Situation in Familie, Schule und Ausbildung bedeute eine zunehmende Überforderung für die Kinder. Patienten mit Psychosen und Angstsymptomen werden immer jünger. Im Alter von zehn Jahren flüchteten Kinder bereits in Scheinwelten, litten an Ess-Störungen oder griffen zu Drogen. Viele Kinder möchten auch nicht zur Schule gehen, weil sie Angst hätten, dass die Eltern sich trennen würden. Das Scheitern der Ehen ist eine wesentliche Ursache für die Zunahme der Störungen und Erkrankungen. Die Kinder erleben so die Eltern nicht mehr als Leitfiguren und Vorbilder. Jugendliche sind zudem gezwungen, sich heute viel stärker als früher anzupassen. Viele Kinder begegnen dieser Situation dadurch, indem sie sich zurückziehen. Andere versuchen, sich diesem seelischen Druck durch aggressives und zerstörerisches Verhalten zu entledigen. Auch die Arbeitslosigkeit der Eltern trägt zu dieser Problematik bei. WINKLER: „Die psychischen Probleme eines arbeitslosen Familienvaters hinterlassen auch in der Kinderseele ihre Spuren.“ Durch rauchende Eltern seien die Kinder besonders stark gefährdet. „Die Hemmschwelle von Erwachsenen, vor ihren Kindern zum Glimmstengel zu greifen, ist stark gesunken.“ So würden Zehnjährige von ihren Eltern zum Entgiften gebracht. Viele Störungen werden nach Ansicht der Ärzte zu spät erkannt. Eltern sollten sich gegenseitig auffällige Beobachtungen mitteilen und rechtzeitig eine Erziehungsberatungsstelle oder einen Arzt der Kinder- oder Jugendpsychiatrie aufsuchen. Seelische Störungen bei Schülern/innen Sie werden häufig gar nicht oder zu spät erkannt. Eine Studie der Universität Bremen, bei der 1035 Jugendliche aus 36 Schulen befragt wurden, belegt, dass ca. 18% der Zwölf- bis 17-Jährigen bereits einmal eine Depression durchgemacht haben. Nur 3% davon wurden jedoch behandelt. Häufige Symptome: Verminderte Denk- oder Konzentrationsfähigkeit, niedergedrückte Stimmung, Schlaflosigkeit oder vermehrtes Schlafbedürfnis, aber auch Gefühle der Wertlosigkeit oder das Hegen von Selbstmordgedanken können Anzeichen einer Depression sein. Mädchen leiden im 280 Alter von 16 oder 17 Jahren mehr als Jungen unter depressiven Stimmungen. Auslöser sind häufig belastende Lebensbedingungen. Bei knapp der Hälfte der befragten Schüler/innen zeigten sich zusätzlich noch Angststörungen. Der Missbrauch von Cannabis, Opiaten und Amphetaminen ist bei diesen Jugendlichen häufiger zu beobachten als bei gesunden Jugendlichen. Die depressiven Phasen können oftmals Wochen andauern, wobei die Jugendlichen in ihren sozialen Aktivitäten schwer beeinträchtigt sind.548 Selbstdestruktives Verhalten Darunter versteht man alle absichtlichen Selbstverletzungen von Kindern und Jugendlichen. In den vergangenen Jahren hat das selbstdestruktive Verhalten nach Beobachtungen von Experten deutlich zugenommen. Mädchen sind deutlich anfälliger als Jungen. Die Betroffenen fügen sich immer wieder Schnittwunden an den Handgelenken zu. KLOSINSKI: „In der Pubertät ist die Zahl der Mädchen, die sich selbst verletzen, drei Mal so hoch wie die der Buben. . . . Wir wissen inzwischen, dass selbstdestruktives Verhalten auf organische, psychische und psychosoziale Störungen zurückzuführen sein kann.“549 Selbstverletzungen sind oft als Hilferuf der Jugendlichen nach mehr Nähe und Verständnis zu verstehen. Auch zwischen Selbsttötungen und Selbstverletzungen besteht ein möglicher Zusammenhang. Im Alter von 16 Jahren haben etwa 30 bis 40% aller Jugendlichen nach eigenen Angaben schon einmal mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen. Bei den Mädchen ist auch diese Neigung in der Zeit des Erwachsenwerdens stärker ausgeprägt als bei den Jungen. 548 MM, 294, Medizin & Gesundheit MM, 97, 2002, Bayern; KLOSINSKI ist Direktor der Tübinger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter. 549 281 Suizid – Selbsttötung (weitere Informationen dazu im Kapitel „Fragmente“) Die Zahl der Menschen, die sich jährlich das Leben nehmen, wurde 1996 von der WHO mit 820 000 angegeben.550 Eine neuere Studie der WHO551 geht davon aus, dass 4 bis 5% der Menschen an krankhaften Depressionen leiden. Bei rund 15% führt die Erkrankung zum Selbsttötungsversuch. In Nürnberg ist die Suizidrate auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken. Ein bundesweites Pilotprojekt („Nürnberger Bündnis gegen Depression und Suizid“) wird mit dafür verantwortlich gemacht, dass es 40% weniger Selbstmorde in dieser Stadt gibt. Ärzte, Lehrer, Pfarrer und Altenpfleger werden im Rahmen dieses Projektes intensiv geschult. Wegen des kurzen Untersuchungszeitraumes muss die Bewertung dieser Zahlen jedoch sehr vorsichtig erfolgen. Monat Januar –September 2000 Januar –September 2001 Anzahlzahl der registrierten/ versuchten Selbsttötungen 79 / 255 47 / 181 Im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren sind Jugendliche in alarmierend hoher Zahl zum Selbstmord bereit. In einer von der Universität Bremen veröffentlichten Studie haben 30 von 1035 (an 36 im Land Bremen befindlichen Schulen) befragten Jugendlichen versucht, sich das Leben zu nehmen. Fast jeder zehnte Schüler hat zumindest an Selbstmord gedacht.552 Die Selbstmordzahlen in Deutschland gehen seit den 80er Jahren insgesamt zurück, während sich die Suizidversuche bei Jugendlichen seit Beginn der 90er Jahre verdreifacht haben. Im Zeitraum zwischen 1990 und 1993 war eine Zunahme der registrierten Selbstmordfälle und Selbstmordversuche bei Jugendlichen von 300 auf 900 von jeweils 100 000 zu verzeichnen. Nach den Autounfällen sterben die meisten unter 20 Jahre alten Menschen durch Selbstmord. Nach 550 SZ, 192, 1999, VI SZ, 235, 2001, S. 57 552 MM, 79, 1999, S. 10 551 282 Schätzung von Psychologen sitzt in jeder Klasse durchschnittlich ein Schüler, der sich mit Selbstmordgedanken trägt. Von 294 Menschen, die sich 1995 in München das Leben nahmen, waren 21 zwischen zwölf und 25 Jahren alt. Darunter befanden sich sechs Mädchen und 15 junge Männer.553 Neuerdings existiert eine Software mit typischen Klangerkennungsmustern selbstmordgefährdeter Menschen, das die spektographischen Sprachanalysen von ca. 1000 Suizidpatienten enthält. Damit soll für unerfahrene Psychiater die Erkennung von Risikopatienten erleichtert werden.554 In Sachsen und Thüringen ist die Selbstmordrate am höchsten, und damit doppelt so hoch wie im Saarland. Am Ende der Skala rangiert Hessen. Bayern liegt mit einer Selbstmordhäufigkeit von 16,6 auf 100 000 Einwohner an der Spitze der westdeutschen Flächenstaaten. Die Selbstmordhäufigkeit nimmt mit steigendem Alter stetig zu.555 Im Jahr 1997 haben sich in Deutschland 12 256 Menschen das Leben genommen. Die Zahl der missglückten Selbsttötungen wird auf über 120 000 pro Jahr geschätzt. Durch die Suizide entstehen direkte Folgekosten von 57 bis 200 Millionen Mark pro Jahr. Für das Bruttosozialprodukt entsteht ein Verlust von ca. 366 Millionen Mark, wenn ein Durchschnittsverdienst von 60 000 DM im Jahr zugrunde gelegt wird. Jede zweite Frau, die sich heute das Leben nimmt, ist über 60 Jahre alt. Der Anteil der alten Männer über 60 Jahre beträgt etwa 17%, der Anteil der Suizidquote liegt dagegen bei 32%.556 Psychische Störungen sind der Hauptgrund für Suizid. Wer Selbstmorde verhindern will, muss sich vor allem um Menschen mit seelischen Störungen kümmern, stellte ein Team von dänischen Wissenschaftlern fest.557 In einer Studie wurden die Lebensbedingungen von 811 Selbstmördern mit denen von etwa 80 000 Kontrollpersonen verglichen. Dabei wurden Faktoren wie niedriges Einkommen, Arbeitslosigkeit oder ein Leben als Single mit berücksichtigt. Ca. 45% 553 SZ, 102, 1996, S. 37 SZ, 74, 1999, V2 /13 555 Statistik der Deutschen Gesellschaft für Suizid-Prävention für 1997 in MM, 234, 1999, S. 1 556 SZ, 242, 1999, V2 /13; WOLFERSDORF, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) 557 Lancet, 2000, Bd. 355, S. 9 554 283 der Selbstmorde konnte eine psychische Störung zugeordnet werden. Nur 3% der Selbstmorde war auf die Situation der Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Personen mit Affekt-Störungen oder Menschen die manischdepressiv waren, erwiesen sich als besonders gefährdet. TAKAHASHI558 betont, dass „Mobbing“ unter Schulkindern als Ursache für den Selbstmord von Jugendlichen durch die Medien inzwischen als Klischee-Erklärung herangezogen wird. Er sieht als wesentliche Gründe für die Selbstmorde die wirtschaftliche Rezession in Industrienationen, verbunden mit Arbeitslosigkeit, düsteren Zukunftsaussichten und schlechten Nachrichten in den Medien. Was die Eltern bedrückt, bedrückt auch die Kinder. Die steigende Anzahl der Selbstmorde ist sowohl ein Indikator für starke und plötzliche gesellschaftliche Veränderungen als auch auf den immer wieder beobachteten „Werther-Effekt“ zurückzuführen. Sensationelle Berichte über Freitode veranlassten ebenso wie Goethes Roman immer wieder viele Menschen zum Suizid. Nachdem sich 1986 eine berühmte Popsängerin in Japan in den Tod gestürzt hatte, folgten mehr als 30 Teenager ihrem Vorbild in den Tod. Allein im Jahr 1998 wurden in Japan mehr als 30 000 Selbstmorde registriert. Sexsucht – Nymphomanisches Syndrom In den USA sind nach Schätzungen führender Therapeuten zwischen 3 und 8% der 275 Millionen Einwohner von diesem Leiden betroffen. Bei der Annahme eines Mittelwertes ergibt sich ein Durchschnitt von 11 Millionen behandlungsbedürftiger Menschen. Der Begriff „Sexsucht“ geht auf den amerikanischen Arzt und Therapeuten CARNES zurück.559 Der Begriff „Sexsucht“ weckt Assoziationen zu den zwanghaften Gewohnheiten von Alkoholikern und Drogensüchtigen. Das Verhalten, das zu einem persönlichen Ruin führte, ist von den entsprechenden Patienten nicht in den Griff zu bekommen. 558 SZ, 53, 2000, S. 8; TAKAHASHI ist Suizidexperte am Tokyo Institute of Psychiatry. 559 Magazin der SZ, Nr.10 vom 10. 3. 2000, S. 34 bis 39; CARNES leitet die Abteilung für Sexualstörungen der privaten Suchtklinik „The Meadows“ in Wickenburg/Arizona, USA. 284 Als Ursache sieht CARNES die lustfeindliche Erziehung in den USA. „Viele Probleme haben wir uns mit unserer Rigidität selbst geschaffen. Unser wichtigster Kampf ist der gegen die negative Einstellung zur Sexualität. Die USA sind wie ein 13-jähriger Teenager: besessen von Sex und gleichzeitig voller Angst, darüber zu reden.“ Bis zum heutigen Tag wurde dieser Begriff nicht in die weltweit anerkannte Klassifikation psychischer Störungen aufgenommen. Nach CARNES ist es unzweifelhaft, „dass zwanghaftes Sexualverhalten fast immer mit anderen Süchten kombiniert ist, meist Alkohol, Drogen, Magersucht oder Bulimie. 50 bis 70% der Kokainabhängigen, je nach Studie, haben auch ein Problem mit Sexsucht. Das heißt, wir dürfen Süchte nicht mehr isoliert betrachten. Die zweite grundlegende Erkenntnis ist, dass die Mehrzahl der sexsüchtigen Patienten als Kinder missbraucht wurde.“ Der Zustand der betroffenen Patienten ist durch furchtbares Leiden und unerträgliche Scham gekennzeichnet. Die Gefährdung von Mitmenschen ist deshalb sehr groß, weil Geschlechtsverkehr oftmals ohne Kondom ausgeübt wird, und zwar deshalb, da die Süchtigen gerade kein Kondom bei sich haben, weil es ja eigentlich gar nicht so weit kommen sollte. Die meisten seiner Patienten sind leitende Manager, Anwälte, Ärzte und Priester. Drei Fragen an sich selbst können helfen, das Ausmaß der Sucht bei sich selbst zu beurteilen: Leidet die Arbeit unter meiner sexuellen Aktivität? Bin ich aus sexuellen Gründen mit Leuten zusammen, deren Gesellschaft ich sonst nicht suchen würde? Möchte ich nach dem Sex oft davonlaufen? Werden alle drei Fragen mit „ja“ beantwortet, muss noch zwischen vorübergehender Phase, Sucht, Schwäche oder Natur differenziert werden. Eine Beeinträchtigung des Sexuallebens ist in jedem Fall daraus abzuleiten. Bisexualität und Homosexualität wird ebenfalls häufig in Verbindung mit Sexsucht beobachtet. COULTER weist auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem postenzephalitischen Syndrom (durch Impfungen verursacht) und einem exzessiven Sexualleben hin.560 560 COULTER, 1995, S. 217 285 Sexueller Missbrauch von Jungen und Mädchen Sexuelle Gewalt wird dann ausgeübt, wenn eine Person ihre physische oder geistige Überlegenheit oder aber die Abhängigkeit oder das Vertrauen eines Mitmenschen zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse ausnutzt. Besonders gefährdet sind nach einer Literaturstudie von HOLMES und Mitarbeitern561 in Nordamerika farbige Buben unter 13 Jahren, die ohne Vater in einem sozial schwachen Umfeld leben. Die Mehrzahl der Täter ist mit dem Opfer bekannt, jedoch nicht verwandt. Der Begriff Missbrauch wurde in dieser Studie verschieden definiert und erklärt somit die Schwankungsbreite der Ergebnisse. 6 bis 47% sind weiblich, und zur Hälfte jugendliche Babysitterinnen. Sind die missbrauchten Jungen älter, steigt der Anteil der Täterinnen auf 27 bis 78%. 17 bis 53% der Opfer berichten über fortgesetzten Missbrauch bis zu vier Jahren Dauer. Nur 15 bis 39% empfinden ihre Opferrolle als negativ und werden dementsprechend auch nicht behandelt. Entgegen dieser persönlichen Wahrnehmung zeigen missbrauchte Jungen verstärkt aggressives Verhalten, laufen öfter von zu Hause weg und geraten häufiger mit dem Gesetz in Konflikt. Zudem leiden sie in erhöhtem Maße unter Depressionen, Angstzuständen, Paranoia und Ess-Sucht. In ihrem weiteren Leben tendieren die Opfer zu Prostitution und risikoreichem Sexualverhalten. Bayerische Studien gehen nach Angaben von STAMM davon aus, dass jedes sechste Mädchen und jeder 13. Bub Opfer eines sexuellen Missbrauchs wird. Im Jahr 1999 wurden laut Kriminalstatistik in Bayern 2441 Kinder Opfer eines Missbrauchs.562 Sexueller Kindesmissbrauch in Familien Neuere Erhebungen in Großbritannien belegen, dass sexuelle Gewalt vor allem in der Familie stattfindet. Etwa 10 bis 20% der Täter sind weiblich, 80 bis 90% sind Männer. Kinder aller sozialen Schichten und aller Altersgruppen sind betroffen. Selbst Säuglinge und Klein561 JAMA, 1998, Bd. 280, S. 1855 und in SZ, 289, 1998, V2 /9 MM, 51, 2000, S. 1; Barbara STAMM, bayerische Sozialministerin. 562 286 kinder zählen zu den Opfern. Nicht nur körperliche, sondern vor allem seelische Beeinträchtigungen der Betroffenen sind die Folge.563 Sexueller Kindesmissbrauch erfolgt in vielen verschiedenen Formen, ausgehend von verbalen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen, die in keiner Statistik Deutschlands erfasst werden. HOFER: „Täter sind nur selten anonyme „böse Männer“, die den Kindern im Gebüsch auflauern; Täter sind in den meisten Fällen die nächsten männlichen Verwandten der Kinder, mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebend, also Väter, Großväter, Onkel, Brüder. Diese Täter sind nur zu einem kleinen Teil psychisch gestörte, Nachsicht verdienende Menschen, die eigene Missbrauchs- und Gewalterfahrung unverarbeitet an ihre Kinder weitergeben; es sind hauptsächlich beruflich erfolgreiche Familienväter, im Freundeskreis anerkannt, mit Ehrenämtern geschmückt, in Parteien engagiert, die im Schutze der Familie sich ungestört und ebenso ungestraft an ihren Kindern vergehen. Die von Frau Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin in der Talkshow von Sabine Christiansen am 15. 7. 2001 genannte Zahl von 20 000 Kindern im Jahr, die in den Familien sexuelle Gewalt erleiden, erscheint . . . als zu niedrig und mindestens um den Faktor zehn zu erhöhen. Die schwer psychisch kranken Frauen, die zu uns kommen, berichten – manchmal erst nach zwei, drei Jahren, in denen Vertrauen zur Beraterin entstand – von jahrelang andauernden sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen in der Kindheit durch nächste Familienangehörige. Allen diesen Geschichten ist gemeinsam, dass die Mädchen damals sich niemandem anvertrauen konnten oder dass ihre vorsichtigen Versuche, jemanden von dem Missbrauch zu erzählen, mit schweren Sanktionen beantwortet wurden (Schläge, Stigmatisierung als „verrückt“, Abgabe in ein Heim u. v. m.). Später wiederholen sich diese Erfahrung im Kontakt mit Ärzten und Psychotherapeuten; die Sanktion ist dann die Diagnose „Hysterie“ . . . und wieder herrscht die gleiche Dynamik wie in der innerfamiliären Traumasituation: Das Opfer ist vom Täter abhängig, der Täter hat die stärkere gesellschaftliche Position, dem Opfer wird aufgrund 563 SZ, 160, 2001, S. 53, München 287 bestimmter Eigenschaften (Kind, psychisch krank) wenig Glauben geschenkt. Der Prozess der psychischen Heilung kann erst dann beginnen, wenn die Gesellschaft sich auf Seiten des Opfers stellt und den Täter verurteilt. Die Realität sieht leider ganz anders aus“564 (vgl. dazu auch das Kapitel: Die Gewaltgesellschaft). Vor allem im Familienkreis werden Täter oft deshalb gedeckt, weil die Mitwisser diese Taten einfach nicht wahrhaben wollen. Die Situation in Bayern: 565 Sexueller Missbrauch von Kindern – Die Situation in Bayern §§ 176 – 176 b StGB (Die Angaben sind gerundet) Jahr Opfer insgesamt männlich vollendete Tat weiblich vollendete Tat männlich Versuch weiblich Versuch 1991 1993 1995 1997 1999 2000 2400 2300 2250 2850 2400 2750 500 500 500 750 500 700 1650 1600 1590 2000 1750 2000 50 100 50 90 80 80 90 110 50 90 50 80 Prävention ENDERS: „Kein Täter wird sich durch eine Gendatenbank davon abhalten lassen zu missbrauchen. Genauso wie auch drakonische Freiheitsstrafen Täter nicht davon abhalten zu missbrauchen. Was Täter abhält, ist frühe therapeutische Hilfe am Anfang ihrer Täterentwicklung . . . Viele Täter fangen schon als Kinder oder als Jugendliche an zu missbrauchen.“ 564 SZ, 173, 2001, S. 10, Leserbriefe; Klara HOFER arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in München. und besitzt langjährige Erfahrungen im Sozialpsychiatrischen Dienst. 565 Die Tabelle wurde entnommen: MM, 9, 2002, S. 3; Zum Thema „Sexueller Missbrauch von Kindern“ gibt es den Film „Trau dich“ von Filmemacher Hans-Peter Meier; Schulen können diesen Film als Medienpaket zur Missbrauchsprävention über die Filmbildstellen beziehen. 288 Resultate aus Beratungen und Forschung deuten mittlerweile darauf hin, dass ein Drittel aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Jungen und Mädchen sowohl durch jugendliche Täter als auch Täterinnen verübt wird. Selbst kindliche Täter treten in Erscheinung. Kinder und Jugendliche müssen lernen, klar „nein“ zu sagen. Sexualmorde Eltern schätzen in der Regel, dass in Deutschland im Jahr zwischen 100 und 1000 Sexualmorde verübt werden.566 Die wirkliche Zahl wird mit drei bis sieben pro Jahr angegeben. Durch die Berichterstattung der Medien wird der Eindruck erweckt, als nähme die Zahl ständig zu. Sie ist aber tatsächlich deutlich zurückgegangen. Im Fernsehen, durch das unsere Wahrnehmung der Realität entscheidend strukturiert wird, dagegen nimmt die Präsenz dieses Themas zu. WETZELS: „Vor 30 Jahren gab es mehr Fälle von sexuellem Missbrauch.“ Sexualmorde in Niedersachsen Jahr 1973 – 1977 1978 – 1982 1985 – 1989 1995 – 1999 Anzahl 43 37 22 11 Die sexuelle Gewalt gegen Jungen und Mädchen nimmt ab. Gründe dafür nach WETZELS: Abnahme der körperlichen Züchtigung von Kindern Bessere Sexualaufklärung der Kinder und somit ein besseres Verhältnis zur eigenen Sexualität 566 SZ, 271, 2001, VI; WETZELS ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen in Hannover; Ursula ENDERS ist Leiterin der Beratungsstelle „Zartbitter“ in Köln. 289 Allgemeiner Abbau des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern Ergebnis der Beratungs- und Aufklärungsarbeit Sexueller Missbrauch – weltweit 567 Minderjährige Prostituierte im Staat Brasilien Thailand Indien USA Philippinen Sri Lanka Anzahl geschätzt 500 000 – 2 000 000 800 000 400 000 100 000 – 300 000 100 000 30 000 Weiter wird geschätzt, dass zwischen Ost- und Westeuropa etwa jährlich 200 000 Menschen gehandelt werden. Die Anzahl der deutschen Sex-Touristen, die jährlich in das Ausland reisen, beträgt zwischen 4000 und 20 000. Allein in Asien werden nach Schätzungen von UNICEF jährlich eine Million Kinder neu zur Prostitution gezwungen. Sisi-Syndrom Von dieser nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth von Österreich benannten Form der Depression sind nach Schätzungen von Experten ca. 2,5 Millionen Menschen betroffen. Menschen mit diesem Syndrom bewältigen diesen seelischen Zustand nicht mit Resignation, Traurigkeit oder Weinerlichkeit, sondern versuchen dem depressiven Zustand mit Aktivität und Sport zu begegnen. Als eine mitauslösende Ursache wird eine Störung des Serotoninstoffwechsels im Gehirn angenommen. Durch Medikamente wie Seroxat, die den Wirkstoff Paroxetinhydrochlorid, der die Wiederaufnahme von Serotonin hemmt, enthalten, kann dieses Syndrom günstig beeinflusst werden.568 567 SZ, 291, 2001, S. 12; Quelle: ddp/unicef ; Tabelle laut Schätzungen der UNICEF 568 in Naturheilkunde 5 /99 und in MM, 210, 1999, J 4 290 Spielsucht Die weit auseinander gehenden Schätzungen der Fachleute sprechen von 90 000 bis 150 000 pathologischen Glücksspielern. Andere Schätzungen gehen von 25 000 bis 130 000 Spielsüchtigen in Deutschland aus. In fünf deutschen Spezialkliniken werden jährlich 240 Zocker stationär behandelt. 90% dieser Patienten sind von einfachen Münzspielgeräten abhängig, die in jeder Kneipe zu finden sind. Etwa ein Fünftel besucht Spielbanken. Für jedes dieser Spielgeräte wurde ein statistischer Dauerverlust von 46,40 DM pro Stunde ermittelt. Die durchschnittliche Verschuldung von pathologischen Spielern lag bei 30 000 DM. Der Gesamtumsatz in dieser Branche beträgt etwa 11 Milliarden Mark, davon erhält der Staat jährlich 1,4 Milliarden Mark an Steuereinnahmen.569 Laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden sind die staatlichen Einnahmen beim Glücksspiel im vergangenen Jahr auf 7,5 Milliarden Mark gestiegen. Nach HERFORD570 sind knapp 40% der Glücksspieler mit Beträgen zwischen 10 000 und 50 000 DM verschuldet. Vor allem in den neuen Ländern hat sich die Spielsucht nach der Alkoholsucht zur Droge Nummer zwei entwickelt. MEYER vertritt die Ansicht, die Spielsucht habe sich zu einem „wahren Massenphänomen entwickelt, dem alle Beteiligten ratlos gegenüberstehen“.571 Die innere Unruhe und Reizbarkeit vieler Zocker lege sich erst, wenn die erste Münze im Spielautomaten steckt. Ein bisher einzigartiger Fall hinsichtlich der Folgen von Spielsucht:572 Ein 16-jähriger Junge aus Turin musste in eine psychiatrische Klinik gebracht werden, nachdem er fünf Nächte lang mit einem Videospiel zugebracht und sich schließlich mit dem Helden identifiziert hatte. Bei seiner Einweisung in die Klinik sagte der Junge: „Ich heiße Ken, ich führe eine Schlacht aus, ich muss viele Frauen vom Tod retten.“ 569 SZ, 156, 1999, VI MM, 274, 1999, S. 11; HERFORD ist Mitglied des Fachverbandes Glücksspielsucht. 571 MEYER ist Professor für Psychologie an der Universität in Bremen. 572 SZ, 266, 1999, S. 16 570 291 Die Spieler bei Computerspielen schlüpfen nicht nur in die Rollen von Helden oder Dämonen, sie werden so wie bei „Black & White“ sogar in die Situation eines Gottes oder einer Göttin versetzt, der/die sich gegenüber anderen Göttern behaupten muss. Spielsucht existiert auch nach Ansicht von HANKEL in Form des Börsenfiebers auf der Bühne der globalen Spielhalle, den Börsen und Aktienmärkten. Die weltweit zunehmende krankhafte Spielsucht wird zum ersten Mal auch in ihren ökonomischen Bezügen begriffen. HAND weist auf ein gemeinsames Merkmal der Spielsüchtigen hin: Es sind alles Patienten mit „kleinen magischen Philosophien“, die glauben, dass ihr Spielsystem „perfekt ist und sie es nur noch nicht perfekt genug beherrschen“.573 Sorge bereitet vor allem die „abnorme Entwicklung“ des Aktienmarktes, etwa durch Spekulanten. Deren Vorgehensweise und Aktivitäten haben nichts mehr mit wirtschaftlichen Werten oder Bezügen zu tun. Sie arbeiten mit risikoreichen psychologischen Vorhersagen bezüglich des „Mitspielerverhaltens“. HAND sieht Börsenplätze als „ideales Spielfeld für Emotionalität“. Davon ist zum Teil die gesamte Volkswirtschaft abhängig. In der Folge sinkt der Wert realer Arbeit, und das Glück bestimmt, wer in unserer Gesellschaft zu den Gewinnern oder den Verlierern zählt. „Extreme Zukunftsängste und in ihrer Folge gefährliche Aggressionen“ sieht HAND als mögliche Auswirkungen. Jüngste Berichte aus den USA über Amokläufe von gescheiterten Börsenspekulanten bestätigen diese Visionen. In Japan hat die Spielsucht ganze Familien ergriffen und ist inzwischen zu einem gesellschaftlichen Problem geworden. Die Entwicklung zur Sucht hat vor allem mit psychischen und sozialen Bedingungen zu tun, auch mit Erziehung, Kindheitserfahrungen, Persönlichkeit und Veranlagung. Jeder Mensch trägt im Grunde süchtige Anteile in sich. THIELEN: „Persönliche Probleme sind oft der Auslöser solcher Suchtverhalten, und die müssen dem Betroffenen nicht einmal bewusst sein . . . der Suchtstoff steht für eine Lücke im Leben der Süchtigen, was aber genau dahinter steckt, muss man in einem Ge573 SZ, 184, 1999, S. 3; HANKEL ist Wirtschaftswissenschaftler; HAND ist Leiter der Verhaltenstherapieambulanz der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf; HAND auf dem XI. Weltkongress für Psychiatrie in Hamburg. 292 spräch herausfinden.“ 574 Der erste Schritt zurück zur Normalität besteht darin, sich die Sucht einzugestehen. Obwohl Suchtkranke in psychosomatischen Kliniken behandelt werden müssten und eine intensive Nachsorge von bis zu einem Jahr benötigen würden, werden in der Regel nur für sechs Wochen Therapieplätze vergeben. Wichtige Adressen für Beratungsstellen: Beratungsstelle in München: Beratungs- und Therapiezentrum für Suchtgefährdete und -abhängige, Im Tal 19, Telefon 0 89/ 24 20 80 -11 Fachklinik Nordfriesland GmbH: www.spielsucht-therapie.de Hilfe über Caritas Nordrhein-Westfalen: www.caritas-neuss.de/3/gluecksspiel.htm Selbsthilfe (München): Selbsthilfezentrum München, Bayerstraße 77a ; Telefon 0 89/ 53 29 56 11, und E-Mail: info@SHZ-muenchen.de Suchthilfe online (Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Kassel): www.sucht.org Sprachstörungen Jedes vierte Kind in Deutschland gilt inzwischen als sprachgestört. Die Sprachentwicklung der Kinder wird nach Aussagen von HEINEMANN575 durch folgende Faktoren gehemmt: häufiges Fernsehen „Schweigende Familien“ Spiele mit Gameboy und Computer. Das stundenlange Schweigen wirke sich negativ auf die Sprachentwicklung aus. Ein Viertel aller Kinder im Alter von dreieinhalb bis vier Jahren sind in ihrer Sprachentwicklung zurückgeblieben. 574 MM, 271, 2001, J 4; Annelie THIELEN ist Diplom-Psychologin und therapeutische Leiterin des Münchner Beratungs- und Therapiezentrums für Suchtgefährdete und Abhängige „Tal 19“. 575 MM, 122 / 22, 1997, S. 1; HEINEMANN ist Direktor der Klinik für Kommunikationsstörungen in Mainz. 293 Experten sind sich bezüglich der Unterscheidung von normalen Phasen und behandlungsbedürftigen Störungen beim Spracherwerb uneinig, da der Spracherwerb individuell sehr unterschiedlich verläuft. Eine Therapie, die zu früh beginne und zu lange andauere, wird nach derzeitigem Kenntnisstand (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) eher als schädlich beurteilt. Nach Auffassung der deutschen Gesundheitsämter müssten inzwischen bei 25% aller Kinder Sprachstörungen behandelt werden. HOPPE geht davon aus, dass jedes vierte Vorschulkind sprachauffällig sei. 8 bis 10% seien therapiebedürftig.576 In Ländern wie den USA und Großbritannien geht man statistisch davon aus, dass 6 bis 7% Prozent der Kinder einer Therapie erhalten sollten. Die Verständlichkeit eines Kindes ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil ein Kind, das sich nicht mit Gleichaltrigen austauschen und verständigen kann, eher dazu neigt, Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Über die Rolle des Fernsehens bezüglich der Entstehung von Sprachschwierigkeiten gibt es ebenfalls geteilte Meinungen. Fernsehen kann die Sprachentwicklung dann entscheidend behindern, wenn die Kinder sonst keinen Ansprechpartner haben. SINGER betont mit Recht die außerordentliche Wichtigkeit von kommunikativen Prozessen bei der Hirnentwicklung.577 Die Kommunikationsmöglichkeiten und -fähigkeiten bestimmen in entscheidendem Ausmaß die Möglichkeit der differenzierten Entwicklung kognitiver Funktionen. Nach SCHREY-DERN ist es nicht möglich, genaue Angaben darüber zu machen, ob heute Sprachstörungen bei Kindern häufiger vorkommen als vor einigen Jahrzehnten. Sie vermutet, dass Sprachstörungen früher möglicherweise nicht die Beachtung geschenkt wurde, wie es jetzt der Fall sei. 576 SZ, 150, 2001, V2 /10; HOPPE ist Präsident der Bundesärztekammer; Dietlinde SCHREY-DERN ist Präsidentin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie (DBL). 577 www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/mckinsey.htm; SINGER ist Direktor des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung. 294 Sprachverlust Für die Therapie ist wichtig, dass die Behandlung möglichst schnell beginne. Viele Mediziner sehen solche Symptome als Randerscheinungen eines Schlaganfalls. Eine Aphasie ist die Folge einer Hirnschädigung nach einem Schlaganfall, Unfall oder einer Hirnentzündung. Betroffen sind in Deutschland nach WENDT etwa 300 000 Menschen.578 Selektiver Mutismus 579– das Kind spricht nicht mit jedem Einige der Kinder bleiben z. B. in der Schule stumm, obwohl sie zu Hause bei den Eltern oder aber auch mit sich selbst völlig normal reden. Das Krankheitsbild zeigt sich in vielen Schattierungen: Manche Kinder sprechen mit dem einen Lehrer, mit dem anderen aber nicht mit der Mutter, aber nicht mit dem Vater mit allen Familienmitgliedern, jedoch nur in Einzelgesprächen nur mit Fremden, jedoch nicht mit den Eltern können lange Telefongespräche, jedoch keine Gespräche vis à vis, keine Gespräche mit derselben Person führen. Zur Entstehung dieser Sprachstörung gibt es viele Vermutungen, jedoch keine konkreten, beweisbaren Ursachen: eine zu enge Mutterbindung andauernde innerfamiliäre Spannungen; neurotische Familienstruktur Folge einer Hirnschädigung während der Geburt ein Trauma in frühester Kindheit sexueller Missbrauch kulturelle und sprachliche Unterschiede Vererbung. Die letztgenannte Vermutung wird durch die Beobachtung erhärtet, dass die Eltern der betroffenen Kinder selbst oftmals sehr wortkarg 578 MM, 151, 1999, S. 3; Eleonore WENDT ist Vorsitzende des Bayerischen Landesverbandes für die Rehabilitation der Aphasiker. 579 SZ, 123, 1998, V 295 sind, wenig soziale Kontakte pflegen und gerne zurückgezogen leben. Neuere Ansätze sehen im selektiven Mutismus immer mehr eine Angstkrankheit. Die Behandlung ist heute in erster Linie verhaltenstherapeutisch orientiert. „Aversive Stimuli“ wie Untertauchen im Swimmingpool, bis sie Wasser schlucken und „nein“ schreien Kürzung der Essensration Beginn der Übungen ohne die Möglichkeit der vorherigen Nahrungsaufnahme; diese wird dann zusammen mit entsprechendem Lob gewährt zeigen aber auch nicht immer die gewünschte Wirkung. Das Medikament Fluoxetin, eine Antidepressivum ohne beobachtete Nebenwirkungen soll erfolgreich zur Behandlung eingesetzt worden sein. Beobachtungen der letzten Jahre zeigten die Zunahme dieser Fälle in der Schule, vor allem bei ausländischen Kindern. Fremde Erwachsene werden nach Aussagen von Sprachwissenschaftlern oft wie Fremdsprachige erlebt. Damit müssen ähnliche Anforderungen wie beim Erlernen einer ganz neuen Sprache bewältigt werden. Stoffwechselstörung – Phenylketonurie PKU Diese Störung beruht auf einem Enzymdefekt. Von 16 000 Neugeborenen ist eines von dieser Erkrankung betroffen. Der von dieser Erkrankung betroffene Organismus ist nicht in der Lage, Phenylalanin (ein spezifisches Eiweiß, das in den meisten eiweißhaltigen Nahrungsmitteln enthalten ist) zu verarbeiten. Bei dieser Erkrankung ist das Enzym Phenylalaninhydroxylase defekt. Befinden sich die mutierten Gene auf einem Autosom, so sind die Träger klinisch gesund. Sind beide Eltern Träger dieses Gens, so ist eine Erkrankung der Nachkommen zu 25% wahrscheinlich.580 580 STEINHAUSEN, 1996, 60 296 Säuglinge müssen deshalb mit einem besonderen Milchersatzstoff ernährt werden. Wird die Krankheit nicht erkannt, können sich folgende Symptome zeigen : Kinder sind mit vier Jahren noch nicht sauber, können sich oftmals nicht alleine anziehen und auch nicht richtig essen. Aggressivität, Angst-, Krampf- und Wutanfälle mit Automutilation können auftreten. Nachts wachen die Kinder oftmals schreiend auf. Die Erkrankung wird auch von Fachärzten oftmals mit der Form eines schweren Autismus verwechselt. Durch die Aminosäurenstoffwechselstörung tritt eine schwere Schädigung des Gehirns als Folge einer Vergiftung ein. Als Therapie wurden Erfolge mit einer speziellen PKU-Diät erzielt. Eine Bewegungs-, Ess- oder eine Musiktherapie kann eine sinnvolle Ergänzung sein. Oftmals werden auch schwere Psychopharmaka bei unklarer Diagnosestellung verordnet.581 Stottern Nach Erkenntnissen des ISV in Darmstadt (Interdisziplinäre Vereinigung Stottertherapie) gibt es in der BRD etwa 800 000 Stotterer. Das Stottern wird vor allem bei den betroffenen Kindern oftmals durch die elterlichen Schamgefühle verstärkt. Nachteilig auf die Sprachentwicklung wirken sich auch der falsche Ehrgeiz von Vätern oder Müttern und ständige Ermahnungen aus. Am förderlichsten sei es, dem Stottern mit Gelassenheit zu begegnen. Das Problem solle aber auch nicht tabuisiert werden.582 Stottern betrifft vor allem Männer und kann vererbt werden. EULER fand heraus, daß Söhne von Stotterern mit einer drei- bis viermal so hohen Wahrscheinlichkeit ebenfalls stottern.583 Stottern wird heute zu den häufigsten Sprachstörungen gezählt. Etwa eines von zwanzig Kindern ist davon betroffen. SCHNEIDER: „Es 581 MM, 293, 1999, Weihnachtsaktion MM, 49, 1999, S. 1 583 SZ, 120, 1997, Vermischtes; EULER ist Psychologie-Professor in Kassel. 582 297 gibt fast keine Informationen darüber, wie wirksam die einzelnen Therapieverfahren tatsächlich sind.“584 In der deutschen Literatur zeigt sich nach FOX bezüglich der Sprechstörungen eine große Unstimmigkeit hinsichtlich der Diagnose, der Therapie und der Einteilung von Sprachstörungen. Susto Diese Störung ist vor allem in Lateinamerika weit verbreitet. Die Betroffenen empfinden dabei eine Mischung aus körperlichen Schmerzsymptomen, Depressionen und Traumata bei der gleichzeitigen Vorstellung, dass Körper und Geist getrennt seien.585 Umweltpanik durch Schulstress – Psychogene Massenerkrankung Bereits seit Sigmund Freud ist der Begriff „Massenhysterie“ bekannt. Er ging davon aus, dass die körperlichen Störungen nur eingebildet sind. Aus den USA kommt der neue Begriff „Psychogene Massenerkrankung“.586 Dieses Phänomen ist dadurch gekennzeichnet, dass durch einen „Leitpatienten“ ein „Panik-Virus“ eingeschleppt wird, der oftmals mit einem konkreten Auslöser in engem Zusammenhang steht. Auch soziale Strukturen spielen bei dem Ausbruch einer solchen Epidemie eine Rolle. Die Ausbreitung erfolgt unter Frauen und Mädchen schneller als bei Buben und Männern. Gemeinschaften, die unter Stress stehen und eine Ventilfunktion brauchen, begünstigen das Entstehen von „Panikepidemien“. Ein gemeinsames „Feindbild“ (z. B. Umweltgifte) ist ebenfalls eine Voraussetzung zur Entstehung einer Umweltpanik. Der Umgang mit solchen Vorkommnissen erfordert besonderes Fingerspitzengefühl, da mögliche psychologische Ursachen schnell zu Diffamierungen führen können. Eine Gruppentherapie ist in solchen Fällen das erste Mittel der Wahl. 584 SZ, 150, 2001,V2 /10; SCHNEIDER ist Logopäde an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ; Annette FOX ist Logopädin in Hamburg. 585 SZ, 94, 2002, V2 /15 586 New England Journal of Medicine, Bd, 342, 2000, 96 in SZ 31, 2000, V2 /13 298 Beispiel: Im November 1998 nahm eine Lehrerin in einer Schule im USBundesstaat Tennessee einen benzinartigen Geruch im Klassenzimmer wahr. Übelkeit, Atemnot und Schwindelgefühle traten auf. Diese Symptome breiteten sich schlagartig in der ganzen Schule aus. Eine Evakuierung des Gebäudes erfolgte; 170 Lehrer und Schüler wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Blut- und Urinproben gaben keine Hinweise auf mögliche Ursachen. Die Lehrer und Schüler hatten jedoch vorher einen wissenschaftlichen Fragebogen ausgefüllt. Auch WATZLAWICK berichtet von solchen Phänomenen.587 Auch die angebliche Vergiftung mehrerer Dutzend belgischer Schüler durch Coca-Cola-Getränke wird nach Untersuchungen der belgischen Regierung als Massenpsychose gewertet. 38 Schüler wurden wegen Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber nach dem Genuss dieser Getränke in Krankenhäuser gebracht. Die Getränke hätten zwar durch einen Produktionsfehler Schwefelgeruch und -geschmack aufgewiesen, es habe jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefährdung bestanden. Es wird angenommen, dass sich verschiedene Krisen wie Rinderwahnsinn und Dioxinskandal sowie die Examenszeit auf die Psyche der Schüler ausgewirkt hätten.588 Verhaltensstörungen Immer mehr Kinder sind bereits im Grundschulalter verhaltensauffällig. Nach Schätzungen von Lehrern sind bereits bis zu 10% eines Jahrgangs von Verhaltensauffälligkeiten betroffen.589 Gleichzeitig ist eine ausreichende Versorgung und Vorsorge dieser Kinder wegen der schlechten Honorarsituation der Psychotherapeuten nicht gewährleistet. Die angebotenen verschiedenen Therapie- und Behandlungsansätze können inzwischen vielfach nicht mehr finanziert werden. 587 WATZLAWICK, 1979, S. 84 ff. SZ, 78, 2000, S. 16 589 SZ, 80, 2000, L 1 588 299 Zukunftssorgen machen Jugendliche krank Eine von der Universität Bremen durchgeführte Befragung von 9300 Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren kam zu dem Ergebnis, dass fehlende Zukunftsperspektiven Jugendliche krank machen können. Die Angst vor Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit erzeuge bei vielen Jugendlichen Schlafstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Nervosität. Außerdem fühlten sie sich schnell müde und gingen öfter zum Arzt, fanden die Wissenschaftler bei der Auswertung heraus. MÜLLER betont, dass Jugendliche aus unteren sozialen Schichten mit geringer Bildung besonders betroffen seien.590 Eine vollständige Heilung sei bisher unmöglich; oftmals würden nur psychische Auslöser genannt, nach aktuellem Forschungsstand spreche aber auch manches für körperliche Auslöser. Zwänge Jüngste Studien ergaben, dass etwa 2 Millionen Deutsche an Zwangserkrankungen leiden. Dazu zählen Zwänge wie Waschzwang, Haareausreißen oder Sammelwut. CIUPKA geht davon aus, dass höchstens 10% der Erkrankungen erkannt seien, da bei den Betroffenen oftmals durch schauspielerische Leistungen die Erkrankung nicht bemerkt werde oder sie aus Scham nicht darüber sprechen würden. Die Krankheit werde im Schnitt erst nach zehn Jahren entdeckt.591 590 MM, 115, 1999, S. 1 MM, 230, 1999, 1;CIUPKA ist Psychologe von der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen (DGZ). 591 300 Neuere Erkenntnisse zur Zeit vor der Schwangerschaft Erklärungen der Abkürzungen: MM bedeutet: Münchner Merkur, SZ Süddeutsche Zeitung; es folgen die Nummer der Ausgabe, das Erscheinungsjahr und anschließend die Seite. J steht für die den entsprechenden Ausgaben beigelegten Journale. AIDS – Immunität Es gibt Menschen, die unempfindlich gegen eine Infektion mit dem Erreger HIV-1 sind. Ihnen fehlt ein Stück des CCR-5-Gens, welches den Bauplan für einen Eiweißstoff, über den sich das Aids-Virus Zutritt zu seinen Opferzellen schafft, enthält. Bei einer Analyse des Erbgutes von 209 gesunden Blutspendern wurden drei Probanden mit einem veränderten CCR-5-Gen gefunden.592 Alkoholgenuss Die Chancen auf eine Schwangerschaft vermindern sich bei Frauen, die täglich fünf Gläser Wein, Bier oder kleine Schnäpse zu sich nehmen, um 40%.593 Frauen, die sich zehn und mehr Drinks pro Woche genehmigten, hätten eine 65% geringere Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis. Untersucht wurden 430 dänische Paare. Bei Männern fand sich kein entsprechender Zusammenhang. Alkoholismus Jedes Jahr werden in Deutschland weit mehr als 2000 Kinder mit einer Alkoholschädigung (Alkoholembryopathie) geboren.594 Beeinflussung des Geschlechts der Nachkommen Verschiedene Studien,595 die jedoch zum Teil kritisiert wurden, kommen zu folgenden Ergebnissen: 592 Lancet, 1998, Bd. 351, S. 14 Studie des National University Hospital Kopenhagen in „Ärztliche Praxis“ in MM, 245, 1999, J 4 594 Münchner Merkur, Nr. 67, 1998, Medizin-Forschung, J 4, Prof. Helmut LÖSER, Uni Münster 595 British Medical Journal, 1999, Bd. 319, S. 548; Human Reproduction, 1998, Bd. 13, S. 2321; Nature, 1999, Bd. 399, S. 459 in SZ 593 301 Beeinflussende Faktoren Dramatische StressSituationen Mädchen Mütter ohne dramatische StressSituationen Kriege (1. Weltkrieg) Jungen Erklärung 49,0% Stress könnte ein Auslöser für Hormonschwankungen sein und für steigende männliche Fehlgeburten verantwortlich gemacht werden; auch ein verändertes Sexualverhalten in Krisenzeiten steht zur Diskussion 51,2% 51,9% Eisprung 2 Tage vor dem Eisprung Naturkatastrophen (Kobe) Eher LERCHL dazu: Wenn Soldaten Heimaturlaub bekamen, „hatten sie innerhalb eines kurzen Zeitraumes vermutlich häufiger Geschlechtsverkehr. Statistisch gesehen fand dieser also öfter am Termin des Eisprungs statt“. Samenzellen mit YChromosom bestimmen das männliche Geschlecht. Sie bewegen sich schneller zur Eizelle als solche mit XChromosomen. Am Tag des Eisprungs steigt somit die Möglichkeit, einen Sohn zu zeugen. „Y-Samen“ sind zwar schneller, sie überleben aber vor einer Befruchtung nicht so lange wie die „X-Samen“. - 1,5% 218, 1999, V2 /12; LERCHL ist Reproduktionsmediziner an der Universität Münster; Valerie GRANT ist Verhaltensforscherin an der Universität Auckland. 302 Friedenszeiten Hitze 51,3% Eher Charakter der Mutter Eher Ziemlich konstant LERCHL: Möglicherweise sind die Y-tragenden Spermien nicht nur schneller, sondern auch hitzebeständiger als ihre Konkurrenten; bei steigenden Außentemperaturen findet auch eine Erwärmung im Hoden statt; dann werden mehr männliche Babys gezeugt. GRANT: Durch Befragungen stellte sie fest, dass dominante Mütter eher Jungen bekommen als Frauen, die weniger bestimmt sind. Ernährung Junge Frauen zwischen 19 und 35 Jahren sind in Deutschland nach Angaben von HAMM596 „am schlechtesten“ ernährt . . . Sie sind kalorien-, aber nicht ernährungsbewusst.“ Bereits jedes zweite 14-jährige Mädchen habe Diäterfahrung. Junge Frauen neigen dazu, von einer Zeitschriften-Diät in die andere zu fallen und nur 1500 oder weniger Kalorien zu sich zu nehmen. „Schlankheitsdiäten sind Mangeldiäten.“ Solchen Frauen fehle mit Sicherheit Kalzium, Zink, Eisen und Vitamine des B-Komplexes. Ein Mangel an Folsäure und Vitamin B6 bei schwangeren Frauen erhöht das Risiko für embryonale Missbildungen. Eine Ernährung, die diese beiden Bestandteile in ausreichendem Maß enthält, (Blattgemüse, Obst und Vollkornprodukte) schützt auch vor einem Herzinfarkt (50% weniger im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit Mangel).597 596 597 MM, 214, 1999, S. 1; HAMM ist Ernährungswissenschaftler. JAMA, 1998, Bd. 279, S. 359 303 Fehlbildungen bei Müttern – trotzdem überwiegend gesunder Nachwuchs Nur eines von 25 Kindern, deren Mütter an einer Fehlbildung litten, kam mit einem Geburtsfehler zur Welt. Das Risiko ist im Vergleich zu Müttern ohne Fehlbildungen erhöht, jedoch nur für den Geburtsfehler, den die Mutter selbst aufweist. Bei Mädchen mit Fehlbildungen wurde in einer norwegischen Studie598 eine höhere Sterblichkeit beobachtet. Nur vier von fünf Mädchen erreichten das 15. Lebensjahr. Im fortpflanzungsfähigen Alter gebaren sie selbst weniger Kinder. Auch das Erbgut der Väter spielt bei Fehlgeburten eine erhebliche Rolle. Fehlbildungen – erhöhtes Risiko bei Vegetarierinnen Das Risiko, Söhne mit missgebildeten Geschlechtsteilen zur Welt zu bringen, ist nach einer Studie der Universität Bristol um ein Fünffaches erhöht, wenn Mütter sich ausschließlich vegetarisch ernähren. 7900 Mütter und ihre Kinder wurden untersucht. 51 Buben waren mit einer Hypospadie (Fehlmündung der Harnröhre an der Unterseite des Gliedes) geboren worden.599 Fruchtbarkeit der Männer Die Behauptung, dass Stress, Alkohol oder zu enge Hosen für die drastische Abnahme der Spermienzahl in den letzten Jahrzehnten verantwortlich sei, wird von SOKOL mit einer neuen Untersuchung widerlegt.600 Um einen Vergleich der Spermienproben zu ermöglichen, war es den Männern untersagt, zwei bis fünf Tage vor der Abgabe der Proben mit ihren Frauen zu schlafen. Mindestens eine Spermienanomalie wurde in 52% der Proben nachgewiesen. Bei 18% der Proben wurde eine geringere Spermienzahl als die Norm (20 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit) nachgewiesen. Eine Studie aus den 50er Jahren kam zu ähnli598 New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 1057 MM, 49, 1999, S. 3 600 Fertility and Sterility, Bd. 73, 2000, S. 595 in SZ, 91, 2000, V2 /13; NIESCHLAG arbeitet an der Universität Münster; veröffentlicht in Fertilität, Bd. 13, 1998, S. 2 599 304 chen Ergebnissen. Die Männer scheinen heute also genauso fruchtbar zu sein wie vor mehreren Jahrzehnten. NIESCHLAG führt die Ergebnisse von Studien, die zu gegenteiligen Ergebnissen kamen, darauf zurück, dass bis jetzt keine einheitlichen Messmethoden angewandt wurden. Die Anzahl der produzierten Spermien scheint auch durch die geografische Lage bedingt zu sein. Dieses Phänomen ist jedoch noch nicht genauer erforscht. Gesprächsbereitschaft – Gefahr von Scheidungen GOTTMAN601 stellt die These auf, dass sich die Stabilität einer Beziehung von Neuvermählten nach den ersten drei Minuten Ehestreit voraussagen lässt. Das Diskussionsverhalten von 124 Ehepaaren, die kürzer als neun Monate verheiratet waren, wurde auf Video aufgezeichnet. Bei Paaren, die sich sechs Jahre nach den Aufzeichnungen scheiden ließen, wurde bei Beginn der Diskussionen eine negativere Grundhaltung festgestellt. Besonders die Männer der gescheiterten Beziehungen äußerten sich im Gesprächsverlauf nur negativ. Bei den stabileren Beziehungen wurden von den Männern auch positive Botschaften an ihre Frauen versandt. Frauen sollten deshalb besonders darauf achten, Diskussionen nicht mit einem allgemeinen Vorwurf zu beginnen; Männer sollten dagegen mehr Akzeptanz zeigen. Geruchssinn – Einschränkung bei Einnahme der Pille Frauen, die nicht die Pille zur Verhütung einnahmen, zeigten im Gegensatz zu der Gruppe, die mit Hilfe der Pille verhüteten, einen besonders feinen Geruchssinn. Möglicherweise wird durch die Einnahme der Pille sogar das sexuelle Verlangen während der fruchtbaren Tage verringert. Gerade in der Zeit kurz vor, während und nach dem Eisprung ist der Geruchssinn ohne Medikamenteneinnahme besonders empfindlich. Wie und in welchem Maße der Geruchssinn das sexuelle Verlangen beeinflusst, ist noch nicht geklärt. 602 601 Herbstausgabe von Family Process, USA und SZ, 230, 1999, V2/14 602 SZ, 250, 2001,V2 /11; Human Reproduction 2001, 305 Herzinfarkt: Verhütung durch die Pille Die Pille als Verhütungsmittel ist nach KRONE ein eindeutiger Risikofaktor für einen Herzinfarkt bei Frauen.603 Kinderlosigkeit In der BRD sind zwei Millionen Paare ungewollt kinderlos.604 Einigen Bestandteilen von Pestiziden, Weichmachern und Reinigungsmitteln schreiben Forscher hormonähnliche Wirkungen zu. Niederländische Forscher kommen nach ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass bei Männern, die beruflich mit Pflanzenschutzmitteln zu tun haben, die Fruchtbarkeit vermindert ist. In der Studie605 wurden 836 Paare, die sich wegen Kinderlosigkeit in medizinische Behandlung begeben hatten, hinsichtlich ihrer Berührung mit Umweltgiften befragt. Anschließend wurden diese Daten mit dem Erfolg bei einer künstlichen Befruchtung bei diesen Paaren in Relation gesetzt. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe wurde bei allen 20 Männern, die häufig Pestiziden ausgesetzt waren, eine „deutlich verminderte“ Zeugungsfähigkeit festgestellt. Ein Rückschluss darauf, welche Pflanzenschutzmittel besonders schädlich sind, konnte aufgrund der verschiedenen zur Anwendung gekommenen Präparate nicht festgestellt werden. Grundsätzlich sind genetische Bedingungen mitentscheidend für die Störanfälligkeit bei der Spermienproduktion, die Forscher befürchten jedoch, dass der Einfluss von Umwelthormonen auf die Spermien und somit auf die Fortpflanzungsmöglichkeit unterschätzt wird. Psychische Aspekte der Kinderlosigkeit Frauen fühlen sich häufig nicht vollwertig, wenn sie keine Kinder bekommen können. Eine erfolglose medizinische Behandlung verstärkt in vielen Fällen noch den psychischen Druck. Betroffene FrauBd.16, S. 2288 603 SZ, 105, 1998, S. 11; KRONE ist Ärztlicher Direktor der Klinik II und der Poliklinik der Universität Köln. 604 Angaben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in MM, 165, 1998, S. 3 605 Lancet, 1999, Bd. 354, S. 485 306 en erleben diesen Vorgang nach WISCHMANN606 oft als „emotionale Achterbahn“. Oftmals fühlten sich die Frauen laut einer Studie (1) mit 570 Teilnehmerinnen deprimiert, unattraktiv und unkonzentriert. Eine weitere, noch unveröffentlichte Studie (2), in die 281 Paare eingebunden waren, bestätigt das erhöhte Auftreten von Depressionen bei Frauen mit drei oder mehr Behandlungsversuchen. Bei Frauen, die mit aller Macht ein Kind erzwingen wollen, bahnt sich nach KENTENICH oftmals ein Teufelskreis aus Erwartung, Enttäuschung und der Hoffnung, dass es bei einem weiteren Versuch bestimmt klappen werde, an. Erfolg künstlicher Befruchtungen Weltweit werden jedes Jahr durch künstliche Zeugung im Laborglas über 30 000 Kinder und somit etwa 3 bis 4% aller Babys geboren. In Deutschland werden jährlich etwa 5000 bis 6000 Retortenbabys geboren. Das Risiko von Fehlbildungen ist nach vorliegenden Studien nicht erhöht.607 Die künstliche Zeugung erscheint vielen Paaren als der letzte Ausweg. Durch das deutsche IVF-Register werden die künstlichen Befruchtungen dokumentiert. Nur in 18% der Behandlungszyklen tritt eine erfolgreiche Schwangerschaft ein. Jedes zweite Paar bleibt auch nach drei Versuchen kinderlos. Eine japanische Studie608 bestätigt einen anderen Effekt einer erfolgreichen künstlichen Befruchtung: 606 SZ, 56, 1999, V2 /15; WISCHMANN ist Psychologe an der Universitätsklinik in Heidelberg; (1) Human Reproduction, 1999, Bd. 14, S. 255; (2) KENTENICH ist Mitarbeiter an einem bundesweiten Forschungsnetzwerk; BRÄHLER ist Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig. 607 Angaben der „Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Endokrinologie“ München; MM, 22, 2000, J 4 608 Fertility and Sterility, 1999, Bd.71, S. 35; Veröffentlichung einer japanischen Studie 307 Fast jede fünfte Frau wurde nach der Geburt eines „Retortenbabys“ wieder auf natürlichem Wege – und das in den meisten Fällen innerhalb von zwei Jahren – schwanger. Soziale Aspekte BRÄHLER: „Eigentlich behandelt die Reproduktionsmedizin ein gesellschaftliches Problem.“ Aus biografisch-materiellen Gründen verzögern viele Frauen den Kinderwunsch zeitlich stark. Werden die Frauen älter, kämpfen sie oft mit dem Gefühl, die Zeit laufe ihnen davon. Der Verfasser sieht aufgrund eigener Beobachtungen und Nachfragen auch die Möglichkeit, dass Frauen, die über lange Zeit Medikamente zur Verhütung einer Schwangerschaft eingenommen haben, in vielen Fällen nicht mehr in der Lage sind, auf natürlichem Wege Kinder zu bekommen oder aber Fehlgeburten erleiden müssen. Durch erneute, ärztliche Hormongaben wird dann versucht, Abhilfe zu schaffen. Ökonomische Aspekte Nach KENTENICH wird bei vielen jungen Frauen vorschnell zu einer künstlichen Befruchtung geraten, da sich hier viel Geld verdienen lässt. Reproduktionsmediziner schätzen, dass inzwischen jedes hundertste Neugeborene in Deutschland außerhalb des mütterlichen Körpers befruchtet wurde. In der Regel übernehmen die Krankenkassen vier Befruchtungen in der Petrischale für jeweils 5000 DM. Viele Patientinnen versuchen ihr Glück jedoch auf eigene Kosten bis zu zwanzig Mal. Sie befinden sich nach den jahrelangen Enttäuschungen oftmals in einem schlechteren Gesundheitszustand als jemals zuvor. Methoden: IVF: Eine Eizelle der Frau wird im Reagenzglas mit dem Samen des Mannes zusammengebracht. ICSI: Ein Samenfaden wird direkt in die Eizelle injiziiert. (Kosten: zwischen 7000 und 10 000 DM; wird von den Krankenkassen nicht übernommen. Bei dieser Methode ist eine genetische Schädigung des Fötus nicht ausgeschlossen.) 308 BERG: Die künstliche Befruchtung ist in etwa jedem fünften Fall erfolgreich, „wenn die Frau unter 40 ist, wenn sie schöne Embryonen hat und wenn sie vier oder fünf Versuche macht, dann hat sie gute Chancen“.609 Im Alter über 40 sinken die Chancen rapide. Künstliche Befruchtung – statistisch erhöhte Chancen durch die betende Begleitung fremder Menschen 610 Eine Gruppe von 200 Patientinnen wurde für eine Studie aufgeteilt. Während bei der einen Hälfte eine herkömmliche Labor-Befruchtung vorgenommen wurde, beteten für die andere Gruppe ohne deren Wissen Christen in Nordamerika und Australien, nachdem sie Fotos von den Menschen erhalten hatten, für die sie beten sollten. Die durch das Gebet begleitete Gruppe wurde doppelt so häufig schwanger. LOBO zu dem Ergebnis: „Trotzdem bin ich noch nicht gewillt zu sagen, dass es einen definitiven Zusammenhang gibt.“ Nach seiner Ansicht könnten eher biologische Faktoren für den Unterschied verantwortlich sein. Zwei Jahre zuvor löste eine Studie heftige Debatten aus, die gezeigt hatte, dass der Krankheitsverlauf von Herzpatienten durch Fürbitten entscheidend beeinflusst worden war. Die statistische Aussagekraft der Studie wurde damals angezweifelt und die möglichen theologischen Konsequenzen kritisch beurteilt. Kinderreichtum und Kindersterblichkeit – Abhängigkeit vom Bildungsstand Das Bevölkerungswachstum steht in engem Zusammenhang mit der Bildung der Menschen. In Entwicklungsländern bekommen Frauen, die zur Schule gegangen sind, weniger Kinder. Zudem wurde festgestellt, dass die Kindersterblichkeit mit zunehmendem Bildungsgrad der Mütter abnimmt. Im südindischen Bundesstaat Kerala wird die niedrigste Kindersterblichkeitsrate in der gesamten Dritten Welt verzeichnet. Dies wird 609 SZ, 172, 2000, S. 3; BERG ist Frauenarzt und Fruchtbarkeitsspezialist in München. 610 SZ, 244, 2001, V2 /11; Journal of Reproductive Medicine, 2001, Bd. 46, S. 781; LOBO ist Reproduktionsmediziner in New York. 309 auch damit begründet, dass hier 90% der Menschen lesen und schreiben können.611 Weltweit gibt es immer noch eine Milliarde Analphabeten. Raucher/innen und ihre Nachkommen – eine Krebsstudie In einer Statistik in Großbritannien sind alle Daten der Kinder aufgelistet, die seit 1953 an Krebs starben. 14% aller Fälle von Kinderkrebs standen nach BRINKWORTH612 eindeutig im Zusammenhang mit dem Tabakkonsum des Vaters vor der Zeugung. Die Ergebnisse von neueren Arbeiten bestätigen, dass Raucher weniger Spermien bilden und dass deren Erbsubstanz angegriffen ist. Es wird versucht, die molekularen Zusammenhänge durch zwei Theorien zu erklären: 1. Wenn Vorläuferzellen der Spermien bestimmten Umweltgiften ausgesetzt waren, verlieren sie die Fähigkeit, in den Hoden den programmierten Zelltod zu sterben. Rauchen kann dazu beitragen. Die geschädigten Spermien können aber dennoch an der Fortpflanzung teilnehmen. 2. Durch bestimmte Substanzen wird das Erbgut (Genom) negativ beeinflusst. Dadurch wird eine Instabilität erzeugt. Die veränderten Zellen sind jetzt offen für mehr Mutationen. Eine Weitergabe an die Tochterzellen ist wahrscheinlich. Möglicherweise werden die Reparaturmechanismen durch das Rauchen geschädigt. Beim Hinzukommen von weiteren schädigenden Einflüssen ist das Auftreten von Krebs bei den Nachkommen sehr wahrscheinlich. Frauen, die während der Schwangerschaft rauchen, tragen ein erhöhtes Risiko zu Früh-, Fehl- oder Missgeburten. Erstaunlicherweise gibt es jedoch kein erhöhtes Krebsrisiko bei den Kindern rauchender Mütter. Es wird vermutet, dass die Eizellen besser gegen Umweltgifte geschützt sind. Die Eizellen teilen sich im Gegensatz zu den Spermien später nicht mehr, sondern verharren. Damit bietet sich 611 SZ, 287, 1998, S. 10 SZ, 218, 1999, V2 /12; BRINKWORTH ist Reproduktionsmediziner an der Universität Münster. 612 310 möglicherweise weniger Angriffsfläche für Veränderungen der Erbsubstanz. Ein weiterer Schutzmechanismus wird in der Gebärmutter wirksam: Das Enzym Cytochrom P-450 baut hier ebenso wie in der Leber Gifte ab. Eine Schädigung des Ungeborenen wird so im Normalfall verhindert. Nach Meinung von Andrologen sollten Paare mit Kinderwunsch mindestens zwei bis drei Jahre vor der Zeugung auf Zigaretten verzichten. Rauchen erhöht die Missbildungsrate drastisch613 Durch die Auswertung der Daten von 3,9 Millionen Babys, die im Jahre 1996 zur Welt kamen, konnte der direkte Zusammenhang zwischen Missbildungen und Tabakkonsum nachgewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Babys mit gespaltenen Lippen oder gespaltenem Gaumen auf die Welt kommen, erhöht sich um 55%, wenn die Mütter während der Schwangerschaft rauchen. Konsumieren schwangere Frauen mehr als ein Päckchen Zigaretten pro Tag, erhöht sich das Risiko auf 78%. Rauchen als eine mögliche Ursache für Unfruchtbarkeit bei Frauen Nur jede fünfte amerikanische Frau weiß etwas über diese Tatsache. Amerikanischen Forschern gelang jetzt der biochemische Nachweis, dass die im Zigarettenrauch enthaltenen polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK) zum Tod von Eizellen führen, indem sie die sogenannten Bax-Gene aktivieren, die wiederum den programmierten Zelltod auslösen. Auch in Autoabgasen sind PAK enthalten. Nicht nur die Zahl der Eizellen verringert sich durch diese Schadstoffe, sondern damit auch die Chance einer Schwangerschaft.614 Es wird zudem vermutet, dass die Wechseljahre bei Raucherinnen früher beginnen. 613 Jöurnal of Plastic an Reconstructive Surgery, Bd.105, 2000, S. 485 in SZ, 106, 2000, V2 /13 614 SZ, 168, 2001, V2 /7; Nature Genetics, 2001, Bd. 28, S. 355 311 Weichmacher (Phthalate) Kunststoffe enthalten Phthalate, welche die Zellen im menschlichen Körper schädigen. KLEINSASSER dazu: „Wir haben herausgefunden, dass sie die Erbsubstanz der Zelle verändern. Es ist somit wahrscheinlich, dass sie an der Tumorbildung mitwirken.“615 Viele Farben, Lacke, Baby-Beißringe, Kosmetika und auch Lebensmittelverpackungen enthalten Phthalate. Diese Salze stehen unter dem starken Verdacht, eine krebserregende Wirkung im Bereich der Nasen-, Hals- und der Mundschleimhäute zu besitzen. 615 MM, 241, 1999, S.1; KLEINSASSER ist an der LudwigMaximilians-Universität in München tätig. 312 Neuere Erkenntnisse zur Schwangerschaft Abtreibungen In Deutschland wurden 1999 insgesamt 130 471 Schwangerschaftsabbrüche registriert. Dies entspricht einem Rückgang von 1% gegenüber 1998. Bei Minderjährigen nahmen die Abtreibungen um 3% zu. In 97% der Fälle hatte zuvor eine Konfliktberatung stattgefunden.616 Im Jahr 2000 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 134 600 Schwangerschaften in Deutschland abgebrochen. 83% der Abbrüche wurden durch Absaugen vorgenommen, 11% durch Ausschaben und 3% durch die Abtreibungspille Mifegyne. Nach Angaben des „Abtreibungsspezialisten“ STAPF, der auf eine 20-jährige Erfahrung verweisen kann, werden etwa 80% der Abtreibungen unter Vollnarkose durchgeführt. „Bei Frauen, die noch keine Geburt hatten – und das sind etwa die Hälfte – kann man erst ab der 7. Woche guten Gewissens chirurgisch abbrechen.“ Grund dafür ist die relativ feste Gebärmutter dieser Frauen. Das Medikament kann von Beginn der Schwangerschaft bis zur 7. Woche eingesetzt werden. Bisher (seit 1988 in Frankreich) beobachtete Nebenwirkungen von Mifegyne: 616 43% der Patientinnen leiden an Erbrechen. 60% haben starke Gebärmutterkrämpfe. Jede fünfte Frau benötigt Schmerzmittel. Immer treten acht bis zwölf Tage andauernde schwere Blutungen auf. Bei 5% der Frauen gelingt die Abtreibung mit diesem Medikament nicht; die betroffenen Frauen müssen sich zusätzlich noch einen chirurgischen Eingriff über sich ergehen lassen. 22% der Schwangeren in Deutschland leiden vor dem Abbruch unter Depressionen und Ängsten, während es vier Wochen nach dem Abbruch nur noch 3% sind. SZ, 87, 2000, S. 2 313 Etwa zwei Drittel der Patientinnen gelten als finanziell bedürftig; die Kosten werden in diesem Fall vom Staat übernommen. Die Kosten für eine Abtreibung mit der Tablette liegen bei 320 DM. Ein chirurgischer Eingriff schlägt bei Teilnarkose mit ca. 500 DM und bei Vollnarkose mit 750 DM zu Buche. Die Abtreibungen haben bei einem Mittelwert von 450 DM im Jahr 2000 danach Kosten in Höhe von etwa 60,5 Millionen DM verursacht, wobei dieser Wert sehr tief gegriffen scheint, da Nachbehandlungen in dieser Summe nicht enthalten sind. Der Einsatz dieses Medikaments kann als massiver Eingriff in den weiblichen Hormonhaushalt bewertet werden. STAPF sieht als besten Weg eine Kombination aus Tablette und chirurgischem Eingriff: „Zwei Tage vor dem Eingriff gebe ich ein Drittel der MifegyneDosis. Dadurch löst sich der Fruchtsack, der Gebärmutterhals wird weiter und das Absaugen wird sanfter.“617 Aids – Schutz der Kinder durch Kaiserschnitt Ungeborene Kinder sind durch neue Medikamente und eine Kaiserschnittentbindung zwei Wochen vor dem Geburtstermin besser vor einer Aids-Infektion geschützt. Das Risiko vermindert sich nach GRUBERT dadurch von 25 auf 1,5%.618 Alkohol in der Schwangerschaft – Wirkungsweise In Tierversuchen619 wurde der Einfluss von Alkohol auf Hirnzellen untersucht. Dabei wurden den Tieren Mengen verabreicht, die denen entsprechen, die Mütter zu sich nehmen, wenn sie über mehrere Stunden hinweg alkoholische Getränke zu sich nehmen. Das Stadium der Hirnentwicklung bei den Tieren entsprach dem menschlicher Föten im letzten Drittel der Schwangerschaft. Zwei verschiedene 617 SZ, 180, 2001, V2 /7; STAPF leitet Kliniken in München und Stuttgart. 618 GRUBERT in SZ, 89, 1999, S. 14 619 Science, Bd. 287, 2000, S. 1056 in SZ, 37, 2000, V2 /11; die Versuche wurden von Forschern der Abteilung für Kinderneurologie der Berliner Charité durchgeführt. 314 Moleküle, die offenbar als Antennen in den Hirnzellen tätig sind, werden durch den Alkohol zu einem Selbstmordprogramm aktiviert. Einerseits blockiert Alkohol den NMDA-Rezptor, der zugleich der Empfängertyp ist, andererseits wird der GABA-Rezeptor aktiviert und löst damit das programmierte Absterben von Hirnzellen aus. Während durch natürliche Prozesse nur etwa 1,5% der Zellen absterben, werden durch Alkohol etwa 30% vernichtet. Das Gehirn von Neugeborenen, deren Mütter während der Schwangerschaft Alkohol tranken, ist in der Regel kleiner als das von Babys, deren Mütter keinen Alkohol zu sich nahmen. Als weitere mögliche Folgen sind Verhaltensstörungen und geistige Behinderungen bekannt. Arzneimittel in der Schwangerschaft Diazepam (Valium) und Schlafmittel (Barbiturate) wirken ähnlich wie Alkohol auf die Rezeptoren der Hirnzellen. Asthma bei Schwangeren – Verschlimmerung Bei Schwangeren, die einen männlichen Fetus in sich tragen, bessert sich das Asthma während der Schwangerschaft häufiger als bei der Schwangeren, die ein Mädchen erwarten. Down-Syndrom – Neuer Test – Anwendung des „Triple Tests“ Ein Fehler in der Erbsubstanz ist für dieses Syndrom verantwortlich. Ein überzähliges Chromosom Nummer 21 hat sich in den Zellkernen gebildet. Die Erkrankung (auch unter dem Namen „Mongolismus“ bekannt) ist mit einer eingeschränkten Entwicklung und einer geringeren Lebenserwartung verbunden. Eine neue Diagnosemethode,620 die sich im Versuch an 2000 Frauen als sicher erwiesen hat, soll es ermöglichen, diese schwere Störung schneller und preisgünstiger zu diagnostizieren. Wie bei dem herkömmlichen Verfahren wird auch bei dem neuen Test Fruchtwasser entnommen. Darin befinden sich Zellen des Föten. Bei der alten Methode musste auf die Auswertung durch einen Spezialisten zwei Wochen gewartet werden; erst dann hatte sich die DNS zu einzelnen Chromosomen verdichtet. Das bereits nach einem Tag vorliegende Ergebnis des neuen Tests funktioniert mit einer „Polymerase-Kettenreaktion“ (PCR). Damit 620 Lancet, 1998, Bd. 352, S. 9; in SZ, 159, 1998, V2 /9 315 werden bestimmte DNS-Bereiche auf dem Chromosom 21 vervielfältigt. Abhängig von der Anzahl der Chromosomen liegen so von jedem Bereich zwei oder drei unterschiedliche Kopien vor. Bei einer Befragung von 9000 Schwangeren und 170 niedergelassenen Frauenärzten beobachtete BRAND, dass bei jeder dritten Schwangeren zwischen 30 und 35 Jahren ein Triple-Test zur Anwendung kam. Mit diesem Bluttest fahnden Gynäkologen nach einem Down-Syndrom. In der Hälfte der Fälle wurden die Patientinnen nicht über den Zweck des Tests aufgeklärt.621 Auch bei einem positiven Triple-Test liegt die Wahrscheinlichkeit eines Down-Syndroms nach NEITZEL in der Regel unter 1%. Duftstoffe Starke Düfte werden von Schwangeren und von Säuglingen schlecht vertragen. Durch eine britische Studie an 14 000 werdenden Müttern wurde belegt, dass bei starker Anwendung von Haar-, Deo- oder Raumsprays öfters Kopfschmerzen und Depressionen nach der Geburt auftraten. Die Babys litten bei häufigem Kontakt mit diesen Duftstoffen vermehrt unter Durchfällen.622 Ecstasy – Missbildungen bei Konsum Herzfehler und Missbildungen an den Gliedmaßen von Neugeborenen werden offensichtlich durch den Konsum von Ecstasy während der Schwangerschaft ausgelöst. Eine britische Studie berichtet über ein fünfmal häufigeres Auftreten der Herzfehler und ein 38mal höheres Risiko von Missbildungen durch den Ecstasy-Genuss. 623 136 Schwangere, die Ecstasy konsumierten, wurden beobachtet. 15,4% ihrer Neugeborenen hatten Fehlbildungen. Das normale Risiko beträgt 2 bis 3%.624 621 SZ, 73, 2000, V2 /11; Angela Brand ist Gesundheitswissenschaftlerin in Bielefeld; Heidemarie Neitzel ist Humangenetikerin an der Berliner Charité. 622 MM, 239, 1999, S. 3; die Studie wurde an der Universität Bristol durchgeführt. 623 SZ, 246, 1999, S. 16 624 MM, 257, 1999, S. 3 und „Ärztliche Praxis“ 316 Entlassungen an der Arbeitsstelle Schwangere Frauen dürfen 280 Tage vor dem errechneten Geburtstermin nicht mehr entlassen werden. Wurde die Kündigung durch den Arbeitgeber bereits ausgesprochen, weil die Schwangerschaft noch nicht bekannt war, ist die Kündigung unwirksam.625 Erlebniswelt des Kindes im Mutterleib – sie prägt die Entwicklung und das Schicksal des Kindes Bereits die Erlebniswelt vor der Geburt beeinflusst zusammen mit den Genen und den sie steuernden Proteinen das Leben und das Schicksal des Kindes. NATHIELSZ: „Sie können das schönste Genom der Welt haben – wenn die Einflüsse im Mutterleib negativ sind, kann ein ziemlich schlechtes Endprodukt dabei herauskommen.“626 Die Organe bleiben bei mangelhafter Ernährung zu klein. Weitere Folgen können auch Fehlbildungen wie Gesichtsspalten oder ein offener Rücken sein. Nikotin schädigt die Entwicklung des Gehirns, Alkohol die Entwicklung der Augen. DOWLING wies einen Zusammenhang zwischen einem Todesfall während der Schwangerschaft und einer später auftretenden Magersucht oder Depression bei den Kindern nach. Ernährung – Infektionsabwehr der Kinder Unzureichende Ernährung bei Schwangeren zeigt noch Jahrzehnte später Konsequenzen bei den Kindern. Sie zeigten eine geschwächte Infektionsabwehr und eine geringere Lebenserwartung.627 Dies ist das Ergebnis von Studien in Gambia, die seit 1949 durchgeführt wurden. Besonders abzuraten ist von dem Genuss von Fischkonserven während der Schwangerschaft. Das Gift TBT (Tributylzinn) greift bereits in geringsten Dosen in das Hormonsystem von Schwangeren, Ungeborenen und Kleinkindern ein. Dabei kann es zu schweren Entwicklungsstörungen des Wachstums, des Zentralen Nervensystems und 625 Urteil des Bundesarbeitsgerichtes Kassel (Az: 2 AZR417/97) GEO, 7 / 2001; NATHIELSZ ist Reproduktionsmediziner in New York; DOWLING arbeitet als Psychologe in Heidelberg. 627 Nature, 1997, Bd. 338, S. 434 in SZ 191, 1997, S. 32 626 317 damit des späteren Verhaltens und kommen. der Fortpflanzungsfähigkeit Hormon-Umstellungen Nicht nur schwangere Frauen, sondern auch deren Männer unterliegen während der Zeit der Schwangerschaft starken Hormonschwankungen. STOREY628 und Mitarbeiter stellten durch Blutuntersuchungen deutliche Hormonveränderungen bei den Männern fest. Die Menge der Hormone Prolactin und Cortisol ändere sich bei Frauen und Männern erheblich. Obwohl die Veränderungen bei den werdenden Müttern deutlicher sei, erfolge sie nach einem sehr ähnlichen Schema. Typische, den hormonellen Umstellungen entsprechende Schwangerschafts-Erscheinungen wie Appetit-Veränderungen und Müdigkeit wurden auch bei den Männern festgestellt. Hypothyreose der Schwangeren (leichte Schilddrüsenunterfunktion) und Intelligenzentwicklung des Kindes HADDOW und Mitarbeiter stellten bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft eine leichte, meist symptomfreie und nicht behandelte Hypothyreose hatten, einen im Durchschnitt um sieben Punkte geringeren IQ fest als bei Kindern gesunder Mütter.629 Bei neun von 48 betroffenen und untersuchten Kindern wurde viermal häufiger als in der Kontrollgruppe ein niedrigerer IQ als 85 festgestellt. Bei den 14 wegen ihrer Schilddrüsenunterfunktion behandelten Müttern konnten keine Intelligenzunterschiede im Vergleich zur Kontrollgruppe festgestellt werden. Immunsystem der Mutter Da der Embryo auch Erbgut des Vaters in sich trägt, wird er vom Immunsystem der Mutter als Fremdling betrachtet. Ein Molekül (das aus dem Eiweiß Crry besteht) verhindert nach Ansicht von Forschern, dass die sogenannten C-3-Proteine die als fremd erkannten Eiweiße des Embryos besetzen und zerstören. Möglicherweise spielt 628 629 in New Scientist und in SZ, 4, 2000, S. 12 New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 341 318 das Zusammenwirken von Crry und C3 auch bei Fehlgeburten eine Rolle.630 Intelligenz aus der Spritze Forscher arbeiten daran, den Intelligenzquotienten von Babys zukünftig durch gezielte Gen- Injektionen erhöhen zu können. Erste erfolgreiche Tierversuche wurden bereits mit Mäusen abgeschlossen. Das Protein NR2B ist offensichtlich entscheidend für die Gehirnfunktionen. Die Forscher injizierten ein Gen mit den Erbanlagen zur Bildung von NR2B in eine befruchtete Mäusezelle und implantierten den Embryo in die Gebärmutter einer Maus. Von der erfolgreichen Umsetzung der Ergebnisse auf den Menschen erwarten die Forscher auch die Entwicklung von Medikamenten gegen Alzheimer.631 Kaffeegenuss während der Schwangerschaft Der Koffein-Konsum (Kaffee, Tee, Cola) sollte auf einen Wert unter 300 Milligramm pro Tag beschränkt werden. Höhere Dosen können zu einem niedrigeren Geburtgewicht der Neugeborenen oder – vereinzelt – zu Fehlgeburten führen. Schwangere, die am Tag fünf und mehr Tassen Kaffee zu sich nehmen, verdoppeln ihr Risiko bezüglich einer plötzlichen Fehlgeburt, da die vermehrte KoffeinAufnahme offenbar eine Senkung des Östrogenspiegels bewirkt. Bei Vorhandensein der schwangerschaftstypischen Übelkeit erhöht sich das Risiko nochmals bei starkem Kaffeekonsum.632 Missbildungen durch Stress Eine dänische Studie633 (1980 bis 1992) belegt, dass starke emotionale Belastungen (Tod oder eine ernste Erkrankung des Partners oder 630 SZ, 19, 2000, V2/11 und Science, 2000, Bd. 287, S. 498 MM, 202, 1999, S. 1 und in „Nature“ 632 SZ, 279, 2001, V2/13; auch unter: www.foodstandards.gov.uk/committees/cot/caffeine.pfd und: New England Journal of Medicine, 2000, Bd. 343, S. 1839; auch eine Untersuchung des Karolinska-Instituts in Stockholm, 2000 631 319 eines bereits vorhandenen Kindes) während der Schwangerschaft häufiger zu Missbildungen bei den Babys führen als bei Müttern, die eine unbelastete Schwangerschaft erlebt hatten. Der Risikofaktor war um 1,5 erhöht. Die häufigsten Fehlbildungen bei den Babys der gestressten Mütter: 27% mit einer Lippen- oder Gaumenspalte oder einem angeborenen Herzfehler. Der Tod eines vorhandenen Kindes während der Schwangerschaft ist mit einem fünfmal größeren Risiko verbunden, ein Kind mit Missbildungen (Gesichts- oder Herzanomalien) zur Welt zu bringen. Pränataldiagnostik – Beratung und Entscheidungsfreiheit Männliche Genetiker drängen ihre Klientinnen doppelt so häufig zu einer Pränataldiagnostik wie ihre weiblichen Kolleginnen. Psychologische Studien bestätigen, dass Genetiker in Beratungsgesprächen nicht selten Ratschläge geben und mitunter sogar die Einwände ihrer Klienten ignorieren. HARTOG unterzog mehr als 30 Abschriften von Beratungsgesprächen einer detaillierten Analyse. In allen Fällen ließ sich erkennen, dass die Mediziner die Situation des Klienten bewerteten und für sich selbst Entscheidungen fällten.634 Eine britische Studie kommt zu der Erkenntnis, dass „XXY“-Männer (Klinefelter-Syndrom) in der überwiegenden Zahl der Fälle ihr Leben entgegen der verbreiteten Lehrmeinung ohne Probleme meistern. NIPPERT und Kollegen weisen in einer Studie trotzdem bei dieser Diagnose eine Abtreibungsrate von 70% nach, wenn die Schwangeren von Ärzten ohne genetische Zusatzausbildung beraten wurden. Wurden die Schwangeren von Humangenetikern beraten, wurde noch in 30% der Fälle abgetrieben. 633 Lancet, Bd. 356, 2000, S. 875 SZ, 73, 2000, V2 /11; Jennifer HARTOG ist Sprachwissenschaftlerin an der Universität Hamburg; Irmgard NIPPERT ist Medizinsoziologin an der Universität Münster. 634 320 Schwangerschaft – Ernährung – Fisch Da Quecksilber im Fischgewebe teilweise als Methylquecksilber vorliegt, sollten Schwangere folgende Fischsorten meiden, die besonders damit belastet sind: Hai, Bonito, Thunfisch, Schwertfisch, Barsch, Stör, Aal, Heilbutt, Hecht, Rochen und Seeteufel.635 Vitamingaben (C/E) und Auftreten von Prä-Eklampsien636 Prä-Eklampsien sind die häufigste Form der Schwangerschaftskomplikationen. Durch Wassereinlagerungen im Gewebe der Mutter während des letzten Drittels der Schwangerschaft tritt eine starke Gewichtszunahme auf. Dadurch arbeiten die Nieren ineffektiver, oft verbunden mit einem Ansteigen des Blutdrucks. Die Ursachen sind bis heute unklar, eine Therapie gibt es nicht. Eine Theorie besagt, dass durch den Mutterkuchen entzündungsauslösende Substanzen freigesetzt werden, die ihren Angriffspunkt an den Gefäßwänden finden. Dadurch wird die Blutversorgung vermindert. Dies wiederum führt zu Frühgeburten. So wird jede zweite Frühgeburt auf eine Prä-Eklampsie zurückgeführt. Betroffen ist etwa eine von 10 bis 20 Müttern. Bei einer britischen Studie wurden durch Ultraschalluntersuchungen der Gebärmutter von 1500 schwangeren Frauen 283 herausgefiltert, die für das Auftreten einer Prä-Eklampsie prädestiniert schienen. Vom fünften Monat an wurde 142 der Frauen ein Placebo verabreicht. 141 erhielten eine Kombination aus täglich einem Gramm Vitamin C und ca. 400 mg Vitamin E. Beiden Vitaminen wird eine antioxidative, sich gegenseitig ergänzende Wirkung zugeschrieben. Vitamintherapie Frauen ohne Frauen mit 635 Entwicklung einer Prä-Eklampsie 17 von 100 8 von 100 Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin in SZ, 117, 1999, V2 /7 636 Lancet, 1999, Bd. 354, S. 810 321 Die Babys der Frauen, die eine Prä-Eklampsie entwickelt hatten, kamen im Durchschnitt etwa zwei bis drei Wochen früher zur Welt und waren ca. 600 g leichter. Kritische Stimmen weisen auf mögliche Schädigungen des Säuglings bei zu hoher Dosierung von Vitamingaben während der Schwangerschaft hin. Vorhersage von Frühgeburten Eine Erhöhung der Konzentration des CHR (CorticotropinReleasing-Hormon) zwischen der 16. und der 20. Schwangerschaftswoche deutet ein erhöhtes Risiko auf eine Frühgeburt an.637 Auch Infektionen und Magnesiummangel führen zu Frühgeburten. Frühgeburten durch Bakterien-Infektion Ca. 6% der Kinder werden zu früh geboren. Bakterielle Scheidenerkrankungen der Mütter sind nach neueren Erkenntnissen häufige Auslöser. SAILING empfiehlt Schwangeren, bis zur 34. Schwangerschaftswoche wöchentlich zweimal selbst den Säuregehalt der Scheide zu testen. Die Behandlung von Frühchen verursache Kosten in Milliardenhöhe.638 HOYME weist auf eine Studie mit 2300 Frauen hin, bei denen durch die regelmäßige pH-Kontrolle das Risiko einer Frühgeburt um das Elffache gesunken sei. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Baby an der Infektion der Mutter leidet, steigt, je früher ein Baby geboren wird. Aufsteigende Infektionen können neben der Unreife der Lungen auch zu Hirnblutungen und Hirnschäden führen. Beim Geschlechtsverkehr in der Schwangerschaft sollte unbedingt ein Kondom verwendet werden. Frühgeburten – Allergien SILTANEN zeigte in einer Studie mit 137 inzwischen zehnjährigen Kindern, dass ehemalige Frühchen seltener (Allergierate: 15%) unter Allergien leiden als termingerecht Geborene (Allergierate: 31%). 637 SMITH, Spektrum der Wissenschaft, 1999, Bd. 6, 47 in SZ 128, 1999, V2 /13 638 MM, 136, 2000, S. 3; SAILING ist Professor am Institut für Perinatalmedizin in Berlin. HOYME ist Professor für Frauenheilkunde in Erfurt 322 Der IgE-Spiegel (er ist ein Indikator dafür, wie heftig ein Körper auf Allergene reagiert) lag bei den Frühchen wesentlich niedriger als bei der Vergleichsgruppe. Gehör – Entwicklung des Innenohrs – Musikempfindung Schon sehr früh, am 20./21. Tag der Schwangerschaft, wird im Mutterleib das Innenohr angelegt. Das Hören entwickelt sich von der zehnten Woche an. Von Zigeunervätern ist bekannt, dass sie ihren Kopf auf den Bauch der Schwangeren legen und dabei Lieder singen. Nach JOURDAIN 639 ist es nicht gleichgültig, welche Musik gehört wird. Es liegt nahe, dass Versuchspersonen, die häufig Musik von Mozart gehört haben, bei bestimmten Denkaufgaben besser abschneiden als Personen, die keine oder „nur anspruchslose“ Unterhaltungsmusik gehört hatten. Verhinderung von Frühgeburten durch Nitroglycerin-Pflaster Bei einer drohenden Fehlgeburt wirken Nitroglycerin-Pflaster mindestens ebenso gut wie Infusionen mit dem Wehenhemmer Fenoterol. Neben dem günstigeren Preis sind sie zudem leichter anzuwenden. SCHLEUSSNER640 behandelte in der weltweit zweiten Studie dieser Art 27 Frauen, die wegen vorzeitiger Muttermund-Eröffnung und regelmäßigen Wehen im Abstand von fünf Minuten im sechsten Schwangerschaftsmonat stationär aufgenommen wurden, mit dem Pflaster. 21 Frauen bekamen die Infusion. Während das Pflaster bei 21 Frauen eine Frühgeburt verhinderte, waren bei der Infusion nur sieben verhinderte Frühgeburten zu verzeichnen. Die Babys aus der Nitro-Gruppe waren durchschnittlich ein Pfund schwerer, weil sie 270 statt 252 Tage im Mutterleib verblieben. Hauptnebenwirkungen bei dieser Gruppe waren Kopfschmerzen (sie sind typisch für Nitro-Pflaster und entstehen durch die intensive Durchblutung der Hirngefäße) bei den Müttern, die durch andere 639 JOURDAIN: Das wohltemperierte Gehirn – wie Musik im Gehirn entsteht und wirkt 640 MM, 143, 2000, J 4; SCHLEUSSNER arbeitet an der Universitätsfrauenklinik in Jena. 323 Medikamente, die in der Schwangerschaft unbedenklich eingenommen werden können, gelindert wurden. Passivrauchen Eine britische Studie weist darauf hin, dass Schwangere auf Passivrauchen verzichten sollten.641 Bei 85 Frauen, die zwischen der siebten und der 17. Schwangerschaftswoche abgetrieben hatten, wurden die giftigen Inhaltsstoffe des Tabaks im Fruchtwasser aufgespürt. Sie wurden nicht nur über den mütterlichen Blutkreislauf aufgenommen. Auch im Urin und im Blut der Frauen sowie im Blut der Föten und im Fruchtwasser wurde beinahe halb soviel an Cotinin, einem Spaltprodukt von Nikotin, wie bei aktiven Raucherinnen entdeckt. Rauchen in der Schwangerschaft Mehr als 12% aller werdenden Mütter rauchen in der Schwangerschaft. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Kinder werde dadurch über lange Zeit hinweg beeinträchtigt. In einer Mitteilung des Ärzteverbandes heißt es: „Sie liegen selbst noch im Alter von 16 Jahren beim Sprechen, Rechnen und Lesen hinter ihren Altersgenossen zurück.“642 Aggressives Verhalten und Starrköpfigkeit seien weitere häufig auffallende Merkmale. Eine erhöhte Anfälligkeit für Allergien, Asthma und Neurodermitis käme noch hinzu. Die ca. 3800 Abbauprodukte einer Zigarette – auch Schwermetalle und krebserregende Stoffe – gelangen aus dem Blut der Mutter ungefiltert zum Baby. Folgen für die Kinder rauchender Mütter nach KRIES:643 Rauchende Mütter prägen das Leben ihres Kindes entscheidend: Überproportional häufig Übergewicht im Alter von sechs Jahren Der Tabakgenuss werdender Mütter führt offenbar zu Veränderungen bei den Botenstoffen des Gehirns. Die Kinder können später ihren Appetit offenbar nicht mehr richtig kontrollieren. 641 Obstetrics and Gynecology, 1999, Bd. 93, 25 in SZ 44, 1999, V2 /11 642 Mitteilung des Ärzteverbandes, 1999 in MM, 75, 1999, S. 3 643 SZ, 122, 2001, S. 49; KRIES/ KOLETZKO sind Professoren für Sozialpädiatrie an der Universität München. 324 Häufiger Asthma oder schmerzhafte Mittelohrergüsse Risiko für Früh- und Fehlgeburten Geringeres Geburtsgewicht der Säuglinge Wissenschaftler aus Magdeburg ergänzen nach KOLETZKO: Erhöhtes Risiko für den plötzlichen Kindstod „In Deutschland sterben 300 Kinder im ersten Lebensjahr an den vermeidbaren Folgen des Rauchens in der Schwangerschaft.“ 40% aller Frauen im gebärfähigen Alter sind Raucherinnen. Mehr als 60% der Kinder unter sechs Jahren wachsen in Raucherfamilien auf. Dennoch greifen Jugendliche immer früher und immer häufiger zur Zigarette. Die Prognose ist nach einer englischen Hochrechnung schlecht: Einer von 1000 heute 20 Jahre alten Rauchern wird an Gewalteinwirkung sterben. Sechs von ihnen werden durch Unfälle ums Leben kommen. 500 dagegen werden durch die Folgen des Rauchens sterben. Schwangerschaftstests Eine Schwangerschaft lässt sich bei jeder zehnten Frau noch nicht am ersten Tag nach dem Ausbleiben der Regelblutung nachweisen. Die Urinproben von 136 Frauen mit Kinderwunsch wurden eingefroren und später auf das Vorhandensein des Schwangerschaftshormons hCG untersucht. Nur bei 90% der Schwangeren wurde das Hormon bereits am ersten Tag nach dem Ausbleiben der Periode nachgewiesen. Eine Woche später waren es 97%. Der Grund für diese Tatsache wird in der individuell unterschiedlichen Zeitspanne (zwischen sechs und zwölf Tage) zwischen Eisprung und dem Einnisten der befruchteten Eizelle im Uterus vermutet. Die im Handel befindlichen und nicht so sensibel reagierenden hCGTests liefern noch unsichere Ergebnisse. Sie zeigen eine Schwangerschaft oft erst drei bis vier Tage nach der Einnistung der Eizelle an. Ist das Testergebnis fälschlicherweise negativ, so kann der Embryo im Falle einer Medikamenteneinnahme oder bei der Exposition von Giftstoffen am Arbeitsplatz geschädigt werden.644 644 SZ, 238, 2001, V2/9 und JAMA, Bd. 286, 2001, S. 1759 325 Auch unkontrollierter Alkoholkonsum oder Drogen könnten bereits hier großen Schaden anrichten. (Anm. d. Verf.) Sorgen in der Schwangerschaft – Einfluss auf das Ungeborene Der Gesundheitszustand des Babys kann dadurch negativ beeinflusst werden, dass Schwangere sich während ihrer Schwangerschaft zu viele Sorgen machen.645 Per Ultraschall wurden bei 100 Schwangeren die Arterien, die den Mutterkuchen mit Nährstoffen versorgen, untersucht. Außerdem wurden die Probandinnen nach ihren Ängsten befragt. Bei den Frauen, die sich am meisten Sorgen machten, war das Risiko für eine verminderte Blutversorgung um das Siebenfache erhöht. Diese Bobachtung wird mit der vermehrten Produktion von Noradrenalin erklärt, einem Hormon, das die Arterien im Mutterleib verengt. Stress und psychische Belastungen bei Schwangeren: Mögliche Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung des Ungeborenen HÜTHER: Viele Befunde zeigen inzwischen, dass die psychische Entwicklung lange vor der Geburt beginnt.“646 Nach bestehender Lehrmeinung können einschneidende Belastungen während der Schwangerschaft bleibende Spuren im Gehirn des Ungeborenen hinterlassen. NATHANIELSZ: „Die Lebenszeit im Mutterleib ist der Ursprung von Gesundheit und Krankheit.“ WELBERG/SECKL weisen darauf hin, dass pränataler Stress die Stressregulation des Körpers dauerhaft beeinträchtigen kann. Der Stoffwechsel verschiedener Gehirnbotenstoffe kann in Unordnung geraten; dabei können auch Verbindungen zwischen Nervenzellen verloren gehen. Ermüdende Arbeitsbedingungen oder einschneiden645 British Medical Journal, 1999, Bd. 318 in MM, 42, 1999, J 4 SZ, 110. 2002, V2 /14; HÜTHER ist ein Neuropsychiater aus Göttingen. NATHANIELSZ ist ein Physiologe aus den USA. WELBERG/SECKL arbeiten an der Universität in Edinburgh; auch in: Journal of Neuroendocrinology, 2001, Bd. 13, S. 113 646 326 de Lebensereignisse während der Schwangerschaft können dazu führen, dass Kinder zu klein oder zu früh geboren werden. HUIZINK geht nach ihren Studien davon aus, dass Schwangerschafts-Stress die motorische und geistige Entwicklung der Kinder verzögert.647 Auch Gynäkologen können dazu beitragen, Stress bei Frauen zu vermeiden, indem sie ihnen versichern, dass die allermeisten Schwangerschaften ohne jegliche Komplikationen verlaufen. Die Angst vor der Geburt und die Angst vor einem behinderten Baby wirken sich nach ihren Erkenntnissen nachteilig auf die spätere Entwicklung des Kindes aus. HÜTHER vertritt die Ansicht, dass die Hormon-Hypothese allein nicht ausreicht, um die Stresseffekte zu erklären. „Wahrscheinlich nimmt ein Fötus schon vieles über seine sich entwickelnden Sinnesorgane wahr.“ Das Ungeborene kann bereits emotional auf einfachem Niveau reagieren und legt damit sein psychisches Erbe an. Spätere Bindungsstörungen zwischen Mutter und Kind könnten auf Stress-belastete Schwangerschaften zurückzuführen sein. WADHWA konnte nachweisen, dass sich der Stress der werdenden Mutter minimiert, wenn sie von der Familie und ihren Bekannten Unterstützung erhält.648 Trinkerinnen Eine Studie im Zeitraum von 1974 bis 1999 an 27 Frauen und 25 Männern, deren Mütter alkoholkrank waren, ergab, dass die Kinder in 40% der Fälle kleinwüchsig und untergewichtig bei der Geburt waren und später Lernstörungen und Intelligenzdefizite zeigten. Keines der Kinder machte Abitur, 56% besuchten eine Sonderschule. 649 647 Anja HUIZINK forscht an der Universität in Amsterdam; auch unter: www.library.uu.nl./digiarchief/dip/diss/1933819/inhoud.htm 648 WADHWA ist Arzt und Verhaltensforscher. Siehe auch: Progress in Brain Research, 2001, Bd. 133, S. 131 649 in: Ärztliche Praxis, Gräfelfing, in MM, 106, 1999, S. 3 327 Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft – eine Lärmquelle für Ungeborene650 Der Fötus kann dabei Lärm empfinden, der mit dem eines einfahrenden U-Bahn Zuges vergleichbar ist, obwohl die benutzten Frequenzen nicht im Bereich der menschlichen Hörfähigkeit liegen. Heute wird vermutet, dass durch das Pulsieren der Schallwellen Vibrationen in der Gebärmutter ausgelöst werden. Über Mikrofone wurden Geräusche bis zu 100 Dezibel registriert. Über den Schädel können diese Schwingungen auf den Gehörgang des Ungeborenen übertragen werden. Dabei entsteht ein lautes Klopfen. Auf Untersuchungen des Kopfbereiches reagieren Feten mit heftigem Strampeln und einer erhöhten Herzfrequenz. Ultraschallgeräte sollten auf keinen Fall auf das Hörorgan des Ungeborenen gerichtet werden. Ungewollte Schwangerschaft Ca. 1800 Mädchen in Deutschland im Alter zwischen 13 und 18 Jahren werden jährlich ungewollt schwanger.651 Zuckerkrankheit in der Schwangerschaft (Gestationsdiabetes) Die Auswertung einer Studie (Schwangerenscreening in SchleswigHolstein) aus dem Jahr 1998 zeigt, dass 13,3% von 1950 untersuchten Frauen zuckerkrank waren. Bisherige Schätzungen gingen von 0,5% aus. Wird diese Erkrankung nicht behandelt, können sich bei dem Kind eine Lungen- oder Herzschwäche entwickeln. Zudem erhöht sich das Risiko für einen späteren Diabetes. Im schlimmsten Fall können Neugeborene sterben und die Mutter an Dauer-Diabetes erkranken.652 Faktoren, die eine Zwillingsgeburt/Drillingsgeburt begünstigen Jahr: 1980 1999 650 ca. 8 000 Zwillingsgeburten ca. 12 000 SZ, 291, 2001, V2 /9 CHRISTINE WOLFRUM, 1999, Ich und ein Baby? Gefühle, Gedanken, Erfahrungen 652 MM, 234, 1999, J 4 651 328 Die Drillingsgeburten verfünffachten sich im gleichen Zeitraum von 94 auf 486. Ursachen für die starke Zunahme von Mehrlingsgeburten nach WÜRFEL653: Behandlungen von Unfruchtbarkeit Normalerweise ist bei 87 Geburten mit einer Zwillingsgeburt zu rechnen. Nach einer Unfruchtbarkeitsbehandlung ist die Möglichkeit sechsmal höher. Bei einer künstlichen Befruchtung entscheiden sich viele Frauen dafür, zwei oder drei Embryonen in die Gebärmutter einpflanzen zu lassen, da durch dieses Verfahren die Chance auf eine Schwangerschaft erhöht wird. Auch die Möglichkeit einer Drillingsschwangerschaft erhöht sich somit. Für Mutter und Kinder bringt das eine Zunahme der Risikofaktoren mit sich. Hormonbehandlungen wegen ungewollter Kinderlosigkeit Die Eierstöcke zeigen in vielen Fällen anfangs keine Reaktion, im weiteren Verlauf werden dann jedoch viele Eizellen freigesetzt. Vierlinge, Fünflinge und noch mehr Kinder können die Folge sein. Einnahme von Vitamin-B (Folsäure) Das Risiko einer Zwillingsgeburt verdoppelt sich dabei nach schwedischen Forschungsergebnissen.654 Die Einnahme wird in den ersten Wochen der Schwangerschaft zur Verhütung eines Neuralrohrdefektes (Missbildung von Wirbelsäule und Rückenmark; in der Folge können eine Querschnittslähmung oder ein Wasserkopf entstehen) empfohlen. Das Wachstum des Embryos ist nach HASBARGEN „von einem Enzym abhängig, das eine Schlüsselrolle im Folsäurestoffwechsel spielt“. Jeder zweite Mensch in Deutschland lebt jedoch mit einer schlechter arbeitenden Variante dieses Enzyms. Wird aus der Nahrung nicht genügend Folsäure aufgenommen oder arbeitet das Enzym mit verminderter 653 SZ, 186, 2001, V2 /8; WÜRFEL ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin. 654 Twin Research, 2001, Bd. 4, S. 63 329 Leistung, ist die Möglichkeit einer Fehlgeburt erhöht. Gleichzeitig bekommen diese Frauen nur selten Zwillinge.655 HASBARGEN: „Mit dieser Bremse schützt sich die Natur, denn am sichersten für die menschliche Fortpflanzung ist die Einlingsschwangerschaft.“ Durch die Einnahme von Folsäure verliert dieser natürliche Schutzmechanismus an Wirkung. Mehrlingsgeburten sind die Folge. Statistisch gesehen kommen auf jedes Kind, das so vor einem Schaden bewahrt wird, 50 Zwillingspaare. Die schwedischen Forscher vermuten ein Überwiegen der Nachteile bei der Einnahme von Folsäure, da Mehrlingsschwangerschaften oftmals von Komplikationen begleitet sind. Es treten häufiger Frühgeburten ein oder die Kinder müssen durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. Neuere Erkenntnisse zur Geburt Alter der Mütter In der BRD werden jährlich etwa 10 000 minderjährige Mädchen schwanger. Als bestes Verhütungsmittel werden Aufklärung und Vorbeugung vor sexuellen Übergriffen empfohlen. Viele Eltern verlassen sich dabei auf die Schule, weil sie es als schwierig finden, die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder zu begleiten.656 Frühgeburt durch mangelnde Zahnpflege Frauen mit Zahn- oder Zahnfleischproblemen haben ein bis zu siebenmal größeres Risiko von Frühgeburten. Das Risiko für Frauen, bei denen mehr als jeder dritte Zahn an Karies oder sonstigen Problemen leidet, ist noch höher.657 655 Human Reproduction, 2000, Bd.15, S. 2659; HASBARGEN arbeitet an der Frauenklinik der Universität München. 656 Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, Köln, 1999, in MM, 108, 1999, S. 3 657 SZ, 107, 2000, S. 16; Studie der zahnmedizinischen Fakultät der US-Universität Birmingham 330 Komplizierte Geburt – Diagnose von Hirnschäden Der Urin des Säuglings zeigt in den ersten Stunden nach der Geburt durch das Verhältnis der Stoffwechselprodukte Laktat und Kreatinin mögliche Hinweise auf spätere Hirnschäden. Das 88mal größere Verhältnis von Laktat zu Kreatinin ist ein Warnhinweis.658 Geburtsort FEIGE vertritt die Meinung, dass viele Kinder „zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren werden“.659 Aufgrund der fehlenden Beratung bei der Wahl der geeigneten Klinik gebe es in Deutschland mehr kranke Neugeborene als in anderen Industrieländern. Betroffen seien vor allem Schwangere mit Risikofaktoren wie Diabetes, Hochdruck, Mehrlingsschwangerschaften oder Beckenendlage. Geburtsdatum und Schizophrenierisiko Schwedische Forscher untersuchten den Verlauf von Schwangerschaft und Geburt von ca. 170 Schizophrenen und 850 gesunden Kontrollpersonen.660 In erster Linie wurden Kranke untersucht, deren Krankheit vor dem 21. Lebensjahr ausgebrochen war. 24 Faktoren wurden bei der Untersuchung berücksichtigt, z. B. das Alter der Mutter oder auch die Anzahl der Kaiserschnitte. Drei Faktoren zeigten sich bei der schizophrenen Gruppe gehäuft: 658 Die Mütter hatten mehr als drei Entbindungen hinter sich. Während der Schwangerschaft waren häufiger Blutungen aufgetreten. Das Geburtsgewicht der betroffenen Kinder war leichter. New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 341, S. 364 auch in SZ, 200, 1999, V2/10 659 auf dem 7. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin in Nürnberg, 1999 in MM, 108, 1999, S. 3 660 British Medical Journal, 1999, Bd. 318, S. 421, in SZ, 50, 1999, V2 /17 331 Dänische Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen Ort und Datum der Geburt und dem Auftreten von Schizophrenie.661 Untersucht wurden in Kopenhagen geborene Kinder. Sie litten zweibis dreimal häufiger an der Krankheit als Altersgenossen, die auf dem Land zur Welt kamen. Nach Ansicht der Forscher wurden ältere Studien bestätigt, wonach eine Geburt in den Monaten Februar und März ein erhöhtes Risiko bedeutet. Tieferliegende Faktoren seien jedoch auch biologische Einflüsse wie Infektionen in der Schwangerschaft, welche sich subtil auf die Entwicklung des Gehirns auswirken. YOLKEN weist darauf hin, dass Kinder, die unmittelbar nach der Geburt Mumps oder auch nur Schnupfen bekommen, ein siebenmal höheres Risiko haben, zwei bis drei Jahrzehnte später an Schizophrenie zu erkranken.662 Die Erkenntnisse wurden aufgrund der Untersuchung der Krankheitsgeschichten von mehreren tausend Kindern in Italien und den USA, die bis heute verfolgt wurden, gewonnen. Bei der Untersuchung der Gehirne schizophrener Patienten, die in einer „Gehirnbank“ gesammelt sind, wurden Bestandteile von Virus-Erbgut gefunden. POLLMÄCHER erklärt dazu: „Möglicherweise schädigt eine frühe Virusinfektion das Gehirn minimal in den Bereichen, die an Wahrnehmung oder Denken beteiligt sind.“663 Die Entwicklung des Gehirns könnte dadurch geschädigt werden. Erst bei einem späteren Entwicklungsschub des Gehirns könnte sich dieser Schaden bemerkbar machen. Andere Experten sind der Meinung, dass auch spätere Infektionen Schizophrenie auslösen könnten. Sich störend auswirkende Antworten des Immunsystems auf das Nervensystem werden als Ursache ebenso in Betracht gezogen. Molekularbiologen weisen dagegen auf die Bedeutung einiger Gene des menschlichen Erbgutes hin, deren Aufgabe jedoch noch nicht entschlüsselt ist; diese kommen gehäuft in den Familien vor, die von Schizophrenie betroffen seien. Eine Geburt zur Winterzeit bedeutet laut Statistik ebenfalls ein erhöhtes Risiko. 661 New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 603, in SZ, 50, 1999, V2 /17 662 Symposium am Max-Planck-Institut in München, 1997, SZ, 267, 1997, II 663 in SZ, 267, 1997, II 332 Der Verfasser möchte bezüglich der Virustheorie an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich auf die mögliche Einschleusung von Viren in den kindlichen Organismus durch Impfstoffe hinweisen. Geburtsfehler durch Gynäkologen und Geburtshelfer Eine Untersuchung664 der Anträge auf Pflegeleistungen für behinderte Kinder kam zu folgendem Ergebnis: In 60 von 500 Fällen besteht der „ernsthafte Verdacht“, dass Ärzte oder Geburtshelfer versagt haben. Schwere gesundheitliche Schäden bei den Neugeborenen seien die Folgen der ärztlichen Behandlungsfehler. BERG äußert den Verdacht, bleibende Behinderungen eines Kindes, z. B. Taubheit, Blindheit oder Lähmungen, seien zu 10% um die Zeit der Geburt herum entstanden. Nur ein sehr geringer Prozentsatz von diesen 10% sei auf ärztlich zu verantwortende Fehler zurückzuführen. Er verweist auf eine Studie, die 180 000 Geburten berücksichtigt. Hierbei wurde ein Schaden während der Geburt bei 15 000 Kindern registriert. Ärztliche Fehler sind nach Ansicht von BERG nur in seltenen Fällen auf einzelne Fehlverhalten zurückzuführen. In der Mehrzahl der Fälle (60%) sei die fehlende Organisationsstruktur im Gesundheitsbereich für die Schäden mit ausschlaggebend. Geburtsgewicht – Häufigkeit zukünftiger Krankheiten und Lebenserwartung BARKER weist in seinen Studien darauf hin, dass die neun Schwangerschaftsmonate offenbar einen prägenden Einfluss auf die zukünftige Gesundheitssituation des Menschen haben.665 Durch 50 internationale Studien in den vergangenen Jahren (Schweden, USA und England) wurden seine Thesen bestätigt. 664 SZ, 4, 1998, S. 10; die Untersuchung wurde von der DAK durchgeführt und auch im Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlicht; BERG ist Professor und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. 665 British Medical Journal, 1999, Bd. 318, 427, in SZ, 50, 1999, V2 /17 333 Ein niedriges Geburtsgewicht zeigte sich nicht als Nachteil, wenn die Ursache eine zu frühe Geburt war. Nach seiner Ansicht spiegeln die Geburtsmaße die Versorgung des Neugeborenen im Körper der Mutter wider. Ein ungünstiges Verhältnis von Gewicht und Größe ist als Indiz zu deuten, dass das Ungeborene im Mutterleib nicht optimal mit Nährstoffen versorgt wurde. Das Wachstum des Kindes im Mutterleib wird sowohl durch die Ernährung als auch durch das Rauchen stark beeinflusst. Folsäuremangel in der Nahrung ist eine mögliche Ursache für das Entstehen eines offenen Rückens (Spina bifida) oder eines Wasserkopfes (Hydrozephalus). Frühgeborene Kinder mit starkem Untergewicht sind in ihrer späteren Entwicklung mehrfach gefährdet. Sie tragen im Vergleich zu den reifen Kindern ein erhöhtes Risiko für leichte oder schwere Behinderungen und Leistungsdefizite in der Schule. KRÄGELOH-MANN666 belegt durch eine Studie dass 20 bis 30% der Frühgeborenen später unter Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Weitere 2 bis 10% haben durch einen Hirnschaden spastische Lähmungen, Bewegungs- oder Sehstörungen und etwa 8% sind geistig behindert. Tod im Kindbett667 Weltweit: 1000 Frauen täglich; ca. 500 000 jährlich Indien: eine von 34 Frauen Nordeuropa: eine von 10 000 Vitamin K-Gaben – Neugeborene als Patienten Neugeborene werden in den meisten Fällen routinemäßig mit Vitamin K behandelt, um innere Blutungen zu verhindern, die bei sieben von 100 000 Neugeborenen auftreten sollen. Das Vitamin wird dabei intramuskulär bzw. subkutan gespritzt oder aber tröpfchenweise verabreicht. Bei den Injektionen wird der neugeborene Organismus zugleich mit dem in den Ampullen enthaltenen Arzneihilfsstoff Cremophor EL konfrontiert. Zusätzlich kann durch die Injektion bei einem gefährdeten Säugling eine damit verbundene Blutung ausge666 MM, 210, 1999, S. 3; KRÄGELOH-MANN auf dem Kinderärztekongress in München 667 MM, etwa im Mai 1994 334 löst werden. Diese Vorsorge ist jedoch sehr umstritten, da nicht bekannt ist, ob durch diese Vitamingaben Allergien oder andere Langzeitfolgen auftreten können. Bei Erwachsenen steht das Auftreten von Allergien mit dem Arzneihilfsstoff in engem Zusammenhang und ist seit langem bekannt. Allergien wurden nach der Aussage von Experten deshalb bei Neugeborenen nicht beobachtet, da vor dem Auftreten eine Sensibilisierung stattfindet. Erst der nächste Kontakt mit dem Allergen führt zum Ausbruch der Allergie. Die Ärzte versprechen sich durch diese Vitaminstöße zusätzliche Zeit, um etwa versteckte Erkrankungen diagnostizieren zu können. Es ist unbestritten, dass Tausende von Neugeborenen behandelt werden müssen, um einen Säugling zweifelhaft zu schützen. In ca. 80% der deutschen Krankenhäuser ist dieses Vorgehen üblich, obwohl ein niedriger Vitamin-K-Spiegel bei Neugeborenen aus biologischer Sichtweise normal ist. So wurde zumindest statistisch ein Zusammenhang zwischen Vitamin-K-Gaben und Krebs errechnet.668 GRAF warnt vor Vitamin-K-Gaben mit der Begründung, dass sie bis zu 1000fach überdosiert sind.669 Zeitabstand zwischen zwei Schwangerschaften Frühgeburten werden oftmals durch einen zu geringen oder einen zu großen Zeitabstand zwischen den Schwangerschaften begünstigt. Ein Zeitraum von 18 bis 23 Monaten zwischen Niederkunft und erneuter Schwangerschaft wurde durch eine Studie670 als günstig bestätigt. Gleichzeitig wird jedoch aber vor einem dilettantisch eingehaltenen „Schwangerschaftsfahrplan“ abgeraten. Zerebralparesen Spastische Bewegungsstörungen zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen im Kindesalter. Bisher war in erster Linie Krankengymnastik das erste Mittel der Wahl. 668 KRIES, Experte für Vitamin-K-Prophylaxe der Kinderklinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität 669 GRAF, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und Kindern, S. 34 670 New England Journal of Medicine, 1999, Bd. 340, S. 589 335 Die ständigen, verkrampften Bewegungen werden meist mit einer Schädigung des Gehirns vor, während oder kurz nach der Geburt in Verbindung gebracht. Ein gemeinsames Auftreten mit einer geistigen Behinderung oder mit epileptischen Anfällen ist häufig zu beobachten. HEINEN berichtet von guten Erfahrungen mit Botulinum-Toxin A. (Dies ist ein Giftprodukt von Bakterien, das z. B. in unsauber verarbeiteten Fleischkonserven erzeugt wird.) Bei der Behandlung von 120 Kindern in Freiburg671 hat sich das motorische Lernen deutlich verbessert. Die Komplikationen (bei einer spastischen Bewegungsstörung treten häufige, schmerzhafte Verrenkungen der Hüfte auf; durch eine Verkürzung der Beinsehnen zeigen die Fußspitzen dauerhaft nach unten) waren seltener, die Schmerzen geringer. HEINEN zur medikamentösen Wirkung dieses Giftes: „Die Erkrankung lindern, begleitend verbessern: Das ist vorläufig alles.“ Eine Injektion, in einer Dosierung, die erst in 15-fach erhöhter Konzentration schädliche Auswirkungen zeigen würde, schafft Erleichterung für drei bis sechs Monate. Der Alltag und das motorische Lernen werden wesentlich erleichtert. Neuere Erkenntnisse zur Stillphase Gewicht abnehmen durch eine Diät – Auswirkungen auf die Babys Vier Wochen nach der Geburt eines Kindes wurden 40 übergewichtige Frauen die ihr Körpergewicht gezielt reduzieren wollten, in zwei Gruppen eingeteilt. Gruppe1 Auswirkungen auf die Babys Regelmäßige sportliche Betätigung Täglich 500 Kalorien weniger als Die Babys beider Gruppen nahmen 671 in SZ, 218, 1999, V2 /13; HEINEN ist Arzt an der Freiburger Universitäts-Kinderklinik. 336 zuvor Gruppe 2 Einmal pro Woche Sport Unveränderte Essgewohnheiten im gleichen Ausmaß zu und wuchsen auch gleich schnell. Die Mütter der ersten Gruppe konnten ihr Gewicht im Vergleich zur zweiten Gruppe deutlich reduzieren, ohne dass dadurch die Kinder gefährdet wurden. Eine Reduzierung des Gewichtes um mehr als 500 g pro Woche ist jedoch nicht ratsam. Arzneimittel Das kindliche Gehirn ist auch noch mehrere Jahre nach der Geburt hochgradig gefährdet, wenn stillende Mütter Alkohol zu sich nehmen oder Diazepam (Valium) und Schlafmittel (Barbiturate) konsumieren. Während der Schwangerschaft und in den ersten Jahren nach der Geburt entwickelt sich das Gehirn durch die ständige Verknüpfung von Nervenzellen. Der Konsum von Alkohol und die Einnahme von Medikamenten sind maßgeblich an der Entstehung von Verhaltensstörungen, Lernbehinderungen und geistigen Behinderungen bei Kindern beteiligt.672 Aufwachsen ohne Vater und Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen FRANZ kommt als Leiter einer Forschungsgruppe nach einer Langzeitstudie an 301 repräsentativ ausgewählten Menschen über einen Zeitraum von elf Jahren zu folgendem Ergebnis: Kinder lernen das Funktionieren von Beziehungen am Beispiel von Vater und Mutter. Destruktive Partnerschaften wirken sich destruktiv auf die Kinder aus. Sind Väter während der ersten sechs Lebensjahre länger abwesend, besteht ein höheres Risiko, an Angsterkrankungen, Selbst- und Beziehungsstörungen und Depressionen zu erkranken.673 672 673 SZ, 37, 2000, V2 /11 Focus, September 1999, und in SZ, 211, 1999, L 2 337 Babynahrung Amerikas größter Hersteller für Babynahrung, die Firma Gerber, versprach, künftig auf gentechnisch veränderte Zutaten in der Babynahrung zu verzichten. 674 Beißringe Die oftmals in den Beißringen und Schnullern enthaltenen Phtalate (Weichmacher für Kunststoffe) können schwere Leber- und Nierenschäden sowie Krebs auslösen. Ein Expertenausschuss der EUKomission hat einstimmig empfohlen, dass Beißringe, Schnuller und sonstiges Spielzeug aus diesem Grund keine Phtalate enthalten dürfe. 675 Eine Gefahr besteht nach Ansicht von Experten dann, wenn Kleinkinder täglich mehr als drei Stunden an den Plastikgegenständen lutschen.676 Phtalate besitzen nach Angaben von Fachleuten erbgutschädigende Eigenschaften. Auch Schädigungen des zentralen Nervensystems können auftreten, wenn diese Stoffe in zu großer Menge in den kindlichen Körper gelangen. Berufstätigkeit der Mütter – Entwicklung der Kinder HARVEY und Kollegen befragten 12 000 berufstätige Frauen beinahe 20 Jahre lang jährlich, um die erfragten Daten in Zusammenhang mit der Entwicklung der Kinder (Verhalten und geistige Entwicklung) auch über die ersten drei Lebensjahre hinaus zu bringen.677 Ergebnis der Studie: Die Erwerbstätigkeit der Mütter zeigte bezüglich der Folgsamkeit der Sprösslinge in den ersten drei Jahren, dass sie weniger folgsam waren als die von den „Vollzeit-Müttern“ betreuten Kinder. Ein Zusammenhang zwischen dem väterlichen Arbeitseifer und der Entwicklung der Kinder konnte nicht festgestellt werden. Kritikpunkt an dieser Studie: Die Qualität der Kinderbetreuung der berufstätigen Mütter wurde außer Acht gelassen. 674 SZ, 204, 1999, S. 2 SZ, 290, 1999, S. 14 676 SZ, 279, 1999, S. 16 677 Developmental Psychology, 1999, Bd. 35, Nr. 2; SZ, 68, 1999, V2 /13 675 338 In Deutschland sind etwa zwei Drittel der Mütter berufstätig.678 Im Vergleich zu 1991 erfolgte eine Steigerung um 3%. Im Osten liegt der Anteil mit 73,3% berufstätiger Mütter deutlich höher. Bindungsforschung – neuere Ergebnisse In den 60er Jahren wurde die Bindungsforschung durch den englischen Psychoanalytiker BOWLBY begründet. Gegenstand der Bindungsforschung sind die menschlichen Beziehungsmuster. Sie werden von der Geburt an bis ins Erwachsenenalter beobachtet und ausgewertet. Dem Kontakt der Einjährigen zu ihren Müttern gilt besonderes Interesse. Aus dem Verhalten der Kinder werden Rückschlüsse darüber gezogen, wie sicher sich das Kind in seiner Welt fühlt. Es gilt inzwischen als unbestritten, dass diese Sicherheit des Kindes nur durch eine feste und verlässliche Bindung zu seiner engsten Vertrauensperson gewonnen werden kann. In der Regel ist dies die Mutter. Nur zwei Drittel aller Kinder zeigen ein sicheres Bindungsverhalten. Bei allen anderen Kindern liegt eine mehr oder weniger ausgeprägte Bindungsstörung vor. BRISCH679 nennt folgende Gründe für das Entstehen einer Bindungsstörung – meist in den ersten zwei bis drei Lebensjahren: Um eine möglichst schnelle Selbstständigkeit der Kinder zu erreichen, fordern Mütter häufig von Anfang an Distanz. Soziale Probleme in der Familie Gesundheitliche Störungen der Mutter (Depressionen, Alkoholabhängigkeit) BEEBE/JAFFE konnten die fehlende Bindungsfähigkeit zwischen depressiven Müttern und deren Kindern durch Videoaufnahmen nachweisen. Es war zu beobachten, dass sich die Sprösslinge häufig von ihren Müttern abwendeten. Die Rolle des Vaters: 678 SZ, 109, 2000, S. 16 SZ, 163, 2000, V2 /9; BRISCH ist Leiter der Abteilung für Kinderpsychosomatik am Haunerschen Kinderspital in München; BEEBE/JAFFE sind Psychiater in New York. 679 339 Auch er spielt eine wichtige Rolle. Seiner Feinfühligkeit beim Spiel mit dem Kind wird eine wichtige Rolle zugeschrieben. Grundsätzlich ist es möglich, dass auch andere Menschen die Rollen von Mutter und Vater übernehmen. Voraussetzung ist das Vorhandensein des notwendigen Feingefühls für den engen Kontakt mit dem Kleinkind. Wird das Bindungsbedürfnis der Kinder nicht erwidert, geben sich die Kleinen äußerlich ruhig oder es entwickeln sich die kleinen „Coolen“, die besonders pflegeleichten Kinder. In Trennungssituationen schütten diese Kinder extrem hohe Mengen an Stresshormonen aus. Wird den Kleinkindern nicht der notwendige stützende Halt durch feste Bezugspersonen gegeben, so können sich verstärkt aggressive Charaktere oder extreme Draufgänger entwickeln. Besonders gefährdet sind auch die Frühgeborenen, da die Eltern hier oft nicht in der Lage sind, die nötige Sicherheit zu bieten. Chemikalien – Belastung der Babys Der aktuelle Wissensstand lässt vermuten, dass Umweltchemikalien mit der Zunahme von Allergien, Asthma, Autismus, Depressionen und anderen neurologischen Problemen bei Kindern in Zusammenhang gebracht werden können. Die Krankheitsbilder treten nicht in Form von akuten Vergiftungserscheinungen, sondern vielmehr als schleichende Vergiftungen durch niedrig dosierte Substanzen von Umweltgiften auf. Ein unmittelbarer zeitlicher Bezug zwischen Ursache und Wirkung ist im Erkrankungsfall meist nicht nachzuweisen. Nicht nur Chemikalien gegen Ungeziefer, die chemisch behandelte Oberfläche von Möbeln und Textilien, sondern auch Arzneistoffe und Pestizide können im Urin von Kindern nachgewiesen werden. Wasser, in welchem Kinder vorher ihre Hände gewaschen hatten, wurde von FREEMAN 680 analysiert. Dabei stieß sie auf folgende Schadstoffe: verschiedene Pestizide, darunter Organchlorverbindungen wie DDT, Organophosphate wie Chlorpyriphos und Pyrethroide, z. B. Permethrin. 680 SZ, 232, 2001, V2 /10 340 Auswirkungen auf den menschlichen Organismus: Vor allem die in Insektenvernichtungsmitteln enthaltenen Chemikalien wirken auch auf das Nervensystem der Menschen ein, indem sie die Erregungsleitung zwischen den Nervenzellen verändern. So wird bei den Organophosphaten das Enzym blockiert, das für den Abbau des Botenstoffes Acetylcholin verantwortlich ist. In der Folge können ein erhöhter Blutdruck, Herzrasen, Atemnot oder Muskellähmungen auftreten. Die Pyrethroide sind dafür verantwortlich, dass die Natriumkanäle in den Nervenzellmembranen nicht geschlossen werden. Eine Übererregung ist die Folge. Arzneistoffe reichern sich im Organismus von Säuglingen durch den langsamer arbeitenden Stoffwechsel eher an, während ältere Kinder bestimmte Schadstoffe schneller ausscheiden. Junge Menschen haben eine dünnere Haut als Erwachsene und eine größere Oberfläche im Vergleich zur Körpermasse. Dadurch ergibt sich eine vergrößerte Kontaktfläche. Da die Lungenoberfläche bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen riesig und die Atmung zugleich beschleunigt ist, werden Fremdstoffe ebenfalls leichter aus der Luft aufgenommen. Das Gehirn ist relativ betrachtet größer und stärker durchblutet als das von Erwachsenen. Zugleich wächst es schneller und verändert sich rasant, wodurch es empfänglicher für Schadtsoffe wird. Die Abbauprodukte von Pestiziden, die speziell in der Landwirtschaft verwendet werden, lassen sich im Urin von Kindern nachweisen. Sie werden durch die Kleidung der Eltern auf die Kinder übertragen. Die Übertragungsgefahr der Pestizide kann verringert werden, indem die Erwachsenen sich öfter die Hände waschen. Auch Holzschutzmittel, die in Innenräumen völlig überflüssig sind, dünsten oft jahrelang aus Möbeln, Balken und Treppen aus. Eine Substanz, die in einer bestimmten Dosis für ein Insekt tödlich ist, kann in größeren Mengen bei längerer Einwirkzeit unter bestimmten Umständen auch für höher entwickelte Lebewesen gefährlich sein. Darmprobleme durch Kuhmilch Verstopfung bei Kleinkindern kann ein Anzeichen dafür sein, dass sie Kuhmilch nicht vertragen. 341 Bei eine Untersuchung von 65 Kleinkindern mit Verstopfung wurde bei 42 Kindern Kuhmilch als Ursache für die Verstopfung identifiziert, obwohl sie eher dafür bekannt ist, Durchfälle und Allergien auszulösen. Auch Wunden und Rötungen am Po können durch den Verzehr von Kuhmilch ausgelöst werden. Durch eine Umstellung auf „Sojamilch“ trat bei zwei Dritteln der betroffenen Kinder eine Besserung ein. „Kuhmilch-Hydrolysat“ kommt für das letzte Drittel als weitere Alternative in Frage.681 Diabetes GAEDICKE682 ermittelte in einer Studie die stetige Zunahme von zuckerkranken Kindern. In den letzten zehn Jahren lässt sich eine Verdoppelung der Erkrankungen beobachten. Als Ursachen für die Entstehung eines Diabetes vom Typ-I sieht er folgende Faktoren: eine entgleiste Immunabwehr übertriebene Sauberkeit – dadurch ein mangelhaft trainiertes Immunsystem falsche Ernährung – Kuhmilch (Kinder, die genetisch für Diabetes anfällig sind und mit Kuhmilch ernährt werden, erkranken um 50% häufiger an Diabetes) Finnische Wissenschaftler stellten dazu folgende Theorie auf:683 Durch das Kuh-Insulin werden die Immunstoffe im kindlichen Organismus falsch programmiert. Dadurch kann der Unterschied zwischen fremdem und körpereigenem Insulin nicht mehr erkannt werden. In Tierversuchen wurden diese Vermutungen bestätigt. Es soll an dieser Stelle noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch in Bezug auf die Impfungen sehr unterschiedliche Meinungen bestehen. Ob sie ein „Training“ für das Immunsystem bedeuten oder ob sie das Immunsystem auf Dauer schwächen und die Erkennung und Abwehr veränderter Krankheitserreger erschweren, ist noch nicht geklärt. 681 New England Journal of Medicine, 1998, Bd. 339, S. 1100 SZ, 182, 1999, V2/9; GAEDICKE ist Professor für Pädiatrie am Berliner Universitätsklinikum Charité. 683 Diabetes, 1999, Bd. 48, S. 1389 682 342 Ernährung – Trans-Fettsäuren – Entwicklung des Gehirns Trans-Fettsäuren kommen in der Natur nur in geringen Mengen vor. Sie entstehen bei der Härtung von pflanzlichen Ölen. Durch eine Teilhärtung wird eine Streichfestigkeit und somit auch höhere Stabilität erreicht. Sie wirken sich bei Föten, Neugeborenen und Kleinkindern, aber auch bei stillenden und werdenen Müttern ungünstig auf den Cholesterinstoffwechsel aus. KOLETZKO: „Außerdem kann bei Säuglingen und Kindern ein hoher Trans-Fettsäureanteil der Kost die Entwicklung des Gehirns und das Wachstum hemmen.“684 Eine Ernährung der Kinder mit Nuss-Nougat-Cremes, Margerine und Pommes frites bedeutet in vielen Fällen eine Aufnahme von 3,1 Gramm pro Tag. Sie nähmen damit ebenso viele trans-Fettsäuren auf wie erwachsene Frauen. Trans-Fettsäuren sind plazentagängig, das heißt sie gehen in den Mutterkuchen über. Sie sind auch in der Muttermilch nachzuweisen. Das schnell wachsende Gehirn benötigt ebenso wie die Augen bei ihrer Entwicklung mehrfach ungesättigte Fettsäuren zum Einbau in die Membranlipide. Familiäres Umfeld Sowohl bei den Kindern, die in der Pubertät eine kriminelle Energie entwickeln, als auch bei psychiatrisch kranken Straftätern spielt das familiäre Umfeld der ersten Lebensjahre eine beherrschende Rolle. Die Risiken für psychiatrische Störungen bei den Kindern sind bei den folgenden Faktoren besonders groß: psychische Probleme der Eltern unerwünschte Kinder bei bestehenden psychischen Problemen der Eltern Fehlen von emotionaler Wärme ständiger Streit der Eltern Wohnungsprobleme finanzielle Schwierigkeiten.685 684 SZ, 257, 1996, S. 30; KOLETZKO ist Oberarzt an der Kinderpoliklinik in München. 343 Kinder, die eine einfühlsame Mutter haben, sind weitaus weniger gefährdet. Sie vermittelt den Kindern emotionale Sicherheit und damit die Grundlage des gesunden Selbstvertrauens. Für die Arbeit an den deutschen Schulen könnte das holländische Modell der Klinik Vosseveld ein Vorbild sein. Hier lernen Grundschüler seit 1996 in Gruppentherapien, Probleme und soziale Konflikte friedlich zu lösen. Die Eltern trainieren zusätzlich den Umgang mit ihren Kindern. Lehrkräfte, die in Schulen für Lernbehinderte tätig sind, müssen nach Erfahrung des Verfassers täglich bis zu zwei Unterrichtsstunden für Konfliktlösungen einplanen, damit Lernen überhaupt erst möglich wird. Fieber – verschiedene Sichtweisen Es sollte selbstverständlich sein, den Arzt aufzusuchen, wenn bei Neugeborenen Fieber auftritt. MENDELSOHN686 weist darauf hin, dass Babys auch dann Fieber bekommen können, wenn sie zu warm angezogen sind. Beim Auftreten von Fieber ist eine regelmäßige Flüssigkeitszufuhr und eine entsprechende Überwachung durch die Eltern sehr wichtig. Auch wenn das Fieber bei Kleinkindern über 40 Grad ansteigt, sollte das Kind erst genau beobachtet werden. „Es gibt keinen konsistenten Zusammenhang zwischen der Höhe der Temperatur eines Kindes und der Schwere einer Krankheit.“ Meist wird die Temperatur von 40,5 Grad durch einen körpereigenen Schutzmechanismus 685 Journal of Child Psychology and Psychiatry, 40, 1999, S. 129, und Gutachten der Uni Köln für das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) in SZ, 176, 1999, V2 /9 686 MENDELSOHN, 1990, S. 83; MENDELSOHN war amerikanischer Arzt mit mehr als 30 Jahren medizinischer Praxis; er bekleidete zudem mehrere hohe Ämter: National Director of Project Head Start`s Medical Consultation Service, Chairmam of the Medical Licensing Committee for the State oft Illinois und Associate Professor of Preventive Medicine and Community Health in the School of Medicine of the University of Illinois; er erhielt zudem zahlreiche Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf medizinischem Gebiet. 344 nicht überschritten. Hitzschlag, Vergiftungen oder andere äußere Einflüsse bilden dabei eine Ausnahme. Maßnahmen zur Fiebersenkung sollten sehr gut überlegt werden. Eltern, die einen Arzt per Telefon über das hohe Fieber (40,5 Grad) ihres 14 Tage alten Kindes informiert und um Hilfe gebeten hatten, erhielten den Ratschlag, Wadenwickel zu machen und Zäpfchen zu geben. Wegen unterlassener Hilfeleistung wurde der Mediziner durch das Gericht zu 6000 DM Geldstrafe verurteilt. „Das Baby hat das Fieber ohne Folgen überstanden.“687 In den meisten Fällen ist die Angst der Eltern und der Ärzte vor Fieber völlig unsinnig, vor allem dann, wenn sich Kinder trotz hohen Fiebers normal verhalten. Fieberkrämpfe – Epilepsierisiko Halten Fieberkrämpfe, wie sie ca. bei jedem 20. Kleinkind auftreten, länger als 15 Minuten an, und leiden auch Verwandte an der „Fallsucht“ oder treten noch andere neurologische Probleme hinzu, erhöht sich das Risiko für die Entwicklung von Epilepsie laut FERNANDEZ um das Sechsfache. Etwa 15% aller an Epilepsie leidenden Kinder hatten zuvor Fieberkrämpfe. Ob die Krämpfe Auslöser für die Epilepsie sind oder ob beide eine gemeinsame Ursache haben, bleibt weiterhin umstritten. CHEN weist darauf hin, dass Krämpfe langfristig Spuren im Gehirn hinterlassen.688 Wie unterschiedlich die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Studien und die Forschungsergebnisse sein können, zeigen die Erfahrungen von MENDELSOHN. Seiner Meinung nach treten Fieberkrämpfe durch das zu schnelle Ansteigen der Temperatur hervor. Bei einer Untersuchung an 1706 Kindern, die von Fieberkrämpfen geplagt waren, wurde weder ein Todesfall noch ein motorischer Folgeschaden beobachtet. „Es gibt keinen schlagenden Beweis dafür, dass Fieberkrämpfe in der Kindheit die Anfälligkeit für Epilepsie im späteren Leben erhöhen.“689 687 MM, 285, 2001, Oberbayern SZ,188, 1999, V2 /11, und in Nature Medicine, 1999, Bd.5, S. 888 689 MENDELSOHN, 1990, S. 89 688 345 In der Forschung stellt sich immer wieder die Frage, ob spätere Erkenntnisse frühere Erkenntnisse ungültig machen, widerlegen oder gar aufheben. Letzten Endes werden Menschen aufgrund des selektiven Prinzips immer dazu neigen, den Erkenntnissen Glauben zu schenken, die mit ihrer durch verschiedenste Einflüsse geprägten Meinung am meisten übereinstimmen und die ihr Gewissen am meisten beruhigen oder ihren Interessen am wenigsten schaden. Fluoridierung von Zähnen Fluoridtabletten werden häufig zusammen mit einer Vitamin-DProphylaxe von Kinderärzten bis zum zweiten Lebensjahr empfohlen. Der dabei beabsichtigte medizinische Effekt soll den Aufbau von Knochen und Zahnschmelz unterstützen. Die Zähne sollen widerstandsfähiger gegen Karies gemacht werden. Neueste Erkenntnisse gehen davon aus, dass die Maßnahme der Fluoridierung vor dem Durchbruch der Zähne ohne Bedeutung sei. Auch gesundheitliche Gefahren sind nicht auszuschließen. So sind nach KOCH690 bereits Fälle von Zahnschmelzstörungen bekannt geworden. Diese sind bei Kindern beobachtet worden, die von Geburt an Fluoridtabletten in der empfohlenen Dosierung erhalten hatten. Es kann deshalb leicht zu Überdosierungen kommen, weil auch Lebensmittel Fluoride enthalten; eine bedenkliche Menge ist schnell erreicht (siehe auch: Versiegelung von Zähnen). Gaumenspalten – Ursachen691 Etwa eines von 1500 Neugeborenen kommt mit einer Gaumenspalte zur Welt. Innerhalb einer Familie konnten keine Häufungen festge- 690 Co-med, 9/99, S. 24; KOCH ist Zahnarzt, Mediziner und Philosoph; er ist außerdem Gründungs-und Vorstandsmitglied der internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin. Seit 1995 leitet er das Fortbildungskolleg Naturheilverfahren der GZM und ist Vorstandsmitglied des internationalen Arbeitskreises für biokompatiblen Zahnersatz (AbZ). 691 Nature Genetics Online, 17. 9. 2001, und in SZ, 221, 2001, V2 /13; BARTRAM ist Humangenetiker in Heidelberg. 346 stellt werden. Diese Tatsache galt bisher als Indiz dafür, dass für diesen Geburtsfehler keine genetische Ursache verantwortlich ist. Neuere Forschungsergebnisse belegen, dass Gene bei einigen Betroffenen eine dominante Rolle spielen. Die Mutation eines bestimmten Gens wird von US-Forschern als Ursache für das Auftreten von Gaumenspalten bei einem Teil der Bevölkerung Venezuelas angesehen, während britische Forscher einem anderen Gen bei der Entstehung des Gaumens im Embryo eine bedeutende Rolle zuschreiben. Offensichtlich kann diese Behinderung zufällig auftreten oder aber vererbt werden. Nach BARTRAM ist nur ein kleiner Teil aller Fälle auf die entdeckten Gene zurückzuführen. Kinderkrippen – eine Katastrophe? In den kommenden Jahren sollen in Bayern mehrere hundert Millionen Mark für eine Ganztagsbetreuung der Kinder berufstätiger Eltern ausgegeben werden. Dazu HELLBRÜGGE: „Ich sehe das äußerst kritisch, viele Untersuchungen unterstützen diese Sichtweise, dass Kinder gerade in den ersten, prägenden Lebensjahren eine feste Bezugsperson, im Idealfall natürlich die Mutter, brauchen . . . Kinderkrippen halte ich für eine Katastrophe, denn hier fehlt jede Mütterlichkeit. Ganz abgesehen von dem gesundheitlichen Risiko, in Krippen besteht gehäufte Infektionsgefahr. Es treten dort verstärkt Aggressionen auf. Die Kinder müssen sich um die Liebe der Betreuungsperson streiten, sich gegen die anderen Kinder behaupten . . . Die Tschechen gaben, nachdem sie die Auswirkungen der Kinderkrippen auf ihre Sprösslinge erkannt hatten, das Geld, das der Krippenplatz kostete, direkt an die Mütter weiter, damit sie nicht arbeiten gehen mussten. Immerhin kostet ein Krippenplatz die öffentliche Hand zwischen 2000 und 3000 Mark im Monat . . . Die Frauen bekommen ihre Kinder heutzutage viel zu spät, würden sie zwischen 19 und 29 gebären, hätten sie noch viele Jahre Zeit für ihre Berufstätigkeit. Und das Problem, nach drei Jahren Babypause nicht wieder in eine qualifizierte Tätigkeit einsteigen zu können, halte ich für konstruiert . . . Keine Krippen, lieber Betreuung durch eine Ein- 347 zelperson oder Betriebskrippen, damit die Mutter zumindest die Möglichkeit hat, ihr Kind zu sehen, zu stillen, zu trösten . . . “692 Kindheitserfahrungen Frühe Kindheitserfahrungen sind nach Auffassung von Psychoanalytikern und Individualpsycholgen prägend für den Rest des Lebens. Nach KAGAN693 wird in den ersten zwei Jahren jedoch keineswegs die Entwicklung eines Kindes festgelegt. Die Wandlung des Charakters kann durch weitere Einflüsse noch erfolgen. Das Milieu ist seiner Ansicht nach wichtiger als das Erziehungsverhalten der Mütter. Kindstötung Wenn junge Mütter immer den Gedanken in sich tragen, dass auf dieser Welt kein Patz für ihr Kind sei, dann werden sie es irgendwie loswerden wollen. Viele Frauen verdrängen die Schwangerschaft aus sozialer Not oder kulturellen Zwängen so sehr, dass sie das Kind nicht als ihr eigenes wahrnehmen. Wenn es dann zur Welt kommt, vernichten sie es wie ein Beweisstück. Gerade nach der Geburt sind Mütter so alleine wie selten zuvor. Mütter, die selbst in der Kindheit gedemütigt, misshandelt oder vernachlässigt wurden, sind besonders gefährdet, das eigene Kind selbst so auf den Müll zu werfen, so wie sich selbst auf den Müll geworfen fühlen.694 Jedes Jahr werden in Deutschland aus Gründen der Überforderung der Eltern oder aus ohnmächtiger Wut etwa 240 kleine Kinder im Alter bis zu sechs Jahren getötet. 20 bis 30 davon sind uneheliche Kinder, die gleich nach der Geburt getötet werden. 692 MM, 180, 2001, S. 3; HELLBRÜGGE ist Professor am Münchner Kinderzentrum und Spezialist auf dem Gebiet der Entwicklungsphysiologie und Entwicklungspathologie sowie der Sozialpädiatrie. 693 KAGAN, Die drei Grundirrtümer der Psychologie 694 BLUM-MAURICE und PAPOUSEK in SZ, 156, 1999, S. 14 348 Kleinkindzeit – Krabbeln – lese- und rechtschreibschwache Kinder BIRATH und Kolleginnen695 fanden heraus, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Auslassen der Krabbelphase und dem Auftreten von Problemen in der Entwicklung (Lernstörungen, Koordinationsprobleme) aufgrund einer Gehirnhälftendominanz besteht. Ein spezielles Trainingsprogramm für lese- und schreibschwache Kinder, bei welchem eine Mitarbeit von den Eltern gefordert ist, ist wie folgt aufgebaut: Beginn des Unterrichts mit klassischer Musik „Hook ups“ (Jede Person denkt an etwas, was sie besonders gut kann.) verschiedene Gedächtnisübungen (Bilder, Worte, Assoziationen) zehn Minuten leises Lesen (wenn nötig mit Unterstützung eines Kassettenrecorders) Rechtschreibübungen (lautes Vorlesen durch den Lehrer; Schreiben in den Computer) je 5 bis 10 Minuten im Wechsel mit Brain-Gym-Übungen Jeden Tag Vorlesen durch die Lehrkraft (15 bis 20 Minuten). Gefahr durch Kupfer im Trinkwasser Weist das Wasser einen niedrigen ph-Wert auf, so wird vor der Verwendung von Kupferrohren als Trinkwasserleitungen gewarnt, da der Kupfergehalt des Wassers in einem solchen Fall stark erhöht sein und zu schweren Leberschäden bei Säuglingen führen kann. Eine mittlere Belastung von zwei Milligramm Kupfer pro Liter Wasser gilt derzeit als gesundheitlich unbedenklich.696 Im Jahr 1988 starben in Deutschland acht Kinder an einer Leberzirrhose einer bis dahin nur in Indien bekannten und aufgetretenen Säuglingskrankheit. Verursacht werden kann diese tödliche Erkrankung durch eine chronische Vergiftung mit dem Schwermetall Kupfer. 695 696 BIRATH in :co`med 9/1999, S. 52 und 53 SZ, Nr. 65, 1998, S. I 349 EIFE entdeckte die Ursachen für die Erkrankungen und das Sterben der Säuglinge: saueres Trinkwasser mit einem ph-Wert zwischen 4 und 6,5, das durch Kupferrohre in die Haushalte geflossen war. Die erkrankten Babys hatten allesamt mit kupferbelastetem Wasser angerührte Fertignahrung bekommen. Dass nicht nur Lebererkrankungen, sondern auch Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich durch zu stark kupferhaltiges Wasser ausgelöst werden können, ist eine neue Erkenntnis durch EIFE697 elf Jahre später. Wie so oft in der Wissenschaft werden unangenehme Erkenntnisse sofort mit Gegenstudien und anderen Erklärungsversuchen zu entkräften versucht. Entgegengesetzte Positionen werden in diesem Fall durch das Umweltbundesamt und durch Vertreter der Industrie eingenommen. Damit soll eine Senkung der Grenzwerte für Kupfer im Leitungswasser vermieden werden. Die Frage, warum nur wenige Kinder bei einem derart belasteten Trinkwasser erkranken, beantwortet EIFE mit dem Hinweis darauf, dass sich Schädigungen erst dann bemerkbar machen könnten, wenn die bereits geschädigte Leber noch zusätzlich mit einer Virusinfektion konfrontiert wird. Eine gesunde Leber und ein intaktes Immunsystem könnten eine solche Erkrankung – im Gegensatz zu einem vorgeschädigten – bewältigen. Bis jetzt wurden etwa 100 Personen (ältere Kinder und Erwachsene) in Deutschland aufgespürt, die eine Vergiftung oder andere Belastungen erlitten haben. Die Untersuchung von 29 Patienten ergab folgende Befunde: Symptomatik bei „Kupfergeschädigten“ 697 Erbrechen, Magenschmerzen, Durchfall und Darmkoliken Säuglinge fielen vor allem durch eine ständige Unruhe auf. SZ, 7, 2000, V2 /13; auch in European Journal of Medical Research, 1999, Bd. 4, S. 211; EIFE ist Pädiater am Haunerschen Kinderspital der Universität München; DIETER ist beim Umweltbundesamt tätig; ARENS ist am Deutschen Kupferinstitut, dem Forschungsinstitut der Industrie, tätig. 350 Es wird von einem Baby berichtet, das nach der Umstellung auf Flaschennahrung trotz ausreichender Flüssigkeitszufuhr bei den Eltern zu Hause ständig schrie. Dazu EIFE: „Bei der Oma dagegen, die keine Kupferleitungen im Haushalt hatte, war der Säugling stets ruhig und zufrieden.“ Erst eine Untersuchung der Kupferwerte machte die bedenkliche Erhöhung deutlich. Etwa 60% aller deutschen Haushalte sind mit Kupferleitungen ausgestattet. Vor dem Einfluss in die Rohre enthält das Wasser fast kein Kupfer. Normalerweise wird dieses wichtige Spurenelement in ausreichender Menge über die Nahrung aufgenommen. Durch die Leber werden überflüssige Kupfermengen ausgeschieden. Pro Kilogramm Körpergewicht kann die Leber ca. 50 Millionstel Gramm Kupfer pro Kilogramm Körpergewicht ausscheiden. Ein Erwachsener mit einem Körpergewicht von 70 Kilogramm kann so täglich einen Liter Wasser mit bis zu 6 Tausendstel Gramm Kupfer trinken. Die Trinkwasserleitlinien der WHO legen die Hälfte als erlaubt fest. Babys nehmen jedoch dreimal soviel Flüssigkeit pro Kilogramm Körpergewicht auf wie Erwachsene. Allerdings ist deren Leber nicht in der Lage, dem Erwachsenen entsprechende Mengen zu verarbeiten. Die Grenze, ab welcher die Kupferkonzentration gefährlich ist, ist nicht bekannt. EIFE sieht jedoch Werte ab 0,3 Milligramm pro Liter für Säuglinge als bedenklich an. Es gibt in Deutschland Gegenden (Bayerischer Wald, Emsland, Eifel oder südlicher Schwarzwald), in denen beim Vorhandensein von Kupferrohren die Werte oftmals höher sind. DIETER geht von einem Gesundheitsrisiko erst ab 8 bis 10 Milligramm pro Liter aus. Innerhallb der nächsten zwei Jahre (bis zum Jahr 2002) soll der Grenzwert auf zwei Milligramm pro Liter europaweit gesenkt werden. ARENS vermutet nur Schädigungen, wenn zu einem erhöhten Kupfergehalt im Wasser ein defektes Gen hinzukommt. Er stützt seine Meinung auf eine dazu veröffentlichte Studie österreichischer Mediziner.698 698 Journal of Pediatrics, 1999, Bd.135, S. 189 351 Seit 1997 werden immer weniger reine Kupferrohre ausgeliefert. Die Leitungen sind innen seitdem meistens mit einer Schutzschicht aus Zinn versehen. Hautleiden an belebten Verkehrsstraßen 699 Eine Studie an 3700 Schulanfängern ergab, dass Kinder, die an stark befahrenen Straßen leben, einer erheblich höheren Stickstoffbelastung ausgesetzt sind als Landkinder. Sie erkranken deshalb häufiger an der stark juckenden Hautkrankheit Neurodermitis. Zudem wurde festgestellt, dass Mädchen häufiger erkranken als Buben. Von den in verschiedenen Stadt- und Landgebieten untersuchten Kindern waren 12% der Mädchen und 8% der Buben zumindest leicht erkrankt. Kurzsichtigkeit durch Schlafen bei nächtlicher Zimmerbeleuchtung Nach einer in den USA an 479 Kindern durchgeführten Studie steht das Schlafen von Kindern (besonders in den ersten zwei Lebensjahren) bei brennender Nachtleuchte in engem Zusammenhang mit der Entstehung von Kurzsichtigkeit. So wurde jedes dritte Kind kurzsichtig, wenn während der Nachtstunden eine Nachttischlampe brannte. Bei hellem Licht entwickelte sich bei jedem zweiten Kind eine Kurzsichtigkeit. Wurde im völligen Dunkel geschlafen, war die Entstehung von Kurzsichtigkeit nur bei jedem zehnten Kind zu beobachten.700 SCHAEFFEL zu dieser Studie: Es sei denkbar, dass Eltern, die nachts das Licht anlassen, nicht nur sehr ängstlich sind, sondern auch ein familiäres genetisches Fehlsichtigkeitsrisiko haben. Kurzsichtig werden Kinder erst im Schulalter, und da sollten sie nie bei schwachem Licht lesen.701 699 MM, 235, 2001, S. 1; die Studie wurde in München auf dem 10. Kongress der Europäischen Akademie für Dermatologie vorgestellt. 700 MM, 270, 1999, S. 3, und „Ärztliche Praxis“ 51/90 701 MM, 263, 1999, J 4; SCHAEFFEL ist Pathophysiologe an der Universität Tübingen. 352 Leseschwäche – Erkennung bei Säuglingen MOLFESE zeichnete die Gehirn-Muster von 186 Neugeborenen auf und versuchte acht Jahre später Zusammenhänge zwischen der bei 24 Kindern eindeutig diagnostizierten Legasthenie und den wenige Stunden nach der Geburt gemessenen Hirnströmen herzustellen. Bei 22 Kindern war dies aufgrund charakteristischer Merkmale möglich. Nun wird in einer weiteren Studie erforscht, ob ein Screening zur Früherfassung sinnvoll sein könnte.702 Manager-Babys Besonders berufstätige Eltern neigen dazu, sich abends intensiv mit ihren Kindern zu beschäftigen. Dabei überfordern sie oftmals die Kleinen und schaden ihnen. Es besteht die Gefahr, dass sich durch diese Überforderung die Entwicklung der Kinder verlangsamt. Solche Kinder hätten später oft Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme damit, Freunde zu finden.703 MELMED warnt vor einer Überforderung, da sich Kinder, deren Eltern sich übertrieben um sie kümmerten, damit sie besonders aufgeweckt würden, auf der Verstandes- und Gefühlsebene zurückentwickelten. Vor allem in den ersten Jahren bräuchten die Kinder Zeit, um die Welt für sich selbst zu entdecken. Misshandlungen Frühgeborene Kinder, untergewichtige Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder mit abweichendem Aussehen oder behinderte Kinder sind besonders misshandlungsgefährdet 704 (siehe auch das Kapitel „Die Gewaltgesellschaft“). Muttermilch – Belastung mit Schadstoffen In der Milch stillender britischer Mütter wurden mehr als 350 Schadstoffe nachgewiesen. Darunter befanden sich chemisch Substanzen 702 New Scientist, Nr. 2200, und in MM, 222, 1999, J 4 MM, 88, 2000, S. 9; Warnung von Kinderpsychologen auf einer Konferenz in London; MELMED ist amerikanischer Erziehungswissenschaftler; in SZ, 89, 2000, S. 16 704 Gesundheitsbericht für Deutschland, 1998 703 353 aus Parfüms, Insektengiften und Sonnenmilch. Die Dioxinmenge, die britische Säuglinge über die Muttermilch zu sich nehmen, ist nach der Studie des WWF bis zu 42mal höher als der zugelassene Grenzwert.705 Dazu die britische Regierung: „Die Gesamtmenge, über die wir hier reden, liegt deutlich über dem Wert, den man abkriegen darf.“ WEISS empfiehlt den Müttern in Deutschland: „Wir raten zum Vollstillen bis zu einem halben Jahr oder auch länger.“ Nach Auskunft des BgVV ist die Konzentration von PCB und Dioxin in der Muttermilch in den letzten zehn Jahren um mehr als 50% zurückgegangen. Psychosen im Wochenbett M. PAPOUSEK: „Jede vierte Mutter ist hoch belastet und überfordert mit dem Anspruch, sofort eine enge Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen.“706 Die Psychosen dauern bei Wöchnerinnen, die durch eine Partnerkrise, Arbeitslosigkeit oder Armut belastet sind, Wochen, Monate oder Jahre. Diese Mütter leiden unter Wahnvorstellungen, unkontrollierten Wutausbrüchen oder auch unter tiefen Depressionen. Ohne entsprechende Hilfe besteht die Gefahr, dass sie ihr Kind vernachlässigen oder auch misshandeln. Die Babys von solch psychisch kranken Müttern werden später häufig schwierige Kinder. Die Entwicklung von Beziehungsstörungen ist oftmals vorprogrammiert. PAPOUSEK verweist auf eine Studie aus den USA, wonach sich nur ein Drittel der Kinder von Müttern mit einer manisch-depressiven Störung unauffällig entwickelte. Dieses eine Drittel hatte aber zumindest eine stabile Bezugsperson. Ein weiteres Drittel litt an einer schweren seelischen Störung, die jedoch durch eine Behandlung verschwand. Beim letzten Drittel entwickelten sich bleibende psychische Störungen. 705 MM, 162, 1999, J 4; Studie des World Wide Fund For Nature; Magdalene WEISS ist Präsidentin des Bundes Deutscher Hebammen; BgVV (Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin in Berlin) 706 MM, 281, Weihnachtsaktion 354 Schmerzempfinden Führende deutsche Anästhesisten berichten, dass das Schmerzempfinden bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche entwickelt sei. Die bisherigen Vorstellungen über ein vermindertes Schmerzempfinden bei Babys gelten als veraltet. So kann bereits ein kleiner „Pieks“ beim Einstich einer Nadel Traumata im späteren Leben zur Folge haben.707 Besonders auf Impfungen sollte nach Ansicht des Verfassers deshalb möglicherweise in der ersten Zeit verzichtet werden. Schmerzmittel – Einnahme während der Schwangerschaft – Risiko einer Fehlgeburt708 Ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Fehlgeburt besteht für Schwangere, wenn sie zu Beginn ihrer Schwangerschaft bestimmte Schmerzmittel einnehmen. Besonders die Arzneien aus der Gruppe der nicht-steroidalen antientzündlichen Mittel (NSAID) stellen ein Risiko für Schwangere dar. Mittel wie „Brufen“ (deutscher Wirkstoffname:Ibuprofen), „Naprosyn“ (deutscher Wirkstoffname: Naproxen), aber auch Arzneitmittel wie Aspirin zählen zu der untersuchten Gruppe. Frauenärzte raten werdenden Müttern vorsorglich zu einem Verzicht auf derartige Mittel während der gesamten Schwangerschaft. Schreikinder Zur Zeit werden jährlich etwa 1500 „Schreikinder“ aus ganz Bayern im Kinderzentrum München vorgestellt.709 PAPOUSEK weist darauf hin, dass die Mütter von Schreikindern oftmals selbst eine psychische Behandlung benötigen, da sie das ständige Gebrüll der Kleinen als „dauernde Bescheinigung, dass sie es nicht schaffen, empfinden.“710 Schreien und übermäßige Unruhe sind nicht immer ein Zeichen dafür, dass einem Baby etwas fehlt, oder dafür, dass die Eltern etwas falsch machen. Besonders bei Frühgeborenen wird das Schreien als 707 MM, 15, 1999, S. 1 MM, 28, 2001, S. 1, und im British Medical Journal 709 MM, 23, 2000 710 SZ, 156, 1999, S. 14 708 355 Ausdruck einer verzögerten Reifung des Nervensystems angenommen. Das Schreien kann auch schlicht als Anzeichen für ein schwieriges Temperament oder als individuell unterschiedliche Reaktion auf Missempfindungen gedeutet werden. Diese Reaktionen sind angeboren. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit kann ein unausgesprochener Beziehungskonflikt der Eltern sein, der von den Babys, die mit feinen Sensoren zur Erfassung des emotionalen Klimas der Umwelt ausgestattet sind, erfasst werden. Kinder, die eine von den Eltern aufgebürdete Last tragen, entwickeln sich in vielen Fällen zu schwierigen Kindern. Schreikinder schlafen grundsätzlich viel zu wenig. Fütter- und Essstörungen treten oftmals im Zusammenhang mit dem exzessiven Schreien auf. Junge Mütter entwickeln in diesem Zusammenhang häufig Schuldgefühle die durch eine übertriebene Zuwendung zu dem Baby kompensiert werden. Nach M. PAPOUSEK wirkt sich diese Situation ganz besonders auf psychisch oder sozial bereits schwer belastete Mütter aus. Deren Kinder entwickeln in hohem Maße Angststörungen oder sie verhalten sich ablehnend gegen ihre soziale Umwelt. Auch die Reaktion mit Hyperaktivität ist häufig zu beobachten. Kinderärzte diagnostizieren bei echten Schreikindern immer wieder sogenannte „Dreimonatskoliken.“ Dagegen wird das Schreien durch eine Störung der Schlaf-Wach-Regulation verursacht.711 Schütteltrauma Oftmals versuchen genervte Eltern, ihre Säuglinge durch heftiges Schütteln zur Ruhe zu bringen. Dadurch kann den Säuglingen ein lebensbedrohliches Hirntrauma zugefügt werden. Äußerlich ist das Trauma an einer Schädelschwellung zu erkennen. Sonnenbrand – Hautkrebs712 Besonders bei kleinen Kindern kann ein Sonnenbrand zur späteren Entstehung von Hautkrebs führen. 711 712 MM, 281, Weihnachtsaktion Nature, 2001, Bd. 413, S. 271, und in SZ, 221, 2001, V2 /13 356 Tierversuche mit wenige Tage alten Ratten zeigten, dass die Bestrahlung mit UV-Licht in der Folge zu Hautkrebs führten. Ratten besitzen jedoch im Vergleich zum Menschen mehr Tumorvorläuferzellen. Unter Stress – dazu zählt auch UV-Licht teilen diese sich vermehrt. Auch wenn die Ergebnisse der Tierversuche nicht direkt auf den Menschen übertragen werden können, so lassen sich dennoch aus älteren epidemiologischen Studien Erkenntnisse ableiten, die auf einen Zusammenhang zwischen starker Sonnenbestrahlung der Haut und der Entstehung von Hautkrebs hinweisen. Tödliches Schütteln Durch das heftige Schütteln der Säuglinge können Nervenfasern im Genick reißen, die für die Kontrolle der Atmung zuständig sind, da der Kopf verhältnismäßig groß und die Nackenmuskeln noch sehr schwach sind. Die Obduktion von 53 Säuglingen ergab, dass drei Viertel der Babys nicht an einem akuten Gehirntrauma, sondern wegen eines Atemstillstandes gestorben waren. GEDDES: „Wir fanden die Ursache genau dort, wo das Gehirn mit dem Rückenmark verbunden ist.“713 Besonders sehr junge und sozial schwache Väter neigen dazu, Kinder durch starkes Schütteln zum Schweigen oder zum Schlafen zu bringen. So berichtet eine Teenager-Mutter: „Wenn er wollte, dass Marie schläft, hat er sie geschüttelt, bis sie still war.“714 Silikonschnuller Schnuller, die Silikon enthalten, geben Stoffe ab, die Allergien auslösen können, da sie in vielen Fällen Spuren von Verbindungen mit dem Schwermetall Platin enthalten. Dieses Metall lagert sich bei Kleinkindern in Nieren und Leber ein und steht im Verdacht, ein möglicher Auslöser für Asthma zu sein. Warnhinweise auf den entsprechenden Produkten fehlen häufig, ebenso der Hinweis, dass durch das dauernde Nuckeln die Entstehung von Karies begünstigt wird. 713 SZ, 144, 2001, V2 /12; GEDDES arbeitete am Royal London Hospital. 714 SZ, 180, 2001, S. 3 357 Stillen – Übergewicht – Allergien – Infektionsschutz – HIV Ein Risiko für Übergewicht im Schulalter wird nach einer Studie an 9357 Kindern, die durch die Stiftung Kindergesundheit und das Land Bayern gefördert wurde, durch ausschließliches Stillen vermindert. Eine Gruppe von drei bis fünf Monate nach der Geburt gestillter Kinder zeigte im Vergleich zur Kontrollgruppe 35% seltener Übergewicht.715 In den sechziger und siebziger Jahren wurde von vielen Medizinern vom Stillen abgeraten, da angeblich die Muttermilch mit zu vielen Schadstoffen belastet sei. Muttermilch senkt das Infektionsrisiko in den ersten zwei Lebensmonaten um ein Sechstel.716 Es besteht weiterhin jedoch Unklarheit darüber, ob HIV-infizierten Müttern zum Stillen geraten werden sollte. Stillen – Intelligenz Eine neuseeländische Untersuchung zeigt einen „geringen, aber doch feststellbaren Zusammenhang“ auf zwischen dem IQ lang gestillter Kinder und solcher, die in den ersten Lebensmonaten nur die Flasche bekommen hatten.717 Kinder, die mehr als acht Monate gestillt worden waren, erreichten im Alter von acht und neun Jahren einen höheren IQ als die Nichtgestillten. Zwischen zehn und 13 Jahren können sie besser lesen und rechnen. Auch der bessere Abschluss der Studien wurde festgestellt. BERDEL718 empfiehlt: „Mütter sollten die ersten vier bis sechs Monate selbst stillen“. Eine gesunde Ernährung sei sehr wichtig, da Allergien immer mehr zunehmen. „Alle zehn Jahre verdoppeln sie sich.“ 715 MM, 163, 1999, S. 3 Lancet, Bd. 355, 2000, S. 451 717 Pediatrics,1, 1999 in SZ, 5, 1999, S. 12 718 MM, 216, 1999, S. 4; BERDEL ist Professor in München und leitet dort ein Institut für die spezielle Diät bei Neugeborenen. 716 358 Mütter, die nicht selbst stillen können, sollten unbedingt wärmebehandelte Milch verwenden, da durch diese Methode Proteine gespalten werden können und somit verträglicher werden. Die so behandelte Milch löse nach dem Ergebnis von Studien seltener Allergien aus. Stillen beugt Allergien vor BAUER: „Allergien sind nicht angeboren, sondern erworben.“719 Bisher galten Stillen und die sogenannte hypoallergene (allergenarme) Ernährung als Mittel, die Kinder möglichst gesund zu halten. Allergologen übeprüften diese These Mitte der Neunziger in der sogenannten „GINI“-Studie. Im Zeitraum zwischen 1995 und 1998 wurden 2252 Neugeborene aus Wesel und München beobachtet. Alle Kinder stammten aus allergievorbelasteten Familien. Die Kinder wurden in zwei Gruppen aufgeteilt: Gruppe 1 (900 Säuglinge) wurde in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich gestillt. Gruppe 2 wurde zusätzlich mit unterschiedlich behandelten hypoallergenen Milchprodukten oder reiner Kuhmilch ernährt. Das Ergebnis: Stillen und die Ernährung von Säuglingen mit hypoallergenen Produkten verringerten die Allergiewahrscheinlichkeit um 50%. Nach BAUER werden die Weichen schon früh gestellt. Besonders in vorbelasteten Familien kann Stillen oder eine besondere Ernährung schon in den ersten Lebensmonaten einem Kind das spätere Allergikerleben vielleicht ersparen. TBT (Tributylzinn, ein Hormongift) in Babywindeln720 Dieser hochgiftige Stoff ist laut Greenpeace bei sechs Windelsorten von drei Herstellern nachgewiesen worden. 719 MM, 248, 2001, S. 3; BAUER ist Professor und Leiter des Bereichs Kinderrehabilitation an der Kinder- und Poliklinik der Technischen Universität in München. 720 SZ, 110, 2000, S. 16; Andrea FISCHER ist Gesundheitsministerin in Deutschland. 359 „PampersBaby Dry“ von Procter&Gamble Fixies UltraDry von der Paul Hartmann AG United Colors of Benetton Junior unisex von Ledysan Alle drei Firmen wiesen den Vorwurf zurück, bei der Herstellung TBT zu verwenden. FISCHER betonte, von den Windeln gehe „keine akute Bedrohung“ aus. Der gefährliche Stoff (er gilt als der giftigste, der je hergestellt wurde) werde über die Haut aufgenommen und vergifte Mensch und Umwelt. Bereits in geringen Konzentrationen kann das Immunsystem des Menschen geschädigt und das Hormonsystem beeinträchtigt werden. Zudem besitze es einen vermännlichenden Effekt und begünstige das Entstehen von Tumoren. Vitamin-D-Gaben und deren vermuteter medizinischer Effekt Möglicherweise trägt nach einer Studie721 an sieben europäischen Forschungszentren eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D im Kindesalter dazu bei, dass Kinder weniger häufig an Diabetes vom Typ 1 erkranken. Diese Form manifestiert sich bereits im Kindesund Jugendalter. Die Eltern von gesunden und zuckerkranken Kindern wurden befragt ob sie ihren Kindern Vitamin D zur Vorbeugung gegen Knochenschäden wie Rachitis gegeben hatten. Eine Veränderung der Abwehrkräfte durch Vitamin D wird nun angenommen, da ein Defekt im Immunsystem als eine mögliche Ursache für die Entstehung von Diabetes angesehen wird. GRAF722 weist darauf hin, dass die Unterscheidung von wasserlöslichen (B-, C-) und fettlöslichen (A-, E-, D-, K-) Vitaminen beachtet werden muss. Er betont: „Für die ungewöhnlich hohe Zufuhr an fettlöslichen Vitaminen gibt es im menschlichen Organismus keine schützende Regulation.“ Überdosierungen und lange Anwendungen stellen so immer ein hohes Risiko dar. 721 in MM, 216, 1999, J 4; GRAF,1996, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und Kindern; GRAF ist ein nach klassisch homöopathischen Prinzipien arbeitender Frauenarzt mit Praxis in Plön. 722 360 Durch Überdosierungen von Vitamin D entsteht ein zu hoher Blutcalciumspiegel und damit die Gefahr der Entstehung von Arteriosklerose. Vitamin D ist natürlicherweise in verschiedenen Nahrungsmitteln enthalten: Fisch, Lebertran, Eier, Milch, Pilze. Der menschliche Organismus ist nur in der Lage, Vorstufen von Vitamin D herzustellen. Sonnenstrahlen und weitere Umbauvorgänge in Leber und Niere tragen zum Beginn der Hormonaktivität bei. Auch das Stillen ist ein wichtiger Faktor zu einer gesunden Vitamin-D-Versorgung. Die schädigende Wirkung von Vitamin-D-Stößen wurde erst durch LINDEN in ihrem ganzen Ausmaß der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Erst jetzt werden die Dosierungen so weit reduziert, dass möglicherweise keine Nebenwirkungen zu erwarten sind. LINDEN723 bemerkt zur staatlich geförderten Verabreichung von Vitamin D in Form von sogenannten Vigantolstößen in den 20ger Jahren und noch Jahrzehnte danach: „Meist erhielten und erhalten die Säuglinge auch heute noch in einem Vigantolstoß zwei oder drei Tabletten, also 400 000 bis 600 000 Einheiten, und zwar dreimal im Lauf des ersten Lebensjahres, zum ersten Mal oft schon in der Gebärklinik. Auf diese Weise wird der Kalk in die kindlichen Knochen und Gewebe geradezu hineingepresst, und die Wirkung ist oft erstaunlich: Es tritt eine rasche Verhärtung der Knochen und des Bindegewebes ein. Die Lösung des Rachitisproblems schien gesichert zu sein; leider war das ein Irrtum . . . Meine ablehnende Haltung gegenüber der Anwendung von Vigantolstößen basiert auf folgendem Erlebnis: 1923/24 wurde mir als jungem Assistenzarzt die Sektion eines zehnmonatigen Säuglings übertragen, der aus zunächst völlig ungeklärter Ursache gestorben war . . . Bei der histologischen Untersuchung der Organe des Kindes ergab sich eine Arterienverkalkung der Lungenarterien, die so stark war, dass das Kind langsam daran ersticken musste. Dies war ein geradezu sensationeller Befund: der erste bekannt gewordene Fall, dass ein Säugling an Adernverkalkung, also an einer Alterserkrankung gestorben war . . . Später im Koreakrieg wurde allerdings bei den neunzehnjährigen gefallenen Amerikanern 723 LINDEN, 1982, S. 419 bis 421; LINDEN war ein anthroposophisch orientierter und arbeitender Kinderarzt. 361 in großem Umfang Verkalkung, besonders der Kranzarterien des Herzens, gefunden, und 1953 beschrieb die Pathologin Frau Professor SCHMIDTMANN Gefäßverkalkungen, die sie mehr als zufällig bei 240 kleinen Kindern beobachtet hatte, darunter auch bei einem im Alter von sechs Monaten plötzlich an Herztod gestorbenen Säugling. Die Sektion ergab eine Herzschlagaderverkalkung mit Narben der Herzmuskulatur und einer frischen ausgedehnten Durchblutungsstörung. Alle diese Kinder hatten die üblichen Vigantolstöße erhalten; . . . “ Vielleicht sind hier auch Zusammenhänge zum SIDS (Sudden Infant Death Sndrome) zu sehen. Die Vielfalt der verschiedenen Faktoren in der heutigen Zeit könnten für das Phänomen des plötzlichen Kindstodes verantwortlich sein: Die Kombination von verschiedenen Impfstoffen mit gefährlichen Konservierungsstoffen, die vorbeugende Vitaminverabreichung und der frühzeitige Gebrauch von Medikamenten. Auch nach 1961 wurde immer wieder über Zusammenhänge von Herz- und Gefäßerkrankungen und einem zu hohem Kalkgehalt im Blut berichtet, der von Vitamin-D-Gaben abhängig ist. LINDEN/WOLFF dazu: „Die Folge einer derartig starken und vorzeitigen Mineralisierung des kindlichen Körpers ist – neben anderen Schäden – eine Bewusstseinsveränderung, die sich zunächst allerdings in zu großer Wachheit äußern kann, dann aber im Verlaufe von Jahren zu einer Einschränkung des Denkvermögens und der geistigen Entwicklung führt.“724 Auch hier ist es nach Ansicht des Verfassers wichtig, nicht nur den einen Faktor, sondern das synergistische Zusammenwirken aller Faktoren für das Auftreten einer belastenden Symptomatik verantwortlich zu machen. Eine gesunde Lebensweise und Ernährung ist wesentliche Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Menschen. Sie muss bereits lange vor der Geburt des Kindes beginnen. Medikamente und Vorbeugemaßnahmen sind in den meisten Fällen unnötig, werden aber aus Mangel an Verantwortungsbewusstsein und aus dem Grund, 724 Kinderkrankheiten und Entwicklungsstörungen, 1989, 48, S. 49 362 den Kindern Krankheiten ersparen zu wollen, in großem Ausmaß in Anspruch genommen. Auch der unreflektierte Einsatz von Impfungen gehört zu diesen Maßnahmen. Baby und Partnerschaft FTHENAKIS weit darauf hin, dass die Geburt so drastisch wie kein anderes Ereignis das Leben verändere. In der Folge dieses Ereignisses seien die jungen Eltern gezwungen, ihren Alltag neu zu organisieren und die Rollen neu zu bestimmen. Depressionen seien bei Frauen, die aus dem Beruf ausstiegen, besonders häufig. Zusätzlicher Frust werde durch die sexuelle Lustlosigkeit der jungen Mütter ausgelöst. Eine Untersuchung des GALLUP-INSTITUTS weist darauf hin, dass jede fünfte Partnerschaft an den ungewohnten Problemen zu zerbrechen droht.725 725 MM, 106, 1999, S. 1 363 Neuere Erkenntnisse zur Kinder- und Jugendphase Kindergartenzeit -Schulzeit Aggressionen Die Grundlage für spätere Gewalt wird nach der Ansicht von Experten meist in der Kindheit gelegt726. Name LÖSEL Funktion Psychologe, Erlangen MÖCKEL Sonderpädagoge, Würzburg 726 MM, 72, 2000, S. 3 Rat Eltern sollten bei Anzeichen von Gewalt bei ihren Kindern rechtzeitig Rat suchen. (Hyperaktivität, Attacken gegen Eltern und andere Kinder, Tierquälerei) Etwa 5% aller männlichen Jugendlichen neigen deutlich zu Gewalt; der Nachahmungseffekt spielt eine wesentliche Rolle bei dem Zustandekommen von Gewalttaten gegen Lehrer. Kinder müssen frühzeitig die Grenzen aufgezeigt bekommen. „Gewaltanmaßung zur falschen Zeit, am falschen Ort“ muss verhindert werden; Konfliktsituationen müssen grundsätzlich geklärt 364 SCHNELL Medienpädagoge, München, Institut: Jugend –Film – Fernsehen STRENG Kriminologe, Erlangen werden. Soziale Faktoren aus dem Umfeld der Kinder sind meist die Hauptursachen. Durch das Fernsehen können diese Faktoren verstärkt werden. Kinder achten darauf, wie im Fernsehen Konflikte gelöst werden. Verhaltensweisen können daher übernommen werden, der Vorsatz dafür müsse aber schon vorher vorhanden sein. Spricht sich gegen schärfere Gesetze aus. „Wegsperren ist keine Lösung.“ Ein erzieherisches Vorgehen ist nötig. In Extremfällen ist auch eine zwangsweise Unterbringung in intensivpädagogischen Einrichtungen nötig. Allein erziehen macht arm und krank727 Bei allein erziehenden Frauen liegt nach einer schwedischen Studie das Risiko eines frühen Todes um 70% höher als bei Frauen, die ihre Kinder zusammen mit einem festen Partner erziehen. Allein erziehende Frauen leiden zudem stärker an Depressionen, unter Stress und Überarbeitung. Außerdem sind sie sechs Mal so häufig auf Sozialhilfe angewiesen. Allergien ZIMMERMANN728 vertritt die Ansicht, dass übertriebene Sauberkeit Kinder krank macht. Sowohl Infektionen als auch eine „gesunde“ Portion Schmutz trainieren auf Dauer das Immunsystem, während zu viel Hygiene möglicherweise eine spätere Allergiebereit727 SZ, 83, 2000, S. 16, und im britischen Gesundheitsmagazin „Lancet“ 728 SZ, 174, 2000, S. 12; ZIMMERMANN ist Leiter der Kinder- und Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg. 365 schaft fördere. Diese Erkenntnisse gehen auf Untersuchungen von ostdeutschen, polnischen und schwedischen Kindern zurück. Kinder aus Ostdeutschland und Polen litten trotz des geringeren hygienischen Standards deutlich weniger an allergischem Asthma als die westdeutschen oder schwedischen. Das brauchen Kinder wirklich:729 Viele (tägliche) Gespräche mit Familienangehörigen Erklärungen auf ihre Fragen zur Welt Maßstäbe und Begrenzungen Körperliche Nähe und Augenkontakt bei Gesprächen – sonst reduziert sich ihre Sprechfähigkeit und damit auch das Denkvermögen Mütter, Väter, Geschwister und Großeltern (das Altwerden beobachten, Krankheit, Verlangsamung, Sterben) Ziele (entsprechende Anregungen müssen vorausgehen) Die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen (Familie, Vereine, Freunde) Rituale und Tiefe – auch zu Hause Sonne, Sand und Strand, am besten immer am gleichen Ort, wo sie sich auskennen und Freunde treffen Diabetes In Europa erkranken immer mehr Kinder am Diabetes Typ 1. Diese Erkrankung macht ein lebenslanges Spritzen von Insulin nötig. Pro Jahr stieg im Zeitraum zwischen 1989 und 1994 die Zahl der neu erkrankten Kinder unter 15 Jahren um 3,4%. Bei den unter Fünfjährigen war der Anstieg mit 6,3% besonders hoch. Regionale Unterschiede geben zu der Vermutung Anlass, dass Umweltfaktoren oder aber Infektionen kurz vor oder nach der Geburt eine Rolle bei diesem Prozess spielen.730 729 730 SZ, 99, 2000, VI; nach Astrid von FRIESEN SZ, 67, 2000, V2 /11; 366 Möglicherweise sind auch Impfungen als Auslöser für Diabetes und Hypoglykämie in Betracht zu ziehen. Dazu COURNOYER: „Kleinkinder, bei denen schwere Komplikationen auftreten, leiden möglicherweise an einer Störung des Glucosegleichgewichts.“731 MENDELSOHN zu einem möglichen Zusammenhang zwischen der Masern-Impfung und dem Auftreten von juvenilem Diabetes: „Andere neurologische und manchmal tödliche Störungen, die mit dem Masernimpfstoff in Zusammenhang gebracht wurden, sind Ataxie (Störung in der Koordination von Muskelbewegungen), geistige Retardierung . . . juveniler Diabetes . . . und Krebs.“732 Hörschäden Eine Hörbehinderung bleibt bei vielen Kleinkindern unbemerkt. Nur etwa 50% aller Fälle von frühkindlicher Schwerhörigkeit werden durch die Untersuchungen von Risikokindern (Fehlbildungen an Kopf oder Hals sowie Kinder aus Familien, in denen es bereits Schwerhörige gibt) erkannt. Schwerhörigkeit kann auch durch eine Röteln-Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft oder durch die Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft verursacht werden. Werden die Hörschäden erst nach Jahren entdeckt, so sind bereits schwere Verzögerungen in der Sprachentwicklung eingetreten. Spätestens mit acht Monaten benötigen schwerhörige Kinder ein Hörgerät, da andernfalls ein uneingeschränktes Sprechenlernen nicht möglich ist. Auch durch Knalleffekte von Spielzeugpistolen können Hörschäden ausgelöst werden. Diese „Knall-Traumata“ sind vor allem bei Kindern zu beobachten. Mit üblichen Audiometrie-Geräten (bis 8 kHz) sind sie nach Ansicht von FLEISCHER733 nicht richtig zu erfassen. Für solche Fälle wird eine erweiterte Hochton-Hörmessung (bis 16 kHz) empfohlen. In Gießen allein wurden 23 Fälle von Hörschäden dokumentiert, die durch Spielzeugpistolen verursacht wurden. Meist wurden die Pistolen direkt am Gehörgang abgefeuert. Dabei wird ein 731 Cynthia COURNOYER, 1996, S. 85 MENDELSOHN, 1990, S. 238 733 FLEISCHER in „Ärzte-Zeitung“, 1999, 24/18; FLEISCHER ist Hörforscher an der Universität Gießen. 732 367 Lärm von mehr als 135 Dezibel verursacht. Über 84 Dezibel gelten bereits als Risiko für Schwerhörigkeit. Der beim Abfeuern erzeugte Spitzenschalldruck am Ohr ist höher als der beim Schießen mit Bundeswehrgewehren. Nach ZENNER734 haben alleine durch die Millenniumsfeiern etwa 3000 Menschen Hörschäden erlitten. Eine weitere Ursache für die Zunahme von Hörschäden sind auch in den Gewohnheiten der Eltern begründet. Mehr als 25% der Kindergartenkinder in Deutschland leiden nach PLATH inzwischen an Störungen der Sprachentwicklung. Vier hauptsächliche Faktoren seien dafür ausschlaggebend: chronische Entzündungen des Mittelohres im Kindes- und Jugendalter immer weniger Eltern führen mit ihren Kindern noch direkte Gespräche die stundenlange, informationslose Berieselung mit Musik ein ständig laufendes Fernsehgerät Durch diese beiden kontinuierlichen Schallquellen (Musik und Fernsehgerät) wird die notwendige Ausbildung des Gehirns, die für ein differenziertes Hören Voraussetzung ist, verhindert. Intelligenzmindernde Faktoren 735 Schwitzen in der Sauna vermindert nach LEHRL selbst nach ausgiebigem Trinken den Intelligenzquotienten. Erst nach mehr als einem Tag liege dieser wieder auf dem gewohnten Niveau. Auch mangelnde Bewegung, zu wenig Kohlenhydrate in der Nahrung und fehlendes Licht kann den Intelligenzquotienten um bis zu zehn Punkte „nicht unerheblich“ senken. Im Gegensatz dazu regen körperliche Ertüchtigung und Denksportaufgaben das Gehirn an und machen den Weg für dauerhaft höhere Leistungen frei. 734 MM, 9, 2000, S. 12; ZENNER ist Direktor der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Tübingen; PLATH ist Arzt in Recklinghausen. 735 MM, 231, 2001, S. 1; LEHRL ist Medizin-Psychologe an der Psychiatrischen Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg. 368 Lärm schadet der Seele und dem Herzen BABISCH weist auf Studien hin, die seelische und körperliche Schäden als Folgen dauerhafter Lärmbelästigung bestätigen. Ständige Geräuschpegel erzeugen nicht nur eine erhöhte Reizbarkeit bei den Betroffenen, sondern erhöhen neben dem Blutdruck auch das Herzinfarktrisiko um ca. 20%.736 Messungen des Schallpegels in Kindergärten ergaben einen gemittelten Schallpegel von 89,1 Dezibel. Der Lärm, der von einem Presslufthammer in sieben Metern Entfernung wahrgenommen wird, ist damit vergleichbar. Bei Erwachsenen treten Gehörschäden wie bleibende Schwerhörigkeit auf, wenn sie einem dauernden Schallpegel über 85 Dezibel ausgesetzt sind. Kinderohren reagieren jedoch noch empfindlicher auf solche Belastungen. Der Lärmpegel in Montessori-Einrichtungen und WaldorfKindergärten lag signifikant niedriger. Verantwortlich für diese Tatsache ist laut der Untersuchungsauswertungen der unterschiedliche Umgang des Personals mit den Kindern.737 Ich gebe an dieser Stelle zu bedenken, dass bei dieser Erklärung die Frage zu stellen ist, ob die Montessori- und Waldorf-Kinder zu Hause nicht auch zusätzlich an andere Verhaltens- und Kommunikationsweisen gewöhnt wurden. Pubertät – Beginn bei Mädchen abhängig von Depressionen der Mütter Leiden Mütter unter Depressionen, so beginnt die Pubertät bei ihren Töchtern früh. Depressionskranke berichten häufig über Disharmonien in der Partner- und der Eltern-Kind-Beziehung. Das Einsetzen der frühen Pubertät wird durch die Evolution erklärt. In der Vorzeit steigerte sich bei Frauen mit unsicherer Zukunft der Fortpflanzungserfolg durch schnellere körperliche Reife und frühen Sex.738 736 MM, 267, 1999, S. 1 SZ, 37, 2000, V2 /12 738 MM, 83, 2000, J 4; die Studie wurde im US-Fachblatt „Child Development“ veröffentlicht (März-Ausgabe); 737 369 Schlaf(-probleme) bei Kindern (und Erwachsenen) Eine Studie weist nach, dass Schlafprobleme bei Kindern im Vorschul- und Schulalter wesentlich häufiger als bisher vermutet auftreten. Die Kinder fielen Lehrern und Erziehern auf, weil sie häufig während des Unterrichts ein Nickerchen hielten. Auf Befragung berichteten die Kinder, dass sie nachts oft aufwachten. OWENS739 weist darauf hin, dass ein Kind unter zehn Jahren für eine normale Entwicklung täglich zehn bis zwölf Stunden Schlaf benötige. (Siehe dazu auch im Kapitel: die Mediengesellschaft. – Schlafprobleme durch zu langes und zu spätes Fersehen) MAQUET740 konnte durch Versuche am Menschen nachweisen, dass neu Erlerntes im Schlaf wiederholt wird. Diese Tatsache wurde bisher nur durch Versuche an Ratten experimentell bestätigt. In der Tiefschlaf-Phase waren dieselben Regionen des Gehirns aktiv, wie bei den vorausgegangenen Reaktionstests. Dies wurde durch eine Analyse des Blutflusses im Gehirn bestätigt. Es wird vermutet, dass das Gehirn während des Schlafes das Gelernte wiederholt, um es im Gedächtnis zu stabilisieren. Schlechter Schlaf führt nach HAJAK zu weniger Erfolg im Beruf. Danach bleiben „schlechte Schläfer doppelt so häufig in den unteren Gehaltsstufen hängen, während gute Schläfer Karriere machen, mehr verdienen und weiterkommen.“741 Den kurzen Mittagsschlaf sieht er als „eine der wesentlichen Zukunftsstrategien“ im Beruf. MAAS: „Das absolute Schlaf-Minimum sind acht Stunden, ideal zehn Stunden.“742 Der Bundesdeutsche schläft nur durchschnittlich 6,7 Stunden pro Nacht. Durch eine Steigerung der Schlafdauer von acht auf neun Stunden erhöht nicht nur das Wohlbefinden, sondern kann gleichzeitig auch die Leistungsfähigkeit am nächsten Tag um 20% gesteigert werden. 739 Leiterin der Studie: Judith OWENS, Brown Universität, US-Staat Rhode Island, in Spektrum, MM, 65, 2000, S. 4 740 Nature Neuroscience, 2000, Bd. 3, S. 831 741 SZ, 181, 2000, S. 12; HAJAK ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. 742 Naturheilkunde Report, 7 bis 8, 2001, S. 49; MAAS ist Professor für Schlafforschung in den USA. 370 Schulprobleme Schule macht Druck auf Schüler, Eltern, Lehrer. Jeder sucht die Schuld bei seinem Gegenüber. Wie kann der Druck vermindert werden? Kinder brauchen Freiräume außerhalb der Schule, die sich der Kontrolle und den Erwartungen der Erwachsenen entziehen brauchen die Möglichkeit, die Welt aktiv zu entdecken, körperlich aktiv zu sein brauchen Entlastung vom Bewertungsdruck in der Schule sollen sich selbst überlassen werden, ohne sie aus den Augen zu verlieren brauchen das Gefühl, von Lehrern nicht nur nach ihrer Leistung beurteilt zu werden schätzen es, wenn Eltern und Lehrer Interesse an ihrer Person bekunden müssen ihre fundamentalen Lebensbedürfnisse befriedigen können (Nahrung, Kleidung, Schlaf, Geborgenheit) suchen Grenzen und schätzen sie. Lehrer sollten vor Beginn der Arbeit für die „soziale Hygiene“ im Klassenverband sorgen sollten erkennen, dass „Lernen“ im sozialen Bereich eine Voraussetzung für eine effiziente Lernhaltung ist sollten zeigen, wie man lernt und darauf aufmerksam machen, dass Lernen ein Akt geistiger Anstrengung ist, der durch nichts ersetzt werden kann sollten versuchen, den Unterricht abwechslungsreich nach den Bedürfnissen der Schüler zu gestalten, und dabei keine Angst haben, sich über bestehende Lehrpläne hinwegzusetzen. Eltern sollten Zeit für ihre Kinder haben sollten Grenzen setzen und „nein“ sagen können 371 sollten darauf achten, dass Konflikte in der Familie gemeinsam besprochen und gelöst werden können sollten rechtzeitig Hilfe suchen, wenn für sie unlösbare Probleme auftauchen sollten wissen, dass eine Partnerproblematik sich immer auf das Lernverhalten der Kinder auswirkt sollten sich ihrer Vorbildfunktion sehr bewusst sein. Spielen – und Spielzeuge RESNIK 743geht davon aus, dass das Ignorieren und Übertreten von Regeln beim Spiel von Kindern und Jugendlichen nicht aus Vergnügen geschieht. Sie lernen dabei intensiv und bauen so ihr Wissen über die Welt auf. „Die Gesetze der Schwerkraft begreifen Kinder nur, wenn sie sie brechen und einen Turm aus Bauklötzen einstürzen lassen . . . Nicht alle Gesetze haben ewige Gültigkeit, auch deshalb ist die kindliche Missachtung für Vorschriften so wichtig. Regeln zu brechen bedeutet auch, Raum für Wandel zu schaffen . . . Die Kinder müssen schließlich in einer komplexen Welt zurechtkommen, auf die sie die Schule und Spielzeug bislang nicht halb so gut vorbereiten wie das Leben selbst . . . “ Über die elektronischen Spielzeugprodukte: „Von plappernden Robot-Puppen bis zu nichtsaugenden Kinderstaubsaugern – zu viele Spielzeuge sind so sinnlos wie ein singender Teppich . . . man nimmt sie aus der Box, sie tun, worauf sie programmiert sind, und das war`s dann. Kinder lernen Bedienen, nicht Entdecken und Entwickeln. Die Kreativität bleibt auf der Strecke.“ TURKLE zum Präsentationsprogramm Powerpoint: „Kinder lernen das Abrufen von Funktionen, sonst nichts.“ 743 SZ, 267, 2001, V2 /11; RESNIK ist Professor am Massachussetts Institute of Technology (MIT) in Boston; Sherry TURKLE ist Soziologin am MIT. 372 Vorbildwirkung der Eltern – Autofahren 744 Eltern, die viele Autounfälle verursachen, geben diese Neigung an ihre Kinder weiter. Das ist das Ergebnis einer Studie mit 140 000 amerikanischen Familien, in der die Unfallzahlen der Eltern mit denen ihrer 18- bis 21-jährigen Kinder verglichen wurden. Die jungen Erwachsenen, deren Eltern in den vergangenen fünf Jahren in mindestens drei Verkehrsunfälle verwickelt waren, bauten um 22% mehr Unfälle als solche, deren Eltern in diesem Zeitraum keinen Unfall hatten. Noch größer ist der Zusammenhang zwischen Kindern und Eltern bei verbotswidrigem Verhalten (zu schnelles Fahren, Missachten von Rotlicht). Waren Eltern mit drei oder mehr Übertretungen bei der Polizei aufgefallen, so gerieten die Kinder mit einer um 38% erhöhten Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit dem Straßenverkehrsgesetz in Konflikt. Das Fahrverhalten wird von FERGUSON auf Nachahmung zurückgeführt. Bei den jungen Männern sei die Neigung zum gefährlichen Fahren doppelt so groß gewesen wie bei Frauen. Sexualverhalten von Jugendlichen Eine Studie, in der 4200 Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren befragt wurden, bestätigte die Vermutung, dass die ersten sexuellen Erfahrungen immer früher gemacht werden. BAUR zur Ursache dafür: „Der wachsende Stress wirkt sich auf die Hormone aus.“745 Weitere Ergebisse der Studie: Global Sex Survey 1999 Einstiegsalter für sexuelle Erfahrungen in Deutschland 744 Alter in Jahren 15,6 Angaben in % oder Zahlen MM, 231, 2001, S. 6, und Psychologie heute, 11/01; Susan FERGUSON ist Leiterin der Studie für das Insurance Institute of Highway Safety in Arlington (Virginia). Die Original-Studie in „Accident Analysis and Prevention“, Bd. 33, 2001, S. 229 745 SZ, 219, 1999, L 5; Gesine BAUR ist Psychologin und Buchautorin in München. 373 Verhütungsmittel werden nicht verwendet Information über Schwangerschaften Information über Geschlechtskrankheiten Informationen über den Schutz mit Kondomen Benutzung von Präservativen Verzicht auf jeden Schutz Sexuelle Untreue bei den fest gebundenen Befragten Sehen keinen Grund, ihr Sexualverhalten wegen Aids zu verändern Durchschnittliche Anzahl der Sexualpartner bis zum Alter von 21 Jahren Durchschnittliches Alter der ersten Aufklärung 25% 99% 99% 92% 57% 15% 36% 36% 5% rapide ansteigende Tendenz 11,3 Die Aufklärung durch die eigenen Eltern wird von den Jugendlichen als wenig informativ eingeschätzt; sie erhalten die ersten sexuellen Informationen von Jugendlichen und Freunden. Was die Art und Weise sich von Partnern zu trennen betrifft, so zeigen die Jugendlichen einen immer größeren Einfallsreichtum. Der Flirt mit anderen, oder aber das Ignorieren von Anrufen stehen an erster Stelle. Dieses Verhalten muss in Zukunft zu noch erheblich mehr gescheiterten Ehen führen als jetzt. Die Jugendlichen werden bei diesem Verhalten in naher Zukunft bis zu ihrem 21. Lebensjahr durchschnittlich mit etwa zwölf Partnern Erfahrungen gemacht haben. Das bei Unterrichtsbesuchen von Lehrern gezeigte Verhalten wird von BAUR so beschrieben: „Wenn die das Wort vögeln benutzen müssten, würde ihnen die Rübe runterfallen.“ 374 Erste sexuelle Erfahrungen – Intelligenz Das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung belegt, dass intelligente Jugendliche die ersten sexuellen Erfahrungen später als durchschnittlich kluge Altersgenossen machen. Die Wissenschaftler verglichen die Intelligenz von 300 Teenagern im Alter zwischen 13 und 15 Jahren mit deren Sexualleben. Sie stellten fest, dass mit dem Anstieg des Intelligenzwertes um einen Punkt die Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr bei Mädchen um 1,7% und bei den Jungen um 2,7% abnahm. Die Forscher begründen dieses Ergebnis mit der Angst vor möglichen Folgen.746 Stressresistenz von Frauen Männer neigen im Gegensatz zu den Frauen dazu, gegen den Stress und andere Herausforderungen anzukämpfen oder zu flüchten. Frauen dagegen setzen eher auf Hilfe und Gespräche, eine Taktik, die auch als „Schützen und Kontakt aufnehmen“ bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu den Männern kümmern sie sich in Stresssituationen um ihre Kinder und tauschten sich mit ihnen aus. TAYLOR747 macht dafür die beruhigende Wirkung des Hormons Oxytocin verantwortlich, das Angst nimmt und zugleich die Kontaktaufnahme fördere. Bei Männern wird die Wirkung dieses Hormons durch die männlichen Sexualhormone offenbar abgeschwächt. Daher ihre spezielle Stressreaktion: „Kampf oder Flucht.“ Übergewicht (siehe dazu auch im Kapitel Ernährung) Die Schulkinder werden zunehmend dicker und unsportlicher. BÖS748 kommt zu der Erkenntnis, dass bei unseren Kindern eine Zeitbombe ticke. Bereits die Grundschulkinder bewegen sich weniger als eine Stunde am Tag. Sie schlafen etwa neun Stunden täglich und sitzen die gleiche Zeit in der Schule, bei Hausaufgaben und vor dem Fernseher oder Computer. Die meisten Kinder verbringen täg- 746 Studie der Universitiy of North Carolina; in Focus Nr.10, 4. März 2000 747 Shelley TAYLOR arbeitet an der Universität von Los Angeles. 748 MM, 235, 1999, S. 1; BÖS ist Professor für Sportwissenschaft in Karlsruhe. 375 lich fünf Stunden mit dem Gehen. Eine Stunde bleibt somit für den Sport übrig. „Unsere Kinder sind nicht mehr so fit, dass sie dauerlaufen, klettern und balancieren können. Was da in einigen Jahren an Gesundheitsproblemen und Folgekosten auf uns zukommt, wird dramatisch. Einerseits seien die Möglichkeiten im Schulsport nicht ausgeschöpft, andererseits tragen für diese Entwicklung auch die Eltern eine große Verantwortung, auch wenn nach neueren Erkenntnissen die Mitschuld an der Fettleibigkeit einem Ur-Gen angelastet wird, das etwa 150 000 Jahre alt ist. SIFFERT hat nach eigenen Aussagen direkt nachgewiesen, dass dieses ehemals nützliche Gen den raschen Abbau von Körperfett im Körper verhindere, das Bluthochdruck-Risiko steigere und zugleich für die Stärkung der Körperabwehr gegenüber Krankheitserregern zuständig sei. Sowohl Bewegungsmangel als auch Nahrungsüberfluss tragen ihren Teil beim Auftreten von Fettleibigkeit bei.749 Trotz all dieser Erkenntnisse wurden Sportstunden an den Schulen reduziert und trotz unseres Wissens achtet der Großteil der Menschen in Deutschland zu wenig auf eine gesunde Ernährung. Auch in Schulen werden immer noch zu viele zuckerhaltige Getränke angeboten und verlangt. Schüler-Untersuchungen in München haben drastische Zahlen geliefert:750 6% der Kinder sind schon bei der Einschulung zu dick. 15% der Jugendlichen haben Übergewicht und viele von ihnen Bluthochdruck und zu hohe Blutfettwerte. Unfälle von Kindern Jährlich verunglücken in Deutschland ca. 2 Millionen Kinder bei Sport und Spiel und im häuslichen Bereich. Etwa 200 000 Kinder müssen aufgrund ihrer Verletzungen stationär behandelt werden. Bei 3000 Kindern bleibe eine dauerhafte Behinderung zurück. 749 MM, 238, 1999, S. 1; SIFFERT ist Professor am Uniklinikum in Essen. 750 MM, 262, 1999, München 376 Im vergangenen Jahr wurden bundesweit etwa 700 Kinder bei Unfällen getötet. Neben dem menschlichen Leid entsteht ein volkswirtschaftlicher Schaden in Höhe von 2,4 Milliarden Mark.751 Verhütung von Schwangerschaften Hausärztinnen können durch klärende Gespräche um 9% mehr Schwangerschaften verhindern als ihre männlichen Kollegen. Bei Ärztinnen unter 36 Jahren waren 25% weniger Schwangerschaften bei den Teenies eingetreten. Als Ursache dafür wird die größere Gesprächsbereitschaft und Geduld der Frauen vermutet. „Ärztinnen haben weniger Schwierigkeiten, sexuelle Probleme mit den Mädchen zu besprechen, und informieren sie ausführlicher über Sexualkrankheiten und den Gebrauch von Kondomen.“752 In Großbritannien gibt es jährlich 8000 mehr TeenieSchwangerschaften pro Jahr als im übrigen Westeuropa. Jugendliche als Mütter – wenn Teenager Kinder bekommen Etwa 5000 Mädchen unter 18 Jahren bekommen in Deutschland jährlich Kinder. Trotz eingehender Sexualaufklärung an den Schulen, und obwohl Frauenärzten immer jüngeren Mädchen die Pille verschreiben, nimmt die Zahl der in den meisten Fällen stark überforderten „Kindermütter“ nicht ab, da die Geschlechtsreife der Mädchen immer früher einsetzt und junge Mädchen seltener abtreiben als ältere Frauen. Nach den Beobachtungen von Sozialarbeitern sind mangelnde Perspektiven der häufigste Grund dafür, dass sich Mädchen in ein verfrühtes Leben mit einem Kind stürzen. Durch ein Kind verschaffen sich die Mädchen einen sozialen Status und ein eigenes Einkommen. KLUGE: „Die Kinder dieser Mädchen sind zwar ungeplant, aber nicht ungewollt.“753 751 MM, 262, 1999, S. 1 British Medical Journal, 2000 und in SZ 71, 2000, S. 16 753 SZ, 180, 2001, S. 3; KLUGE ist Sexualwissenschaftler an der Universität Koblenz-Landau; Monika FRIEDRICH arbeitet als Soziologin an der Universität Münster; Anneke GARST arbeitet im Mutter-Kind-Heim Casa Luna in Bremen; Eva ZATTLER ist Schwan752 377 In wenigen Jahren können bereits Zehnjährige Kinder bekommen. In England kommen jährlich etwa 50 000 und in den USA etwa 35 000 Teenager-Babys auf die Welt. Durch eine computergesteuerte „Think it over Baby“-Puppe, die stündlich schreit und wie ein richtiges Baby versorgt sein will, sollen Jugendliche und Kinder lernen, welche Folgen Sex ohne Verhütung nach sich zieht. Ursachen für eine Teenager-Schwangerschaft: FRIEDRICH: „Sexuelle Gewalt war in einem Viertel der Gespräche Thema.“ GARST: „In unserer Einrichtung spielen Faktoren wie Alkoholismus, Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch oder die Trennung der Eltern im Lebenslauf der Mädchen eine Rolle.“ ZATTLER: „Mädchen, die nie eine intakte Familie erlebt haben, haben einen starken Familienwunsch. Wenn sie dann aber Kinder kriegen, ist es für sie besonders schwierig – gerade weil sie keine positive Familienerfahrung haben.“ RADENBERG: „In meinem Bezirk gibt es eine hohe Anzahl junger Frauen, die aus sozial schwachen Familien kommen, keine Ausbildung haben und die den Boden unter den Füßen verlieren. Sie bekommen Kinder, die ihnen scheinbar eine gewisse Stabilität bieten, und hoffen darauf, dass auch ihre Partnerschaften stabil bleiben. Das Gegenteil ist der Fall, und die Mädchen gleiten in die Sozialhilfe ab.“ Zu den Vätern der Teenie-Kinder: Die Vaterschaft wird häufig (etwa 90% der Fälle in Casa Luna) abgestritten, die notwendigen Zahlungen verweigert. In den meisten Fällen wird durch das Jugendamt ein Vaterschaftsprozess angestrebt. Auch die Versuche von werdenden Vätern, die Schwangerschaft durch physische Gewaltanwendung zu beenden, dürften häufig vorkommen. Vom Sozialamt kann eine ledige junge Mutter monatlich etwa 1500 DM erhalten, wenn sie nicht vergisst, die notwendigen Formulare auszufüllen und abzugeben. gerschaftsberaterin bei Pro Familia in München; RADENBERG arbeitet als Sozialpädagoge in der Nürnberger Südstadt. 378 Versiegelung von Zähnen Diese Maßnahme wird von Zahnärzten ebenfalls zur Vorbeugung von Zahnkrankheiten empfohlen. Die „Grübchen“ auf der Kaufläche werden oft von Karies befallen. Diese Fissuren sollen deshalb nach Ansicht von Zahnärzten durch eine Versiegelung geschützt werden. Bei diesem Vorgang wird der Schmelz, der die Fissuren umgibt, zuerst mit Phosphorsäure aufgerauht. Anschließend wird er mit einem dünnen Kunststoff überzogen. Dazu KOCH: „So wird ein gesunder Zahn zum permanenten zahnärztlichen Pflegefall. Außerdem sind mögliche Gesundheitsschäden durch Kunststoffe bislang noch nicht geklärt.“754 KOCH empfiehlt folgende Möglichkeiten der Prophylaxe: Häufig werden Kinder, die an Karies leiden, von ihren Eltern angesteckt. Dies geschieht durch die Übertragung von sogenannten Mutan-Streptokokken, die Karies auslösen. Da die Mundflora des Neugeborenen noch nicht zu einer Abwehr fähig ist, sollte unbedingt vermieden werden, dass Mutter und Kind vom selben Breilöffel essen. Die Mutter sollte zu Beginn der Schwangerschaft feststellen lassen, ob sie an Karies leidet und notfalls eine professionelle Reinigung in einer Individualprophylaxe durchführen lassen. Die beste Vorbeugung gegen Karies, Zahnfehlstellungen und Kieferanomalien ist das Stillen. 754 Co-med, 9/99, S. 24; KOCH ist Zahnarzt, Mediziner und Philosoph; er ist außerdem Gründungs- und Vorstandsmitglied der internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin. Seit 1995 leitet er das Fortbildungskolleg Naturheilverfahren der GZM und ist Vorstandsmitglied des internationalen Arbeitskreises für biokompatiblen Zahnersatz (AbZ). 379 Eine vollwertige Ernährung bietet einen zusätzlichen Schutz. Die richtige Verwertung des Essens setzt sowohl Ruhe und eine entspannte Atmosphäre als auch gutes Kauen voraus. Zahn- und Mundpflege mit Präparaten, die mineralischpflanzliche Inhaltsstoffe enthalten. Durch eine vernünftige Lebensweise (Bewegung, Atmung, Ernährung) wird Krankheitserregern die Grundlage entzogen. KOCH: „Eine echte Vorbeugung besteht also nicht in einer Therapie, sondern macht Therapie überflüssig.“ 380 Der Beitrag der Medizin zur Entstehung von Lernbehinderungen und Entwicklungsverzögerungen Frühchen Die rasante Entwicklung (der Verfasser verzichtete bewusst auf den Begriff „Fortschritt“) im medizinischen Bereich leistet ebenfalls einen erheblichen Beitrag dazu, dass immer mehr Kinder unter lang anhaltenden Entwicklungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen leiden. Es ist inzwischen möglich, Frühchen immer häufiger am Leben zu erhalten. Babys mit einem Gewicht zwischen 300 und 800 Gramm, die zwischen der 22. und der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, können am Leben erhalten werden. Ein Drittel jedoch muss mit einem Handicap leben. Durch entsprechende Pressemeldungen wird der Eindruck erweckt, als sei medizinisch alles machbar. Gründe für Frühgeburten: Probleme im sozialen Umfeld Überbelastung vieler Frauen und der gesellschaftliche Umgang mit dieser Überbelastung eine hohe Anzahl von Schwangerschaften suchtgefährdete Frauen lange Einnahme von Medikamenten zur Verhütung und in Form von Wehenhemmern zu hohes Alter zu junges Alter Hormonpräparate 381 Eine im Jahr 1985 begonnene Studie755 in Südbayern (7500 beobachtete Kinder) und Finnland (1500 beobachtete Kinder) über die Entwicklung von Frühchen, die eine gefährdete Schwangerschaft und Geburt hinter sich hatten, brachte folgende Ergebnisse: Beobachtungszeitraum bis zum fünften, bzw. achten Lebensjahr: Südbayern Finnland Anzahl der Frühgeburten weniger Gestörte Entwicklung Normale Entwicklung Leichtere und schwerere Störungen weniger 48% keine Angaben Ca. 50% keine Angaben Erläuterung Regelmäßige Betreuung der Schwangeren durch ärztliche und nichtärztliche Mitarbeiter; rechtzeitige Verlegung in die Kliniken der Hauptstadt siehe oben keine Angaben keine Angaben Heute weiß man, dass ab der 18. Woche schon alle Sinne eines Kindes funktionieren, selbst wenn sie noch nicht voll ausgebildet sind. Das Wahrnehmungssystem ist nach bestehender Lehrmeinung überempfindlich, da das Gehirn möglicherweise zu überempfindlich ist, um unwichtige Signale auszusondern. Jegliche Störung des labilen Gleichgewichtes ruft in dem winzigen Organismus extreme Reaktionen hervor. VERSMOLD756 erklärt: „Bei Frühchen sind die Gefäße im nicht ausgewachsenen Hirn so lose, dass sie bei Blutdrucksenkungen zerreißen können.“ Hirnblutungen können auch durch Blutverluste aufgrund von Kreislaufstörungen und ebenso durch Sauerstoffmangel eintreten. Dies kann bleibende Schäden nach sich ziehen und im 755 In SZ, 216, 1998, VI; SZ 196, 1998, S. 12; VERSMOLD ist Direktor der Kinderklinik an der Freien Universität Berlin. 756 382 schlimmsten Fall zum Tod führen. Bei Babys unter 1000 Gramm ist die Häufigkeit solcher Blutungen inzwischen von 60% auf heute 15% aller Frühgeborenen gesunken. Durch das Präparat Surfactant – eine aus Tierlungen gewonnene Substanz – wird heute das Zusammenfallen der Lungenbläschen in vielen Fällen verhindert. Im Jahr 1996 kamen 49 000 Kinder (6,1%) mit einem Gewicht von unter 2500 Gramm zur Welt. Etwa 1% habe sogar ein Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm. Etwa jedes siebte Kind unter 1500 Gramm müsse mit schweren Behinderungen rechnen. Bei Frühchen mit sehr schweren Hirnstörungen besteht Übereinstimmung darin, künstliche lebensverlängernde Maßnahmen einzustellen. Die Rettung eines zu früh geborenen Babys ist jedesmal ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Es ist für Neonatalogen nicht möglich, Aussagen bezüglich der erfolgten Schädigungen zu machen. Im Jahr 1994 überlebten bereits über zwei Drittel der Frühchen unter 1000 Gramm. Bei etwa 10% der Entbindungen kam es zu Komplikationen. EIERMANN757 wies darauf hin, dass die Zahl der Neugeborenen mit Fehlbildungen zunehme. Durch die ärztliche Verordnung und die Einnahme von Hormonpräparaten kommt es immer wieder zur Geburt von Sechslingen. Oftmals können mehrere Kinder die Geburt nicht überleben oder sie sterben kurz danach. Die überlebenden Kinder werden aufgrund der „medizinischen Daten“ zu einem Großteil behindert sein. So starben zwei von sechs Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht zwischen 800 und 1000 Gramm in Perugia, obwohl sie sofort in einen Brutkasten kamen.758 In Lissabon sind im Februar 2002 drei der zu früh geborenen Sechslinge gestorben. Die überlebenden Babys liegen auf der Intensivstation und werden dort künstlich beatmet. NASCIMENTO: „Wir können jetzt keine Vorhersagen über ihre Überlebenschancen machen.“ Die Sechslinge waren in der 23. Schwangerschaftswoche und damit rund dreieinhalb Monate früher als normal zur Welt gekommen. Sie wogen zwischen 408 und 563 Gramm. Die 31-jährige Mutter hatte 757 MM, 29. 3. 1994, Bayern; EIERMANN ist Gynäkologe und Chefarzt der Frauenklinik vom Roten Kreuz in München. 758 MM, 15, 2000, S. 10 383 sich hormonell behandeln lassen. Sie hatte den Rat der Ärzte, vier der sechs Föten abtreiben zu lassen, nicht befolgt.759 Für 1998 gelten in Deutschland folgende Zahlen: 80% der Babys unter 1500 Gramm überleben (vor 15 Jahren waren es nur 25%). 15% der Frühchen sind leicht behindert. 10% werden ihr Leben mit schweren Behinderungen meistern müssen. Oftmals zerbrechen Ehen an dieser belastenden Situation. MARCOVICH760 gelang zu Beginn der 90er Jahre eine sensationelle Entdeckung: Frühgeborene Kinder sind unter bestimmten Bedingungen fähig, selbst zu atmen. Die Ärztin gab den Eltern ihre Kompetenz zurück und setzte ihre Hoffnung und Vertrauen ganz auf den Überlebenswillen der Kinder. Der Erfolg ihrer „sanften Methode“: Knapp 13% der von ihre betreuten Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm starben. 4% der Babys blieben nach ihren Angaben behindert. Kein Kind war an den Augen oder der Lunge verletzt. Dieses Vorgehen warf ethische und juristische Probleme auf: Der Ärztin wurden von Kollegen und Gutachtern Unwissenheit und Fanatismus vorgeworfen, sie musste sich für den Tod von 15 Babys vor Gericht verantworten. Ohne den „Schutz“ der Technik wird der Tod zu einem juristischen Kriminalfall. Die Neonatologin wurde freigesprochen, verlor jedoch ihre Arbeitsstelle. LINDERKAMP fordert eine intensive Nachbetreuung der zu früh geborenen Kinder: 759 SZ, 36, 2002, S. 14; Odilia NASCIMENTO ist leitende Ärztin der Neugeborenen-Station der Alfredo-da-Costa-Klinik in Lissabon. 760 MARCOVICH ist Neonatologin in Wien; LINDERKAMP ist Professor für Neonatologie in Heidelberg. 384 „Eine Ambulanz bis zum Schulalter wäre dringend notwendig, da man viele Behinderungen erst später erkennen kann. Die Neonatologen sollten das Kind weiterbetreuen . . . Wenn man schon 100 000 Mark ausgibt, um ein Kind durchzubringen, sollte es einem die rund 20 000 Mark für die Nachbetreuung wirklich wert sein!“ Der größte Teil der verfügbaren Gelder wird jedoch auch in Zukunft für die technische Weiterentwicklung der Medizin ausgegeben. OHRT berichtet, dass zwei Drittel der Babys, die mehr als acht Wochen zu früh geboren wurden, nicht gesund überleben könnten. Bei diesen Kindern muss also mit bleibenden Schäden gerechnet werden. Dieses Ergebnis einer Langzeit-Entwicklungsstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie am Hauner’schen Kinderspital in München stimmt mit den Ergebnissen international durchgeführter, vergleichbarer Studien überein.761 Alle der 7505 Kinder, die zwischen 1985 und 1986 geboren wurden und während der ersten zehn Lebenstage in eine der 17 südbayerischen Kinderkliniken verlegt wurden, waren Teilnehmer/innen dieser Studie. Bis zur 32. Schwangerschaftswoche wurden 560 von ihnen geboren. Diese und auch 915 nach der Geburt als gesund eingestufte Kinder wurden achteinhalb Jahre lang im Hinblick auf ihre geistige, emotionale, körperliche, motorische und soziale Entwicklung hin untersucht. Während im Jahre 1984 nur 34% der Kinder überleben konnten, die vor der 28. Woche geboren wurden, ist das heute bereits für 73% der Babys möglich. ORTH dazu: „Das Problem für diese Gruppe von Kindern wird nicht kleiner werden.“ Das bedeutet, dass aus der Zunahme der überlebenden Kinder eine Zunahme von „Andersseienden“ resultiere. Sie seien nicht unbedingt behindert, aber in ihrer Entwicklung doch stark eingeschränkt. „Der medizinische Fortschritt geht mit einem Ansteigen der Zahl von entwicklungsgestörten Kindern einher.“ Der Verfasser beobachtet diese Tendenz seit Jahren. Die finanziellen Mittel zur Betreuung der betroffenen Kinder und Familien werden 761 In SZ, 168, 1999, S. 14; Barbara ORTH ist Entwicklungsneurologin in München. 385 nicht erhöht, sondern gekürzt. Der Staat, aber auch die Pharmaindustrie, welche die medizinische Forschung mit erheblichen finanziellen Mitteln unterstützen, kommen hier nicht ihrer Verpflichtung nach, für die ständig steigende Anzahl von behinderten Menschen und deren Angehörige weitaus mehr und konstant Sorge zu tragen. Als konkrete Forderungen ergeben sich: Ausbau und Errichtung neuer Möglichkeiten der Frühförderung und entsprechender Schulen eine rechtzeitige und intensivere Aufklärung der Menschen, die Kinder bekommen wollen, durch Ärzte, Medien und Arbeit an den Schulen Schaffung von mehr Arbeitsplätzen mit gerechter Bezahlung in allen Einrichtungen für behinderte Menschen das Bewusstsein der Bevölkerung für diese Entwicklung zu wecken, auch wenn das unpopulär ist. Bei den in der Studie beobachteten Kindern zeigten sich folgende Ergebnisse: Entwicklung ohne Schwierigkeiten : Schwere Störungen: Leichtere geistige, motorische oder Sinnesfunktionsstörungen: ca 33% 31% (IQ unter 70), cerebral bedingte Bewegungsstörungen, Epilepsie, Blindheit oder Taubheit und Hydrocephalus. ca. 33% Dazu ORTH weiter: „Sehr viele Kinder sind normal intelligent und haben trotzdem Probleme . . . Am häufigsten sind Aufmerksamkeitsstörungen. Diese Kinder sind besonders langsam bei der Lösung von Problemen, die simultane Verarbeitung mehrerer Informationen fällt ihnen schwer.“762 Bei den Frühgeborenen wird daher eine strukturelle Hirnstörung vermutet. Es besteht unter medizinischen Fachkreisen 762 o. a. 386 keine einheitliche Auffassung darüber, ob diese durch die Geburt bedingt sei. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Reifung des Gehirns extrautinär auf eine andere Art erfolge. Die von ORTH bezeichnete Gruppe sind Kinder, die zum großen Teil heilpädagogische Tagesstätten besuchen werden oder bereits besucht haben und oftmals in Schulen zur individuellen Lernförderung, Schulen zur Sprachförderung, Schulen zur Erziehungshilfe oder in Schulen zur Lebensbewältigung (Sonderschulen) beschult werden. Eine weitere Möglichkeit der Schädigung des Gehirns, die jedoch nicht aufgeführt wurde, besteht durch Impfungen. Hier kann sich dann eine besonders dramatische Entwicklung ergeben, wenn bei diesen Kindern häufige Impfungen durchgeführt werden. Der Verfasser hat stichprobenartig bei einer Befragung von Eltern in einer HPT (heilpädagogischen Tagesstätte) festgestellt, dass die stark überwiegende Mehrheit aller Kinder gegen alles geimpft worden war. Wird das Problem der Myelinisationsstörungen durch Impfstoffe ernst genommen, so ist diese Vorgehensweise sehr in Frage zu stellen. Weitere Probleme von Frühchen werden aufgeführt: Schwierigkeiten mit dem Sozialverhalten Weniger Selbstvertrauen Weniger Freundschaften und Kontakte Diese Defizite zeigen sich am deutlichsten in der Schule. Von den untersuchten Kindern besuchten 40,1% eine altersadäquate Schulklasse, 22% besuchten eine Sonderschule. Die übrigen Kinder seien auf besondere Hilfen angewiesen. Wie immer im wissenschaftlichen Bereich lassen sich natürlich auch Einwände gegen durchgeführte Studien finden. Einer der Einwände besteht darin, den Beobachtungszeitraum als zu kurz anzusehen und somit die Möglichkeit auszuschließen, dass die Entwicklungsrückstände mit mehr Zeit aufgeholt werden könnten. 387 Dazu ORTH: „Leider sind diese Probleme sehr stabil . . . Wenn Kinder so unreif überleben können, dann muss die Gesellschaft auch bereit sein, dafür zu sorgen.“ Frühgeborene Kinder müssten zunehmend Therapien im Laufe ihres Lebens in Anspruch nehmen. Eine Studie von HOY763 kommt zu folgendem Ergebnis bezüglich der Entwicklung zu früh geborener Kinder: spätere Abschottung gegen die Umwelt schlechteres Lernen weniger Freunde zeigen weniger Gefühle Die betroffenen Jungen schätzen sich im Vergleich zu ihren Kameraden selbst als trauriger ein. Untersucht wurden 183 Schulkinder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm. Die Ergebnisse wurden durch eine Befragung der Lehrer und der Klassenkameraden der Kinder selbst erzielt. Ursache für diese Entwicklung ist nach Ansicht von HOY die belastende Krankenhaussituation bei der Geburt und die spätere Überängstlichkeit der Eltern. FRÖHLICH764 weist darauf hin, dass die medizinisch notwendige Situation des Kindes in den entsprechenden Krankenhäusern eine völlig unangemessene für eine gesunde Entwicklung sei. Er zählt folgende, schädigende Faktoren auf: 763 Isolation Inkubator Unzählige Geräusche: Die Vielzahl der Alarme mit Piepsgeräuschen und unterschiedlichen Frequenzen mit der Möglichkeit eines negativen Biofeedbacks; das organisch messbare, schlechte Befinden des Kindes wird akustisch rückgemeldet; somit findet eine negative Rückkoppelung statt. Zu vielen Geräuschen kann das Frühgeborene keinerlei Beziehung herstellen. HOY, auf einem Kongress der British Psychological Society, in SZ, 101, 1999, V2 /15 764 FRÖHLICH in Zeitschrift für Heilpädagogik, 5 / 97, S. 180 388 hektische Betriebsamkeit auf der Station Dauernde Helligkeit verhindert die Entstehung eines eigenen biologischen Rhythmus. Die Unzahl pflegerischer und technischer Maßnahmen irritieren und stören das Kind. All die notwendigen Aktivitäten, die gesunde Kinder nach der Geburt als Akteure entwickeln, sind den Frühchen bei dieser Art von medizinischer Betreuung nicht möglich. Alle entwicklungspsychologischen Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass unnötige Erfahrungen zu keinem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung gemacht werden. Das Ehepaar PAPOUSEK konnte aufzeigen, dass das Kind entgegen früherer Annahmen der eigentliche Akteur im Interaktionsgeschehen zwischen Eltern und Kind ist.765 FRÖHLICH fordert „förderliche Ausgangsbedingungen“ bei der Intensivpflege und weist auf GEBEL766 hin, der folgenden Maßnahmenkatalog entwickelt hat: Pflegemaßnahmen zur basalen Stimulation:767 Alle Pflegemaßnahmen sollen außerhalb des Inkubators vorbereitet werden, so dass die Arbeit nicht unterbrochen werden muss Eine Bezugspflege sollte vornehmlich stattfinden (eine Pflegekraft als Hauptperson) Ritualisierte Verabschiedungen Lagerung des Kindes, die ein gutes Spüren des eigenen Körpers ermöglicht Vor Beginn der Pflegemaßnahmen „informative“ Berührungen des Kindes Beachtung des Zusammenhanges von Waschen und Körperschema des Kindes Lageveränderungen im Inkubator sollten langsam und ruhig erfolgen, jedoch deutlichen Widerstand bieten Drehungen des Kindes zusammen mit der Unterlage 765 PAPOUSEK, Bern, 1995 GEBEL-SCHÜRENBERG, in Pflege aktuell, 7/8, 1995 767 MM, März 1994 766 389 Vermeidung von flüchtigen, streifenden und oberflächlich streichelnden Berührungen (sie gelten als irritierend) Ruhige Elemente des Pflegeablaufes sollen am Ende stehen. Grenzen der Medizin KÜSTER768 zu den Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin bei frühgeborenen Kindern: „Man kann als Leitlinie ungefähr sagen, dass von den Frühchen, die um die 25. Schwangerschaftswoche geboren werden, ein Drittel stirbt, ein Drittel überlebt, aber mit Schäden, und ein Drittel gesund überlebt. Mit 26 Wochen sind die Chancen schon viel besser, und bei 28 Wochen überleben über 90% gesund. Dazu kommen individuelle Unterschiede: Mädchen sind eine Woche reifer, Schwarze sind eine Woche reifer.“ Die Frage, wie weit das noch gehen wird und ob bald Kinder in der 20. Woche gerettet werden können, wurde sinngemäß so beantwortet: Vor 20 Jahren hatte ein Kind von zwei Kilogramm schlechte Chancen; vor zehn Jahren war dies bei Kindern mit einem Kilogramm der Fall; jetzt sind wir bei 500 Gramm. „Entscheidend ist weniger die Größe als die Schwangerschaftswoche und damit die Reife. Wenn ein Kind in der 27. Schwangerschaftswoche nur etwa 370 Gramm wiegt (normal wären gut 800 Gramm), ist es was wir small for gestational age nennen. Das heißt „zu klein für sein Alter“, weil es im Mutterleib nicht ausreichend versorgt wurde. Wir haben hier einerseits ein Kind, das mit 25 Schwangerschaftswochen (statt normal 40) und einem Geburtsgewicht von 405 Gramm geboren wurde, nach wenigen Tagen ohne Sauerstoff, Atemhilfe und Infusion auskam und jetzt täglich bei den Eltern mehrere Stunden auf der Brust liegt. Andererseits liegt hier auch ein Kind, das mit immerhin 660 Gramm, aber schon mit 22 Schwangerschaftswochen geboren wurde – also unter dem, was als Grenze der Lebensfähigkeit gilt. Mit ihm haben wir erhebliche Probleme.“ 768 in SZ 208, 1998, L 5; KÜSTER ist Kinderarzt an der Kinderpoliklinik im Klinikum Innenstadt in München. 390 Der Zusammenhang zwischen den Grenzen der Medizin, den Wünschen der Eltern und den sozialen Anforderungen der heutigen Gesellschaft, die auch an die frühgeborenen Kinder gestellt werden, wird von ORTH sehr klar beschrieben: „Was möglich ist, wird gemacht. Den wissenschaftlichen Ehrgeiz, aber auch den Wunsch der Eltern, den kann man nicht an irgendeiner Stelle stoppen. Es ist für die Kinder nicht gut so. In unserer normierten Gesellschaft, in der zunehmend nur noch Leute eine Arbeit finden werden, die völlig normiert sind und alles richtig machen – da Kinder am Leben zu erhalten, die zum großen Teil Schwierigkeiten haben werden, das finde ich problematisch. In meinen Augen kann sich eine Gesellschaft so etwas nur leisten, wenn sie reif genug ist, auch die Verantwortung für diese besonderen Kinder genauso zu übernehmen.“769 Die Situation in Bayern Im Jahr 1999 wurden 21 588 Kinder und ihre Familien durch die Frühförderung betreut. Das sind doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Durch die Frühförderung, die vor 25 Jahren in Bayern gegründet wurde, sollen Entwicklungsrückstände von Kindern, die Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung zeigen, aufgefangen werden. Die Idee, dass Sozialpädagogen, Kinderärzte und Therapeuten gemeinsam ein Förderprogramm ausarbeiten, um eine drohende Behinderung abzuwenden, bröckelt durch Sparpakete, Einschnitte im sozialen Netz und aufgrund der unüberschaubaren und fragwürdigen therapeutischen Angebote zusehends auseinander. Auch der an der Wirtschaft orientierte Verdrängungswettbewerb im sozialen Bereich trägt zum Zerfall der Frühförderung bei. Etwa 40% der betreuten Kinder sind sprachbehindert. Alle Kinder aus verarmten Familien sollten nach SPECK grundsätzlich durch die Frühfördermaßnahmen betreut werden, da eine Verarmung der kindlichen Umwelt und eine Vernachlässigung der Kinder häufig zu Störungen führt.770 Viele Kinder sind nicht in der Lage, ihre Sinne 769 in SZ, 216, 1998, VI MM, 82, 2000, S. 3; SPECK war Professor für Sonderpädagogik in München. 770 391 voll zu entfalten, da sie nicht die Gelegenheit haben, sich in der Natur austoben zu können. Im Jahr 2000 gab es 115 Beratungs- und Therapiestellen in Bayern, die eine Frühförderung anboten. „Mobile sonderpädagogische Hilfen“ und „Heilpädagogischer Fachdienst“ sollen die gefährdeten Kinder zusätzlich betreuen. Die Gesellschaft darf jedoch nach SPECK keine Therapiewunder erwarten und muss auch Kinder akzeptieren, die nicht so leistungsfähig sind. Von dieser letzten Forderung entfernen wir uns nach der Wahrnehmung des Verfassers immer mehr. Die betroffenen Kinder werden zwar in den für sie geschaffenen Einrichtungen akzeptiert; mit dem Eintritt in die Arbeitswelt beginnen jedoch erst die größten Probleme. Entsprechende Daten des Arbeitsamtes bestätigen dies. Pränatale (fetale) Chirurgie Ärzte sind heute in der Lage, wesentlich mehr Krankheiten diagnostizieren als heilen zu können. So lassen sich heute etwa einige hundert Krankheiten beim Ungeborenen feststellen, während nur etwa 30 im Mutterleib behandelt werden können. Zwischen der 20. und 30. Schwangerschaftswoche sind in den USA bisher etwa 160 Kinder im Mutterleib operiert worden. Die meisten operierten Ungeborenen müssen nach ihrer Geburt beatmet werden. Viele kommen zudem zu früh auf die Welt. Als Folge der Beatmung treten oftmals Hirn- und Augenschäden auf. Da die Eingriffe an den Ungeborenen durch ein Loch in der Gebärmutter ausgeführt werden, entsteht hier zwangsläufig Narbengewebe. An diesen Stellen können sich Risse bilden und dabei könnte das Fruchtwasser versickern. In einem solchen Fall muss die Schwangerschaft frühzeitig beendet werden. HANSMANN: „Wir haben die Neigung, technische Hochleistungen zu feiern, aber es steht nicht fest, ob man der Mehrheit der Patienten damit tatsächlich Gutes tut.“771 771 SZ, 291, 2001, V2 /8; HANSMANN arbeitet an der Universität Bonn. 392 Heute zeigt es sich als erwiesen, dass die Überlebenschancen von Feten mit komplizierten Fehlbildungen sich durch pränatale chirurgische Eingriffe nicht verbessern ließen. In den USA wurden bisher 121 Kinder mit Spina bifida bereits im Mutterleib operiert. Langzeitstudien zeigten, dass diese Kinder nach ihrer Geburt kaum weniger unter den damit verbundenen Behinderungen litten als nicht behandelte Kinder oder solche, die erst nach ihrer Geburt behandelt wurden. Erfolgreich scheinen im Gegensatz dazu Bluttransfusionen bei Ungeborenen zu sein, die einen anderen Rhesusfaktor als die Mutter haben. Erfolgt keine Transfusion, werden die Blutzellen des Kindes vom Immunsystem der Mutter zerstört. Im Laufe der Schwangerschaft spritzen Ärzte bis zu 20 Mal jeweils wenige Milliliter der Blutspende über die Nabelschnur in das Gefäßsystem des Ungeborenen. Alleine an der Universitätsklinik in Köln werden jährlich etwa 400 solcher Transfusionen vorgenommen. Es ist heute möglich, einem Fetus durch die Nabelschnur ein Narkosemittel zu verabreichen, dessen Wirkung etwa 20 Minuten lang anhält. Während dieser Phase kann Leben gerettet oder vernichtet werden. 393 Überlegungen und Erkenntnisse zum plötzlichen Kindstod Jeden Tag sterben im Jahr 1997 in Deutschland drei Babys am plötzlichen Kindstod. Mit 40% ist dies damit die häufigste Todesursache bei Kindern unter einem Jahr. Auf ein Jahr hochgerechnet ergibt das fast 1100 Todesfälle bei Säuglingen. Fünf Jahre zuvor waren es laut Angabe der GEPS (Gesellschaft zur Erforschung des plötzlichen Säuglingstodes in Hessen) noch knapp fünf Babys täglich, wobei der Anteil von Jungen fast doppelt so hoch war wie der von Mädchen.772 In einer Meldung vom September 1992 wird ebenfalls der Prozentsatz von 40% für SIDS (Sudden Infant Death Syndrome) angegeben. Zwei von 1000 Neugeborenen waren demnach im Jahr 1992 betroffen. Bei 85% der Kinder handelte es sich laut Bericht um „vollkommen gesund wirkende Kinder.“773 Im Jahre 1991 wurde die Bevölkerungsentwicklung für Lebendgeborene mit 88 289 in den neuen Bundesländern und mit 720 794 in den alten Bundesländern angegeben. Das ergibt zusammen 809 083 Lebendgeborene.774 Wenn man auch hier mit zwei SIDS-Fällen auf 1000 Kinder neugeborene Kinder hochrechnet, ergibt sich nach Berechnungen des Verfassers – die übrigens sehr wahrscheinlich genauso unsicher sind wie die insgesamt veröffent772 Münchner Merkur, Medizin aktuell, Nr. 224, 1997, S. 3 SZ vom 10. 9. 1992, Aktuelles Lexikon, S. 2 774 ROHLFS, SCHÄFER, Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, 1996, S. 4 773 394 lichten – die Zahl von 1618 SIDS-Fällen für das Jahr 1991. Mit Zahlen lässt es sich leicht jonglieren. CHURCHILL bemerkte dazu treffend: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast.“ In München sterben pro Jahr nach neuesten Angaben zehn Babys an SIDS; 80 Babys sterben jährlich in Bayern am plötzlichen Kindstod. In Deutschland sollen es jedes Jahr 700 Säuglinge sein. 85% der Fälle treten zwischen dem zweiten und sechsten Monat auf. Die Mediziner rätseln über die Ursachen. So wie erst in jüngster Zeit die These, dass das AIDS-Virus über die Polio-Impfung verbreitet wurde, in wissenschaftlichen Kreisen heftige Diskussionen ausgelöst hat, sollte endlich darüber nachgedacht werden, ob die Impfungen nicht ebenfalls eine tragende Rolle bei SIDS spielen. Diese Behauptung wurde von denselben Wissenschaftlern geäußert, die schon vor Jahren die AIDS-Theorie vertreten haben. (Vergleiche dazu: Impfungen – eine unendliche Geschichte) Es ist nicht auszuschließen, dass das offenkundige Nachlassen der Impfneigung775 mit dem Rückgang des plötzlichen Kindstodes korreliert, wenn zwischen beiden Faktoren ein Zusammenhang besteht, wie von DELARUE behauptet wird. Interessanterweise wird auch in wissenschaftlichen Kreisen die Frage diskutiert, ob möglicherweise Bakterien zum Plötzlichen Kindstod führen können. So fand eine britische Forschergruppe bei 14 von 100 Kindern, die durch SIDS verstorben waren, die zwei Bakterienstämme Staphylokokken und Enterokokken in der Nasenschleimhaut. Versuche mit Hühnerembryos ergaben, dass durch die von den beiden Bakterienarten produzierten Toxine die Embryos abgetötet wurden, wenn die Gifte kombiniert vorlagen.776 Von einer zunehmenden Impfmüdigkeit wird übrigens bereits im Jahre 1992 berichtet.777 Nach bestehender Lehrmeinung tragen folgende Faktoren zur Verhinderung von SIDS bei: Stillen 775 SZ, Nr. 297, 1997, S. 2, Schutzimpfung, die vergessene Vorsorge Journal of Clinical Pathology, 1995, Bd. 48, S. 929 777 Münchner Merkur, 3. 12. 1992 776 395 Nicht-Rauchen Vermeidung der Bauchlage Schlafbedingungen:778 keine Bettdecke, kein Nestchen, kein Lammfell, kein Kopfkissen im Bettchen Der Verfasser empfiehlt allen Eltern, selbst Nachforschungen anzustellen und den Mut zu finden, mit betroffenen Eltern das Gespräch zu suchen. Fragen Sie nach, ob und wann das verstorbene Kind zuletzt gegen welche Krankheit geimpft wurde. Sollten Sie feststellen, dass SIDS in acht von zehn Fällen bei geimpften Kindern aufgetreten ist, dann überdenken Sie bitte das Thema Impfungen. Von 103 Opfern des Plötzlichen Kindstods starben 70% in den ersten drei Wochen nach der Impfung, 13% sogar innerhalb eines Tages.779 Seit dem 1. Januar 1999 wird auch in Deutschland unter dem Namen GEPS (Gesellschaft zur Erforschung des Plötzlichen Säuglingstodes) zu diesem Thema geforscht. Betroffene Eltern sind über das Vorgehen der „Wissenschaftler“ empört. So wurden gegen den Willen der Eltern Gewebeproben bei den verstorbenen Kindern entnommen. Um die Eltern zu schonen, wurde in vielen Fällen verschwiegen, dass das Gehirn entommen worden war und die Leichen ohne Gehirn beerdigt wurden. Von vielen Eltern wird besonders beklagt, dass sie aufgrund der Ermittlungen und der damit verbundenen Beschlagnahmung des Leichnams keine Zeit für das Abschiednehmen fanden. Folgende Fragen werden den betroffenen Eltern häufig gestellt: Was für eine Nahrung haben Sie ihrem Kind gegeben? Sind sie Alkoholiker? Nehmen Sie Drogen? 778 SZ, 18, 2000, L 3; durch solche Schlafbedingungen, die in einer Studie beachtet wurden, sank die SIDS-Rate in den Niederlanden von 1997 bis 1998 von 250 auf 28 Babys pro Jahr. 779 W.C. TORCH, „Diphteria-pertussis-tetanus (DPT) immunization: A potential cause of the sudden infant death syndrome (SIDS),“ in American Academy of Neurology, 34th Annual Meeting, 25. April bis 1. Mai, 1982, Neurology 32(4), pt. 2. Siehe dazu auch im Internet: Forum „Impfen“ 396 Wurde das Kind geschlagen? Bei SCHÄR-MANZOLI780 finden sich folgende Feststellungen zum Plötzlichen Kindstod: (Die Zahlen in Klammern geben die entsprechenden Seitenzahlen zu ihrem Buch an) KALOKERINOS/DETTMANN konnten einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den von den Impfungen hervorgerufenen Immunitätsschwächen und SIDS feststellen. „Nach einigen Lebensjahren starben viele Kinder auf unerklärliche Weise, genau nach einer Impfung.“(18) Ein Zusammenhang zwischen Impfungen und SIDS wird auch von BARAFF gesehen: 53 von 145 Opfern des SIDS Anfang 1987 hatten zuvor eine DTPImpfung erhalten; 27 dieser Kinder waren innerhalb von 28 Tagen vor ihrem Tod geimpft worden; sechs starben 24 Stunden nach der Impfung und 16 eine Woche danach. (18) MENDELSOHN: „ . . . Die Impfungen in Frage zu stellen, wird in vielen Fällen als paranoischer Akt angesehen, und ein Kinderarzt, der die Impfpraxis angreift (diesen Stützpfeiler der Pädiatrie), ist wie ein Priester, der die Unfehlbarkeit des Papstes anzweifelt . . .Es besteht keinerlei überzeugende wissenschaftliche Abhandlung, die beweist, dass Kinderkrankheiten dank der Impfungen nicht mehr auftreten . . . Die wahre Ursache dafür sind die Lebensbedingungen.“(22) RADTKE/BUCHWALD stellten fest, dass nur 34 von 58 geimpften Kindern am Tage der Untersuchung ein normales EEG hatten; bei 24 Kindern zeigten sich Spuren von Veränderungen, die belegen, dass das Gehirn negativ auf Impfungen reagieren kann. (86) In den USA wies GERAGHTY auf die Rolle der Impfungen bei SIDS hin und meldete zusammen mit THOMAS, dass die Reaktionen auf die DTK-Impfungen immer zahlreicher würden. Einigen 780 SCHÄR-MANZOLI, 1998 397 Laboratorien warf er vor, Impfstoffe mit ganzen Zellen zu verwenden.781 Ernst zu nehmende Berichte gehen davon aus, dass in den USA jährlich zwischen 6 000 und 15 000 Kleinkinder am plötzlichen Kindstod sterben. Es wurde festgestellt, dass in 17 der 23 untersuchten Fälle der Tod innerhalb einer Woche nach einer DTP-Impfung eintrat.782 Die schlecht ernährte Gesellschaft Zivilisationskrankheiten und veränderte Ernährungsgewohnheiten Während die alten Krankheitsursachen schwinden, wird eine neue Form der Fehlernährung zu der am schnellsten um sich greifenden Epidemie.783 Sowohl Ernährung als auch medizinische Versorgung gehören zu den sozialen Lebensbedingungen der Menschen. Sie sind grundlegend für unser Leben. In Deutschland gelten etwa 40 Millionen Bundesbürger als übergewichtig. Weitere 16 Millionen leiden an krankhafter Fettleibigkeit. Etwa 25% aller Jugendlichen und Kinder sind bereits zu schwergewichtig.784 Ein weiterer Grund für Lernbehinderungen im weiteren Sinne ist also auch in der Veränderung der Ernährungsgewohnheiten zu suchen. Dazu die folgenden Worte: „Der Pädagoge Klaus Dieter Müller von der Universität Hannover stellte in einer Untersuchung fest, dass Kinder, die vollwertig ernährt werden, einen besseren Notendurchschnitt aufweisen als Kinder, die 781 DELARUE, 1990, S. 110 Cynthia COURNOYER, S. 79 und 80; auch in New England Journal of Medicine, 1988, Bd. 319, Nr. 10, S. 618 bis 622 783 ALDINE, 1972 in ILLICH, 1995, S. 20 784 Deutsche Adipositas Gesellschaft in MM, 228, 1998, S. 3 782 398 sich ›überwiegend von hellem Brot, kaum Frischobst, vielen Süßigkeiten ernähren.‹ In Jacksonville Beach, Florida wurde eine Studie über fünf Jahre gemacht mit zwei Gruppen von Kindern, die Verhaltensstörungen und Lernprobleme im ersten Schuljahr zeigten und die Sonderschule besuchten. Zwei Schulen wurden verglichen. In der ersten Schule erhielten die Kinder eine ausgewogene gute Ernährung. Auch die Eltern bekamen eine Schulung in gesunder Ernährung. Die Kinder der zweiten Schule erhielten die normale Schulkost, und weder sie noch die Eltern wurden in gesunder Ernährung geschult. Nach fünf Jahren verglichen die Forscher die Ergebnisse. Die Kinder der ersten Schule arbeiteten ihrem Alter entsprechend und konnten eine normale Schule besuchen. Die Kinder der zweiten Schule, an der nicht auf die Ernährung geachtet wurde, waren um zwei oder mehr Klassen hinter ihren Altersgenossen zurück und immer noch in der Sonderschule.“2 Acrylamid Erhebliche Mengen des Krebs erregenden Giftstoffs Acrylamid wurden mit Hilfe einer neuen Analysemethode in Kartoffelchips, Pommes frites und Knäckebrot sowie anderen, unter großer Hitze hergestellten, stärkehaltigen Produkten von schwedischen Forschern785 gefunden. Acrylamid ist als Nervengift bekannt und wird in verschiedenen Kunststoffprodukten, zum Beispiel in Dichtungsmitteln, verwendet. Seit 1990 gehört es außerdem zur Kategorie der Krebs erzeugenden und Erbgut verändernden Arbeits-Chemikalien. ADLER: „Ich weiß, dass es ihr bereits leid tut, dass ihre Forschungsarbeit in die Öffentlichkeit gelangt ist. . . . Ich habe aber großen 2 RECHT, UTE: Verhaltensstörungen durch Fehlernährung, Schaffhausen, 1993, S. 46 785 MM, 97, 2002, S. 3; Forschungen der Arbeitsgruppe um Margareta TÖRNQVIST an der Universität Stockholm. Ilse-Dore ADLER ist Genetikerin am GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg. Die Studie ist von der schwedischen Lebensmittelbehörde unter: http://www2.slv.se in das Internet gestellt worden. 399 Zweifel, dass freies Acrylamid in der Nahrungskette auftritt, weil es bei Hitze nicht stabil bleibt.“ Die zulässige Höchstmenge wird von der WHO mit 1 Mikrogramm pro Tag angegeben. Antibiotika in Fleischprodukten Rohwürste enthalten häufig Bakterien, die ihre Resistenz auch auf menschliche Krankheitserreger übertragen. So wurde von Schweizer Forschern786 aus Bündner Rohwurst ein gewöhnliches Darmbakterium isoliert, das Resistenzgene gegen zwölf Antibiotika enthielt. Zu den Rohwürtsen zählen auch Salami, Landjäger und Mettwürste. Antibiotika in Garnelen Von 20 untersuchten Proben im deutschen Handel enthielten sieben die Arznei Chloramphenicol. Dieses Antibiotikum kann das Knochenmark schädigen. Auch anderes, „was in Lebensmittel nicht gehört“, fanden die Tester.787 Alkoholismus – Coca-Cola und Gummibärchen Jedes Jahr werden in Deutschland weit mehr als 2000 Kinder mit einer Alkoholschädigung (Alkoholembryopathie) geboren.788 Alkohol, Coca-Cola und Gummibärchen, die in großen Mengen verzehrt werden, tragen außerdem zur Entstehung von Osteoporose (brüchigen Knochen) bei. MANN: „Viel Cola frisst die Knochen.“789 In den USA gilt jeder sechste erwachsene Amerikaner offiziell als alkoholabhängig. Alkohol ist in den USA die Todesursache Nummer eins noch vor dem Herzinfarkt und den Krebserkrankungen. Jedes Jahr werden knapp 200 Millionen Dollar für den Kampf gegen den 786 MM, 118, 2001, S. 1; Eidgenössische Technische Hochschule Zürich 787 MM, 291, 2001, S. 21 788 Münchner Merkur, Nr. 67, 1998, Medizin-Forschung, J 4, Prof. Helmut LÖSER, Uni Münster 789 MM, 115, 2001, S. 1; MANN ist Hormonwissenschaftler. 400 Alkoholismus ausgegeben. Im Straßenverkehr ist jeder dritte Verkehrstote Opfer eines betrunkenen Fahrers.790 Ernährungsgewohnheiten der Kinder Kinder wollen beim Essen vor allem Spaß und legen trotz der Informationen durch ihre Eltern kaum Wert auf Nährstoffe oder Vitamine. In einer Studie wurden 850 Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren befragt. Für 59% der Kinder spielte es keine Rolle, sich gesund zu ernähren. Nur etwa 25% der Kinder essen einmal bis zweimal pro Woche Obst. Ca. 37% essen innerhalb dieses Zeitraumes Gemüse.791 Eine Studie belegt, dass alleinessende Teenager im Gegensatz zu Jugendlichen, die zusammen mit den Eltern essen, mehr auf Fertiggerichte zurückgreifen und so deutlich weniger Vitamine, Obst und Gemüse, Calcium und Eisen zu sich nehmen.792 Fast Food – Zahlen und Fakten Ausgaben für Fast-Food in Amerika: 1970: 6 Milliarden Dollar für Hamburger 2000: mehr als 110 Milliarden Dollar* (*Dieser Betrag ist höher als alle Ausgaben zusammen für Zeitschriften, Video, Bücher, Cds und Kino.) Ein McDonald`s-Restaurant wird von mehr als 90% der zwischen drei und sechs Jahre alten Kinder besucht. Bei den Erwachsenen besucht mehr als ein Viertel täglich ein Fast-Food-Restaurant. McDonald`s gilt inzwischen als der größte Fleischkäufer in den USA. Die Struktur der amerikanischen Landwirtschaft wurde dadurch entscheidend verändert. Heute ist die „Fleischproduktion“ auf wenige Großbetriebe konzentriert. Durch die Einführung von Chicken McNuggets im Jahr 1983 wurden massenweise kleine Farmer und Rancher in den Ruin oder den Selbtmord getrieben. 790 SZ, 295, 2001, S. 3 Studie des Meinungsforschungsinstituts iconkids&youth, München; veröffentlicht im MM, 102, 1999, S. 3; 792 Archieves of Family Medicine, 2000, S. 235 791 401 Als Angestellte der Fast-Food- Ketten wurden in erster Linie sozial Schwache (Behinderte, Immigranten oder Teenager) bevorzugt, um die „Einhandgriffarbeit“ zu bewältigen. Mindestlöhne wurden umgangen, Arbeitsrechte verweigert, dennoch staatliche Gelder für nicht stattgefundene Schulungen abkassiert. Mit Hilfe von Spielplätzen (McDonald`s ist mit 8000 Spielplätzen der größte private amerikanische Spielplatzbetreiber) und betriebsspezifischem Spielzeug werden die Kinder schon bald auf diese Essenskultur programmiert. SCHLOSSER793 kommt zu der Einsicht, dass der Profit der FastFood-Produzenten zu Lasten der Gesellschaft gehe: Missbrauch von Steuergeldern Lebensmittelvergiftungen Übergewicht Geleebonbons aus Asien 794 Die Berliner Senatsverwaltung warnte vor dem Verzehr asiatischer Geleebonbons. Ein pflanzlicher Zusatzstoff mit der Bezeichnung E 425 kann zu erheblichen gesundheitlichen Problemen und sogar zu Todesfällen (USA, Japan, Kanada) führen, wenn die Bonbons unzerkaut heruntergeschluckt werden. Gesunde Ernährung – Lebenserwartung Eine Studie an 42 254 Frauen über den Zeitraum von fünf Jahren untersuchte den Zusammenhang zwischen Ernährung und Sterblichkeit. Frauen, die sich in ihrem Speiseplan an die offiziellen Empfehlungen hielten (viele Ballaststoffe und damit viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukte), trugen ein um 30% vermindertes Todesrisiko gegenüber den wenig ernährungsbewussten Probandinnnen.795 793 SZ, 163, 2001, S. 9; Eric SCHLOSSER, 2001, USA SZ, 295, 2001, S. 12 795 Journal of the Medical Association, Bd. 283, 2000, S. 2109, und in SZ, 106, 2000, V2 /12 794 402 Hohe Kalorienzufuhr im Kindesalter – spätere Krebserkrankungen Eine britische Studie stellt einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer hohen Kalorienzufuhr im Kindesalter und dem Auftreten einer späteren Krebserkrankung her. Wird die täglich empfohlene Energiemenge um rund 240 Kalorien überschritten, so ergibt sich ein um 20% höheres Krebsrisiko hinsichtlich der Erkrankung an einem bösartigen Tumor im Erwachsenenalter. Erklärt wird diese Tatsache damit, dass bei hoher Kalorienzufuhr das Zellwachstum verstärkt und damit auch krebsauslösende Zellveränderungen beschleunigt werden.796 Hühnereier – Cholesterinspiegel 797 Ein in den Eiern enthaltenes Lezithin sorgt offenbar dafür, dass der größte Teil des enthaltenen Cholesterins beim Verzehr eines Hühnereies den Cholesterinspiegel im Blut nicht anheben kann. Nach der Zugabe von Lezithin beobachteten Ernährungswissenschaftler bei Ratten beobachtet, dass der Cholesterinspiegel bei dem Verdauungsvorgang (vom Darm in das Blut) gesenkt wurde. Falls kein erhöhter Cholesterinspiegel oder eine Herzerkrankung vorliegt, können bedenkenlos ein bis zwei Hühnereier pro Tag verzehrt werden. In den USA wurde bereits ein Patent auf ein Medikament angemeldet, das Hühnerei-Lezithin als Cholesterinsenker beinhaltet. Polyzyklische Kohlenwasserstoffe Das besonders im Sommer beliebte Grillen von Steaks ist dann besonders gesundheitsschädlich, wenn Fett in die Glut tropft, da bei diesem Vorgang polyzyklische, aromatische, krebserregende Kohlenwasserstoffe (PAK) entstehen. So wurden auf der Oberfläche von gegrillten Steaks Benzypren-Konzentrationen festgestellt, die dem Gehalt des Rauches von 600 Zigaretten entsprachen. 796 Studie der Universität Bristol in Münchner Merkur, Nr. 246, 1998, S. 3 797 SZ, 255, 2001, V2 /11 403 64% aller Todesfälle in Deutschland sind auf die Folgen falscher Ernährung zurückzuführen; außerdem entstehen jährlich dadurch Kosten von mindestens 150 Milliarden Mark.798 Infektionen durch Lebensmittel Die Infektionen, die durch Lebensmittel ausgelöst werden und sich in der Form von Vergiftungserscheinungen manifestieren, sind ebenfalls im Ansteigen begriffen. Die Zahl der meldepflichtigen infektiösen Darmerkrankungen hat sich zwischen 1989 und 1997 mit 211 084 Erkrankungen mehr als verdoppelt. Nicht nur Salmonellen, sondern auch unbekanntere Erreger wie Campylobacter, Yersinien oder Listerien sind für die Zunahme verantwortlich.799 Dioxine in Lebensmitteln Erst in jüngster Zeit wurde über erhöhte Dioxin-Gehalte in Schinken berichtet. So kann Räucherschinken unter Umständen stark mit giftigen Dioxinen und den verwandten Furanen belastet sein. So können sich beim Vorgang des Räucherns große Mengen an polychlorierten Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen (PCDD/F) bilden und mit dem Nahrungsmittel verbinden. Das Auftreten dieser hochgiftigen Verbindungen wird nach derzeitigem Wissensstand auf veraltete Räucheranlagen zurückgeführt. In Schweinefleisch wurden zum Teil bis zu 70 Mikrogramm PAK (polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoff ) pro Kilogramm Fleisch nachgewiesen und somit der Grenzwert um das 70fache überschritten.800 Inzwischen gilt es als anerkannt, dass Dioxine hormonähnliche Wirkungen besitzen und somit in kleinsten Mengen eine Gefahr darstellen können. Sie sind auch der Lage, Hautveränderungen hervorzurufen und wirken im Tierversuch krebsfördernd. Schon einige tausendstel Milligramm gelten als gesundheitsschädlich. Generell kommen 90% der Dioxinbelastung in Deutschland aus der Nahrung. Zwei Drittel davon nehmen wir mit Milchprodukten und Fleisch auf. 798 Münchner Merkur, Nr. 95, 1998, S. 3 Münchner Merkur, Nr. 130, 1998, S.3 800 SZ, Nr. 200, 1998, V2 /9 799 404 Gentechnisch veränderte Nahrung Häufig essen Verbraucher gentechnisch veränderte Lebensmittel, ohne es zu wissen. Eine stichprobenartige Untersuchung ergab, dass mehr als ein Drittel der 82 überprüften Produkte manipulierte Gene enthielt.801 Besonders Tiefkühlpizzas, Chips, aber auch Knabberkekse oder Produkte aus Mais und Soja enthalten gentechnisch veränderte Inhaltsstoffe, Emulgatoren, Stärkearten sowie Füll- und Bindemittel. Entsprechende Hinweise auf den Verpackungen fehlen meist. Auch das Futter der für die Fast-Food-Kette McDonald`s gemästeten Hähnchen soll angeblich veränderte Soja enthalten. In drei Lebensmitteln wurden bis zu 20% manipulierte Mais- oder Sojaanteile gefunden. Die Herkunftsländer waren die USA, England und die Niederlande. Der Mensch nimmt täglich etwa ein Gramm Gene mit der Nahrung auf, wobei einige in das eigene Erbgut eingebaut werden. Besonders für Allergiker kann gentechnisch manipulierte Nahrung zu einem Problem werden. Weil die veränderten Gene vor der Verpflanzung zur besseren Erkennung meist mit einem Marker-Gen gekoppelt werden, sind sie selten alleine nachzuweisen. Marker-Gene sind meist Erbanlagen, die eine Unempfindlichkeit der Bakterien gegen Antibiotika bewirken sollen. Krankheitserreger stehen in regem Gentausch mit den Darmbakterien des Menschen. Durch die manipulierten Gene können auch sie in der Folge resistent gegen Antibiotika werden. Fremde Gene aus der „High-Tech-Nahrung“ finden sich vor allem in der Milz und in der Leber wieder. Da hier auch eine wichtige Sorte weißer Blutkörperchen vermehrt vorkommt, ist eine langfristige Schädigung des menschlichen Immunsystems nicht auszuschließen. TAPPESER: „Im Prinzip ist die Verbreitung von Genfood ein globaler Feldversuch.“ Eine Sorte von insgesamt drei gentechnisch veränderten Rapssorten wurde zusätzlich noch mit einer Antibiotikaresistenz ausgerüstet. Bei einem Feldversuch wurden aus Versehen anstatt einer alle drei Sor- 801 Untersuchung der Stiftung Warentest in SZ, 172, 2000, S. 2; Beatrix TAPPESER ist Gentechnik-Expertin am Freiburger Öko-Institut. 405 ten freigesetzt. Es gibt keine Garantie dafür, dass Menschen in Zukunft durch gentechnisch veränderte Nahrung nicht gefährdet sind.802 Trotz der ernstzunehmenden Warnungen werden in zunehmendem Maße Experimente mit genmanipulierter Nahrung fortgeführt. Es ist möglich, dass durch die Pharmafirma Novartis gentechnisch veränderter Mais, der in Frankreich angebaut wurde, auch in Deutschland auf den Markt gelangen könnte, da er nicht entsprechend gekennzeichnet wurde. Die Pflanzen wurden antibiotikaresistent gemacht. Eine Übertragung dieser Unempfindlichkeit auf den Menschen wird ernsthaft in Erwägung gezogen.803 Das entsprechende Gen könnte von Bakterien entweder auf dem Anbauplatz oder aber im menschlichen Magen-Darm-Trakt aufgenommen werden. Diese Bakterien könnten somit eine Resistenz gegenüber den Antibiotika aufbauen. Entsprechende Warnungen der Berliner Ärztekammer und der Umweltschutzorganisation Greenpeace wurden von der Firma Novartis „als glatte Desinformation“ zurückgewiesen. Die beiden Organisationen warnten davor, dass ein dem Mais im Labor eingebautes Gen für Antibiotika-Resistenz im Magen-Darm-Trakt von Bakterien aufgenommen werden könnte; in der Folge ist dann eine Bekämpfung dieser Bakterien durch Antibiotika nicht mehr möglich. Der angebaute Mais enthalte ein Gen gegen allein in Deutschland im Jahr 1996 zwölf Millionen Mal verschriebene, verschiedene Penicilline.804 Der Einsatz von Antibiotika in der Tiermedizin und die damit verbundenen Folgen für den Menschen nehmen ebenfalls zu und werden immer wieder kritisiert. Die tonnenweise Beimischung in das Futter der Tiere ist in großem Stil üblich, um die Leistung der Tiere zu fördern. So wurde im Jahre 1997 die Substanz Avoparcin in der EU wegen der Ähnlichkeit mit dem in der Humanmedizin verwendeten Medikament Vancomyin verboten. Bei acht von 100 Patienten, die sich im Krankenhaus eine Infektion zuziehen, wird ein MRSA-Bakterienstamm (multiresistent gegen Antibiotika ) gefunden, gegen den nur noch Vancomycin hilft. Nach Meinung von Experten ist zu vermuten, dass die Resistenz der Bakterien auch gegen zukünftige Antibiotika weiter zunehmen wird. 802 SZ, Nr. 87, 1998, S. 55 SZ, Nr. 63, 1998, S. 7 804 SZ, 207, 1998, S. 12 803 406 In einigen Kliniken der USA sind bereits etwa bis zu 14% aller Enterokokken auf Intensivstationen Vancomycin-resistent geworden. Es wird angenommen, dass die Vancomycinresistenz von Enterokokken über Fleischprodukte in den Gastrointestinaltrakt des Menschen eingeschleust wurde.805 Es wird zugegeben, dass es in einem deutschen Krankenhaus bereits zu einer „kleinen Epidemie“ gekommen ist, wobei darauf hingewiesen wird, dass die Seuche wahrscheinlich aber nicht das Ausmaß von AIDS erreichen wird. Als Ursache für dieses Phänomen wird die Verschreibungspraktik von Ärzten angesehen, die in 60 bis 70% der Fälle Antibiotika bei akuten Infekten der Atemwege verschreiben, obwohl sie fast immer durch Viren verursacht werden. Zurückhaltung bei der Antibiotikatherapie und Antibiotikaprophylaxe, gekoppelt mit einem Verbot des Einsatzes von Antibiotika in der Landwirtschaft, sind daher wichtigste Maßnahmen zur Vermeidung solcher Vorfälle. In Dänemark wurden 1994 von den Tierzüchtern alleine 24000 kg Avoparcin dem Futter beigemischt. Von Ärzten wurden im Vergleich dazu 24 kg verbraucht.806 Die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose, Gicht und Bluthochdruck werden durch kohlenhydratarme und fettreiche Nahrung stark begünstigt. Hormonbehandeltes Fleisch Obwohl Hormonpräparate bei der Aufzucht von Tieren in Europa nicht zugelassen sind, werden wir dennoch durch die vielfältigen und verschlungenen Importwege mit diesem Problem konfrontiert. Neben einem in Europa illegal bestehenden Markt werden außerdem in den Ländern, in denen der Einsatz von Hormonen verboten ist, ebenfalls Hormonpräparate eingesetzt. In den USA sind Hormonpräparate zur Masttierzucht zugelassen. Dort werden die entsprechenden Hormondepots in Körperteile abgesetzt, die vor der Schlachtung abgetrennt werden, in der Hoffnung, dass dadurch der Verbraucher vor biologisch wirksamen Mengen im 805 DASCHNER, 1995 in Deutsche Apotheker Zeitung, 135. Jahrgang, Nr. 28, vom 13. 7. 1995 806 SZ, Nr. 59, 1998, S. 23, und Science, 1998, Bd. 279, S. 996 407 Milligramm-Bereich geschützt ist. Ein Implantat enthält so viel Hormon wie 10000 Schlachtkörper. Bei der Verwurstung von einer Tonne Fleisch mit Implantat ist immer noch eine mehrfache Dosis der zugelassenen wissenschaftlich akzeptierten Tagesdosis von Hormonen enthalten. Bei illegaler Anwendung ist nach europäischen Erfahrungen die intramuskuläre Hormonspritze mit gesundheitsschädlichem Risiko weit verbreitet. Zum Einsatz kommen folgende Hormone807: Hormonbehandeltes Fleisch Name des Hormons Clenbuterol Präparate, die Östradiol Testosteron Progesteron enthalten Zeranol, eine von einem PilzÖstrogen abgeleitete Verbindung Trenbolon, körperfremde Substanz; das stärkste, bekannte Anabolikum 807 Einsatz in Folgen für den Verbraucher Europa, dort wo keine unbekannt Kontrollen stattfanden Mittelmeerländern gesundheitliche Schäden besonders für herzkranke Verbraucher Unterscheiden sich nicht von den Hormonen der Tiere, daher keine qualitative Veränderung, aber auch keine Kontrollmöglichkeiten Ausland; Fleisch gelangt aber durch Import auch nach Deutschland das Fleisch verliert seine Naturidentität; bei weiblichen Muttertieren wird eine Maskulinisierung bewirkt; ein Steak enthält Eiweißmoleküle mit veränderten Strukturen Interview mit Prof. Dr. Dr. Karg in SZ, Nr. 197, 1997, S. 21 408 Die oben angeführte Tabelle fasst die Aussagen von KARG zusammen. Weitere Möglichkeiten der menschlichen Schädigung durch Futterzusätze anstelle von Hormonspritzen:808 Zusatz NachweismöglichFolgen für den Menschen keit Mixtur aus nur sehr schwer, da schwere Kreislaufstörungen dem Asthma- bei einer Analyse das mittel verbotene DexameClenbuterol thason durch das und dem Cortison verdeckt Cortisonwird präparat Dexamethason synthetisches gut Krebs erzeugend Östrogen Diethylstilböstrol (DES) erlaubte Zusätze: Ionophore Makrolide Tysolin Virginiamycin Antibiotika zunehmende Resistenz ChlorampheVerdacht auf Schädigung des nicol (Cap) menschlichen Erbgutes und Auftreten von Knochenmarksschädigungen 808 Grundlage für diese Tabelle : SZ, Nr. 191, 1998, S. 2, Doping aus dem Futtertrog 409 Bereits geringe Veränderungen der Molekülstruktur verbotener Substanzen machen bisher erfolgreich angewandte Analysemethoden unbrauchbar. Ein Liter Milch in Deutschland enthält im Vergleich zu einem USRindersteak ein Mehrfaches an Östrogenen, da der Milch, die den Verbraucher erreicht, immer auch Milchmengen von trächtigen Tieren in der Molkerei beigemengt wird. Aus Italien ist bekannt, dass die Zuführung von synthetischen Sexualhormonen in sehr hoher Konzentration zu Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen führt.809 Auch ein Zusammenhang mit Übergewichtigkeit wird vermutet. Nach GLICKSMANN ernähren sich nur 12% der Amerikaner richtig.810 Neueste Untersuchungen belegen, dass ca. 52% der US-Bürger übergewichtig und damit besonders anfällig für Herzprobleme, Schlaganfall und Diabetes sind. Im Jahre 1991 wurde der Prozentsatz noch mit 33% angegeben. Schwer fettleibige Menschen, die sich nur noch unförmig bewegen können, machen inzwischen ca. 18% der Erwachsenen aus (19991:12%). Bei Kindern und Jugendlichen stieg der Anteil der Übergewichtigen im gleichen Zeitraum von 5 auf 10 bis 15%. Weitere 25% gelten als gefährdet. Die Lage ist so ernst, dass Experten von einer Epidemie reden. FOERSTER: „Wir haben eine Kultur, die sagt: Sitz nicht einfach da, iss was.“ Mit Verzögerung greift die Tendenz zum Fast-Food auch auf Europa über. Sowohl die hektischen Aktivitäten des Geschäftslebens, unnatürliche, dem Menschen aufgezwungene Lebensrhythmen, geringe körperliche Aktivitäten als auch die moderne Bequemlichkeit tragen ihren Teil dazu bei, dass immer mehr Menschen bewegungsbehindert werden. 809 SZ, 112, 1999, S. 1 SZ, 139, 2000, S. 3; GLICKSMANN: Landwirtschaftsminister der USA; Susan FOERSTER: Ernährungsexpertin bei der kalifornischen Gesundheitsbehörde 810 410 Zwei von drei Amerikanern sind fett 811 In Amerika leiden nach einer Auswertung neuester Statistiken immer mehr Menschen unter Fettleibigkeit. In den USA sterben jedes Jahr 300 000 Menschen an den Folgen der Fettleibigkeit. Hinter den nikotinbedingten Todesfällen steht die Fettleibigkeit an zweiter Stelle. Unter den Jugendlichen gelten 13% als übergewichtig. Als Gegenmaßnahmen sollen eine gesündere Ernährung in den Schulkantinen und mehr Sport in den Schulen bald Wirkung zeigen. Keime in Fleischprodukten 812 Eine US-Untersuchung zeigte, dass etwa 20% des zufällig ausgewählten und in Kühltruhen gelagerten Fleisches von Schweinen, Hühnern und Rindern Salmonellenkeime enthielten. Zudem waren 84% dieser Bakterienfunde gegen mindestens ein Antibiotikum resistent. Die Hälfte der isolierten Salmonellen zeigte eine Resistenz gegen drei oder mehr Antibiotika. Einige der Erreger zeigten sich auch gegen „Ceftriaxon“ – ein Medikament, das zur Behandlung von Salmonellenerkrankungen bei Kindern angewandt wird – widerstandsfähig. In amerikanischen Hühnerfleischproben wurden Enterokokken nachgewiesen, die bereits resistent gegen zwei neuere Präparate der Humanmedizin sind; sie sollten die besonders hartnäckigen Keime des Enterococcus faecium erfolgreich in Schach halten. Ketchup Eine Untersuchung der Universität Düsseldorf813 ergab, dass Ketchup freie Radikale im Körper unschädlich mache. Gleichzeitig werde damit Herzinfarkt, Prostatakrebs und vorzeitiger Alterung besser als durch den Verzehr großer Mengen von Tomaten vorgebeugt. 811 SZ, 289, 2001, S.14 SZ, 261, 2001, V2 /12; New England Journal of Medicine, 2001, Bd. 345, S. 1147 813 MM, 241, 2001, S. 1 812 411 Listerien im Lachs –Salmonellen in der Schokolade In verschiedenen Räucherlachsprodukten wurden Listerie-Bakterien nachgewiesen.814 Sie finden sich vor allem auch im Kot von Mensch und Tieren, Abwässern und im Kompost. Aus verschiedenen Bundesländern wurden inzwischen über 270 seltene Salmonella-Oranienburg-Infektionen gemeldet. Der Erreger wurde in der Schokolade nachgewiesen. Chemikalien als Umweltgifte PBDE – PBB – DDT – PCB Immer wieder tauchen Berichte über Chemikalien auf, deren Auswirkungen auf den Menschen noch nicht hinreichend erforscht sind. Dennoch gibt es erste Anzeichen dafür, dass auch sie kleine Bausteine für das Zustandekommen von Erkrankungen, Intelligenzdefekten oder Lernbehinderungen sind. Bereits im Jahr 1993 wurde darauf hingewiesen, dass Flammschutzmittel aus der Gruppe der polybromierten Diphenylether (PBDE) durch Ausdünstungen aus Kunststofferzeugnissen gesundheitsschädliche Wirkungen haben. Auch eine andere Gruppe von Flammschutzmiteln (PBB) die weiterhin im Gebrauch ist, steht im Verdacht, krebsauslösend zu sein. Das Gefährliche dieser Mittel ist, dass sie alleine dadurch, dass sie in die Umwelt ausströmen, sich in Lebewesen anreichern können. So wurde PBDE von schwedischen Forschern auch in der Muttermilch entdeckt. Seit dem Jahr 1972 wird eine jeweilige Verdoppelung dieses Schadstoffes in fünfjährigem Zeitintervall beobachtet. Die Möglichkeit der Entstehung von Hirnschäden durch Flammschutzmittel wurde durch Tierversuche nachgewiesen. An der Universität von Uppsala zeigten Ratten, denen während der Phase des Hirnwachstums PBDE verabreicht wurde, später Verhaltensstörungen. Die Tiere waren unruhiger, zeigten Gedächtnisstörungen und schlechtere Leistungen bei Lerntests. Auch im Gewebe von Meerestieren wurden Flammschutzmittel entdeckt. So enthielt ein Kilogramm Fettgewebe eines untersuchten Pottwals 100 Mikrogramm der bromhaltigen Flammschutzmittel. Diese Substanzen sind in ihrer Schädlichkeit den Pestiziden DDT 814 SZ, 293, 2001, 14 412 oder den polychlorierten Biphenylen gleichzusetzen, die sich ebenfalls im Organismus anreichern. Viele Schadstoffe wirken wie Hormone und beeinflussen damit wesentliche Lebensfunktionen. Gefühle, Sexualität und Immunsystem werden im Zusammenwirken von Nervensystem und Hormonen und hormonähnlich wirkenden Substanzen gesteuert. Eine zu hohe oder zu niedrige Konzentration, eine Ausschüttung oder eine Anreicherung zum falschen Zeitpunkt kann zu fatalen Folgen führen: Verhaltensstörungen, Missbildungen oder Stoffwechselstörungen. Da der lebende Organismus zu einem Abbau dieser Substanzen nicht oder kaum fähig ist, sind auch zukünftige Generationen gefährdet, da diese Stoffe über die Muttermilch oder die Plazenta den unreifen, in der Entstehung begriffenen Organismus direkt schädigen. Alleine die polychlorierten Biphenyle (PCB) umfassen inzwischen mehr als hundert Substanzen. Kunststoffbeschichtungen in Konservendosen und Weichmacher in Platikbehältern wird ebenfalls eine pseudohormonähnliche Wirkung zugeschrieben. In Tierversuchen wirkten diese Stoffe entweder wie Östrogene oder wie Hormonblocker. Natürliche Stoffwechselvorgänge wurden außer Kraft gesetzt. Durch die ähnliche Beschaffenheit der Hormonsysteme von Wirbeltieren und Menschen lassen sich die Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragen. Im Jahre 1991 wurde in den USA eine Untersuchung an mehreren hundert Babys und Kleinkindern durchgeführt, deren Mütter verschiedene Mengen Ontario-Fisch aßen. In diesem See ist die Belastung mit Umwelthormonen besonders hoch. Bei dieser Langzeitstudie wurden durch eine genaue Erhebung der Lebensumstände andere Parameter ausgeschlossen. Als Ergebnis der Studie kristallisierte sich heraus, dass die Kinder der Mütter, die mehr als 20 Kilo Lachs oder andere Fische aus dem Ontario-See gegessen hatten, sich während der fünfjährigen Beobachtungszeit schlechter konzentrieren konnten, hyperaktiver und ungeduldiger als die Kinder der Vergleichsgruppe (Fischabstinenzler) waren. Eine andere Studie von JACOBSON aus den 80er Jahren untersuchte den Zusammenhang zwischen PCB-Gehalt im Blut der Mutter und der Intelligenzentwicklung ihrer Kinder. Auch hier zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang: Die Kinder der Frauen mit hohem PCB-Gehalt im Blut zeigten nach vier Jahren mit 413 Abstand die schlechtesten Ergebnisse bei Sprach- und Gedächtnisprüfungen. COLBORN vom WWF bezeichnet es als „die alarmierendste Erkenntnis unserer Zeit“815, dass durch hormonähnliche Umweltgifte mit hoher Wahrscheinlichkeit Intelligenz und Verhalten beeinflusst werden. Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass diese Umweltgifte auch noch die krebserzeugende Wirkung anderer Chemikalien verstärken könnten.816 Weltweit werden zur Zeit etwa 150 000 Tonnen der vier am meisten verwendeten bromhaltigen Flammschutzmittel produziert. Eine Langzeitstudie an 600 Kindern des US-Instituts für Umweltund Gesundheitsforschung in North Carolina belegt, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft hohen giftigen Dosen der Chemikalien PCB und DDE – einem Abbauprodukt des Insektenvernichtungsmittels DDT – ausgesetzt waren, früher pubertieren, da diese Substanzen östrogenähnlich wirken.817 SCHLUMPF weist auf die Möglichkeit hin, dass Chemikalien, die eine hormonähnliche Wirksamkeit besitzen, das Wachstum (z. B. das Wachstum von Brüsten junger Frauen) erheblich beschleunigen könnten. Diese Chemikalien seien vor allem in der Antibaby-Pille enthalten, aber auch in Putzmitteln und Dosen-Beschichtungen. Selbst in bestimmten Zahnfüllungen und in KunststoffWeichmachern sind diese wachstumsfördernden Chemikalien offenbar enthalten. Die Verabreichung von Östrogen bei der Kälbermast und der Hang zu fettreicherer Ernährung stelle eine zusätzliche Belastung in dieser Hinsicht dar.818 Es steht auch zur Diskussion, dass die Fruchtbarkeit der Männer durch diese Stoffe beeinträchtigt wird. Die steigende Anzahl von Brust-Hoden-Tumoren wird von Medizinern mit diesen Substanzen in Zusammenhang gebracht. Einzelne Inhaltsstoffe von Pestiziden, z. B. Dieldrin und Toxaphen, werden besonders bei einem gemeinsamen Auftreten als besonders 815 SZ Magazin, No. 32, 9. 8. 1996, S. 23 Nature, Bd. 394, S. 28, 1998 817 Münchner Merkur, Nr. 175, 1997, S. 3, Wissenschaft und Medizin 818 SCHLUMPF, Pharmakologin der Universität Zürich in SZ, 1998, Nr. 242, S. 16 816 414 schädlich eingestuft. Allerdings gibt es auch entgegengesetzte Studien.819 PCB in der Nahrungskette (Polychlorbiphenyle) Killerwale zählen heute zu den am höchsten mit PCB verseuchten Gruppen von Meeressäugetieren. Die PCB-Konzentration im Körper eines in der Nähe der Stadt Vancouver verendeten Wales war 90-mal höher, als sie bisher im Menschen nachgewiesen wurde. Die giftigen Verbindungen lagern sich im Fett der Tiere ab.820 PCB im Blut von Schulkindern und Lehrkräften Bei mehr als der Hälfte der Schüler (217) wurden nach einer zweiten Untersuchung erhöhte PCB-Werte im Blut festgestellt. Nur bei 160 von 377 untersuchten Schülern konnten Werte im Normbereich gemessen werden. Der höchste gemessene Wert lag bei 1,3 Mikrogramm niederchlorierter polychlorierter Biphenyle pro Liter Blut. Als „Orientierungswert“ für einen auffälligen Befund gelten 0,1 Mikrogramm. FROMMER: „Wir wissen noch nicht, in welchem Umfang sich diese Werte auf die gesamte PCB-Belastung des menschlichen Körpers auswirken könnten.“821 In den zwischen 1960 und 1980 erbauten Schulen wurden häufig Materialien (Verfugungsstoffe, Kleber, Kunststoffböden) verwendet, die im Verdacht stehen, PCB abzusondern. Bundesweit sind nach SCHOOFS etwa ein Drittel aller 45 000 Schulen mit PCB belastet.822 Ein großer Teil ist jedoch noch nicht einmal getestet. Zum ersten Mal konnte ein Zusammenhang zwischen PCBRaumluftbelastung und Blutwerten hergestellt werden. Inzwischen wird die Messung jedoch durch das bayerische Gesundheitsministerium angezweifelt und eine neue Studie zur Belastung der Schule in Auftrag gegeben. 819 Endocrinology, 1997, Bd. 188, S. 1520 SZ,162, 2001, V2 /8 821 MM, 178, Bayern, S. 6 822 MM, 181, 2001, Bayern; SCHOOFS ist Sprecher der nordrheinwestfälischen Initiative „Schulen ohne Gift“. 820 415 Quecksilber in Nahrungsmitteln Die zunehmende globale Belastung durch Quecksilber, vor allem im Seefisch, stellt eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Verantwortlich für die Zunahme ist der Goldabbau in Afrika, Südamerika und Asien, da dort Quecksilber zur Goldauswaschung verwendet wird. Über die Luft und die regionalen Flüsse gelangt es in das Grundwasser und in die Meere. Am höchsten belastet sind nach DRASCH „vor allem die großen Raubfische am Ende der Nahrungskette . . . dazu gehören unter anderem alle Haifischarten, Thunfisch, Aal oder Schwertfisch.“823 Menschen reagieren extrem unterschiedlich mit individueller Empfindlichkeit auf die Quecksilberbelastungen im Körper. So können die Vergiftungsbilder trotz gleich hoher Quecksilberkonzentration im Blut völlig unterschiedlich sein. Diese Feststellung gilt auch bezüglich der Amalgam-Füllungen. Quecksilber kommt in unterschiedlichsten Verbindungen vor und wird im Gegensatz zu Blei im Körper ständig weiter transportiert. Aus diesem Grund erweist es sich als sehr schwierig, feste Richtund Grenzwerte für Minimalbelastungen aufzustellen. Lebensmittel –Zusatzstoffe (E-Nummern) In der EU sind momentan 305 Zusatzstoffe zugelassen und somit auch in den Lebensmitteln zu finden. Auf die gefährlichsten soll in der folgenden Tabelle hingewiesen werden:824 E-Nummer Bezeichnung Vorkommen Mögliche Auswirkungen E 127 Erythrosin Cocktailkirschen E 230 E 231 E 232 Biphenyl, Diphenyl Orthophenylphenol Obstschalen Krebsartige Veränderungen der Schilddrüse in Tierversuchen In hohen Konzentrationen bei Tierversuchen innere Blutungen und Organveränderungen 823 MM, 117, 2001, S. 3; DRASCH ist Professor für Toxikologie am Institut für Rechtsmedizin in München. 824 „Was bedeuten die E-Nummern?“; ISBN-Nr. 3-922940-15-3 416 E 284 E 285 E 385 Natriumorthophenylphenol Borsäure Natriumtetraborat Calciumdinatrium-EDTA E 912 Montansäureester E 999 Quillajaextrakt MM/194/ Natrium1999, glutamat S. 1 Störrogen, Kaviar Durchfälle, innere Organschäden Dosen und Glaskonserven Hülsenfrüchte, Pilze, Fische Pflanzenwachse; Zitrusfrüchte Cidre, Ginger Ale Chinarestaurants, Gewürzmischungen Deutliche Stoffwechselbeeinträchtigungen; Vorsicht bei Kindern unter 2 Jahren Im Tierversuch gesundheitsschädliche Auswirkungen Enthält Blutgifte (Saponine) Kopfschmerzen Ein Drittel der Bevölkerung reagiere empfindlich auf diese Substanz Medikamente – ihre Wirkung in Verbindung mit bestimmten Lebensmitteln 825 Medikament in Verbindung mit Lebensmittel mögliche Wirkung Aspirin Grapefruitsaft Antibiotika Milch Durch die enthaltenen Flavonide in Zitrusfrüchten kann in Verbindung mit Schmerzmitteln Herzrasen verursacht werden wirkungslos 825 MM, 260, 2001, S. 1; auch: Magazin „Wellfit“, November 2001 417 Blutverdünnende Mittel Brokkoli Durch den Vitamin-K-Gehalt wird das Blut verdickt; die Wirkung des Medikaments kann dadurch abgeschwächt werden. Durch diese Wechselwirkung kann im schlimmsten Fall ein Schlaganfall ausgelöst werden. Nahrungsmittel werden zur Medizin Es wird vielfach vergessen, dass Gewürze wie Knoblauch, Zwiebeln, Piment oder Oregano in der Lage sind, bakterielle Erkrankungen zu verhüten. Auch die Zitrone wirkt gering antibiotisch.826 Der Vitamin-C-Gehalt von Äpfeln hat sich aufgrund der oftmals langen Transportwege und der zunehmend mehr ausgelaugten Böden um ca. 80% verringert.827 Im Jahr 1998 wurden in den USA zwölf Milliarden Dollar für „Functional Food“ und nahrungsergänzende Pillen ausgegeben. Die Kontrollen für umgestaltete Lebensmittel werden von kritischen Fachleuten als ungenügend bewertet. 828 Nitrofen in Öko-Produkten Nitrofen ist ein Stoff aus der Gruppe der Herbizide. Er ist seit Jahren verboten und gilt als Krebs erregend, aber auch als Auslöser von Lungenmissbildungen. Diese Erkenntnisse stammen aus Tierversuchen. Nitrofen wurde in Geflügelfleisch und im Öko-Weizen nachgewiesen. SCHRENK: „Womöglich kommt man mit NitrofenBelastungen aus dem Geflügelfleisch an die Grenze des toxikologisch Duldbaren.“829 In Putenfleisch wurden zwischen 0,08 und 0,8 Milligramm Nitrofen pro Kilogramm nachgewiesen. In Tierversuchen traten Missbildungen auf, wenn trächtige Muttertiere mehrmals 20 Milligramm verabreicht bekamen. Da Rückschlüsse von Tierversuchen auf den Men826 Münchner Merkur, Nr. 106, 1998, S. 3 SZ-Magazin, No. 35, 1998 828 Science, 1999, Bd. 285, S. 1855 829 SZ, 121, 2002, S. 2; SCHRENK ist Lebensmittelchemiker und Umwelttoxikologe an der Universität Kaiserslautern. 827 418 schen schwierig sind, gehen Toxikologen sicherheitshalber davon aus, dass schon eine tausendfach geringere Menge als im Tierversuch eine Wirkung auf den Menschen haben könnte. Bei Routine-Untersuchungen von Lebensmitteln wurde wegen des Verbots seit Jahren nicht mehr nach Nitrofen gesucht. Pilzgifte in Nahrungsmitteln Fäulnispilze der Gattung Fusarium belasteten im Jahr 1998 in ungewöhnlich hohem Maße Mehl, Brot und andere Getreideprodukte des Weizens. Ein derartig starker Befall wurde zum letzen Mal im Jahr 1987 beobachtet. Die von den Mikroorganismen ausgeschiedenen Fusarien-Toxine gelten für den Menschen als gesundheitsbedenklich. Desoxynivalenol (DON) ist das wichtigste Toxin dieser Gruppe. Wurden geringe Mengen dieses Giftes über längere Zeiträume an Tiere verfüttert, war Nierenversagen die Folge. Die derzeit tolerierte Tagesaufnahmemenge liegt bei drei Mikrogramm DON pro Kilogramm Körpergewicht. Die Proben aus dem Anbaujahr 1998 enthielten sieben Milligramm DON pro Kilogramm bei über 100 Sorten des untersuchten Weizens. Fumonisine – eine andere Fusarien-Toxin-Gruppe – stehen unter dem Verdacht, Speiseröhren- und Leberkrebs auszulösen. Sie sind in Maismehl, Polenta, Flips und Cornflakes nachzuweisen. Bisher werden die Nahrungs- und Lebensmittel nicht routinemäßig auf Pilzgifte untersucht. Pflanzenschutzmittel In den Entwicklungsländern werden noch immer hochgiftige Pflanzenschutzmittel verwendet, die bei uns längst wegen der oftmals tödlichen Auswirkungen für den Anwender verboten sind. Eine neuere Schätzung durch die Vereinten Nationen geht davon aus, dass jährlich etwa 40000 Landarbeiter durch den Umgang mit diesen Giften sterben. Obwohl nur 20% der verbrauchten Mittel in Entwicklungsländern genutzt werden, ereignen sich dort 99% aller damit in Zusammenhang gebrachten Todesfälle. Welche Wirkungen diese Mittel durch den Import und damit verbundenen Verzehr noch hier beim Endverbraucher anrichten können, lässt sich nur erahnen. Viele hochgiftige Stoffe wie Paraquat, Camphechlor oder Endrin sind noch 419 längst nicht in die Listen mit den als gefährlich geltenden Giften aufgenommen.830 Pestizide und hormonähnliche Stoffe in Erdbeeren Bei Untersuchungen von Erdbeeren auf Pestizide wurde festgestellt, dass 85% der Proben mit hormonähnlichen Stoffen belastet waren. 831 Süßigkeiten und Kaffe bei psychischen Problemen In einer Studie an 550 Freiwilligen, die unter Schizophrenie, Ängsten, Phobien und Essstörungen litten, wurde die Wirkung von Kaffe oder Schokolade festgestellt, die aus Frust konsumiert wurde. In einem Tagebuch wurde das Befinden nach dem Konsum festgehalten. Die Einnahme von Süßigkeiten und Kaffee führten zu einem deutlich schlechteren Befinden bei diesem Personenkreis.832 Schokolade Wird sie nach Ansicht von Schweizer Forschern833 fünf bis 30 Minuten vor einer Mahlzeit verzehrt, so hebt sie den Blutzuckerspiegel an; dadurch wird dem Gehirn Sättigung signalisiert. In der Folge wird weniger gegessen. Todesfälle durch Umweltgifte, Umweltverschmutzung und schlechte Wasserversorgung Ein 400-seitiger Untersuchungsbericht internationaler und amerikanischer Institutionen weist darauf hin, dass ein Viertel aller Todesfälle durch Umweltgifte, Umweltverschmutzung und schlechte Wasserversorgung verursacht sind. So stirbt in den ärmsten Ländern der 830 SZ, Nr. 206, 1998, S. V2 /10 Sabine HÄBERLEIN, Ernährungswissenschaftlerin, in MM, 156, 2001, Schongauer Nachrichten , S. 1 832 SZ, 112, 2000, S. 16; eine Untersuchung der gemeinnützigen Stiftung „Mind“, veröffentlicht in der Times und im Daily Telegraph 833 MM, 241, 2001, S. 1 831 420 Welt jedes fünfte Kind vor dem Erreichen des sechsten Lebensjahres an umweltbedingten Krankheiten. 4 Millionen Kinder sterben alleine an akuten Infektionen der Atmungsorgane, welche durch Luftverschmutzung bedingt sind.834 Trans-Fettsäuren Die bei Kindern besonders beliebten Nahrunsmittel (Pommes frites, Nuss-Nougat-Creme) sind durch einen hohen Anteil an „teilgehärteten Fetten“ und somit durch einen hohen Gehalt an Trans-Fettsäuren gekennzeichnet. Diese Substanzen, die in der Natur nur in sehr kleinen Mengen vorkommen, entstehen durch die Härtung von pflanzlichen Ölen. Durch diesen Vorgang wird eine größere Stabilität und Streichfestigkeit erreicht. Der Cholesterinstoffwechsel, vor allem von Kleinkindern, kann dadurch nachteilig beeinflusst werden. Die Entwicklung des Gehirns, aber auch das Wachstum kann durch Trans-Fettsäuren gehemmt werden. Trans-Fettsäuren sind plazentagängig, das heißt sie besitzen die Fähigkeit, sich im Mutterkuchen einzulagern.835 Während der Schwangerschaft, speziell kurz vor und nach der Geburt, sollte besonders auf die ausreichende Zufuhr von Linol- und Linolensäure geachtet werden, da während dieser Zeit der heranwachsende Organismus die mehrfach ungesättigten Fettsäuren dringend zum Einbau in Membranlipide verschiedener sich schnell entwickelnder Organe (Gehirn, Augen) benötigt. Tributylzinn (TBT) Diese Gift wird häufig in Fischkonserven gefunden. Eine Analyse von 16 Fischfilets ergab eine Belastung aller Proben (mit bis zu 27 Mikrogramm pro Kilogramm) mit diesem Gift. Auch in Flundern, Muscheln und T-Shirts wurde dieses Gift nachgewiesen. Die Bundesbehörden gehen von keiner konkreten Gefahr für die Gesundheit bei Menschen aus. Beim Verzehr einer 200-g-Packung von Fischkonserven werden etwa 36% der von der WHO angegebenen duldbaren täglichen Men- 834 SZ, Nr. 100, 1998, S. 12 Zeitschrift für Ernährungswissenschaft, 1996, Bd. 35, S. 235, in SZ Nr. 257, 1998, S. 30 835 421 ge an TBT eingenommen. Auch in Trikots des Sportartikelherstellers Nike wurde TBT nachgewiesen. Die Hauptquelle von TBT sind sogenannte Antifouling-Farben die bei Schiffsanstrichen zur Anwendung kommen und so in den Nahrungsmittelkreislauf gelangen. Tributylzinn ist sehr häufig auch in größeren Mengen in PVCFußbodenbelägen enthalten.836 So wurden bei einer Untersuchung in 15 von 16 untersuchten PVC-Böden „gewaltige“ Mengen von TBT entdeckt. Die Experten rieten dringend, PVC-Böden, vor allem im Wohnbereich, umgehend zu entsorgen. TBT schadet dem Immunund Hormonsystem schon in winzigen Konzentrationen. Ein derart belasteter Hafenschlick müsste als Sondermüll versorgt werden. Selbst die Hersteller dieser Bodenbeläge seien entsetzt. Alle untersuchten Böden enthielten zusätzlich gesundheitsschädliche Weichmacher im Prozentbereich. Während TBT über den Abrieb in die Raumluft gelange, gasen die Weichmacher kontinuierlich aus. Trinkwasser – Schadstoffe – eine Ursache chronischer Vergiftungen 837 (siehe auch Erkenntnisse zur Schwangerschaft/Geburt/Kindheit) Bekannte Wasserschadstoffe: 1. Blei Schon bei einer kurzen Verweildauer des Wassers in Bleirohren wird die zulässige Bleikonzentration für Trinkwasser überschritten. Ein Gesundheitsrisiko besteht regelmäßig in Häusern mit Bleirohren durch die ständige Aufnahme kleiner Bleimengen. In Deutschland liegen durchschnittlich 5% der Wasserproben über dem Grenzwert von 40g/l. In einigen Regionen sind es sogar 35%. Folgende Wirkungen sind zu erwarten: Minderung der Intelligenz, hyperkinetisches Syndrom, Kopfschmerzen, Bauchkrämpfe, Bluthochdruck, Blutbildungsstörungen, Störungen des Immunsystems, Leber- und Nierenschäden. 836 Eine Untersuchung des Verbrauchermagazins Ökotest in SZ, 95, 2000, S. 16 837 BLASIG-JÄGER in Hpaktuell, 3, 1999, S. 13 bis 16; D. Münks Verlag für Medizin; Tel: 0 21 50 / 32 12 422 Für Säuglinge, Ungeborene und Kinder bis zum sechsten Lebensjahr besteht jedoch die größte Gefährdung. Hier werden Entwicklungsstörungen des sich ausbildenden Gehirns festgestellt, da oral aufgenommenes Blei vermehrt im Darm resorbiert wird und die Blut-Hirn-Schranke noch nicht voll ausgebildet ist. 2. Kupfer Bei saurem Wasser kann die Kupferkonzentration bis zu 17 400 g betragen. Wird Säuglingsnahrung mit einem derart belasteten Wasser zubereitet, wird damit die Ausscheidungskapazität des Säuglings überschritten. Die Folge bei lang anhaltender Exposition ist eine Leberzirrhose. Weitere beobachtete Auswirkungen: chronische Durchfälle, Epilepsie, Migräne, diffuse Bauchschmerzen und Schmerzen. 3. Asbestfasern Im Jahr 1992 gab es bundesweit noch ein Netz in der Länge von 31 126 km mit Asbestzementrohren, in welchen Trinkwasser transportiert wurde. Durch eine Reihe von durchgeführten Studien wird vermutet, dass damit eine erhöhte Krebshäufigkeit verbunden ist, die jedoch aufgrund der langen Latenzzeit von 37 Jahren schwierig abzuschätzen ist. In Haushalten, die ihre Wasserversorgung aus Asbestzementrohren beziehen, ist eine 300fache Raumluftbelastung mit Asbestfasern festzustellen. 4. Hormonähnlich wirkende Substanzen Viele im Trinkwasser vorkommende Substanzen (Hormone, Phtalate, Pestizide, PCB) besitzen eine hormonähnliche Wirkung. Das ist auch eine Ursache dafür, dass in vielen Flüssen zunehmend mehr weibliche Fische geboren werden. In der Berliner Havel sind es bereits etwa 70%. Auch mit großem technischen Aufwand gelingt es nicht, diese Substanzen in Kläranlagen oder Wasserwerken herauszufiltern. 5. Arzneimittel Viele Arzneimittel können biologisch nicht vollständig abgebaut werden. Durch Kläranlagen können z. B. Arzneimittel zur Senkung des Cholesterinspiegels nur ungenügend oder gar nicht herausgefiltert werden. In Deutschland ist eine Untersuchung des Trinkwassers 423 auf Arzneimittelrückstände nicht vorgeschrieben. Untersuchungen in den USA ergaben eine Belastung des Trinkwassers mit folgenden Werten: Name der Arzneibestandteile Enthalten in Salicylsäure Colfibrinsäure Schmerzmitteln 100 Cholesterin senkenden 10 Medikamenten Menge in g pro Liter In deutschem Trinkwasser (Berlin) wurden durch die Berliner Wasserwerke folgende Rückstände gemessen: Name der Arzneibestandteile Enthalten in Menge in g pro Liter Colfibrinsäure Cholesterin senkenden Medikamenten Psychopharmaka Zytostatika Antiepileptika 0,18 Diazepam Bleomycin Carbamazepin 0,4 0,009 1,6 6. Trihalomethane und Chlor Das dem Wasser zur Desinfektion zugesetzte Chlor bildet zusammen mit organischen Substanzen krebserregende Trihalomethane. Amerikanische epidemiologische Studien verweisen in einer Metaanalyse auf das gehäufte Risiko hin, durch Chlor an Blasen- und Rektumkarzinomen zu erkranken. Auch weitere Schadstoffe können noch im Trinkwasser nachgewiesen werden, wobei immer nur ein kleiner Teil der in Wirklichkeit enthaltenen Stoffe erfasst wird: Pestizide, Hundekotbakterien, Arsen, Nitrat/ Nitrit, Legionellen u. a. 7. Möglichkeiten der Abhilfe Es ist in jedem Fall sinnvoll, bei Verdacht auf eine Verunreinigung das Trinkwasser analysieren zu lassen. MultiPure Kohleblockfilter haben in Verbindung mit einem Filtertyp wie dem MP-SSCT nach Untersuchungen der Freien Universität Berlin ihre hervorragende Wirkung bei den oben aangeführten Schadstoffen unter Beweis gestellt. 424 Einige Fakten und Zahlen zur globalen Wasserversorgung:838 Nur etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ist mit ihren Haushalten an Wasser- und Abwasserleitungen angeschlossen. Etwa 2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Sie müssen das Wasser aus Seen, Flüssen oder Tümpeln für den Gebrauch zubereiten. Ca. 436 Millionen Menschen leben in Ländern, in denen Wasserknappheit herrscht. Ein europäischer Haushalt verbraucht etwa 150 Liter Wasser täglich. Davon nur drei Liter für Essen und Trinken. Im Vergleich dazu verbraucht ein indischer Haushalt ca. 25 Liter pro Tag. In Entwicklungsländern müssen arme Familien im Durchschnitt ein Fünftel ihres Einkommens für den Kauf von Wasser aufwenden. Mindestens die Hälfte aller Krankheiten (Amöbenruhr, Cholera, Hepatitis A, Poliomyelitis) in den Entwicklungsländern sind auf verschmutztes Wasser zurückzuführen. Männer, die täglich zwei Liter Wasser trinken, haben ein um 50% geringeres Risiko, an Krebs zu erkranken. Der Effekt ist noch deutlicher bei Rauchern im Zusammenhang mit Blasenkrebs. Schwangerschaftsprophylaxe Zu viel Kaffe kann wegen des hohen Coffeingehaltes bei mehr als 300 mg pro Tag Wachstumsstörungen beim Kind verursachen. Vor Vitamingaben in konzentrierter Form sollte Abstand genommen werden. Die Wirkung konzentrierter Vitamin-A-Gaben für das ungeborene Kind ist mit der Schädlichkeit von Thalidomid (Contergan) vergleichbar. Die Verordnung von Jodgaben in der Schwangerschaft ist umstrtitten. BERGMANN weist darauf hin, dass jede vierte Frau ihre Schwangerschaft mit einer Jodmangelstruma beginne. Dies sei eine Ursache zur Entstehung einer geistigen Behinderung des Kindes. Im Gegensatz dazu weist GRAF auf die möglichen Zusammenhänge zwischen Hashimoto-Thyreoiditis oder Morbus Basedow bei zu starker Jodbelastung hin. Seiner Meinung nach gibt es heute kaum mehr echte Jodmangel-Bedingungen.839 Der Mangel an Folsäure, die zum Vitamin-B-Komplex zählt, kann Entwicklungsschäden auslösen. Dazu zählen u. a. Neuralrohrdefekte (offener Rücken). 838 MM, 116, 1999, J 7 GRAF, Kritik der Arzneiroutine bei Schwangeren und Kindern, 24306 Plön, Tel. 0 45 22 / 17 77 839 425 Veränderte Lebensmittel Ausgelaugte Böden, lange Transportwege und chemische Maßnahmen führen dazu, dass z. B. der Vitamin-C-Gehalt von Äpfeln in den letzten zehn Jahren um 80% gesunken ist.840 Nach JANY ist es sehr schwierig, Lebensmittel mit dem Vermerk „Gentechnikfrei“ zu kennzeichnen. „60 bis 70 Prozent der im Laufe des Produktionsprozesses verarbeiteten Lebensmittel sind in irgendeiner Weise mit Gentechnik in Berührung gekommen.“841 Vitamin-Schock nach Überdosis von Getränken842 Hochdosierte Vitamingetränke (ACE-Getränke) können vor allem bei Rauchern und Schwangeren gesundheitliche Schäden verursachen, wenn sie überdosiert eingenommen werden. Bereits ein Glas decke den täglichen Bedarf an Vitaminen zu 60 bis 150% ab. Durch das Trinken einer ganzen Flasche werde der Vitamin-A-Tagesbedarf bis zu 375% überschritten. Da den ACE-Getränken Beta-Carotin zugesetzt werde, können bei übermäßiger Aufnahme gesundheitliche Schäden auftreten. Wassertrinken 843 Die empfohlene alkohol- und koffeinfreie Flüssigkeitsmenge, die täglich konsumiert werden sollte, liegt – abhängig vom jeweiligen Körpergewicht – bei zweieinhalb Litern. Eine entsprechende Flüssigkeitszufuhr kann die Bildung von Nierensteinen verhindern 840 SZ, Magazin, 35, 1998 SZ, 204, 1999, S. 2; JANY ist Mitarbeiter an der Bundesforschungsanstalt in Karlsruhe. 842 MM, 111, 2001, S. 1; Hinweise der Staatlichen Ernährungsberatung in Bayern 843 SZ, 250, 2001, V2 /13; MANZ arbeitet am Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund; Margaret WILSON arbeitet an der St. Louis University, USA; LEHRL arbeitet an der Universität Erlangen-Nürnberg. 841 426 die körperliche Leistungsfähigkeit steigern. Weitere Arbeitshypothesen, die dem momentanen Wissensstand entsprechen (MANZ): Zu wenig Flüssigkeit könnte die Entstehung von Asthma begünstigen das Risiko von Dickdarm- oder Blasenkrebs erhöhen. Selbst kleinere Wasserdefizite können den Stoffwechsel der Nervenbotenstoffe beeinflussen (WILSON). Reichliches Trinken erhöht die Aufmerksamkeit (LEHRL). Versuche mit Studenten, die in die Sauna geschickt wurden und 24 Stunden lang dursteten, zeigten, dass über Schlaffsein geklagt wurde Albträume auftraten Zahlenreihen nur schwer gemerkt wurden der Inhalt von Videos nur schwer begriffen wurde. Selbst wenn ausreichend nach dem Saunabesuch getrunken wurde, war das Kurzzeitgedächtnis noch einen Tag später geschwächt. Kinder dürfen auf keinen Fall gezwungen werden, in kurzer Zeit mehrere Liter Wasser zu trinken. Große Wassermengen überfluten die Nervenzellen im Gehirn und können ein tödliches Koma verursachen. Manipulation von Schadstoffgrenzwerten durch die WHO OETKEN weist darauf hin, Grenzwerte zu manipulieren, wenn sich bei der täglichen Aufnahme eines Pestizids zu hohe Werte ergeben. Dies geschah zum Beispiel 1999 bei Chlorpyrifosmethyl. Diese Substanz wird gegen beißende Insekten im Stall und auf Obstplantagen eingesetzt. Als eine Überschreitung des ADI-Wertes (acceptable daily intake) festgestellt wurde, wurde einfach die täglich verzehrte Menge an Vollkornmehl durch die WHO geringer angesetzt.844 844 SZ, 247, 1998, V2 /19; Gudrun OETKEN ist Mitarbeiterin im Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) in Hamburg. 427 Tipps zu einer gesunden Ernährung Das Übergewicht bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland nimmt seit 1985 stark zu. Jedes dritte Mädchen und jeder vierte Bub gilt inzwischen als zu schwergewichtig.845 So hätten 26% der Jungen und 33% der Mädchen ein zu hohes Gewicht. Als Hauptursache wird eine Zunahme des Verzehrs von fettreicher Kost und Bewegungsarmut genannt. Der Anteil der Gemusterten mit einem Körpergewicht von über 90 kg stieg zwischen den Jahren 1957 und 1997 von 2 auf 13% und hat sich damit versechsfacht. Kinder und Jugendliche wissen oft viel über eine gesunde Ernährung, aber sie setzen dieses Wissen nicht um. Am besten lernen die Kinder durch die Vorbildwirkung ihrer Eltern. Fettreiche Kost vermeiden Alkohol in geringen Mengen Täglich 2 Liter Wasser trinken Drei bis fünfmal Gemüse und Obst essen Wenig Fleisch und Eier essen Wenig zusätzlich salzen Fisch, Olivenöl und Gemüse, Reis, Brot Science kommt neuerdings zu dem Schluss, dass Vorurteile einzelner Forscher, aber auch die Einflussnahme von Beamten und Politikern in Schlüsselpositionen während der 60er und 70er Jahre die unbewiesene Hypothese „zu viel Fett sei ungesund für das Herz“ zum Dogma werden ließen. Auch die weltweit gültige Formel gesunder Ernährung „30% der Kalorien als Fett“ ist wissenschaftlich nicht belegt.846 So sind die Wirkungen einer fett-reduzierten Ernährung auf völlig gesunde Menschen bisher noch nie in einer wirklich aussagekräftigen Studie erprobt und belegt worden. Der Grund dafür liegt in den immensen Kosten für eine solche Studie, denn Zehntausende müssten über mindestens zehn Jahre hinweg beobachtet werden. Eine britische Arbeitsgruppe untersuchte 17 000 Fett-Studien der 845 MM, 290, 2000, S. 1; Untersuchungen des Gesundheitsamtes Halle und der Universität Jena 846 SZ, 84, 2001, V2 /9 428 letzten 35 Jahre. Ergebnis: Die Lebenserwartung steht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit einer fettreduzierten Ernährung.847 In den USA wurde laut Science ein 1988 begonnener Versuch des Gesundheitsministers, das Wissen über Fette zusammenzufassen, nach elf Jahren abgebrochen, weil die Aufgabenstellung zu kompliziert war. Etwa 10% der sechs- bis zehnjährigen Jungen und 7% der gleichaltrigen Mädchen leiden unter einem Übergewicht. Gründe dafür, dass viele Erwachsene in Deutschland zu dick und trotzdem schlecht ernährt sind: 848 zu hoher Alkoholkonsum zu wenig Bewegung Defizite in der Zufuhr einzelner Nährstoffe : Kalzium: ist ein wichtiger Knochenbaustein; Kinder und Jugendliche nehmen meist nur 60 bis 80% der notwendigen Tagesdosis zu sich; besonders in der Pubertät ist dies wegen des schnellen Knochenwachstums besonders kritisch; Milch und Milchprodukte enthalten Kalzium. Jod: ist ein Spurenelement; Deutschland ist ein Jodmangelgebiet; Abhilfe bei einem Jodmangel kann durch jodiertes Salz erfolgen. Vitamin E und Beta-Carotin (Folsäure): Beinahe alle Deutschen nehmen zu wenig davon auf. Das Vitamin ist reichlich enthalten in Blattsalaten, Blattgemüse, Spargel, Hülsenfrüchten, Nüssen und Vollkornbackwaren und ist wichtig zum Schutz der Föten in den ersten Monaten der Schwangerschaft. Es schützt vor Missbildungen wie Neuralrohrdefekten und kann zu hohe Homocysteinwerte im Blut senken (Schutz vor Koronarsklerose und Arteriosklerose). Zucker Bei Kindern im Alter zwischen zwei und 13 Jahren erhöhte sich der Verbrauch von Zucker in Lebensmitteln, die mit Vitaminen aufgepeppt wurden, innerhalb von zehn Jahren fast um das Doppelte (von 847 British Medical Journal, 2000, Bd. 322, S. 757 SZ, 297, 2000, V2/10; Bilanz der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) 848 429 10 auf 19%). SICHERT-HELLERT zu dem zweifelhaften Nutzen dieses von der Zuckerindustrie forcierten Vorgehens: „Einerseits werden Substanzen überreichlich zugesetzt, an denen kein Mangel besteht; andererseits fehlen oft Stoffe, deren Anreicherung sinnvoll sein könnte, wie Eisen oder Folsäure . . . Es geht hier wohl eher darum, bestimmte Produkte attraktiv zu machen.“849 In einem neuen „wissenschaftlichen“ Buch mit dem Titel „Süßwaren in der modernen Ernährung“ behaupten KLUTHE/KASPER, dass der Rat, wenig Süßes zu verzehren, nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entspreche. Die einseitigen Beiträge in diesem Buch sind Beiträge einer Tagung, „durchgeführt mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Instituts der Zuckerindustrie“. Bericht eines Arztes zum eigenen Konsum von Zucker: 850 „Auch ich habe lange geglaubt, man könne Süßigkeiten ungestraft in großen Mengen zu sich nehmen, wenn man nicht zuckerkrank ist und sein Gewicht in Grenzen halten kann. Ich habe Zucker in jeder Form zu mir genommen, vor allem aber in einer süßen ZitronenOrangen-Limonade, die ich literweise in mich hineingeschüttet habe. Es begann mit vorübergehender Pelzigkeit an den Füßen, die sich allmählich zu einer peripheren Neuropathie auswuchs . . . Ich habe nie geraucht . . .Meine Mutter wurde 100 Jahre, ohne zu verkalken, mein Vater ist allerdings früh an Krebs gestorben, sodass eine familiäre Belastung von Vaterseite nicht ausgeschlossen ist . . . Der anhaltend hohe Blutzucker löst offensichtlich die Symptome des Diabetes aus. Zucker war zwar ein angenehm schmeckendes Nahrungsmittel, aber anscheinend auch der Auslöser meiner Krankheiten. . . Die Wirkung des Zuckers im Organismus ist vergleichbar einem Strohfeuer. Akut wird eine große Menge Energie frei, ohne verwendet werden zu können . . . “ 849 SZ, 91, 2000, V2/11; SICHERT-HELLERT ist Mitarbeiter am Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung; KLUTHE/KASPER sind Mitarbeiter an der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin. 850 SZ, 275, 2001, S. 22, Leserbriefe; Dr. Wolfgang Popp, Gräfelfing bei München 430 Kosmetika – Lipp-Gloss851 13 von 21 untersuchten derartigen Produkten wurden als mangelhaft bewertet. Fast alle Produkte enthielten einen zu hohen Anteil von Erdölprodukten und Silikonen. Einige dieser Stoffe könnten sich in Leber, Nieren oder Lymphknoten anreichern. Auch halogenorganische Verbindungen wurden zusätzlich beanstandet. Sie stehen im Verdacht, trotz ihres geringen Anteiles Allergien oder Krebs auszulösen. Auf den Packungen sind sie an folgenden Bezeichnungen zu erkennen: „Bromo“ – „Jodo“ – „Chloro“. Weitere beanstandete Inhaltsstoffe: hormonell wirkende UV-Filter leberschädigende, polyzyklische Moschusverbindungen Polyethylenglykole – sie machen die Haut für Schadstoffe durchlässig. Erdölprodukte und Silikone sind an folgenden Begriffen zu erkennen: Paraffin, Microcrystalline, Wax, Petrolatum, Mineral Oil, Ceresin und Dimethicone. Testsieger mit der Bewertung „sehr gut“ wurde der „LaveraLippgloss“ aus dem Bioladen. 851 Öko-Test, November 2001 und in MM, 246, 2001, Weltspiegel 431 Die mediengeschädigte Gesellschaft Die Mediengesellschaft Die Menschen in den USA, Japan und Westeuropa leben in einer Informationsgesellschaft, die sich immer neuer Techniken bedient. Angaben in Prozent852 Medium Mobiltelefon PC Internetzugang USA 41 65 63 Japan 47 32 35 Deutschland 59 34 39 Medien in Kinderzimmern Eine Untersuchung853 aus dem Jahr 1999 an 1000 Kindern und deren Eltern belegt, dass die Kinderzimmer immer stärker mit Medien besetzt sind. Das Fernsehen hat sich zur häufigsten Freizeitbeschäftigung bei den sechs- bis 13-jährigen Kindern entwickelt. Abnahme des Realitätsbezuges SÜSSMEIER854 weist darauf hin, dass bereits die Kinder Unterhaltungselektronik im Überfluss besitzen. Bei fast einem Viertel der Schulanfänger steht der eigene Fernseher und/oder der Computer im Kinderzimmer. „Der Realitätsbezug der Kinder nimmt ab.“ Beim Versteckpiel mit Fünftklässlern schafften es einige nicht, einen richtigen Unterschlupf zu finden. Sie krochen deshalb hinter ein Gitter, in der Annahme, dort nicht gesehen zu werden. In einigen Kindergärten werde schon über eine Verlängerung der morgendlichen Bringzeit nachgedacht, da das Frühstücksfernsehen offenbar mehr fessele als Basteln und Spielen. Als ich mit einer neunten Klasse im Sozialkundeunterricht eine Gerichtsverhandlung besuchte, wurde ich während der Verhandlung von einem Schüler gefragt: „Ist das echt oder spielen die das nur?“ 852 SZ, 236, 2001, V1 /22 MM, 2, 2000, Tele-Merkur 854 SZ, 120, 2001, S. 54 München; SÜSSMEIER ist Mitglied der „Münchner Aktionswerkstatt G`sundheit“. 853 432 Fernseher – Videogeräte – Computer in Deutschland Jahr Kinder mit eigenen Fernsehgeräten im Kinderzimmer (%) Westen insgesamt Osten 17% 25% 1990 1999 1990 1999 1999 eigenen Fernsehgeräten jedes im Kinderzimmer (%) vierte Kind eigenen Videogeräten 3% eigenen Videogeräten eigene Computer 9% jedes zweite Kind 28% 20% Über zwei Millionen Deutsche leben ohne ein Fernsehgerät. Laut Statistik hat sich ihre Zahl in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. In Deutschland schauen etwa 58 Millionen Menschen täglich etwa 190 Minuten fern.855 Informationskollaps durch Medienflut Seit 1960 hat sich das Informationsangebot der Medien um etwa 4000% erweitert. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob bei diesem immensen Angebot eine problemlose Auswahl und Verarbeitung einschließlich einer kritischen Bewertung noch möglich ist. Im gleichen Zeitraum wuchs die Kapazität des Menschen, Informationen zu verarbeiten bestenfalls nur um 4%. Kritiker warnen vor einem kollektiven Informationskollaps. Durch die ständig anwachsende Informationsflut entsteht eine damit verbundene Unübersichtlichkeit. Dies wird von Teilen der Gesellschaft als Mangel an Information erlebt. MERTEN weist darauf hin, dass die zunehmende Vernetzung und Vervielfältigung der Medienangebote zwar in der Folge zu einer informierten Gesellschaft, nicht aber zu einem informierten Bürger führe. Insgesamt werde sich die Schnittmenge gemeinsam geteilten Wissens verändern. Daran gekoppelt seien Auswirkungen wie Verständigungsprobleme und eine Spaltung der Gesellschaft. 856 855 SZ, 1, 2002, S. 35 MM, 72, 1999, S. 4; MERTEN ist Professor für Kommunikationsforschung in Münster; GATES ist Chef von Microsoft; 856 433 GATES stellt die Frage, ob der Mensch sich in Zukunft „zu Tode konsumiert und informiert“, da im allgemeinen unzureichende Einrichtungen zur Informationsfilterung vorhanden seien. Er sieht eine Informationsgesellschaft nur dann als gelungen, „wenn jeder Anwender lediglich die Daten bekommt, die seinen Interessen und Bedürfnissen entsprechen.“ SCHMIDT vertritt die Meinung, dass jeder Mensch die angebotene Information nach seiner Neigung und seinen kognitiven Fähigkeiten nutze. WINTERHOFF-SPURK appelliert an die „Mediennutzungsmoral“ der Konsumenten. Untersuchungen mit Kindern haben gezeigt, dass die neue Genration der Mediennutzer – junge Computerbesitzer – häufiger Bücher lesen als Kinder ohne PC-Zugang, wobei die Frage offen bleibt, ob nicht andere Faktoren ebenfalls in starkem Maße beeinflussend sind. Ich denke, dass viele Menschen sich keinen PC leisten können und habe dabei meine Schüler vor Augen. Sie sind von Geburt an oft mit Handicaps belastet und haben keinerlei Interesse, freiwillig ein Buch zu lesen. Ich bezweifle, ob das Vorhandensein eines PCs diese Einstellung ändern würde. Schlagworte wie „Medienkompetenz“ werden häufig gebraucht. „Kompetenz“ zu erwerben ist jedoch ein langer Prozess und setzt sowohl die Möglichkeit der Bildung, der Erziehung als auch Interesse einschließlich der Möglichkeit des Austauschs von Erfahrungen voraus. Um Kompetenz zu erreichen, müssen vor allem Kinder und Jugendliche wieder lernen, mit gesetzten Grenzen zu leben, und für ihre Erfahrungen Ansprechpartner haben. Eine sinnvolle Selektion erfordert ein gewisses geistiges Niveau und den Mut, Inhalte, die sozial fragwürdig sind, gemeinsam anzusehen, anzuhören und zu besprechen. Hier ist die Schule besonders gefordert. Das Lernen des Lernens sollte hier in erster Linie stattfinden. Krankmachende Wirkung des Fernsehens Nach Ansicht von Kinderärzten besteht die Gefahr, dass die Kinder durch das lange Fernsehen mit Sauerstoff unterversorgt werden. Im SCHMIDT ist Leiter des Instituts für Medienforschung an der Universität Siegen; WINTERHOFF-SPURK ist Professor für Medienpsychologie in Saarbrücken. 434 Durchschnitt verbringen drei- bis fünfjährige Kinder täglich etwa 80 Minuten vor dem Bildschirm. Ein Drittel der Neun- bis Zehnjährigen hätte sogar einen eigenen Fernseher. STIER weist darauf hin, dass das Fernsehen der Faktor sei, der nach der Familie die Jugend am meisten beeinflusse. „Es ist heimlicher Miterzieher in 99% der Haushalte.“857 Folgen des Dauer-Fernsehkonsums: Immer häufiger sind die Kinder überreizt. Sie können sich kaum konzentrieren und seien hyperaktiv. Sie zeigen Verhaltensstörungen und Aggressivität. Sprach- und Wahrnehmungsstörungen nehmen dramatisch zu. Die Unterscheidung von virtuellen und echten Szenen ist für viele Kinder nicht mehr möglich. Beeinflussung des Sexualverhaltens. Jugendliche erleben den ersten Sex immer früher (ca. 12 000 bis 18 000 Teenager werden nach WEISSENRIEDER im Jahr schwanger; es entsteht der Eindruck, dass alle möglichen Spielarten der Sexualität leicht verfügbar seien). Das lange Sitzen vor dem Fernseher und dem Computer ist nach Ansicht von Kinderärzten zusammen mit dem Konsum kalorienreicher Süßigkeiten für die zunehmenden Schwierigkeiten der Kinder im Vorschulalter mit ihrer Körperkoordination verantwortlich. Immer mehr Kinder verletzen sich durch Bewegungsunsicherheiten wie Stolpern, Ausrutschen oder Umknicken.858 Die Verbreitung der Spaßkultur Die Gestalter der Fernsehprogramme sind nach OPASCHOWSKI schuld an der Verbreitung der Spaßkultur. 857 MM, 60, 1999, Weltspiegel; STIER ist Kinderarzt und Beauftragter für Jugendmedizin in Hessen; WEISSENRIEDER ist der Beauftragte für Jugendmedizin in Bayern. 858 MM, 47, 2000, S. 1; Information der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern. 435 „Immer mehr Zuschauer steigen auf flachere Programme um und arrangieren sich mit dem Niveauverlust, während Nachrichten und politische Programme auf der Strecke zu bleiben drohen.“859 Ein tiefgreifender Wertewandel zeichnet sich quer durch durch alle Altersgruppen ab. Werden Schüler unserer Schule (Förderschule/Lernförderung) wegen verübter Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern zur Rede gestellt, so ist immer wieder die gleiche rechtfertigende Äußerung zu hören: „Es war doch nur Spaß!“ Emotionale Abstumpfung von Fernseh-„Vielsehern“ Eine aufwendige Studie von MYRTEK/SCHARFF860 belegt die Folgen eines übermäßigen Fernsehkonsums bei Schülern. Sie belegten, dass Fernseh-Vielseher (bis zu knapp drei Stunden täglich) einsamer und abgestumpfter sind die Schulnoten von Vielsehern schlechter sind dass Vielseher viel mehr Stress im wirklichen Leben empfinden als Wenigseher (unter einer Stunde) weniger Sport treiben sich weniger häufig mit Freunden treffen weniger mit anderen sprechen einen abnehmenden Bewegungsdrang zeigen seltener ein Musikinstrument spielen längere Zeit sitzend verbringen 859 MM, 85, 2001, S. 9 ;OPASCHOWSKI ist Leiter des BAT Freizeit-Forschungsinstitutes in Hamburg. 860 SZ, 107, 2001, S. 24; MYRTEK/SCHARFF sind Professoren und arbeiten in der „Forschungsgruppe Psychophysiologie“ an der Universität Freiburg. Untersucht wurden einen Tag und eine Nacht lang je 100 Schüler im Alter von elf und 15 Jahren; es wurden Herzfrequenz und Bewegungsaktivität gemessen; außerdem mussten die Jugendlichen alle 15 Minuten per Knopfdruck angeben, wie sie sich gerade fühlen. Durch den ständigen Vergleich von Herzfrequenz und Bewegungsaktivität konnten die Aufregung und die emotionale Belastung ermittelt werden. 436 ältere Jugendliche, die viel fernsehen, reagierten dabei mit den höchsten Stress-Werten auf die Schule. Ihre Noten sind am schlechtesten, vor allem in Deutsch. So kann eindeutig belegt werden, dass sich mit zunehmendem Fernsehkonsum die Schere zwischen virtueller Welt und Realität immer weiter öffnet. Die häufig angeführte „Nachahmungstheorie“ vereinfacht die komplexen Zusammenhänge zu sehr. Die Erklärung für Gewalttätigkeiten von Vielsehern können damit begründet werden, dass sie das wirkliche Leben nicht mehr meistern können, da sie es als komplizierter, anstrengender und bedrohender empfinden als die im Fernsehen gezeigten Pseudorealitäten. Jüngere Kinder zeigten sich emotional wesentlich stärker durch das Fernsehen belastet als ältere. Insgesamt zeichnet sich ein verhängnisvoller Kreislauf ab: Vielseher haben weniger Zeit zum Musizieren, Sporttreiben, Lesen, Reden und Schreiben. Die entsprechenden Fertigkeiten verkümmern; die Schulleistungen verschlechtern sich. In der Folge wird wieder Zuflucht beim Fernseher gesucht. MYRTEK: „Wir waren tatsächlich erstaunt, belegen zu können, welch starken Einfluss der Fernseh-Konsum auf die Emotionen hat. Aber ich würde mich darauf beschränken, zu sagen: Ältere Vielseher bekommen Schwierigkeiten in der Schule, kommen nicht mehr mit. Das empfinden sie als belastend, und das wiederum kann die Aggressivität fördern.“ Computerspiele – Medienwirkungsforschung Das Geschäft mit elektronischen Spielen hat sich in den letzten 20 Jahren zu dem am schnellsten wachsenden der Unterhaltungsbranche entwickelt. Für viele Kinder und Jugendliche dienen diese Spiele als Möglichkeit der Abgrenzung gegenüber der Welt der Erwachsenen. Die Sprache der „User“ wird geprägt durch die Geisteshaltung des amerikanisch-japanischen Marktes und der dort vorherrschenden Konsumkultur. Der Versuch einer Antwort auf die Frage, ob gewaltorientierte Computerspiele die Entwicklung von Aggressionen fördern und welche Rolle sie bei der Zunahme kindlicher und jugendlicher Gewalt spielen, kann nur mit Hilfe der Kombination verschiedener Denkansätze der Medienwirkungsforschung erfolgen. 437 Stimulationstheorie Sie geht davon aus, dass gewalttätige Bildinhalte Aggressionen fördern. Habitualisierungstheorie Die Vertreter dieser Theorie behaupten, dass mediale Gewalt die Konsumenten an die Gewalt gewöhnt und zugleich abstumpfende Wirkung ausübt. Inhibitionstheorie Sie besagt, dass gewalttätige Bilder eher gewalthemmend wirken, weil sie Angst einflößen. Katharsistheorie Danach wird durch das Betrachten von Gewalt Spannung abgebaut und in der Folge die reale Gewaltbereitschaft eingeschränkt. Neuere Untersuchungen zur Computerspielforschung gehen davon aus, dass diese Spiele kurz- und langfristige Effekte in Bezug auf das kindliche Verhalten zeigen. Einerseits wird das Anwachsen der passiven Akzeptanz von Gewalt, andererseits das Ansteigen des Aggressionsniveaus – jedoch abhängig von der Geborgenheit, die die Kinder im Elternhaus spüren – betont. STECKEL/TRUDEWIND861 konnten durch eine Studie mit 167 Mädchen und Jungen zwischen sieben und 14 Jahren nachweisen, dass die emotionale Sensibilität bei Kindern, die mit einem Gewaltspiel konfrontiert worden waren, im Gegensatz zu einer Gruppe, die mit einem aggressionsfreien Spiel gespielt hatte, herabgesetzt war. Nach Ablauf der Spielzeit betrachteten die Kinder emotional belastende und neutrale Bilder. Die Jugendlichen, die mit dem Gewaltspiel spielten, verweilten wesentlich länger bei den belastenden Bildern. Die Aufzeichnung der Mimik, die Kontrolle der Herzschlagfrequenz beim Betrachten der Bilder, aber auch durch Befragungen und das Erzählenlassen kurzer Geschichten bestätigten das Ergebnis. Auffällig war jedoch, dass Kinder, die sicher gebunden und emotional geborgen waren, einen sicheren Schutz gegen die Wirkung gewalttätiger Spiele zeigten und zudem emotional geringer abgestumpft waren. Der Schutz gegen 861 SZ, 120, 2001, VI; Rita STECKEL arbeitet an der Universität Bochum zusammen mit TRUDEWIND seit Beginn der 80er Jahre im Bereich der Medienwirkungsforschung. 438 destruktive Einflüsse der Außenwelt ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sich ein Kind geborgen und geliebt fühlt. Dies ist auch die Grundlage für die Entwicklung von Empathie. Unter dem Deckmantel des mythischen Kampfes des Guten gegen das Böse werden durch die gewaltorientierten Computerspiele wichtige Normen und Werte regelrecht „entwertet“. Schuldgefühle, Reue, Angst vor Strafe, Rücksichtnahme, Scham, das Herstellen von Gerechtigkeit oder aber das Aufrechterhalten einer bestimmten Ordnung werden durch diese Spiele „regel(ge)recht“ verlernt. Brutalität wird durch Gewinn legitimiert und als einziges Mittel zur Ausübung von Macht und Kontrolle verinnerlicht. Betrachtet man die Problemlösungsstrategien bestimmter Staaten, so bleibt die Frage, ob durch diese Spiele nicht auch die Wirklichkeit gespiegelt wird. Allmachtfantasien werden genährt. Die Chance, König in einer virtuellen Welt zu sein, befreit Kinder häufig von dem Druck, sich den Leistungsanforderungen in der realen Welt zu stellen, und treibt sie in eine emotionale und körperliche Isolation. Besonders gefährdet sind die Vielspieler-Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren. Sie neigen zu besonders hoher Aggressivität. Gewaltorientierte Spiele setzen durch die nach „anderen“ Gesetzen ablaufenden, ständig simulierten Handlungen Lerneffekte in Gang und können so zu einem Probelauf für die Realität werden. Die Kontrolle darüber, in welchem Ausmaß Kinder mit dem Computer spielen – aber auch Verbote – sind wichtig. Kinder, deren Eltern in diesem Sinne aktiv sind, zeigten eine hohe Empathiefähigkeit. Schadlos mit dem Computer spielen Eine britische Studie belegt, dass Eltern, die ihre Kinder dazu anhalten, mit dem Computer nicht nur zu spielen, sondern ihn auch zu nützlichen Dingen einzusetzen, genau das Gegenteil erreichen. Zugleich wird belegt, dass Computerspiele Koordination und Konzentration fördern. Bei der Untersuchung von 100 englischen Computerspielern, die ca. 18 Stunden wöchentlich vor dem Monitor verbrachten, wurde das Bild vom abgeschotteten Computer-Kind ohne feste Bindungen zu Freunden, ohne Spaß am Lesen und ohne Freude am Sport widerlegt. Computer-Kids verbrachten genauso viel Zeit 439 mit diesen Beschäftigungen wie ihre nicht Computer spielenden Kameraden.862 Eine zweite Studie kam zu dem Ergebnis, dass die „regelmäßigen“ Computerspieler durchschnittlich mehr Sport treiben, mehr lesen, ausgeglichener sind und auch mehr Freunde haben als die Vergleichsgruppe. Die Möglichkeit, beim Übertreiben des Spielens süchtig zu werden, wurde durch diese Studien bestätigt. Computer: lieber spielen statt lernen CROOK/KERAWALLA fanden durch ihre Studie eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Kinder lieber am Computer spielen, anstatt ihn zum Lernen zu benutzen. Über einen Zeitraum von zehn Monaten wurden alle PC-Aktivitäten bei 33 Familien aufgezeichnet. Den Kindern standen sechs verschiedene Lernsoftware-Pakete zur freien Verfügung. Die Kinder fanden das Spielen jedoch wesentlich interessanter als das Lernen. Als Erklärung dafür wird die fehlende gruppendynamische Motivation durch Lehrer und Mitschüler angegeben. Während sich in der Schule alle mit einem Problem auseinandersetzen, sitzt der Schüler zu Hause allein vor dem Monitor.863 Manipulierte Inhalte Unzählig viele Kinder sitzen ohne Kontrolle täglich stundenlang vor dem Fernseher. Dies ist äußerst bedenklich, weil es inzwischen ein offenes Geheimnis ist, dass mit korrekten Botschaften heimliche Geschäfte in vielen Staaten gemacht werden. So sind Regierungen oftmals nicht unbeteiligt, wenn es um den Inhalt von Fernsehsendungen geht. Die Verbindung von Fernsehsendungen, in denen soziale Verantwortung deutlich gemacht wird, ist mit großen Geldspenden verbunden. So bezahlte der Kongress dem ODDCP 1997 eine Milliarde Dollar in Form einer Spende für eine fünfjährige Anti862 SZ, 174, 2001, V2 /10; Studie der Abteilung für Sozialforschung an der Universität Manchester; die zweite Studie wurde an der Nottingham Trent University an 800 Kindern durchgeführt. 863 SZ, 156, 2001, V2 /12; CROOK/ Lucinda KERAWALLA arbeiten an der Loughborough University in Leicestershire, England. 440 Drogenkampagne. Diese finanzielle Transaktion wurde unter Ausschluss der Produzenten und der Autoren allein über die Verkaufsabteilung abgewickelt. Die Gefahr solcher Vorgehensweisen ist offensichtlich: „Wenn die Öffentlichkeit zu glauben beginnt, dass eine Botschaft nur deswegen hineingebracht wird, weil es dafür eine finanzielle Entlohnung gibt, dann ist es gut möglich, dass der Wert aller unserer Botschaften untergraben wird.“864 Es ist durchaus vorstellbar, dass Filmproduzenten auch durch die Auswahl von Kleidern, Getränken und anderen Dingen das Verhalten der Jugendlichen entscheidend mitbestimmen und für heimliche Werbekampagnen leicht zu kaufen sind. Die Macht der Medien wird meines Erachtens nach absolut unterschätzt. Der Rundfunkstaatsvertrag Nach ihm werden Sendungen als unzulässig bezeichnet, die „geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden.“ Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Jugendschutzkriterien von ARD und ZDF dem Bewertungsleitfaden, den die Kontrolleure der Privaten, die Landesmedienanstalten, entworfen haben den Prüfgrundsätzen, nach denen die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) verfährt den Richtlinien der FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, ein von Privatsendern gegründeter, gemeinnütziger Verein) den „Verhaltensgrundsätzen“ der Privaten für Talkshows. Wie verschieden die Interpretationen darüber sind, was es bedeutet, einen „Wert“ zu vermitteln oder welche Inhalte als jugendgefährdend einzustufen sind, erregt immer wieder die Gemüter. So kann das Thema: „Ich gehe in den Puff – na und?“ aus der Sicht von Privatsendern, die Talkshows anbieten, als Versuch dargestellt werden, einen Wert zu vermitteln. Das Vorgehen, fragwürdige Themen und Inhalte zum Zwecke der Aufklärung und Abschreckung zu senden und zu zeigen, ist weit 864 SZ, 11, 2000, S. 22; WELLS, Produzent der preisgekrönten OPSerie Emergency Room in den USA 441 verbreitet. Voyeurismus und Aufklärung liegen dicht beieinander und sind oft nicht mehr zu unterscheiden. Grundsätzlich ergeben sich folgende Forderungen, um eine sozialethische Desorientierung vor allem bei Kindern und Jugendlichen zu vermeiden, indem die Erziehenden zusammen mit den Kindern oder Jugendlichen Sendungen anschauen und unter folgenden Aspekten darüber sprechen: Werden durch diese Sendung/diesen Film Werte vermittelt, wenn ja – welche? Wird Gewalt verharmlost? In welcher Form Bin ich als Erwachsener Vorbild? Finden sich Verhaltensweisen, die ich gut/schlecht finde und wage ich, darüber zu sprechen? Wie steht es mit der Darstellung der Gleichberechtigung? Welches Frauenbild/Männerbild vermittelt der Film? Wird die Menschenwürde geachtet? Wird Pornographie dargestellt oder verbreitet? Wird die Privatsphäre durch Darstellungen oder Interviews verletzt? Wird das Prinzip der Ausgewogenheit genügend beachtet? Die größte Gefahr besteht dann, wenn Eltern die Kontrolle darüber verlieren, was ihre Kinder sich im Fernsehen, auf Video oder im Kino ansehen. Die Erziehungsberechtigten, die ihre Kinder vor den Fernseher setzen, damit deren Langeweile nicht lästig wird, produzieren selbst spätere Gewalttäter. Die Handy-Gesellschaft Abgesehen von der noch nicht endgültig geklärten Gesundheitsgefährdung durch von Handys und die für ihre Funktion notwendigen Sendeantennen ausgehende Strahlung sind die Handykosten und somit unbezahlte Telefonrechnungen nach RÜGER865 bei 15% aller Beratungsgespräche in Schuldnerberatungsstellen mitverantwortlich für die Verschuldungen. Vor allem junge Menschen haben erhebliche Probleme mit der Transparenz der Tarife. 865 MM, 23, 2000, S. 1 und 2; RÜGER arbeitet bei einer Schuldnerberatungsstelle in München. 442 Werbebriefe – SMS und Servicenummern – das große Geschäft Unaufgeforderte Werbung per Fax oder Handy kommen häufig einem Psychoterror nahe. Besonders die „Sonder-Rufnummern“ sind oft an kriminelle Machenschaften gekoppelt. Seitenlange nutzlose Informationen treiben nicht nur die Papier- oder Druckkosten in die Höhe, sondern sorgen auch für hohe Telefonrechunungen. Unternehmen in Deutschland können im Gegensatz zu ausländischen Unternehmen durch eine Abmahnung und eine einstweilige Verfügung zu einem Werbeverbot gezwungen werden. Durch eine an das Fax gekoppelte Zeitschaltuhr lässt sich die unerwünschte Werbung meist erfolgreich verhindern. Vorgetäuschte wichtige SMS-Handy-Mitteilungen mit der gleichzeitigen Aufforderung, doch schnell unter der Nummer 0190 . . . zurückzurufen, führen ebenfalls zu hohen Telefonrechnungen. Auch die nach unerwünschten telefonischen Werbekampagnen zugeschickten ungültigen Auftragsbestätigungen der Telekom zu ihrem „AktivPlus“-Tarif sind rechtlich äußerst fragwürdig.866 Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes 867 darf das Begleichen der Telefonrechnung nicht mit der Begründung verweigert werden, dass Sextelefonate sittenwidrig seien. Ein Mobilfunkbetreiber hatte eine Kundin auf Bezahlung der HandyGebühren in Höhe von 20 000 DM verklagt. Die Frau hatte die Bezahlung mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe über ihr Mobiltelefon die Sondernummern mit der Vorwahl 0190 angewählt. Besitzer einer Telefonanlage – es muss nicht ISDN sein – können bestimmte Nummern automatisch bei der Installation sperren, um einem Missbrauch vorzubeugen. 866 867 SZ, 96, 2001, S. 50, München; die Tabelle ebda. MM, 270, 2001, S. 1; (Az: XI ZR 192/97-NJW 1998, 2895) 443 Der Beitrag der Medien zur Ausbreitung der Gewalt Wrestling Shows im Fernsehen Fast die Hälfte aller amerikanischen Wrestling-Fans ist 17 Jahre alt oder jünger. Jeder zehnte ist unter zwölf Jahre alt. Die zunehmende Verrohung der amerikanischen Jugend wird nicht nur durch die Zunahme von Amokläufen und Schießereien an Schulen belegt, sondern auch durch Studien dokumentiert. Nicht nur an amerikanischen Schulen regieren Body Slam und der gestreckte Mittelfinger. Auch auf deutschen Pausenhöfen ist der Nachahmungseifer täglich zu beobachten. Das Massaker an der Columbine High School wurde von Jugendlichen ausgeübt, die glühende Verehrer von Wrestlemania und entsprechenden Videospielen waren. SPIVAK betont: „Wrestlingshows haben eine völlig ungeeignete Vorbildfunktion für Kids, weil sie Realität und Show nicht unterscheiden können.“868 Die Kommentare aktiver Wrestler zu ihrem Tun: „Ich habe ein Haus, zwei Autos, drei Fernseher. Wer hat das schon in Europa? Ihr da drüben müsst erst einmal euren Mist in den Griff kriegen.“ (Ed) „Geld ist nicht wirklich wichtig, ich will in den Ring, ich liebe Wrestling, weil man seine wahre Identität eintauscht gegen die eines unbezwingbaren Kriegers. Die Menschen haben Krieger immer verehrt.“ (Joe) Gibt es zu viel Gewalt im Fernsehen? 869 Derrick – eine Fernsehserie 281 Folgen Derrick : 344 vollendete Morde „Harry hol schon mal den Leichenwagen!“ 868 SZ, 76, 2001, VII; SPIVAK ist Mitglied der American Academy of Pediatrics. 869 SZ Magazin, Nr. 53, S. 4 vom 31. 12. 98 444 Art der Morde Todesursache Vollendete Morde Natürliche Todesursachen Versuchte Morde Selbstmorde Erschossen Erwürgt Erschlagen Überfahren Vergiftet Erstickt In den Tod gestossen Ertränkt Erhängt Sonstige und unbekannte Ursachen Anzahl 344 3 37 44 167 38 25 17 14 10 7 5 2 20 Die Rolle der Sexualität in den Medien und ihre Auswirkungen GERSTENDÖRFER bezeichnet Eltern und Lehrer als „gnadenlos naiv“.870 Gerade durch den leichten Zugang zur Pornographie sind Kinder und Jugendliche in hohem Maße gefährdet. Durch sie wird das Bild der perfekt funktionierenden und ständig zum Sexualakt bereiten Frau in die Köpfe der Heranwachsenden eingepflanzt. Spezielle Medientechniken wie z. B. das „Morphing“ ermöglichen die virtuelle Vergewaltigung von Frauen durch bekannte und unbe870 SZ, 44, 1997, VI; alle folgenden Informationen sind dem Artikel von FRIESEN entnommen; sie ist Autorin und auch als Gestalttherapeutin in Hamburg tätig; GERSTENDÖRFER ist Medienexpertin und Psychologin in Tübingen; STARKE ist Leiter der Leipziger Forschungsstelle für „Partner- und Sexualforschung“; BOHRER ist Psychologin an der Universität Regensburg; SCARBATH ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg; WOLF ist eine amerikanische Autorin; LEMPERT ist Psychologe an der Beratungsstelle „ Männer gegen Männergewalt“ in Hamburg. 445 kannte Männer. Menschen können durch diese Technik so verändert werden, dass niemand es bemerkt. Köpfe werden auf andere Körpern „montiert“. Ermordungen, Vergewaltigungen und Folterungen werden so sichtbar gemacht. STARKE stellte 1991 fest, dass 83% der gesamtdeutschen 17jährigen Jungen und 43% der Mädchen Pornoerfahrungen hatten. Bei den zwölf- bis 15-jährigen Jungen hatte jeder dritte Junge und jedes vierte Mädchen mindestens einen Pornofilm gesehen. Das Ausleihen von Filmen durch Eltern und ältere Geschwister und der Bezug von Pornoheften durch den Versandhandel eröffnete die Möglichkeiten des Konsums. BOHRER befragte 103 männliche Berufsschüler zu ihrem Pornokonsum. 23,6% der Befragten schauen sehr oft oder oft Porno- und Sexzeitschriften an. Dabei wurde der folgende Zusammenhang festgestellt: „Je häufiger die Jugendlichen indizierte oder konfiszierte Filme, also die der schlimmsten Sorte anschauen, umso stärker lehnen sie Petting ab.“ Die Phase des tastenden Erforschens und des Kennenlernens der Partnerin werde übergangen, die sofortige Triebbefriedigung steht an erster Stelle. Zu den wichtigsten Pornomedien zählen mittlerweile Computer, Fernsehen und Videofilme. Durch entsprechende Suchmaschinen kann innerhalb kürzeseter Zeit auf bis zu über 100 000 web-Seiten jeder nur erdenkliche pornographische Inhalt ohne eine Sicherung auf den Bildschirm abgerufen werden. Sinkende Online-Gebühren und ein gnadenloser Wettbewerb führen zu unvorstellbaren Bildern. Sodomie, Folterungen und alle erdenklichen Möglichkeiten der Sexualität werden zur Schau gestellt. Die veränderten Fernsehgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen tragen ebenfalls zur Verrohung bei. So besaßen zu Beginn der 90er Jahre 34% der neun- bis zehnjährigen Kinder einen eigenen Fernsehapparat im Kinderzimmer. Bereits im Alter von zwei Jahren beginnt der regelmäßige Fernsehkonsum. Er steigert sich auf bis zu sechs Stunden täglich bei Pubertierenden. Im Jahr 1992 wurde an Samstagen zwischen 22.00 und 23.00 Uhr von 720 000 Kindern zwischen sechs und 13 Jahren Fernsehen geschaut. 140 000 Kinder und Jugendliche schauten bis 1.00 Uhr 446 nachts die entsprechenden Sendungen an. Die Verantwortung dafür tragen die Eltern. SCARBATH stellte fest, dass zu dieser Zeit insgesamt noch 430 000 Kinder und Heranwachsende vor dem Fernseher sitzen. Durch verdeckte, nebenbei eingeschmuggelte Botschaften bezüglich Sexualität und Geschlechterrollen wird ein realitätsfremdes Bild der menschlichen Sexualität geschaffen. „Die menschliche Sexualität wird vielfach reduziert auf die bloß maschinenartige Aktion, den Techno-Sex, und entspricht dem männlichen Blick auf die sexuell bedeutsamen Körperregionen der Frau. Sexualität und Nacktheit – besonders der Frau – wird zum Zuschauerköder. Oft sind die sexuellen Einsprengsel für die Story völlig unnötig . . . Die Verknüpfung von Sexualität und Gewalt geschieht entweder direkt oder zum Beispiel durch reale oder phantasierte Vergewaltigung oder durch assoziierte Verknüpfungen. Weiterhin werden – bis in die Kindersendungen und die Kinderwerbung hinein – die Klischees vom starken, aggressiven Mann und der eher passiven, gefühlsbetonten Frau ständig wiederholt.“ Der Umsatz der Videoindustrie wurde 1993 auf jährlich 100 Millionen Mark geschätzt. Die 820 Sexshops setzten 210 Millionen Mark und die 6000 Videotheken 380 Millionen Mark um. Ca. 35% der angebotenen 17 Millionen Videofilme zählen zu den Erotika und den Pornofilmen. Auch durch die im Internet dargebotenen Bilder, Filme und ChatMöglichkeiten wird der „Vergewaltigungsmythos“ stark forciert. Er vermittelt die Vorstellung, dass Frauen eine Vergewaltigung genössen und dass diese nie gegen ihren Willen vollzogen werden könne. Immer mehr Menschen und vor allem Kinder können sich der Pornographie nicht mehr entziehen. Auch die Sprache verroht dadurch zusehends. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren erheblich verschärft. WOLF bezeichnet die jetzigen jungen Erwachsenen als „Pornographie-Generation“. Die Kinder wachsen zunehmend mehr ohne eine sexuelle Prägung durch ein menschliches Wesen auf. Auch der eigenen Fantasie wird der Spielraum entzogen. Das entspricht einem Aufbau der kindlichen Sexualität durch Fantome. 447 INHÜLSEN beschreibt folgende Auswirkungen des Pornokonsums: Die sexuelle Schamgrenze in Familien und Umwelt sinkt immer mehr – parallel zu dem Angebot der Medien. Es ist immer schwerer zu unterscheiden, ob das kindliche Verhalten auf „Realpornos“ durch die Eltern oder auf Missbrauch zurückzuführen ist. Das Schutzdenken gegenüber den Kindern nimmt rapide ab. Kinder müssen bereits darüber entscheiden, was ihnen gut tut und was nicht. Psychische Probleme bei Jugendlichen durch die Diskrepanz zwischen den brutalen, stressmachenden und perversen Praktiken und Bildern und der unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit. „Coolness“ wird als Schutzmechanismus zur Schau gestellt. Der eigene Körper mit all seinen Begrenzungen und die Begrenzungen durch die Natur werden missachtet und missbraucht. ROGE stellt eine Tendenz zu immer extremeren und sadistischeren sexuellen Praktiken fest: „Sowohl in den Pornos wie in den Horrorfilmen und bei allen Mischformen fallen die Zuschauer auf die orale und anale Phase ihrer frühkindlichen Entwicklung zurück. Sie setzen sich Bildern aus, die dieser Phase und der damaligen Fantasie des Kleinkindes entsprechen. Weil sie offensichtlich darin steckengeblieben sind, müssen sie die Bilder zwanghaft wiederholen und die Wirkung steigern.“ Fehlt dann noch eine altersgemäße moralische Entwicklung, sind Probleme vorprogrammiert. „Generell aber lässt sich sagen: Je gefestigter eine Persönlichkeitsstruktur, desto wirkungsloser sind Pornos und Gewaltdarstellungen. Je ungefestigter das Kind oder der Jugendliche, umso verheerendere Auswirkungen wird es haben.“ Die durch Filme, Internet und Zeitschriften verbreitete Pornographie hat auch einen besonderen Bezug zur Zeit. Sexualität ist jederzeit abrufbar und zu beenden oder zu unterbrechen – im Gegensatz zur Wirklichkeit; hier sind Zeit, Ruhe, Geborgenheit 448 und Sicherheit zu Entfaltung einer zwangfreien Sexualität notwendig. LEMPERT weist auf die Funktionalisierung des männlichen Körpers hin, die bei gewalttätigen Männern immer zu beobachten ist. Bei ihnen wird Sex von den Empfindungen des eigenen Körpers abgespalten. „. . . . denn sie haben nie gelernt, ihren Körper als empfindsam zu erleben. Weswegen die Vergewaltigung einer Frau auch immer heißt: Der Mann vergewaltigt seinen eigenen Körper, indem er ihn als Werkzeug benutzt.“ Das ist somit eine der fatalsten Wirkungen von Pornographie. GLOGAUER zieht aus seinen eineinhalbjährigen Untersuchungen von 18 jungen, schwer kriminellen Sexualtätern den Schluss, dass jeder zweite jugendliche Sexualtäter bei seinen Verbrechen massiv durch den Konsum von Sexmedien und Pornos beeinflusst worden ist.871 Häufig erfolge eine Identifikation der Jugendlichen mit den Darstellern in Sexfilmen. Sie wollten deren Praktiken in der Realität wiederholen. Oftmals sinkt die Gewaltschwelle unaufhaltsam über Jahre hinweg durch den Konsum von Horror- und Actionfilmen. Die Eltern, aber oftmals auch die erwachsenen Geschwister tragen eine Mitschuld, indem sie den unkontrollierten Zugang zu Pornos und Actionfilmen ermöglichen. „Es handelt sich in der Regel um vernachlässigte Kinder, um die sich die Eltern nicht kümmern.“ Der Fall des elfjährigen Raoul (USA), dem schwerer Inzest an seiner fünfjährigen Halbschwester vorgeworfen wird und der im Jahr 1999 die Zeitungen füllte, bestätigt die oben angeführten Beobachtungen. Es wird berichtet, dass die Mutter wegen Vernachlässigung von Kindern angeklagt war und offenbar über das Internet auch PornoAngebote verbreitete.872 Durch die unterschiedliche Rechtsauffassung in den USA und in Deutschland ist die Verhaftung des Elfjährigen hier schwer verständlich. 871 SZ, 256, 1998, Bayern, 15; GLOGAUER ist Professor für Schulpädagogik in Augsburg. 872 SZ, 246, 1999, S. 16 449 Nach Auskunft des Nationalen Zentrums für Jugendgerichtsbarkeit wurden in den USA im Jahr 1997 2,8 Millionen Jugendliche und Kinder vorübergehend festgenommen. 106 000 saßen im Gefängnis. Allein im Bezirk Golden in Colorado, USA, waren 88 von 1883 wegen sexueller Delikte Angeklagte unter 18 Jahre alt.873 In ganz Deutschland werden derzeit jährlich etwa 17 000 Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verhandelt.874 Auch ein Vergleich der im Internet angebotenen Inhalte im Zeitraum der letzten vier Jahre (1995 bis 1999) bestätigt dies. Zehntausende von Web-Seiten sind gegenseitig verknüpft und führen immer wieder zu den gleichen Inhalten. Es ist inzwischen fast unmöglich, nicht mit Angeboten aus dem sexuellen Bereich konfrontiert zu werden. Die meisten Inhalte finden sich im englischsprachigen Raum und kommen aus den USA zu uns. Internetseiten mit sexuellem Inhalt sind oftmals mit Pharmawerbung (Viagra) und medizinischen Angeboten aus dem Bereich der Chirurgie gekoppelt. Bürgernetze werden zu 80% von Anwendern benutzt, die in erster Linie Sex-Seiten im Internet aufsuchen. Werden zu einem Suchbegriff Web-Pages in einer bestimmten Zahl genannt, so sind zu ca. 60% immer wieder die gleichen Anbieter hinter den einzelnen Adressen versteckt. Auch bei uns wird in wenigen Jahren die Nachfrage nach dem Angebot von Pay-TV-Sendern stark ansteigen. Die amerikanische Firma Vivid Video ist mit ihrem Angebot an Sex- und Pornofilmen weltweit führend. Hier werden jährlich 25 Millionen Dollar Jahresumsatz erzielt. 150 Mitarbeiter fertigen Produkte, die in mehr als 18 Länder exportiert werden. Auch der deutsche Sender Premiere sendet die dort hergestellten Filme. Wichtig ist bei der Herstellung solcher Filme, dass genügend Handlung ersichtlich ist, da nur in einem solchen Fall durch die Medienaufsicht wenig beanstandet werden kann. Wicked Pictures, eine andere amerikanische Firma, verkaufte die Rechte für den Film „Flashpoint“, dessen Herstellung 180 000 Dollar gekostet hat, für 20 000 Dollar an Premiere. 873 874 SZ, 244, 1999, S. 3 SZ, 174, 1999, S. 10 450 Während üblicherweise etwa zwei Tage Dreharbeiten für einen Billigfilm veranschlagt werden, wurde bei diesem Film über eine Woche gedreht. Die Kosten waren deshalb so hoch, weil bei diesem Film ein Auto expoldiert, ein Mann beerdigt wird und weil es einen Faustkampf gibt. Der Produzent dazu: „Der Film zeigt eine Menge gute Gründe, Sex zu haben.“875 Schauspielerische Leistungen sind wenig gefragt; wichtig ist, dass die Sex-Szenen nicht einfach aneinander gereiht sind. Der Firmeninhaber von Vivid Video bezeichnet Pornographie als das falsche Wort für solche Filme. Er nennt als richtige Bezeichnung „Unterhaltung für Erwachsene“. Jährlich werden allein in Fernando Valley im Norden von Los Angeles 8000 Titel auf den Markt geworfen. In Hollywood werden im gleichen Zeitraum etwa 300 Filme produziert. Im Jahr 1996 wurden in den USA allein durch die Kabelanbieter 150 Millionen Dollar an Pay-per-view-Gebühren (das heißt es wird nur für den einzelnen, angeschauten Film bezahlt) für Sexfilme eingenommen. Hotels haben zusätzlich noch einmal 175 Millionen Dollar eingenommen. Diese Summen machen verständlich, warum auch in Deutschland bestimmte Mediengruppen großes Interesse an der PayTV-Einführung zeigen und zugleich auf einer neuen Definition von Pornografie bestehen. Der weltgrößte Medienkonzern Time Warner hat im Kabelnetz von New York mehrere Kanäle für Sexfilme reserviert. Damit verdient er allein ca. 6 Millionen Dollar jährlich. Es stellt sich die Frage, wer die Konsumenten sind, die für diese unvorstellbaren Umsätze sorgen. Können es die vielen Obdachlosen und armen Menschen sein oder sind die Konsumenten eher in der Mittelschicht oder in der Oberschicht mit akademischer Bildung zu suchen? Resümee: Durch die Medien, in erster Linie durch Zeitschriften, Fernsehen und das Internet werden in immer stärkerem Ausmaß sexuelle und gewalttätige Darstellungen verbreitet. Auf Menschen mit einer schwachen Charakterentwicklung, auf Menschen, deren Entwicklung stark verzögert ist, oder auf Menschen aus sozial schwachen Schichten, deren Verhalten nur selten kontrolliert wird, können diese Darstel875 zitiert in SZ, 232, 1998, S. 20 451 lungen eine unvorstellbar schlechte Wirkung haben. Es werden Fantasien geschürt, die in einer „normalen“ Beziehung nicht denkbar sind bzw. große Probleme aufwerfen können. Da das Erlernen und Üben von körperlicher und geistiger Selbstbeherrschung nur noch einen geringen Platz in der häuslichen und schulischen Erziehung einnimmt, wird es immer mehr üblich, Wünsche und Triebe sofort zu befriedigen. Alles muss schnell gehen. Das Gespräch über persönliche Empfindungen, Wünsche und Fantasien wird als nicht mehr notwendig abgetan. Alles ist jederzeit verfügbar ohne einen direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Kommt dann zu irgendeinem Zeitpunkt der Wunsch nach einer zwischenmenschlichen sexuellen Begegnung auf, ist es sehr wahrscheinlich, dass das immer wieder eingeprägte Gedankengut sich seinen Weg bahnt. Die sprachliche, seelische und geistige Bewältigung zwischenmenschlicher Probleme tritt in den Hintergrund. Die unmittelbare Triebbefriedigung wird als Norm zur Schau gestellt. FREISLEDER zum Konsum von Gewaltvideos bei Jugendlichen: „Rund 95 % der jungen Menschen, die Gewaltvideos konsumieren, kommen davon ganz gut wieder weg. Aber bei 5%, die eben gefährdet sind, richtet so ein Video etwas an. Und das kann zusammen mit einem weiteren Co-Faktor einmal zu einer Katastrophe führen.“876 Das Alter und der Entwicklungsstand als entscheidende Faktoren für die Verarbeitung von Gewaltdarstellungen Bezüglich der Differenzierung von Emotionen und der Übernahme von Perspektiven ist die Zeit vom dritten bis sechsten Lebensjahr von entscheidender Bedeutung. So bereitet es Achtjährigen noch erhebliche Schwierigkeiten, die komplexe Gefühlswelt von Erwachsenen zu verstehen.877 Neuere Befunde der sich schnell entwickelnden Hirnforschung gehen davon aus, dass die „Software“ der Hirntätigkeit die Hardware bis zur Bildung neuer Zellen beeinflussen kann. 876 SZ, 254, 1999, L 10; FREISLEDER ist Leiter der Heckscher Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München. 877 Rothenberg, 1970 in OERTER / MONTADA, 1995, S. 834 452 LINKE führt dazu aus: „Doch mit welcher Software arbeitet das Gehirn beim Computerspiel? Steht vielleicht auch beim Aggressionsspiel die Orientierung an Regeln im Vordergrund? Einfache Theorien der Abfuhr von Aggressionen reichen offenbar nicht mehr aus. Denn die Aggressivität kann sich auch bei Benutzung nicht aggressiver Spiele erhöhen. Wichtig ist die Frage nach der Bahnung längerfristiger Verhaltensmuster. Dabei ist nicht nur an das Extrem der Generalisierung von Aggressionen zu denken, sondern auch an die Vereinzelung in die ständige Spielwiederholung hinein. Die Belohnung durch den Transmitter Dopamin kann den süchtigen Spieler in einen Mensch-Gerät-Regelkreis gefangen nehmen, bei dem die Frage nach dem Herrn des Spiels nicht mehr beantwortet werden kann.“878 Gewaltspiele und -darbietungen sind besonders gefährlich für Kinder unter sechs Jahren, da sie nicht nur mit vorgespielten, sondern auch mit neuen Realitäten konfrontiert werden. Dazu zählt nach LINKE z. B. das „reale relative Nichts“. Es wird von Kindern erlebt, wenn sich ein Spielgegner in einem Kugelhagel in Nichts auflöst. „Wollte man Aggressionshandlungen eine ich-konstituierende Funktion zusprechen, so wäre die bereits wegen der einheitlichen Sichtweise des Kindes fragwürdig. Das Zerplatzen des Gegners würde die Selbststrukturen des Kindes gefährden, schon lange bevor so viel Identität erreicht ist, dass eine Identifikation mit dem Opfer erfolgen kann. Die Aggressionshandlung würde nicht der Abgrenzung dienen können, sondern mit der Möglichkeit des Zerspringens des eigenen Selbst auf emotional überwältigende Weise konfrontieren, auch dann, wenn das Spielprogramm die Sterblichkeit des eigenen Avatars ausdrücklich nicht vorsehen würde.“ Besonders problematisch wird es in der Entwicklung von Kindern, wenn die erlebte virtuelle Welt ähnlich strukturiert ist, wie die real erlebte Welt im Elternhaus in der Schule oder wie die Welt, die in den Nachrichtensendungen erlebt wird. Wir müssen uns die berechtigte Frage stellen, inwieweit sich die virtuelle Computerwelt mit all ihrer Gewalt noch von der Realität 878 LINKE in SZ, 246, 2001, S. 21; LINKE ist Neurophysiologe an der Universität Bonn. 453 unterscheidet, wenn wir die Äußerungen des jetzigen amerikanischen Präsidenten BUSH genauer anhören. Mit den international geächteten Streubomben werden nicht nur gegnerische Soldaten, sondern auch unschuldige Zivilisten „ausgelöscht“, ebenso wie Tausende von Menschenleben durch den terroristischen Angriff auf das World Trade Center pulverisiert wurden. Die „moderne“ Kriegsführung, mit chirurgischem Vokabular belegt, suggeriert das Bild eines sauberen, sinnvollen chirurgischen Eingriffes; zivile Opfer werden nur selten oder nicht gezeigt. Schlimmste Gewalthandlungen werden als notwendiger „job“ euphemistisch dargestellt, der im Dienste des Vaterlandes getan werden muss. Die Ausführenden sind hochspezialisierte Helden mit der Lizenz zum Töten. Gewalt wird so notwendig und gut, um die eigenen Werte zu retten. Dieses Vorgehen leistet der Verherrlichung von Gewalt Vorschub. Für Kinder im Alter bis zu sechs Jahren ist diese Ansicht von Gewalt sehr gefährlich, denn sie sind alleine ohne entsprechenden sozialen Hintergrund nicht in der Lage, ihr Verhalten nach ethischen Gesichtspunkten auszurichten. Erziehung zur Gewaltausübung GROSSMANN 879 prägte den Begriff „Killology“. Gemeint ist damit die Wissenschaft der Ausbildungsmethoden bei Armeerekruten zur Überwindung der natürlichen Hemmungen, ihre Artgenossen zu töten und deren Auswirkungen auf die Psyche. Er nennt beunruhigende Beweise dafür, dass die gleichen Taktiken, die zur Ausbildung bei Soldaten benutzt werden, auch in unseren Medien und Videospielen zur Verwendung kommen. Brutalisierung, Desensibilisierung und klassische Konditionierung werden in den Medien gezielt eingesetzt, um die natürliche Hemmschwelle der Menschen und vor allem der Kinder systematisch zu zerstören. Morphogenetische Resonanzfelder nach SHELDRAKE 879 GROSSMAN ist Militärpsychologe; die folgenden Informationen sind einem Script mit dem Titel: „Jugend und Gewalt“ entnommen. Herausgeber: Jugend für Christus Deutschland e.V., Postfach 1180, 64355 Mühltal 454 Möglicherweise tragen auch morphogenetische (= morphische) Felder, denen ein Gedächtnis innewohnt, dazu bei, dass sich extremes, gewalttätiges menschliches Verhalten entwickeln kann. Durch diese Felder wird nach SHELDRAKE „. . . . tierisches und menschliches Verhalten, soziale und kulturelle Systeme, aber auch mentale Aktivität . . . “880 organisiert. Über Generationen anhaltende Ungerechtigkeiten und daraus resultierender Hass kann solche Felder möglicherweise ebenfalls erzeugen. Sie formen Organismen und vielleicht auch deren Denkstrukturen. BANIS: „Ich bin deshalb der festen Überzeugung, dass Filme voller Destruktivität und Zerstörungslust (und davon wurden unzählige vor allem in Amerika produziert, Anm. d. Verf.), die im Betrachter eine hypnotisierende Faszination am Schrecken hervorrufen, weitaus schädlicher sind als wir das uns gemeinhin vorstellen. Es entsteht ein psychoenergetisches Feld, das im Sinne der Synchronizität C. G. JUNGS genau die Ereignisse erleichtert, die von den meisten Menschen am meisten gefürchtet werden.“ 881 Gewalt in der Sexualität Missbrauch (Siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel „Psychische Auffälligkeiten“) Auswirkungen auf das Sexualverhalten Nach einer Studie des Gesundheitsministeriums schwankt die Zahl der Prostituierten in Deutschland zwischen 60 000 und 600 000, je nachdem, mit welchen Methoden und auf welcher Grundlage die Zahl gemessen wird. Nach Angaben der Prostituiertenbetreuungsstelle Hydra in Berlin wird angenommen, dass 75% der deutschen Männer Bordelle besuchen oder mindestens einmal dort waren.882 Der Verdienst einer Prostituierten wird für eine halbe Stunde mit 150 880 SHELDRAKE, 1996, 148 bis 149; SHELDRAKE ist Studiendirektor für Biochemie und Zellbiologie am Clare College in Großbritannien. 881 co-med, Fachmagazin für Complementär-Medizin, 2001, Nr. 9, S. 8; BANIS ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren. 882 SZ, 229, 1998, V2 /16 455 DM, für eine ganze Stunde mit 250 DM angegeben. Zunehmend mehr Studentinnen verdienen sich durch Prostitution ihren Lebensunterhalt. Auch in der politischen Szene finden sich immer wieder „Vorbilder“, die ein Sexualverhalten zeigen, das moralisch sehr fragwürdig ist. CLINTON, der amerikanische Präsident, geriet so über lange Zeit in die Schlagzeilen. Auch US-Präsident JEFFERSON hatte mindestens einen gemeinsamen Sohn mit seiner Sklavin Sally HEMINGS.883 Der Präsident hatte die Beziehung geleugnet, Gentests mit den Nachkommen der beiden haben jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diese Erkenntnis abgesichert. ELLIS/LANDER schreiben zu diesen Tatsachen: „Unsere Helden – und besonders unsere Präsidenten – sind keine Götter oder Heilige, sie sind Menschen aus Fleisch und Blut.“ Sexualstraftäter Sie sind häufig in ihrem bisherigen Leben strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und führten ein ordentliches, arbeitsames Leben. Mütter berichten oft, dass sie keinerlei Schwierigkeiten mit den Buben gehabt hätten. Die Männer kommen aus allen Gesellschaftsund Berufsschichten. Auch Pädagogen geraten immer wieder in die Schlagzeilen. So wurde ein Kollege in einer benachbarten Stadt wegen sexueller Übergriffe 1996 rechtskräftig verurteilt. Auch der Fall eines Gymnasiallehrers aus Augsburg, der eine Videokamera in der Toilette installiert hatte, um Schülerinnen zu filmen, erregte 1999 Aufsehen. Was veranlasst diese Menschen zu ihren Taten? Verschiedene Erklärungsmöglichkeiten bieten sich nach MASCHWITZ 884an: Sexualtäter sind psychisch krank bewältigen Konfliktsituationen mit „Triebdurchbrüchen“ 883 Wissenschaftsmagazin Nature, 11/98; auch zitiert in SZ, 253, 1998, S. 16 884 SZ, 44, 1997, VI; MASCHWITZ ist Autorin und Gruppentherapeutin in München. 456 haben ihre Verhaltensweisen über lange Zeit hinweg durch sexuelles Konsumverhalten „gelernt“ waren selbst Opfer und zeigen jetzt dieselben Verhaltensweisen wie die Täter können aufgrund einer genetischen Disposition nicht anders handeln sind ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse unterliegen dem Zwang, einer gelernten männlichen Rolle gerecht zu werden haben nie gelernt, Gefühle zu spüren, zu zeigen und auszutauschen wurden zu Tätern, weil Trauer, Angst und Unsicherheit nie gezeigt wurden, aber jetzt erlebt werden möchten verleugneten die eigene Verbundenheit mit dem anderen Geschlecht über lange Zeit hinweg werten Frauen dadurch ab, weil sie sich nicht auf andere Weise von ihren Müttern lösen können sind keine Triebtäter, sondern Konflikttäter berauben Frauen ihrer Freiheit, nein zu sagen, und respektieren sie nicht als eigenständiges Gegenüber stellen im Augenblick des Delikts ihr psychisches Gleichgewicht her und befreien sich somit von intra- und interpsychischen Konflikten. Ein Ausweg kann nur darin bestehen, dass Männer wieder lernen, ihren Teil an Verantwortung für die Gestaltung von Beziehungen zu übernehmen, dass sie bereit sind, ihre Rollenmuster zu überprüfen und ihre Vorstellung von der grenzenlosen Verfügbarkeit der Frauen ablegen. Dies ist nur durch den Zugang zu den eigenen Gefühlen möglich. WILLE885 vertritt die Ansicht, dass 20% der Sexualstraftäter nicht therapierbar sind. Durch entsprechende Behandlung konnte die Rückfallquote der von der Forschung erfassten Täter von 60 auf 30% reduziert werden. Durch den Einsatz von Medikamenten sei der Prozentsatz noch einmal um 10% gesunken. Seiner Ansicht nach müssen die Jugendämter mehr mit Ärzten und Gerichten zusammen885 MM, 276, 1998, S. 3; WILLE ist Sexualmediziner in Kiel. 457 arbeiten. Um besser therapieren zu können, sei eine Einsicht in die Unterlagen der Betroffenen notwendig. Dabei müsse die Privatsphäre gewahrt werden. BULLENS verweist auf Forschungsergebnisse, nach denen nur 20% der Sexualdelinquenten an einer Persönlichkeitsstörung leiden. 10 bis 15% wurden als Kind selbst missbraucht. Zählt man Geschehen ohne Körperkontakt hinzu, sind es 10 bis 30%.886 Eine Therapie ist seiner Ansicht nach nur erfolgreich, wenn der Täter sein eigenes Denk- und Verhaltensmuster erkennt und zugleich Kontrollmechanismen aufbaut. Kindesmissbraucher sind Meister darin, ihre Umgebung zu manipulieren. Der Missbrauch wird oft hundertfach in der Phantasie durchlebt, bevor er begangen wird. Durch die Konfrontation mit protokollierten Aussagen wird das Selbstbild des „netten Menschen“ im Sexualtäter allmählich zerstört. Gerade hier sind die Sozialarbeiter, Pädagogen und Erzieher in großem Maße herausgefordert, für das Elternhaus diese Aufgabe zu übernehmen. Wenn wir eine Besserung der Verhältnisse erreichen wollen, ist dies der einzige Weg. Das Erfüllen des Lehrplanes muss somit in den Haupt- und Sonderschulen in den Hintergrund treten, vor allem deshalb, weil Kinder, denen es psychisch schlecht geht, sehr anfällig für die Zuwendung von falscher Seite und deshalb besonders gefährdet sind, was einen möglichen Missbrauch betrifft. In den oben angeführten Schulen befinden sich besonders viele gefährdete und vernachlässigte Kinder. Werden hier nicht rechtzeitig Zusammenhänge erklärt und fühlbar gemacht, so sind auch diese zukünftigen Erwachsenen stark gefährdet. Vernachlässigung wird von FRANK887 so beschrieben: 886 SZ, 174, 1999, VI; BULLENS ist Entwicklungspsychologe und Familientherapeut und Leiter des Ambulanten Büros für Jugendwohlfahrt im niederländischen Leiden; seit April Professor für forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Freien Universität in Amsterdam. 887 SZ, 244, 1998, L 10; FRANK ist Psychiater am Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München. 458 „Wenn ein Kind emotional zu kurz kommt, also nicht stabil ist, wenn ein Kind kein Selbstbewusstsein aufbauen kann, wenn es sich allein gelassen fühlt, dann ist es vernachlässigt. Das hängt nicht mit den materiellen oder sozialen Bedingungen, also dem sozialen Standard der Familie zusammen. Ein Kind, das ein Vertrauensverhältnis zu seinen Eltern hat, kann leichter nein sagen, oder reagiert überhaupt nicht.“ Diese Erkenntnis gilt auch, wenn der Missbrauch im engsten Familienkreis stattfindet. „Es geht immer auch um die Frage, welche Grenzen zwischen den Generationen eingehalten werden. Sexueller Missbrauch beginnt schon damit, dass Eltern oder Erwachsene ihre Macht ausspielen. Diese Eltern sehen nur ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse und fügen dabei den Kindern körperliche und seelische Verletzungen bei.“ Die Heilung zeigt sich oftmals sehr schwierig und ist davon abhängig, wie lange Kinder nach Menschen suchen mussten, die ihnen Glauben schenkten. Mütter neigen oft dazu wegzuschauen, weil sie den Missbrauch durch den Vater nicht sehen wollen. Massive psychische Probleme über Jahrzehnte hinweg sind häufig der Fall, da die Opfer große Schwierigkeiten haben, normale soziale Beziehungen aufzubauen. Die Internetgesellschaft Gedanken und Informationen rund um das Internet Der Zeitfaktor im Internet 459 Eingeschränkte andere Tätigkeiten888 Täglich nehmen etwa 1600 Deutsche erstmals Kontakt mit dem Internet auf.889 Zur Zeit nutzt fast die Hälfte aller Deutschen über 14 Jahre das Internet. Von 6000 befragten Bundesbürgern hatte jeder vierte angegeben, im vergangenen Jahr das Internet genutzt zu haben. Bei einer Befragung von 500 Internet –Nutzern wurde festgestellt, dass Surfer rund 40 Minuten pro Sitzung im Internet verbringen und dabei durchschnittlich knapp acht Seiten besuchen. Folgende Bereiche im täglichen Leben werden dadurch eingeschränkt: Briefeschreiben Telefonieren Schlafen Fernsehen Zeitschriften /Zeitungen lesen Versandhandel / Katalogbestellungen Von zu Hause aus arbeiten Radio hören Autofahren / Reisen Freunde treffen, ausgehen, Gastgeber spielen Sport treiben Beim Sport zuschauen 32% 20% 16% 15% 13% 8% 6% 4% 4% 4% 4% 3% Die im Internet vorhandenen Informationen - vor allem in den SexChannels, in welchen abgedrehte Gespräche unter falschem Namen und falscher Identität geführt werden, - führen zur Entstehung einer „Kunstwelt“, aus der es für viele nur mit professioneller Hilfe einen Ausweg gibt. Ob dabei etwas vorgespielt wird oder nicht, ist bedeutungslos. 888 889 SZ, 230, 1999, V2 /15 SZ, 227, 2001, V2 /12 460 Die Sucht trägt inzwischen viele Namen: Cyber-Addicts, Onlineholics, Internet-Junkies oder IAS (InternetAbhängigkeitssyndrom). GOLDBERG spricht von IAD (Internet-Addiction-Disorder). Er hat die gängigen Suchtkriterien auf das Internet übertragen. YOUNG entwickelte als erste diagnostische Kriterien, die sich am Glücksspiel orientierten. Von ihr wurden mit Hilfe von Fragebögen 496 Fälle untersucht. Dabei wurde in 396 Fällen die Diagnose „Abhängigkeit“ gestellt.890 Inernet-Sucht kann somit als eine Störung der „Impulskontrolle“ verstanden werden. Der Studie wird jedoch vorgeworfen, dass sie unsicher sei, da sie „online“ durchgeführt wurde und somit auf „ungesicherten diagnostischen Voraussetzungen“ beruhe. Die Ansicht, dass jede Epoche ihre Krankheiten erfinde, scheint sich zu bestätigen. Computersüchtige verbringen bis zu 60 Stunden pro Woche im Netz. Für viele der Süchtigen wird die Verschmelzung von Wirklichkeit und Spiel zum Problem, denn die inzwischen dreidimensionalen Spiel-Fantasiewelten prägen dem menschlichen Gehirn ihre Spuren auf. Dieses Phänomen ist auch bei Schülern zunehmend mehr zu beobachten. Veränderte TV-Gewohnheiten durch das Internet 891 Amerikaner mit Internetanschluss sehen wöchentlich etwa viereinhalb Stunden weniger fern. Zugleich setzen Eltern (37%) ein Internetverbot immer öfter als Erziehungsmittel ein. Fernsehverbote werden von etwa 48% der befragten Eltern (2 000 Haushalte) ausgesprochen. 890 SZ, 216, 1999, VII; GOLDBERG ist Psychiater, Kimberly S. YOUNG ist Psychologin. 891 SZ, 296, 2001,V2 /10; Internet-Report 2001 der University of California 461 Surfgewohheiten Mädchen nutzen das Internet anders als Jungen indem sie eher die kommunikativen Möglichkeiten des Netzes bevorzugen. Jungen betrachten das Netz eher als virtuellen Abenteuerspielplatz. Bei Kindern unter 14 Jahren spielen Suchmaschinen laut einer Studie keine wesentliche Rolle. Das weltweite Netz wird in erster Linie durch spontane Suche erschlossen. Markennamen und aufgeschnappte Adressen spielen dabei die größte Rolle.892 Während zu Beginn des Jahres 2000 in Deutschland 1,3, Millionen Kinder online waren, surfen jetzt rund 2,3 Millionen Kinder im Internet. 37% der mehr als 6 Millionen Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren können inzwischen das Internet nutzen.893 Das Internet ist Topthema auf den Schulhöfen. Rechtliche Rahmenbedingungen im Internet - Jugendschutz Technische Eigenheiten des Internets, wohlmeinende Absichten und geschäftliche Interessen kollidieren immer wieder miteinander, wenn es darum geht, juristische Zuständigkeiten zu klären. Selbst Experten über- und durchblicken die Lage kaum noch ; RICKERT spricht in diesem Zusammenhang von einem „Normenwirrwarr“ bei den Providern. 894 Seit eineinhalb Jahren wird in Deutschland ein JugendmedienschutzStaatsvertrag angestrebt. (JMStV) Die im Rundfunk geltenden Beschränkungen sollen innerhalb Deutschland Grenzen auch für das Internet gelten. Dass in erster Linie eine Sendezeitbeschrämkung für nicht jugendfreie Inhalte diskutiert wird, lässt die abstruse Frage aufkommen, wie das weltweite Datennetz deutschen Sendezeiten angepasst werden kann. Ein anderes System mit dem Namen „ICRA“ verspricht mehr Erfolg. Hierbei soll die staatliche Kontrolle entfallen und die Anbieter von Web-Seiten ihre Inhalte selbst bewerten. Am Computer wird 892 SZ, 28, 2000, S. 16; die Studie wurde im Auftrag des Fernsehsenders Super RTL und des Münchner Transferzentrums durchgeführt. 893 MM, 10, 2001, S. 1; Umfrage des Marktforschungsinstituts IconKids&Youth in München 894 SZ, 277, 2001, S. 1; RICKERT ist Rechtsanwalt und zuständiger Projektleiter beim Verband der Deutschen Internetwirtschaft eco e.V.; ICRA: www.icra.org 462 dann der Härtgegrad durch die Erziehungsberechtigten oder durch Aufsichtspersonen eingestellt. Das Erstellen entsprechender Listen ermöglicht zudem die Ausblendung oder den leichten Zugang zu bestimmten Seiten. Nicht kategorisierte Seiten können so von Anfang an gesperrt werden. Jugendgefährdung durch das Internet? Im Jahr 1996 wurde die amerikanische Öffentlichkeit mit einem Artikel im Time Magazine geschockt, wobei 83,5% des Internet sexuelle Inhalte trage. Im Nachhinein wurde allerdings festgestellt, dass bei den Recherchen unsauber gearbeitet wurde. Betreiber eines Bürgernetzes gehen davon aus, dass etwa 80% der Netznutzer derzeit Seiten mit sexuellem Inhalt aufsuchen. Das ist nicht erstaunlich, denn verschiedene Suchservice-Agenturen zeigen auf bestimmte Schlagworte, z. B. Porno 580 270 Meldungen an. Zum Begriff Sex waren es bis vor kurzer Zeit 2 391 352 Eintragungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf vermutet werden, dass dieses riesige Angebot in Wirklichkeit nur auf wenige große Anbieter zurückgeht. Alleine in den USA wurde im Jahr 1998 durch Sexklientel eine Milliarde Dollar bewegt, wobei die jährlichen Wachstumsraten bei bis zu 300% liegen. GUCCIONE zur Situation in Amerika, die sich mit Sicherheit auch auf Deutschland übertragen läßt: „Wir leben in einem Land von scheinheiligen Voyeuren, und gerade das kreiert eine großartige kommerzielle Atmosphäre für die Ware Sex.“895 Ein Kommentar in der amerikanischen Zeitung Boston Globe zur Entwicklung des Internet verdeutlicht die Situation: „Das Internet ist längst ein virtueller Rotlichtbezirk geworden – schneller, privater und umfassender als jedes andere Medium.“ Verantwortliche wie TIARRA äußern sich zu dem Einwand, Leute wie er opferten Ethik und Verantwortungsbewußtsein zugunsten von Profitgier, werden so zurückgewiesen: 895 zitiert in SZ, 216, 1999, S. 22; GUCCIONE ist Herausgeber des Erotikmagazins Penthouse; TIARRA ist Inhaber der Firma TiarraCorp, die als einzige Firma weltweit aus Internet-Laien CyberspaceUnternehmer macht. 463 „Kids interessieren uns nicht. Die blockieren bloß die Leitungen und haben keine Kreditkarten.“ Auf seinen eigenen Sohn angesprochen: „Ich will nur nicht, dass er dort landet, bevor er den Unterschied zwischen Liebe und Sex kennt.“ Die Angebote der Firma reichen von einfachen Paketen ab 3000 Dollar bis zu 32 000 Dollar. Die nötigen Materialien bezieht er von Geschäftspartnern und Datenbanken, die den Überschuß von Sexmagazinen auf den Markt werfen. Auch gelegentliche Shootings mit Pornostars werden arrangiert. Zu seiner Geschäftstaktik: „Die Leute haben keine Ahnung, wie man eine attraktive Seite baut, sie flüssig gestaltet, die Kunden dazu bringt, ihre Kreditkartennummer rauszurücken und sie, wenn sie einmal abonniert haben, bei Laune zu halten.“ Ohne jede Frage sind auch in Deutschland alleine die Eltern dafür verantwortlich, ob ihre Kinder Sex-oder Pornoinhalte jeglicher Couleur im Netz aufsuchen. Dies ist ohne großen Aufwand und in Sekundenschnelle möglich, da die Kinder meist wesentlich besser mit Computern umgehen können als ihre Eltern. Gerade weil dies in den meisten Fällen ohne Kontrolle möglich ist, ist das Internet eindeutig eine Gefährdung für die Jugend, zumal man auch bei sexfremden Suchbegriffen meist irgendwann auf eine Sexseite hingewiesen wird. Solange ein gesellschaftliches Interesse daran besteht, die Jugend zu schützen, dürften Kinder und Jugendliche nicht ohne Kontrolle „online“ gehen. Unterschiedliche Meinungen bestehen darüber, ob Gewaltspiele, die über das Internet für Kinder zugänglich sind, eine Aggressionssteigerung bewirken. Spiele die bei uns verboten sind, können über das Ausland bezogen werden oder direkt aus dem Internet heruntergeladen werden. (siehe Medien) Pornographie und Internet896 Besucher von Pornoseiten im Juni 2001: 896 Stichprobenartige Befragung von 5 000 Internetnutzern durch die Internetgesellschaft Net-Value in: MM, 185, 2001, Weltspiegel 464 Nationalität Deutsche Briten Franzosen Italiener Anzahl in Millionen 5,3 3,8 2,7 2,3 Im Jahr 2000 wurden mit Pornographie im world-wide-web 1 Milliarde US-Dollar umgesetzt.897 Kinderpornographie im Internet In den Statistiken wird nur mangelhaft die Kinderpornographie per Internet berücksichtigt. Im Jahr 2000 wurden davon in Deutschland 1587 Fälle aufgedeckt. Im Internet werden jeden Tag schätzungsweise 100 neue Seiten mit Kinderpornographie eröffnet.898 Belästigung von Jugendlichen im Internet 899 Bei einer telefonischen Befragung von 1501 Teenagern zwischen 10 und 17 Jahren und deren Eltern wurde festegestellt, dass jedes fünfte Kind bereits während seiner online-Zeit sexuell belästigt wurde. 25% dieser betroffenen Kinder reagierten mit Verängstigung oder Aufregung. Den meisten Belästigungen waren Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren ausgesetzt. Besonders gefährdet waren die Jugendlichen, die regelmäßig im Internet surfte Chaträume besuchte leichtgläubig persönliche Informationen preisgab mit Unbekannten über sexuelle Themen redete private Probleme (Arbeitslosigkeit und Todesfälle in der Familie) haben und darüber redeten 897 Meldung im Bayerischen Rundfunk, 2. Programm am 19.9.01 um 17.58 Uhr 898 SZ, 291, 2001, S. 12; Zahlenangaben von Christa DAMMERMANN von Terre des Hommes 899 SZ, 150, 2001, V2 /12; auch in : Journal of the American Medical Association, 2001, Bd. 285, S. 3011 465 Um die Kinder besser kontrollieren zu können, sollten die Computer deutlich sichtbar im Wohnzimmer stehen. Sexuelle Belästigung von Frauen in „chatrooms“ 900 Bei einer Befragung von 10 000 jugendlichen Intenet-Nutzer in 16 Ländern wurde festgestellt, dass die meisten schlechte Erfahrungen in asiatischen „chatrooms“ gemacht hatten. In Deutschland habe nicht einmal jeder zehnte schlechte Erfahrungen gemacht. Während in den USA lediglich etwa 25% der Surfer inkognito bleiben, sind es in Deutschland 50%. 65 % der weiblichen und etwa 40% der männlichen Chatter gaben an, schon einmal belästigt worden zu sein. Manchmal eingeschüchtert oder unbehaglich fühlen sich ein Viertel der Frauen und nur ein Zehntel der Männer. Suizid-Foren im Internet Im Jahr 2000 wurden nach Angaben von Münchner Psychiatern ein Dutzend Internet-Suizide bekannt. Es wird geschätzt, dass es in Deutschland etwa 30 solcher Foren gibt. Dort wird aber nicht nur Mut gespendet, sondern es werden auch Möglichkeiten zur Selbsttötung ausgetauscht. Außerdem wurden auf diesen Foren auch Suizide angekündigt und Abschiedsbriefe veröffentlicht.901 Weltweit sollen mehrere 1000 Foren existieren. Voyeurismus oder Aufklärung? Die Internetfirma Entertainment Network Incorporated (ENI) sowie auch die deutsche Firma absolutfilm.de beantragte, die Hinrichtung des amerikanischen Attentäters McVeigh im Internet übertragen zu dürfen. Unterschiede zwischen Augenzeugenberichten der Reporter am Ort und der Veröffentlichung von Videos und Bildern sind nach amerikanischer Auffassung unzulässig, während das deutsche Unter900 SZ, 297, 2000, V2 /12; Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes IPSOS 901 MM, 98, 2002, S. 1; die Angaben stammen von HEGERL, Universität München. 466 nehmen vorgibt, aus „Protest gegen die Todesstrafe diese nicht zu verheimlichen, sondern provokativ für jeden Erwachsenen zugänglich ins Internet zu stellen.“902 Die ethischen oder rechtlichen Grundlagen beginnen dann fragwürdig zu werden, wenn sich herausstellt, dass derselbe amerikanische Unternehmer (ENI) die Webseiten VoyeurDorm.com und DudeDorm.com betreibt. Junge Nackte räkeln sich hier vor Webkameras. Auch Hinrichtungen werden in Zukunft möglicherweise „live“ unter der Rubrik „Reality-Unterhaltung“ zu bewundern sein, während die Zuschauer nebenbei ihr coke oder ihre Chips vertilgen und sich selbst dabei vormachen, sich ein Urteil über die Todesstrafe bilden zu wollen und ihren Kindern dabei den Ratschlag geben, ja ein gutes Leben zu führen, da sie sonst das gleiche Schicksal ereilen könne. Wir sind von den Gepflogenehiten des Mittelalters und der Antike in dieser Hinsicht nicht mehr weit entfernt. Internet und Schreibgewohnheiten – Auswirkungen auf die Sprache HEUSINGER903 stellt fest, dass durch das Internet ein regelrechter Schreibboom bei jüngeren Menschen ausgelöst wurde. Vor allem EMail-Nutzer schreiben, durch das neue Medium angeregt, fast täglich. Linguisten bewerten es als eine Bereicherung der Sprache, dass im Netz ständig neue Wörter erfunden werden. Literatur- online – direkt zum Leser 904 Lektoren und Verlage müssen nicht mehr vor einer Veröffentlichung zuerst überzeugt werden. Der kontrollierte Internet-Nutzer Die Rolle der Cookies – der kontrollierte Netznutzer Bei jedem Internet-Besuch werden sogenannte „Cookies“ von den Anbietern verschickt. Beim ersten Besuch einer Web-Seite nistet 902 SZ, 94, 2001, S. 21 SZ, 50, 1999, V2 /21; HEUSINGER (Sprachwissenschaftler)auf einer Fachtagung in Konstanz. 904 unter: www.berlinerzimmer.de ; das Projekt wird von den beiden Literaturfachleuten Sabrina ORTMANN und PETER organisiert und betrieben; in SZ, 109, 2001, II. 903 467 sich auf dem Nutzer-PC ein Identifikationscode ein. Dieser lässt sich bei jedem weiteren Besuch durch die Betreiber einer Web-Seite wieder abfragen. Durch eine Änderung in der Systemeinstellung unter: Internet, erweitert, Deaktivierung der Verwendung von Cookies kann dies unterbunden werden. Dabei muß diese Einstellung jedoch jedesmal neu überprüft werden, da sich sonst automatisch eine Standardeinstellung ohne diese Funktion erneut von selbst installiert. Jeder Nutzer sollte sich auf seinem Rechner über die erhaltenen Cookies einen Überblick verschaffen. Jede im Netz vollzogene Bewegung ist so nachprüfbar und kontrollierbar. Es ist denkbar, daß die großen Firmen auch über Möglichkeiten und Spezialisten verfügen, auf die Speicherinhalte der Anwender-Computer zuzugreifen. So ist es denkbar, dass eine ungeahnte „Überprüfung“ von registrierten oder nicht registrierten Programmen erfolgen kann. Es ist auch denkbar, dass durch Hacker Erpressungsversuche durch illegale Erkenntnisse versucht werden. Die ungewollte Veröffentlichung entsprechender Namenslisten erfolgte nicht erst einmal. Dem anonymen Nutzer des Internets kann durch die CookieFunktion automatisch alle für ihn relevanten Bereiche zugeordnet werden. In einer Studie aus den USA wird berichtet, dass 94% der WebNutzer gegenüber Anbietern im Internet anonym bleiben wollen. Auch das falsche Ausfüllen von Formularen schützt nicht davor, unerkannt zu bleiben. Um an wichtige Daten der Web-Nutzer zu gelangen, setzen die Entwickler von Internet-Programmen alle nur erdenklichen Tricks ein. Die Programme können z.B. mit geheimen Seriennummern versehen werden, die sich durch das Internet wieder abfragen lassen. So statte RealAudio einige Programme mit derartigen Identifikatoren aus. Das erklärte Ziel war, die musikalischen Vorlieben der Benutzer zu erfahren. Ein ähnlich funktionierender Mechanismus wurde auch bei der Software einer Firma für programmierbare Mauszeiger entdeckt. Auf diese Weise konnten Daten von über 15 Millionen Nutzern gesammelt werden. Das neue Betriebssystem Windows 2000 geriet durch ein Zusatzprogramm mit der Bezeichnung „Diskeeper“ in die Schlagzeilen. Durch dieses Programm soll eine optimale Nutzung des Platzes auf der Festplatte garantiert werden. Der Chef der dafür zuständigen Ent- 468 wicklungsfirma „Executive Software“ ist bekennender Scientologe.905 Das neueste System XP von Microsoft ist in seiner Funktion eng an das Internet gekoppelt. Tritt ein Fehler im System auf, und wird dieser (nach 906) per Internet an Microsoft gemeldet – so wird damit zugleich auch das soeben bearbeitete Dokument mitübertragen. Die US-Firma Verisign besitzt bisher mit einem Anteil von 95% eine Monopolstellung als Verifizierungsstelle für codierte Web-Inhalte. Zudem übernahm die Firma am 7. März auch noch die NetworkSolutions, die für die Zentralverwaltung des Internets und aller WebAdressen mit den Endungen .com, .net, .org, .de zuständig ist. Bisher wurde Network Solutions von der „Science Applications International Corporation“ kontrolliert. Letztgenannter Firma werden enge Verbindungen zu US-Nachrichtendiensten nachgesagt, vor allem deshalb, weil unter anderem der US-Admiral INMAN zu den Aufsichtsräten der Firma gehört.907 Auf zwei von drei Internetseiten werden private Daten der Anwender gesammelt.908 Eine Überprüfung von 751 Webseiten ergab, dass bei über zwei Drittel der untersuchten Seiten persönliche Daten abgefragt wurden, anhand derer die Person leicht ausfindig gemacht werden kann. Die weitaus meisten Anbieter lassen den Usern auch keine Wahl, wenn es um die Weitergabe der Daten an Dritte geht.Die europäischen Internetseiten sind trotz der als streng geltenden EURegeln nicht sicherer als amerikanische Seiten. Lediglich zehn Prozent der geprüften Seiten forderten vor der Eingabe persönlicher Daten die Kinder dazu auf, vorher ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen. 905 SZ, 45, 2000, S. 2 Warnung auf der Startseite von t-online am 30.10.01 907 SZ, 61, 2000, V2 /14; INMAN war von 1977 bis 1981 Chef des für Datenspionage zuständigen US-Geheimdienstes NSA (National Security Agency). 908 Studie der Organisation Consumers International, einer weltweiten Vereinigung von 263 Verbraucherschutzorganisationen (http://www.consumersinternational.org); in SZ, 30, 2001, V2 /16 906 469 Preisgabe persönlicher Daten durch die Akzeptanz von Lizenzbedingungen 909 Moderne Software, z.B. der neue „MediaPlayer“ in Windows XP oder der „RealPlayer“ stehen in ständigem Kontakt zu vielen Servern. Von ihnen beziehen sie Verzeichnisse über empfangbare Radiostationen im Internet, Spiellisten der beliebtesten Songs und Sonderangebote für das Herunterladen von Musik oder Videos aus dem Netz. Wird eine Mediendatei aus dem Internet geholt, so sendet der Computer gleichzeitig über die Abspielsoftware eine Meldung zu einem Server, die den Titel, oder den Speicherort oder den GUID (Global Unique Identifier; dies ist eine weltweit einzigartige Kennnummer, die einem bestimmten Computer zugeordnet ist) enthält. Was ist ICANN ? Hinter diesem Begriff verbergen sich 19 Computer –Experten, die auf mysteriösem Weg von der amerikanischen Regierung eingesetzt wurden,- ein merkwürdiges Gremium mit dem Namen „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“, - bei dem nicht bekannt ist, wer welchen Einfluß worüber ausübt. Befürworter sehen darin eine kosmopolitische Internet-Regierung, Gegner eine Bedrohung für das Internet in Form von Regulation und Dominanz ökonomischer Interessen. 909 ICANN ist ein privatrechtliches Unternehmen, das nicht gewinnorientiert arbeitet. Es ist keine amerikanische Behörde, hat jedoch seinen sitz in Kalifornien. ICANN steht unter Aufsicht des US-Wirtschaftsministeriums und besitzt internationale Kompetenzen. Die Direktoren sollen von der Netz-Gemeinde demokratisch gewählt werden. Die Mitglieder entscheiden, wo sich Unternehmen anmelden müssen, die im Internet agieren. SZ, 250, 2001, V2 /15; Mehr Informationen im Netz unter: www.bigbrotherawards.de und privacyinternational.org; auch unter: www.real.com 470 Es kontrolliert die technischen Parameter, die für eine reibungslose Kommunikation aller Rechner von ausschlaggebender Bedeutung sind. Carnivore – das amerikanische Überwachungssystem für E-Mails Wird ein Carnivore-Computer mit dem eines Internetanbieters verbunden, ist es möglich,, in Sekundenschnelle Millionen von e-Mails auf verdächtige Inhalte hin zu überprüfen. Nicht nur amerikanische, sondern auch deutsche elektronische Post kann über den Umweg eines amerikanischen Servers so überprüft werden. Kostenlose EMail-Dienste wie Hotmail von Microsoft finanzieren sich dadurch, dass sie durch eine Werbefirma Werbung in die eingehende elektronische Post einblenden, die dadurch in den Besitz unzähliger e-Mail –Adressen der Nutzer gelangt. Auf dem Bildschirm zappelnde Werbelogos stehen seit längerem im Verdacht, dem Ausspionieren von Computern zu dienen. Der amerikanische Anbieter von Computerspielen,- eGames, schickte zusammen mit den Spielen Werbeprogramme auf die PC`s. Über die englische Version des Spezialprogrammes Smartdownland von Netscape wußte der Hersteller nach einer Registrierung genau, wer sich welche Programme aus dem Internet geladen hatte. „Echelon“- das anglo-amerikanische Lauschsystem SCHMID910 ist fest davon überzeugt, dass die USA mithilfe dieses Systems in großem Ausmaß Wirtschaftsspionage betreiben. Insider gehen davon aus, dass sowohl Telfonate als auch E-Mails in großem Stil weltweit überwacht werden. Spezialisten sind sich darüber einig, wichtige E-Mails gut zu verschlüsseln. Das KryptographieProgramm „Pretty Good Privacy“ ist hierzu besonders gut geeignet, 910 SZ, 95, 2001, VP2 / 3; SCHMID ist führendes Mitglied im Echelon Ausschuss des Europaparlaments; WELSCH ist Referent für IT-Sicherheit im Branchenverband Bitkom. Internet-Adressen zu Echelon: www.heise.de/tp/deutsch/special/ech/default.html; www.echelonwatch.org; cryptome.org/cryptout.htm#echelon; www.pgp.com 471 da es mit einer Verschlüsselung von über 256 Bit nach WELSCH auch für die NASA nur schwierig zu knacken ist. Die NSA (National Security Agency/ USA) überwacht und verarbeitet heute global mehr als drei Millionen E-Mails, Telefonate und Faxe pro Tag mit Hilfe des Echelon-Netzwerkes. 911 Partnersuche über das Internet – ein besonders hohes AIDSRisiko912 Eine Befragung von 856 Besuchern einer AIDS-Beratungsstelle brachte folgende Ergebnisse: Jeder Sechste hatte das Internet zur Partnersuche genutzt. Jeder Zehnte hatte mit seiner Suche Erfolg. Im Durchschnitt waren die Internet-Sucher häufiger homosexuell und hatten häufiger wechselnde Sexualkontakte, als jene, die das Netz nie zur Partnersuche nutzten. Die Befragten hatten sich häufiger bereits einmal mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert. Doppelt so viele Sucher wie Nicht-Sucher hatten wissentlich Sex mit einem HIV-Positiven. Seuchenmedizinern bereitet die Anonymität in Verbindung mit der praktizierten Sexualität besonders Kopfzerbrechen. Eine USForschergruppe berichtet über einen Syphilis-Ausbruch, der über die Kontakte in einem Chatroom ausgelöst wurde. Es gelang ihnen schließlich über dieses Medium die Betroffenen zu warnen und dazu zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zur Lage des Gesundheitswesens: „Das öffentliche Gesundheitswesen steht fest im vorigen Jahrhundert und ist nicht darauf vorbereitet, die unvermeidlichen Antworten auf die neue Technologie zu geben.“ Seriennummern - eine mögliche Grundlage für Spionage Verschickte e-mails werden als HTML-Dateien angeliefert. Diese Codierung wird auch bei der Erstellung von Webseiten verwendet. 911 912 SZ, 163, 2001, S. 9 JAMA, 2000, Bd. 284, S. 443 in SZ, 175, 2000, V2 /10 472 Normalerweise wird die HTML-Codierung von den gebräuchlichsten Programmen verstanden und richtig erkannt. Die Absender von e-mails können jedoch zusätzlich zu ihrem Text noch einen Hinweis auf eine Grafik beifügen. Diese ist jedoch nicht Bestandteil der Mail. Die entsprechende Grafik („Web Bugs“-„Web Wanzen“) die nur aus einem einzigen transparenten Bildpunkt besteht und vom Empfänger deshalb nicht angeschaut werden kann, muß auf einem Rechner im Internet abgerufen werden. Die Kontaktaufnahme zwischen Internetrechner und dem Rechner des Empfängers wird über das e-mail Programm des privaten Nutzers automatisch hergestellt, wenn eine Mail den Hinweis auf diese Grafik enthält. Dem Betreiber des Internetrechners ist es möglich, genau festzustellen, wer seine e-mails angeschaut hat. Durch eine Abfrage der Grafik-Datei kann über den Internetrechner die Internet-Adresse des Benutzers festgestellt werden. Vor allem für ungebetene Werbezwecke aber auch zur Überwachung der Besucher von Webseiten ohne einen Zugriff auf deren Rechner wird dieser Trick angewandt. Vor allem Anbieter aus den USA müssen nicht damit rechnen, wegen eines Verstoßes gegen das Datenschutzgesetz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die „Web Bugs“ sind nur durch eine Analyse der Quellcodes der entsprechenden Webseiten ausfindig zu machen. Über sogenannte „IGM“-Befehle- vor allem in fremden Internet Adressen enthalten- lassen sich „Web Bugs“ aufspüren. Die Datensammler sammeln im Sinne des Gesetzes keine Personendaten. Besucher des Internets ohne eine e-mail Adresse, ohne Namensangabe oder andere eindeutige Angaben sind nicht identifizierbar. Das Löschen von Cookies ohne Spezialprogramme ist mühselig. Hausaufgabendienste – Fragwürdige Hilfe für Schüler im Internet 913 Durch Experten, - die bei entsprechenden Diensten 108 Fragen aus verschiedenen schulischen Wissensbereichen gestellt hatten, - werden diese Dienste häufig mit der Note sechs bewertet. Der beste Anbieter konnte acht von zwölf gestellten Fragen beantworten. 913 MM, 291, 2001, S. 1 473 Sechs der Antworten seien jedoch von „zweifelhafter Qualität“. Die Gründe für diese Bewertung: Antworten auf Schülerfragen kommen erst sehr spät Häufig werden sogar falsche Antworten auf Fragen gegeben Schulen ans Internet? Computer sind in der Schule nur dann sinnvoll, wenn es den Lehrern gelingt, die Voraussetzungen für eine sinnvolle Nutzung zu organisieren. Durch eine geeignete Lernsoftware können per Computer zwar Zusammenhänge deutlich veranschaulicht werden, es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass eine zunehmende Enttextlichung der Alltagskultur die Folge sein wird. Nach GASCHKE914 leiden ja gerade die benachteiligten Schüler (Grund-Haupt-und Sonderschüler) unter einem deutlichen Zuviel an Fernseh- und Nintendobildern. Viele Schüler sind nicht mehr in der Lage, zu abstrahieren, aufmerksam zuzuhören und sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Das „Lernen müssen“ muss den Kindern wieder ins Bewußtsein gerufen werden, zumindest denen die zum Lernen fähig sind. Der Lernvorgang als Auseinandersetzung mit dem Lernstoff muss in der Schule geübt werden. Der Computer mag in einzelnen Fällen eine sinnvolle Vorarbeit oder Ergänzung leisten, der anstrengende geistige Akt des Lernens muss unter nicht unerheblichem Zeitaufwand und mit Ruhe und Anstrengung geleistet werden. Die momentane schulische Situation ist an vielen Schulen katastrophal und inakzeptabel. Unterrichtsausfälle, Unterricht in zum Teil schimmeligen Klassenzimmern, veraltete Lehrbücher, zu wenig Lehrer, eine vielfach beengte Raumsituation aber auch der immer größere Zeitrahmen den die Erziehung und Konfliktlösung in den Schulen fordert, lassen die Zeit für das eigentliche Lernen in erschreckendem Maße abnehmen. Auch die zusätzliche Einstellung von dringend notwendigen Sozialarbeitern und Heilpädagogen erfolgt seit langem nicht mehr. Alleine an unserer Schule sind zur Zeit vier Lehrkräfte erkrankt. Der Sportunterricht für Mädchen entfällt seit ca. sechs Wochen. (Stand April 01) Ebenso entfällt seit einer Woche der Fachunterricht Hauswirtschaft/Textilarbeit. Die Stunden müssen selbstverständlich in größeren Klassen aufgefangen werden. Die problematische Situation 914 DIE ZEIT, 14, 2000, S. 7 474 vor allem im Bereich des Sportunterrichts sind im Ministerium bekannt. Die Anbindung der Schulen an das Internet ist keine geeignete Maßnahme, um die angeführten Probleme zu lösen. Das Internet wird von SCHRÖDER als neue Lösung für soziale Probleme präsentiert, als ein Medium, das in der Lage ist, Benachteiligungen zwischen den Menschen aufzuheben. Dazu GASCHKE: „Die „gespaltene Gesellschaft“, die Schröder fürchtet, gibt es längst: Sie teilt sich in die Kinder, die morgens vor der Schule ein Frühstück bekommen, und in solche, die hungrig losgehen; in die Kinder, denen abends vorgelesen wird, und jene, die nach stundenlangem Fernsehen am Abend im Unterricht einschlafen; in die, denen es gelingt, in vier Grundschuljahren lesen und schreiben zu lernen – und die anderen. Diese anderen Kinder können auf kein bisschen ihres Unterrichts in Lesen, Schreiben und Rechnen verzichten. Sie könnten im Übrigen jede Menge Zuwendung gebrauchen, zusätzliche Betreuungsstunden und Förderunterricht, Ganztagsschulangebote und sozialarbeiterische Begleitung für ihre Familien.“ Durch ein „Immer noch mehr“ ist unsere Bildungsmisere nicht zu lösen. Solange grundlegende Kulturtechniken von Schülern nicht sicher beherrscht werden ist es weder sinnvoll, zusätzliche Fremdsprachen zu früh anzubieten oder aber zu meinen, das fehlende Wissen kann ohne geistige Anstrengung mit Hilfe des Computers Eingang in die Gehirne finden. Es entspricht der Wahrheit, dass die Lesefähigkeit, das Sprachverständnis und die Ausdrucksfähigkeit schon in der eigenen Muttersprache in rasantem Tempo abnehmen. Viele Schüler verstehen die eigene Sprache nicht mehr, grundlegende Begriffe haben die Bedeutung von nie gehörten Fremdwörtern. Durch dieses lückenhafte Sprachverständnis entstehen häufig Missverständnisse die wiederum nicht selten Aggressionen auslösen. STOLL vertritt die Ansicht, dass die Forderung, Schulen an das Netz anzuschließen, als schwachsinnig einzuschätzen ist.915 Das bereits vorhandene und sich hektisch weiter ausbreitende Datenuniversum ist nur in wenigen pädagogisch vertretbaren Projekten – die im Unterricht alleine nicht bewältigt werden können-geeignet, 915 STOLL ist amerikanischer Datenschutzspezialist; MM vom 19. März 2001, Kulturteil 475 Sinnvolles zu lernen. In den USA ist in letzter Zeit bereits eine Gegenbewegung entstanden, die fordert, die Computer wieder aus den Klassenzimmern zu verbannen. Viele Erwachsene, die befragt wurden bedauerten, in ihrer Jugend zu wenig Bücher gelesen zu haben, kein Musikinstrument zu spielen und keine Fremdsprache zu sprechen. Keine der befragten Personen beklagte jedoch, zu lange vor dem Computer gesessen zu haben.916 Lernen erfordert Ruhe, Aufmerksamkeit und vor allem viel Zeit und Anstrengung. Um die Massen der ungefilterten Informationen zu erkennen oder den Umgang mit rechtsextremen Internet-Inhalten zu interpretieren, müssen die Schüler zuvor etwas über die Schnelllebiggkeit, das Zustandekommen und die Veränderung der Informationen durch menschliche Kommunikation erfahren und gelernt haben. Während in Deutschland einerseits große Summen für den Computereinsatz an Schulen ausgegeben werden, droht andererseits erfolgreichen, lebendigen Projekten gegen den Rechtsradikalismus das Aus. Im brandenburgischen Milmersdorf z.B. müssen die Sozialarbeiter und alle freien Träger, die Jugendsozialarbeit betreiben, darum bangen, ob sie die finanziellen Mittel für ihre Projekte, das Personal und den Unterhalt der Häuser zusammen bekommen.917 Die Systembetreuer an den Schulen klagen zunehmend darüber, daß sie Dateien mit pornographischem, rassistischem Inhalt oder gewalttätige Spiele von den Festplatten löschen müssen. Durch die Vielfalt der Internetanschlüsse an den Schulen ist eine ständige Kontrolle durch die Lehrer nicht mehr möglich. Eine Angabe darüber, wie oft die Internetanschlüsse der Schulen zum Ansurfen unerlaubter Seiten benutzt werden, existiert nicht. Während in den USA die Schüler wesentlich stärker kontrolliert werden, setzt man in Deutschland auf die Selbstdisziplin der Schüler. 916 917 Hannoversche Allgemeine Zeitung in SZ, 93, 2001, S. 4 SZ, 77, 2000, S. 11 476 Die Beschäftigung mit Internet und Computer sind eine Zeitverschwendung- sie hält uns von wirklich wichtigen Dingen im Leben ab STOLL spricht sich vehement gegen die Benutzung von Computern in der Schule aus. „Ich finde, daß der tägliche Umgang mit Computern unser Wesen als Mensch untergräbt. Computer entfernen uns vom Umgang mit Menschen und fördern dafür unseren Umgang mit Maschinen....Mein Problem ist es doch, daß ich meiner Familie näher sein möchte, - meinen Freunden – und nicht irgendwelchen Leuten, die zigtausend Kilometer entfernt leben...Was mich beunruhigt, ist die Computerkultur, die sagt: Wenn du wichtig sein willst, musst du online sein, musst du eine E-Mail-Adresse haben und am besten auch eine eigene Web-Seite. Aber die wichtigsten Leute im Leben trifft man nicht online. In der Schule sollten wir nicht die leichten Sachen lernen, sondern die schwierigen: Fremdsprachen, ein Musikinstrument oder Teamarbeit. Es ist sehr einfach, ein Malprogramm wie Corel Draw zu lernen, aber es ist viel schwieriger zu lernen, wie man ein Gesicht malt. . . .Ein guter Lehrer kann uns viel mehr beibringen als ein Computer. Deshalb ist die Frage entscheidend: wie bekommen wir bessere Lehrer anstatt mehr Computer im Klassenzimmer? Computer tun doch nur so, als sei Lernen ein großer Spaß...aber: lernen hat nichts mit Spaß zu tun. Richtiges Lernen hat etwas mit Engagement zu tun – mit dem Engagement des Schülers für den Lernstoff, mit dem Engagement des Lehrers für den Schüler. Richtiges Lernen erfordert Disziplin; man muß seine Hausaufgaben machen! Es ist harte Arbeit! Man muß sein Hirn anstrengen! . . .“918 Das Internet bedeutet für viele Wissenschaftler Segen und Fluch zugleich. Einerseits wird den von der Lehrmeinung abweichenden Ideen weniger Raum und Zeit zum Reifen eingeräumt, wobei die schnellere Kommunikation gleichzeitig mehr Zeit zur Diskussion und zum Nachdenken erforderlich macht. Jüngere Forscher schließen sich oft wissenschaftlichen Modeerscheinungen an, bevor diese sich 918 SZ-Magazin, Mai 2001; STOLL arbeitete am Vorgänger des Internets, dem Arpanet, mit. 477 etablieren konnten. ROVELLI: „Und wie wir wissen, stellen sich modische Ideen manchmal als falsch heraus.“919 Eine Voraussetzung zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit auf Distanz wird nach TEASLEY „eine fundamentale Veränderung auf sozialem Niveau erfordern,“ da zuerst die Unklarheit darüber, wem gewisse Daten gehören, beseitigt werden müsste, damit das zur Zusammenarbeit notwendige Vertrauen entstehen kann. Nach Meinung von führenden Wissenschaftlern sind Stille, mehr Gespräche in kleinen Gruppen und der Dialog der Naturwissenschaftler mit den Philosophen erforderlich, um die Natur besser zu verstehen. Diese Kommunikation ist nicht durch die Verständigung per Bildschirm zu ersetzen. Schwangerschaft per Internet –Bestellung Ein bizarres Angebot mit der Bezeichnung „Fremdbefruchtung auf natürlichem Wege“ wird durch die „Initiative Pro-Kinderwunsch“ angeboten. Lesben und Singels, aber auch Paare die ungewollt kinderlos sind, werden als potentielle Kunden betrachtet. 2500 Frauen sollen das Angebot bereits in Anspruch genommen haben. Es befinden sich 122 Männer, im bundesweiten Einsatz. Alle sind deutsche Akademiker, schlank und unter 35 Jahre alt, gepflegt und gesund. Strikte Anonymität wird zugesichert; die Erreichbarkeit der Initiative ist nur über Email möglich. Der Kontakt zwischen Mann und Frau soll anonym erfolgen, wobei es nicht möglich ist, dass eine Auswahl durch die Frau mit Kinderwunsch getroffen werden kann. Schriftlich muß sogar auf jede Form des Unterhaltsanspruches verzichtet werden. EICHMANN920 zu diesem Angebot: „Ich bezweifle, dass die Frauen wissen, worauf sie sich da einlassen.“ Neben den rechtlichen Folgen seien vor allem auch die psychischen Folgen für das Kind zu beachten, das nie seine Herkunft erfahren könne. 919 SZ, 162, 2001, V2 /7; ROVELLI arbeitet am Centre National de la Recherche Scientifique in Marseille; Stephanie TEASLEY (Universitiy of Michigan) arbeitete an einem AIDS-Projekt im Internet. 920 MM, 204, 1999, J 3; Ruth EICHMANN ist Frauenärztin bei Pro Familia in Frankfurt am Main. 478 Spiele im Internet921 Ultima Online Mehr als 100 000 Spieler nehmen täglich an diesem Rollenspiel teil. Die Teilnehmer dieses Spieles können komplett in eine Welt eintauchen, in der die Grenzen zwischen Simulation und Wirklichkeit verwischen. Diese „Parallelwelt“ ist für viele Spieler eine willkommene Flucht aus dem Alltag. 3D-Shooter Viele Gefahren und gemeine Gegner lauern in diesem Spiel dem Teilnehmer auf. Die Gegner können durch alle Mittel ausgeschaltet werden (Kettensäge, Raketenwerfer). Diablo Hier erhalten die Helden der Unterwelt magische Fähigkeiten. Hier werden mehr als eine Million Spiele täglich verzeichnet. Siedler 3 Die Spieler müssen hier als Herrscher ihre Untertanen geschickt einsetzen. Wer am geschicktesten mit den Untergebenen giert kann am ende seine Konkurrenten besiegen. Ein Großteil der Anbieter verlangt keine zusätzlich Gebühr für das Spielen im Netz. Trotzdem macht sich jede Minute auf der Telefonrechnung bemerkbar. Hohe Preisgelder (100 000 Dollar) animieren viele Spieler, sich an dem Turnier für den besten Online-Golfer zu beteiligen. Ruhmsucht ist für viele Spieler ein Grund, hemmungslos zu mogeln. Nicht die begabten Gegner sind die gemeinsten, sondern die, die sich selbst am besten mit technischen Tricks (cheats) unbesiegbar machen, indem sie das Spiel so umprogrammieren, dass sie höher springen oder schneller laufen können als die betrogenen Konkurrenten. Suchmaschinen Der weitaus größte Teil des Webs ist über Suchmaschinen nicht zu erreichen. Nur etwa 42% des im Jahr 1999 etwa 800 Millionen Seiten umfassenden WWW konnten durch die 11 populärsten Suchmaschinen gesichtet werden. Viele der Trefferlisten sind sehr einseitig beeinflußt. Da die Betreiber der Suchmaschinen sich in erster Linie 921 SZ, 129, 2000, V2 /19 479 für den wirtschaftlichen Nutzen interessieren und zudem nur mit einem enormen technischen Aufwand die gigantischen Datenmengen bewältigen können, ist es verständlich, daß bestimmte Web-Seiten gegen Bezahlung ständig auf den vordersten Plätzen der Anbieter zu finden sind. Dies ist auch auf die gängige Praxis der SuchmaschinenAnbieter zurückzuführen, die oft von den einzelnen Surfern besuchten Seiten ganz oben aufzulisten. Durch diese Praxis ist eine wertfreie Abbildung des Webs von vorneherein ausgeschlossen. Anbieter, die sich neu im Internet präsentieren wollen, können durch eine Verknüpfung ihrer Seite mit anderen Angeboten im Web und durch das Einfügen aussagekräftiger Schlüsselworte in Form von unsichtbaren Metatags die in ihrem HTML-Code enthalten sind , effektiver und damit unabhängiger von den großen Suchmaschinen auf sich aufmerksam machen. 922 Durch „Spammer“ werden Web-Seiten mit irreführenden Stichworten präpariert, um die Nutzer zu bestimmten Seiten zu führen. Durch den Verkauf von genau auf die Seiten abgestimmten Werbebannern finanzieren die Betreiber der Suchmaschinen ihr Geschäft. Listenplätze bei Suchmaschinen 923 Zur Finanzierung von Suchmaschinen reicht Online-Werbung alleine nicht aus. Um die finanziellen Lücken zu füllen, werden Suchergebnisse von den Betreibern der Suchmaschinen an die Gesuchten verkauft. Bezahlte Links sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie sich jedoch deutlich von anderen Treffern abheben. Je mehr Geld bezahlt wird, desto weiter oben steht der Treffer auf der präsentierten Liste. Es wurden bereits Beschwerden bei der US-Handelsaufsicht durch „Commercial Alert“ (die amerikanische Verbraucherschutzorganisation) eingelegt. Folgende Suchmaschinen stehen in der Kritik: AltaVista, Netscape, MSN, LookSmart, Hotbot und Lycos. Den Betreibern wird vorgeworfen, dass die Suchenden nicht mehr zwischen Werbung und Suchergebnis unterscheiden können. Eine Täuschung der Verbraucher werde billigend in Kauf genommen. 922 923 SZ, 158, 1999, V2 /12 SZ, 267, 2001, V2 /14 480 Illegale Musik- und Film-Tauschbörsen924 Gratismusik aus dem Netz ist fast nur noch illegal zu haben. Rund eine Million Filmdateien werden täglich weltweit aus dem Internet geladen. Allein in den USA beläuft sich der Schaden auf im Jahr 2002 auf 4 Milliarden Euro. Die Musiksuchmaschine „Napster“ wurde täglich von bis zu 60 Millionen Nutzern aufgesucht. Elektronische Recherche im Internet925 An deutschen Hochschulen wird dieses Informationsmedium immer mehr zur Gewinnung von Informationen genutzt. In erster Linie beschränken sich die Studenten jedoch auf freie Suchmaschinen, wobei die gewonnenen Informationen häufig als unübersichtlich eingestuft werden. Soziologen kamen zu der Auffassung, dass die meisten Studenten nicht die Fähigkeit besitzen, die Qualität und die Bedeutung der Suchergebnisse zu bewerten. Nur sechs Prozent der Studenten wissen die Möglichkeiten von fachspezifischen onlineDatenbanken oder aber kostenpflichtige Informationsangebote zu nutzen. An Einführungsveranstaltungen der Bibliotheken nehmen nur ca. 15% der Studierenden teil. Den Hochschullehrenden ist zwar die Bedeutung der Recherche per Computer bewusst, dennoch ist sie nur bei jedem dritten von ihnen Bestandteil des eigenen Lehrplanes. Wirtschaftsspionage MATSCHKE926 stellt fest, daß deutsche Unternehmen die bevorzugten Zielobjekte ausländischer Nachrichtendienste seien. Dabei geht es um die Ansiedlung neuer Industrien und die damit verbundene Sicherung von Arbeitsplätzen. „International tobt derzeit in den zivilisierten Ländern ein Wirtschaftskrieg. Das scheint Spionage und den Diebstahl sogar unter Freunden zu legalisieren. Jeder wird alles tun, um sich wissenschaftliche und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen.“ Die weltweite Telekommunikation wird durch globale Überwachungssysteme rund um die Uhr belauscht. Ausländische Nachrich924 MM, 101. 2002, Geld & Markt www.sfs-dortmund.de im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und in SZ, 156, 2001, V2 /12 926 SZ, 6, 2000, S. 24; MATSCHKE ist Präsident des Verbands Deutscher Sicherheitsunternehmensberater. 925 481 tendienste würden zum Teil sogar auf die Bitten von Firmen hin speziell tätig. Zielobjekte sind vor allem forschungsintensive Branchen. Dazu zählen die Bereiche der Chemie-, Pharma-, Optik-, Auto, Luftfahrt- und Mikroelektronikindustrie. Einerseits wird die Arbeit der Spione durch mangelndes Sicherheitsbewußtsein erleichtert – andererseits durch das Anzapfen von ISDNund EDV-Anlagen, des Betriebsfunks, der Paging-Systeme und durch das jederzeit leicht mögliche Abhören von Mobiltelefonen ausgeführt. Auch die Reproduktion der Abstrahlung von Computermonitoren aus über 100 Meter Entfernung gehöre bereits zu den Geschäftspraktiken der „Informationsabschöpfung“. Der Schaden, der durch Industriespionage per Computer und WWW in Deutschland entsteht, wird auf jährlich 20 Milliarden DM geschätzt.927 Russische, amerikanische und chinesische Geheimdienste haben es offenbar besonders auf die hoch spezialisierte Wirtschaft in Süddeutschland abgesehen. Vor allem die USA setzen auch im militärischen Bereich laut MEYERS zunehmend mehr darauf, Angriffe auf Computernetze durchzuführen. Die Fähigkeit, einen Angriff auf ein Computernetz zu führen, solle ab Oktober 2000 unter der Leitung des Weltraumkommandos der US-Streitkräfte entwickelt werden.928 Die aktuelle Entwicklung erinnert zunehmend mehr an die vor mehr als 20 Jahren fast unglaublich klingenden Thesen des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten ALLEN929, der bereits 1971 die Ansicht vertrat, dass inzwischen das höchste Gut der Menschen – die Freiheit – einer organisierten Bedrohung ausgesetzt ist. Die US-Regierung reagiert auf die Erkenntnis der Anfälligkeit der Computersysteme für Hacker und zur Verbesserung der Sicherheit der eigenen Computersysteme mit Milliardeninvestitionen (fast 4 Milliarden Mark).930 Durch das französische Verteidigungsministerium wurde der Verdacht geäußert, dass Mitglieder des militärischen USGeheimdienstes NSA bei Microsoft in den für die Entwicklung von 927 SZ,122, 2000, S. 2 SZ, 4, 2000, S. 8; MEYERS ist General des USWeltraumkommandos. 929 ALLEN, „Die Insider“ und „Die Rockefeller Papiere“ 930 SZ, 5, 2000, S. 7 928 482 Software zuständigen Teams sitzen.931 FERNANDEZ hatte die Behauptung aufgestellt, bei der Anwendung des Betriebssystems NT sei ein Zugriff auf private Computer möglich. Nach seiner aussage sei er auf einen neuen digitalen Schlüssel mit der Bezeichnung NSAkey in der Sicherheitssoftware von Windows gestoßen. Seiner Schlußfolgerung nach ermöglicht dieser Schlüssel der National Security Agency (NSA) den Zugang zu jedem mit Windows arbeitenden PC. Nach Aussagen eines Sprechers von Microsoft handele es sich bei der neuen Komponente lediglich um ein Backup für das Verschlüsselungssystem von Windows. Durch den Begriff NSAkey sollte nur belegen, dass die von der NSA überwachten Export- und Sicherheitsvorschriften für die Software gültig sind. Der Verband der deutschen Internet-Wirtschaft (ECO) warnte vor der Überspielung von AOL 5.0, da durch das Überspielen der Software die im PC vorhandenen Netzwerk- und Internetprogramme außer Gefecht gesetzt werden. In den USA wurde deshalb bereits eine Sammelklage gegen das Programm des weltgrößten OnlineDienstes eingereicht. AOL Deutschland wies die Kritik „in dieser pauschalen Form“ zurück.932 Online-Verbindungen über andere Internet-Service-Provider (ISP) ließen sich nur unter großen Schwierigkeiten herstellen. Dies könnte – sollten die Probleme beabsichtigt programmiert worden sein - als eine moderne Form des Wirtschaftskrieges gewertet werden. Hacker VRANESEVICH, 21 Jahre alt, ein Hacker-Jäger der mit dem FBI zusammenarbeitet, über die Persönlichkeit von Hackern: Die meisten sind nur selbstverliebt. „Das ganze ist ein Ego-Ding. Es hat mit Macht zu tun. Und es ist reine Männerwelt. Wenn überhaupt Frauen in der Szene sind, dann als Groupies.“933 In der Hacker-Welt gilt nur ein Motto: 931 SZ, 42, 2000, S. 25; FERNANDEZ ist Mathematiker und Unternehmer; er besitzt eine Homepage mit der Bezeichnung: Cryptonym Corporation. 932 MM, 28, 2000, S. 1 933 SZ, 104, 2000, S. 3; VRANESEVICH besitzt eine Hacker-newsWebsite: AntiOnline (http://antionline.com/). 483 Traue keinem, niemals. Es ist eine Welt der falschen Identitäten und falschen Freunde. Nur eines haben alle gemeinsam. Sie hassen Vereinfachungen. Die Strukturen der Hackerwelt sind kompliziert, die Hierarchien enorm. Einteilung der Hacker White-hat-Hacker Black-hat-Hacker Cracker Script Bunnies Pocket Monkeys Alpha Geeks Carder die guten, die in fremde Datensätze nur eindringen, um den Firmen zu zeigen, wo ihre Schwachstellen sind Böse, die in Computersysteme einbrechen, um diese zu zerstören, oftmals nur, um Allmachtsphantasien auszuleben oder aus politischen oder finaziellen Gründen ihre Dienste sind zu kaufen Möchte-gern-Hacker Leute, die ausführen, was ihnen die Alpha Geeks anschaffen absolute Profis unter den Hackern Hacker, die mit geklauten Kreditkartennummern handeln In der Welt der Hacker wird die Grenze zwischen Gut und Böse oder zwischen Legalität und Verbrechen ständig überschritten. VASILYEV zur Personengruppe der Hacker: „In der heutigen Welt beherrschen Rechner Menschen. Hacker sind Leute, die Computer beherrschen . . . Hacker folgen hohen moralischen und ethischen Ansprüchen . . . Einige Leute werden schon als Hacker geboren. Da ist etwas in ihnen, das sie zwingt, komplexe Systeme zu erforschen und zu studieren . . . Wenn sie das nicht täten, würde sie niemand mit der Verteidigung oder Betreuung von Computersystemen betrauen . . .“934 Der carding channel #cc ist die Kreditkartenbörse im Internet. Hier werden öffentlich tausendfach Kreditkartennummern verhökert. Laut VRANESEVICH haben die „Carder“ die Realität aus den Augen verloren. Für sie sind die Geschädigten keine Menschen sondern 934 VASILYEV hat in Moskau die Hacker-Schule „hscool“ gegründet; SZ, 79, 2000, V2 /19 484 lediglich Kreditkartennummern. Werden geforderte „Schutzbeträge“ für gestohlene Kartennummern von den betroffenen Firmen nicht gezahlt, wird die Presse eingeschaltet oder die Polizei informiert, haben die Betroffenen die gesamte Hacker-Szene als Gegner. Auf diese Weise werden lautlos täglich kleine Firmen zugrunde gerichtet. Wem nützen oder schaden erfolgreiche „Hacker-Angriffe“ ? Hacker-Angriffe werden durch Mail-Bombing (Überschwemmung mit einer Unmenge von gleich lautender elektronischer Post), Broadcast Storming oder Ping Flooding ( hier werden Spezifika der Protokolle TCP/IP ausgenutzt) ausgeführt. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Protokolle ist das Surfen im Internet erst möglich. Auch durch Informationen ehemaliger Insider oder momentaner Mitarbeiter von Firmen wird erfolgreich „gehackt“. Alle Beteiligten ziehen letzten Endes einen Nutzen daraus. Beteiligte Angegriffene Firmen Staatswächter /Sicherheitsdienste Computerindustrie Hacker Versicherungen Nutzen Sie werden auf Sicherheitslücken ihrer Webseiten aufmerksam und können sie schließen Existiert kein realer Gegner, so kann wenigstens ein imaginärer Gegner benannt werden Investitionen in umfangreichere Schutzprogramme Check von Datensystemen Im Falle einer Entlarvung locken lukrative Jobs als Sicherheitsberater bei den attackierten Firmen Verkauf von Policen gegen Viren- und Hackerschäden Nur den ganz normalen Internet-Nutzern entsteht bei solchen Angriffen ein Schaden, da sie oftmals das Netz nicht mehr nutzen können. 485 Hacker-Dienste Zunehmend mehr Hacker sind in der Lage, Streifzüge durch fremde Rechner zu unternehmen. Gegen Zusicherung von Straffreiheit bieten sie ihre Dienste für entsprechende Bezahlung an. Nach dem Attentat auf das World-Trade-Center bietet SCHMITZ seine Hilfe über das Netz an: „ Mein Team und ich wissen, was zu tun ist. Wir können Bankkonten aufspüren, transaktionen beobachten, Sleeper finden und die Aufrufe zu Terrorattacken im Netz stoppen.“935 Eine Hacker-Gruppe aus Estland bietet ebenfalls ihre Dienste über das Internet an: „Wir wissen, dass (bin Ladens) Gruppe die Verschlüsselungsmethoden Steganographie und PGP benutzt und können nicht nur ihre Gespräche entschlüsseln, sondern auch den Ort der Telefonate ausfindig machen.“ Für160 000 Dollar seien entsprechende Informationen zu haben. Fragwürdiger Schutz durch Viren-Software – und Antibiotika Zurzeit existieren bis zu 60 000 PC-Viren und mehrere hundert für Apple Macintosh. KASPERSKY: „Viren sind erfolgreich in den Computer Alltag eingedrungen, und sie werden uns in absehbarer Zukunft nicht wieder verlassen.“936 In Großbritannien enthält gegenwärtig eine von 300 e-mails einen Virus. Hochrechnungen bei bestehendem Trend gehen davon aus, dass im Jahre 2008 jede zehnte Mail und im Jahre 2013 jede zweite mit einem Virus verseucht sein wird. Um das Eindringen eines Virus auf den privaten Rechner zu verhindern, sollte sollten Mails nicht im HTML-Format gelesen werden und diese Option im Programm „Outlook“ abgeschaltet werden. Nach Meinung von Experten sollte man wirkungsvolle Anti-VirenProgramme zum Schutz vor Virenattacken auf allen Rechnern installieren. Dabei ist jedoch nur die jeweils neueste Version von scheinbarem Nutzen. Die Geschwindigkeit, mit der sich Viren ausbreiten, 935 SZ, 221, 2001, V2 /17; SCHMITZ ist ein wegen Datenklau vorbestrafter US-Hacker und Multimillionär. 936 SZ, 227, 2001,V2 /13; KASPERSKY ist russischer Viren-Guru. 486 nimmt dramatisch zu. Das Dilemma ist, dass Virenprogramme niemals praktisch auf dem aktuellen Stand der Hacker sein können.937 Interessanterweise zeigt sich eine ähnliche Entwicklung auf dem Sektor der Humanmedizin. Hier sind in den vergangenen zehn Jahren weltweit zahlreiche Bakterienstämme entstanden, gegen die es kaum noch wirksame Medikamente gibt. Der Wunsch, sich wirksam, sofort und endgültig durch exogene Faktoren zu schützen, (Medikamente, Viren-Programme, Impfungen) erzeugt eine Spirale von neuen, immer größeren Gefahren. Auch eine Nachrüstung der Computersicherheit mit den neuesten und jeweils intelligentesten technologischen Möglichkeiten wird niemals eine absolute Sicherheit bieten. SCHNEIER: „Mit jedem Software-Update steigt die Komplexität und die Angriffsfläche für entschlossene Hacker . . . Wenn ich jede erkannte Lücke schließen will, muss ich mein System jeden Tag nachrüsten.“938 Mehr Sicherheit für das DNS(Domain Name System = Namensverwaltung im Netz unter der Führung von ICANN) kann nicht durch Technik, sondern nur durch konstante Beobachtung der Systeme, und zwar „von Hand“ erreicht werden. Zwischen Virensammlern, Antivirenunternehmen und Virenschreibern wird weltweit per Internet eine enge Zusammenarbeit gepflegt. Sammler erhalten im Tausch gegen neue Viren Exemplare, die ihnen selbst noch fehlen. Auch finanzielle Zuwendungen sind keine Seltenheit. Es isz zu befürchten und teilweise bewiesen, dass Auftragskriminalität die Ursache für in Umlauf gebrachte Viren ist. TROFIMOVA: „Wir haben verschiedene Quellen, von denen wir die neuen Viren beziehen. Dies sind unter anderem Sammler, aber auch Virenschreiber, die uns die Viren zuspielen, um sie von uns testen zu lassen.“939 937 MM, 129, 2000, S. 3 SZ, 273, 2001, V2 /15; Bruce SCHNEIER ist ein bekannter Computer-Sicherheits-Guru. 939 Svetlana TROFIMOVA ist Pressesprecherin der Kaspersky laboratories; dieses Unternehmen stellt auch den Antivirenkiller Antivirus Pro (AVP) her. SZ, 231, 2001 TECHNIK S. 34; SIEBER ist 938 487 Jeden Monat überschwemmen etwa 700 neue Viren das Netz und legen tausende von Computern lahm. Die strafrechtliche Verfolgung erweist sich als sehr schwierig, da nur wenige Fälle aus Angst vor einem Imageverlust angezeigt werden. In München wurden im Jahr 2000 nur neun dieser Fälle angezeigt. Auch private Nutzer halten sich mit Anzeigen zurück, da sie oftmals Raubkopien auf ihrem Rechner installiert haben und dann selbst eine strafrechtliche Verfolgung fürchten müssen. Die Pressestelle des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden: „ Da das Virenschreiben derzeit nicht unter Strafe gestellt ist, können sich folglich auch keine Ermittlungen gegen Virenschreiber richten.“ SIEBER vertritt eine andere Ansicht: „Wenn die Strafverfolgungsbehörden einen Fall verfolgen wollen, so können sie dies: Die §§ 303a und 303 b StGB erlauben eine Strafverfolgung nicht nur bei einem Strafantrag des Geschädigten, sondern auch bei Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung.“ Sicherheitslecks in Browsern940 Experten fanden bei Internet-Explorer einen Weg, wie Betreiber von Websites auf „Cookies“ zugreifen können, die gar nicht für sie auf dem PC des Benutzers abgelegt waren. Gelangt ein User an ein Cookie einer anderen Person, so kann er auf der entsprechenden Website als diese Person auftreten. Auch kostenpflichtige Dienste können unter fremdem Namen genutzt werden, wenn damit Angaben über Passwörter oder Kreditkarten verbunden sind. Im Netscape Navigator wurde entdeckt, dass Warnungen vor nicht korrekten Zertifikaten umgangen werden können. Die „Zwischenschaltung“ von Betrügern ist dadurch leicht möglich. Ab der Version 4.73 soll dieser Fehler behoben sein. Professor für Strafrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität München. 940 SZ, 118, 2000, V2 /14 488 Erstellung von Persönlichkeitprofilen der Surfer Die Schritte durch die digitalen Netze hinterlassen an vielen Stellen Spuren. Nach KELTER liefern die Daten ein „den Menschen in seinen Gewohnheiten recht genau beschreibendes Bild.“941 T- Online zum Beispiel speichert die zur Erstellung der Rechnung wichtigen Daten (Benutzernamen, Einwahlzeit, Surfdauer und Tarifart für etwa 80 Tage. Über die „Cookies“ läßt sich ein virtuelles Benutzungsprofil erstellen. Sie können jedoch abgeschaltet werden. So genannte „Web-Bugs“ (Wanzen) sind kleine Bilder, die in eine Seite eingebettet sind, und die - wie Cookies, nur von bestimmten Servern ausgesendet werden. Durch Zusatzprogramme könne sie herausgefiltert werden. Diese Daten alleine reichen noch nicht aus, um die Identität des Surfers festzustellen. In den USA sind nach neuen Erkenntnissen Firmen damit beschäftigt, Surfdaten mit Namen und Adressen zu verbinden. Dabei entstehen beängstigend genaue Datensätze über Vorlieben und Abneigungen der Surfer. Solche Daten werden gehandelt. „Privacy policy“ (Hinweise auf den Homepages) erklären, wie die Anbieter mit den Inhalten umgehen. Online-Banking – Online-Panne Bei einer der größten bisher bekannt gewordenen Pannen des Internet-Banking bekamen 230 Online-Kunden in Berlin und Niedersachsen Einblick in fremde Konten. POHL: „Mit einem Angriff auf etwa zehn zentrale Internet-Rechner kann ein Agressor die gesamte Online-Kommunikation in Deutschland unterbinden.“942 Innerhalb von zehn Tagen sei dies zu schaffen. Das Energieversorgungssystem oder die Arbeit der Banken wäre damit äußerst gefährdet. Das Internet sei gegen Attacken „faktisch ungeschützt.“ 941 MM, 14, 2002, S. 21; KELTER vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) in Bonn; siehe auch: KELTER: Anonymität? Datenspuren in modernen Netzen, MediaVerlag; auch: www.bsi.de/aktuell/index.htm und www.bfd.bund.de und Chaos Computer Club: www.ccc.de 942 MM, 155, 2001, S. 24; POHL ist Informatik-Professor in Bonn. 489 Online-Shopping- Ein Testbericht943 Von verschiedenen Teams wurden 400 Websites die online-shopping anboten, getestet. Folgende Erfahrungen wurden aufgezeichnet: Bestätigung von Bestellungen, obwohl die Waren nicht vorrätig waren 6% der georderten Produkte kamen nie an, ein Drittel davon wurde den Testern trotzdem berechnet die Lieferzeiten wurden nicht immer eingehalten Nach dem Zurücksenden der Waren war das Geld in einem von zehn Fällen verloren Bei den restlichen Fällen dauerte es oft Monate, ehe das Geld zurückerstattet wurde Zusätzliche Kosten entstanden durch: Umrechnungskurse, Zahlungsbedingungen, extra Liefergebühren, zusätzliche Steuern Bei Hotelbuchungen lagen die Endpreise über denen der onlineAngebote Reklamationen liefen oft ins Leere Bei Offerten von Zwischenhändlern (Shopping Portals) war es schwierig oder unmöglich, die Identität des Geschäftspartners zu identifizieren Hinweise auf ein siebentägiges Rücktrittsrecht von dem Einkauf fehlten in vielen Fällen Trotz der o.a. Schwierigkeiten kaufen mittlerweile etwa 14 von 24 Millionen Internet-Nutzern „online“ ein.944 Drei von fünf Surfern – vor allem die Hälfte der weiblichen Online-Teilnehmer - nutzt das Internet zum Einkaufen. Die Hitliste der nachgefragten Waren führen Bücher, Musik-CD`s und Videos an. Danach folgen Mode, Computer-Hardware, Spielzeug und Parfümerieartikel. Aktive „Online-Shopper“ setzen vor allem auf die zuverlässige und kostengünstige Lieferung der Waren. Als weitere Vorteile werden angeführt: Eine erfolgte Marktbereinigung der Internetportale bei Anbietern und Betreibern 943 944 SZ, 228, 2001, S. 14 SZ, 268, 2001, S. 27; laut einer Umfrage der Deutschen Post 490 Haftung für verlorene oder beschädigte Sendungen Bequeme Rückgabemöglichkieten mit Geldzurück-Garantie Die Post wird von der Hälfte aller Befragten als Transporteur bevorzugt. Medikamente „online Der Kauf von Medikamenten im Internet kann sich leicht zu einem „pharmazeutischen Roulette“ entwickeln.945 Vor allem amerikanische Versender bieten auf deutschsprachigen Internetseiten verstärkt Medikamente an, die nach dem Arzneimittelgesetz ausschließlich vom Arzt verordnet werden dürfen. „Hoch wirksame und damit potentiell auch gefährliche Antibiotika, Antidepressiva, Hormonpräparate oder Schmerzmittel mit sehr starkem Suchtpotential sind sehr leicht zu bekommen.“ Selbst in Deutschland nicht zugelassene Mittel wie das in den USA in der Werbung als Wunderdroge bezeichnete Melatonin kann im Internet bestellt werden. Es ist zu beobachten, daß dabei Warnhinweise verschwiegen und Nebenwirkungen bagatellisiert werden. Auch der unkontrollierte und illegale Handel mit Medikamenten für Suizidwillige ist über das Internet möglich. So belieferte „Einstein“ aus Freising in Bayern via Internet etwa zehn Suizidkandidaten mit dem Medikament Phenobarbital. Zehn Gramm wurden jeweils für 800.-DM plus 20.-DM Versandkosten angeboten. Dieses Medikament wurde im dritten Reich von den Nazis in ihrem EuthanasieProgramm eingesetzt.946 Medizinische und psychiatrische Beratung im Internet Hilfsangebote von Cyberdog, NetDoktor und Interapy bieten aus jurisitscher Sichtweise fragwürdige Hilfen an. KERN947 weist darauf hin, dass die Antworten der Experten auf Fragen der hilfesuchenden Patienten über reine Informationen hinausgehen und als berufsrecht945 MM, 5, 2000, S. 10; Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) in Bonn 946 SZ, 89, 2001, S. 52, Region München 947 SZ, 88, 2001, V2 /20; KERN ist Jurist an der Universität Leipzig. 491 lich unzulässige Beratungen zu werten sind. Einerseits bietet das Internet völlig neue positive Möglichkeiten- gerade für interessierte Laien – andererseits bewegt man sich hier in einer juristischen Grauzone. Unkontrollierte e-Mails und Viren auf dem eigenen Rechner Einige Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks erhielten dubiose emails auf ihren Mail-Servern. Sobald ein betroffener Empfänger eine normale Mail verschickt, sollen sich die Fotos (Kinder- und Tierpornographie) automatisch anhängen. Es ist auch möglich, dass sich das Virus („W32/NewApt.worm“) selbst Adressen aus dem Verzeichnis des Empfängers sucht und die Pornos weiterleitet. Es besteht die Vermutung, dass russische oder bulgarische Virenschreiber für die Vorgänge verantwortlich sind. Eine Abwandlung der „Cookie-Technik“ ermöglicht es den Versendern von „Werbe –e-mails“ die Empfänger der ungewollten Werbesendungen zu kontrollieren. Zudem ist es möglich, deren Adressen zu identifizieren und zu bereits bestehenden Datenprofilen zuzuordnen. Es ist bereits in der Realität möglich auf diese Weise spezielle neue Werbekanäle bei einzelnen Anwendern zu erschließen. Mit sogenannten WAP-Viren experimentieren Spezialisten bereits im Labor. Wird ein solcher Virus vom Computer im Handy einmal gespeichert, können Gespräche zum Mithören freigegeben oder SMS-Nachrichten und Bankkontobefehle an eine zweite Adresse übermittelt werden.948 Das Internet – ein Podium für Betrügereien Wissenschaftliche Arbeiten werden immer häufiger unter Zuhilfenahme des Internets angefertigt. Um feststellen zu können, in welchem Ausmaß die Verfasser plagiatorisch gearbeitet haben, arbeitet der größte Universitätskomplex der USA seit dem vergangenen Jahr mit der Webseite www. plagiarism.org. Dabei wird eine Datenbank durchsucht, um Übereinstimmungen von mindestens acht Wörtern in 948 SZ, 106, 2000, V2 /14 492 einer Reihenfolge mit wissenschaftlichen Originaltexten zu suchen. Mit diesem Programm wurden inzwischen erfolgreich mehrmals abgekupferte Arbeiten ausfindig gemacht. Die Trefferquote betrug bisher etwa 15%. Geschickt gestreute Gerüchte und gezielte Falschmeldungen lassen sich ebenfalls mit Leichtigkeit über das Internet verbreiten. Für den Film „The Blair-Witch-Project“ wurde über ein Jahr lang mit einer speziell dafür eingerichteten Homepage und gefälschten Zeitungsartikeln, TV-Nachrichtenbeiträgen und angeblich echten Vernehmungsvideos gezielt Werbung betrieben. In kanadischen Pornoprogrammen wurde nach dem Download und der Installation eines zur Betrachtung der Bilder benötigten speziellen Viewers eine Verselbständigung desselben gemeldet. Die Internetverbindung wurde unterbrochen, die Einstellung der Modemlautsprecher automatisch verändert und unbemerkt eine Nummer in der osteuropäischen Republik Moldawien angewählt. Der Internetzugang wurde dort wieder mit Kosten in Höhe von zwei Dollar pro Minute wieder aufgebaut. Eine Beendigung des Ferngesprächs war nur durch das Ausschalten des Rechners möglich. Betrogene Anwender sollen bis zu 3000 Dollar an Telfonrechnungen gezahlt haben.949 Im vergangenen Jahr hat die deutsche Polizei ca. 2800 Fälle von Intenet-Kriminalität entdeckt. Ca. 80% aller in Deutschland begangenen Straftaten sind im Bereich Kinderpornographie anzusiedeln. Mit einem starken Anstieg der Betrügereien rechnet das Bundeskriminalamt (BKA) in den nächsten jahren auch in den Bereichen Verstöße gegen Staatsschutzbestimmungen, Betrugsdelikte und Verstöße gegen Urheberrechtsbestimmungen. Auch eingegangene e-mails mit erfundenen Bestellungen und der gleichzeitigen Aufforderung, telefonisch Widerspruch einzulegen, falls eine Zurücknahme der Bestellung gewünscht werde, waren mit teuren Sex-Hotlines in der Karibik gekoppelt und verursachten hohe Telefonrechnungen. Über das Internet können „online“ als Duplikate ausgewiesene „Markenprodukte“ erworben werden. THOMAS gibt an, dass über acht Prozent der Homepages, die Luxusgüter anbieten, Falschware 949 SZ, 44, 2000, V2 /12 493 verkauft wird.950 Exclusive Füllfederhalter, Uhren oder Schmuck, aber auch Textilien werden auf diese Art umgesetzt. Um gegen die Verbreitung solcher Betrügereien vorzugehen wurden im Ausland und auch in Deutschland Internet-Schutzvereine gegründet, deren Dienste jedoch nur zahlende Mitglieder in Anspruch nehmen können. Internetschutzvereine in den USA: (englischsprachig) Nationale Verbraucherschutzzentrale über Betrug und Schwindeleien bei online-Geschäften die auch Berichte über mögliche Betrugsversuche entgegennimmt: www. fraud.org und www. fraud.org/info/repoform.htm Eine andere Seite informiert über die Erlebnisse betrogener WebNutzer: www.scambusters.org In Deutschland kann die Hilfe eines Internet-Schutzvereins unter www.internet-schutzverein.de in Anspruch genommen werden. Hier sind auch Juristen beschäftigt. In den USA ist die Anzahl der Kundenbeschwerden zwischen 1997 und 1997 um 23% und im Jahr 1998 noch einmal um etwa 39% gestiegen. Vor allem vor Versteigerungen oder Verkäufen wird gewarnt, da immer wieder beobachtet wurde, dass die georderten Waren trotz Bezahlung nicht ausgeliefert wurden. Im Jahr 1999 war nach amerikanischen Untersuchungen951 eine deutliche Steigerung der Angriffe auf Computersysteme von Banken, Unternehmen und Regierungsorganisationen zu verzeichnen. So haben sich die nachweisbaren Verluste auf 530 Millionen DM gesteigert. Im Jahr 1998 war es noch die Hälfte dieser Summe. Von 643 befragten Unternehmen gaben 90% an, eine Sicherheitsverletzung in ihren Computersystemen festgestellt zu haben. Es muß mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden, da viele Attacken unbemerkt bleiben, da viele firmen solche Angriffe nur ungern zugeben. 950 SZ, 44, 2000, V2 /12; THOMAS ist Chef der US-Firma Cyveillance. 951 SZ, 69, 2000, S. 25 494 Weitere Möglichkeiten der Kriminalität: „Gewöhnliche Bedrohungen“ in Form von Computerviren Laptop-Diebstähle Internetmissbrauch durch Angestellte Schwerwiegende Sicherheitsverletzungen (Diebstähle patentrechtlich geschützter Informationen, Finanzbetrug oder Netzwerk-Sabotage) Im Jahr 2000 stiegen Computer-Betrügereien alleine in Bayern um 51,4% an. Eine so hohe Zuwachsrate ist in keiner anderen Verbrechensart auch nur annähernd zu verzeichnen. Die verschiedenen Arten der Betrügereien gliedern sich auf in: Internet Bestellungen unter falschem Namen Betrügereien mit gebührenpflichtigen Info-Hotlines (Anrufer werden in kostenpflichtige Warteschleifen geschleust; anschließend erfolgt eine meist nutzlose Beratung ;0190- Nummern) Datenklau mit Hilfe spezieller Programme (Daten über OnlineBanking oder Kreditkartenbewegungen) Besonders junge Leute machen sich immer öfter wegen bestimmter Datenvergehen schuldig. BISCHELTSRIEDER weist darauf hin, dass viele kriminelle Karrieren am Computer beginnen. „Wer eine Bank ausraubt, muss das in Person tun und kann deshalb leichter geschnappt werden. Im Internet dagegen ist Anonymität fast nie ein Problem.“952 Viele Kriminelle wickeln ihre Machenschaften auch über ausländische Internet-Anbieter ab und sind so noch schwerer zu fassen. Auch durch die Zusendung erfundener, ungültiger Rechnungen für .de-Adressen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit offiziellen Behördenrechnungen aufweisen, versuchen Betrüger, Internet-Nutzer abzukassieren. Wer den Schwindel nicht rechtzeitig entdeckt und um seine homepage fürchtet, kann so leicht auf Zahlungsbefehle in Höhe von 369 DM hereinfallen.953 952 MM, 81, 2001, S. 3; BISCHETSRIEDER ist Fahndungsleiter beim bayerischen Landeskriminalamt in München. 953 SZ, 95, 2001, S. 16 495 Aktienbetrug im Internet Die Möglichkeit der Manipulation von Aktienkursen im Internet durch Betrüger hat sich inzwischen bewahrheitet. So wurden die Aktien von mehr als 30 Unternehmen im Internet falsch dargestellt und die Anleger zum Kauf von angeblich zukunftsträchtigen Wertpapieren zu überhöhten Preisen animiert. Insgesamt wird der durch den Betrüger –Ring verursachte Schaden auf 50 Millionen Dollar geschätzt. Der Betrug war durch die „Zusammenarbeit“ von Börsenmaklern, Anlageberatern, Buchhaltern und Polizeibeamten möglich geworden.954 Auch in Deutschland wurden schon wiederholt die Straftaten der Kursmanipulation über das Internet festgestellt, obwohl der Nachweis des entsprechenden Vorsatzes der Kursbeeinflussung schwierig nachzuweisen ist, weil damit verbundene Kursauswirkungen nicht nachgewiesen werden konnten. Neu- Investoren sollten Mitspekulanten mit den Usernamen „Schlaudax“ oder „Wallpaper“ nicht blindlings vertrauen.955 Kreditkartenbetrug Die GZS (Gesellschaft für Zahlungssysteme) schätzt, dass etwa ein Promille aller Kartenumsätze im Internet auf betrügerischen Machenschaften basiert. GERHARDT weist darauf hin, dass inzwischen Kreditkartennummern „in hohen Mengen“ computergestützt gefälscht werden.956 Weltweit haben sich die Betrügereien in der zweiten Jahreshälfte 1999 um 35-40% gesteigert. Amerikanischen Hackern ist es gelungen, sich Zugriff auf die Kundendatenbanken des weltgrößten Onlinedienstes AOL zu verschaffen. Es gelang ihnen, Rechnungsdaten und Kreditkarteninformationen auszuspionieren. Durch ein Spionage-Programm, das mit Hilfe einer E-Mail verschickt wurde, wurde der Zugriff auf die internen Zugänge der Mitarbeiter zu den AOL-Datenbanken ermöglicht.957 Der „Expert Group of Protection against Hackers“ (kriminelle Internetbetrüger) gelang es im Herbst 2000 unberechtigterweise in den 954 MM, 137, 2000, Wirtschaft SZ, 179, 2000, S. 30 956 SZ, 137, 2000, S. 30 ; GERHARDT ist GSZ Geschäftsführer. 957 SZ, 139, 2000, S. 2 955 496 Besitz von 15 700 Kreditkartennummern aus den Rechnern der „Western Union“ zu kommen. Ziel der vom Ausland aus agierenden Russenmafia sind Schutzgelderpressungen in großem Rahmen. Beamten des FBI gelang es, durch „Social Engineering“ (um an die Daten der Hacker zu gelangen, werden sie bei Kontakten ständig umschmeichelt) mehrere Mitglieder dieser Gruppe zu verhaften. Durch präparierte Rechner des FBI wurden zwei Mitglieder in die Falle gelockt, als sie von Seattle aus – dorthin waren sie eingeladen worden, um angeblich einen Job in einer amerikanischen Sicherheitsfirma zu erhalten - einen „Demo-Hack“ starten wollten. Durch die eingesetzte Spionage-Software bekamen die Beamten den Zugangsnamen und das Passwort zum Hacker-Computer, von dem aus die Betrügereien ausgegangen waren.958 Telefonbetrug im Internet Werbebriefe – SMS und Servicenummern – das große Geschäft Unaufgeforderte Werbung per Fax oder Handy kommen häufig einem Psychoterror nahe. Besonders die „Sonder-Rufnummern“ sind oft an kriminelle Machenschaften gekoppelt. Seitenlange nutzlose Informationen treiben nicht nur die Papier- oder Druckkosten in die Höhe, sondern sorgen auch für hohe Telefonrechunungen. Unternehmen in Deutschland können im Gegensatz zu ausländischen Unternehmen durch eine Abmahnung und eine einstweilige Verfügung zu einem Werbeverbot gezwungen werden. Durch eine an das Fax gekoppelte Zeitschaltuhr lässt sich die unerwünschte Werbung meist erfolgreich verhindern. Vorgetäuschte wichtige SMS-Handy-Mitteilungen mit der gleichzeitigen Aufforderung, doch schnell unter der Nummer 0190 . . . zurückzurufen, führen ebenfalls zu hohen Telefonrechnungen. Auch die nach unerwünschten telefonischen Werbekampagnen zugeschickten ungültigen Auftragsbestätigungen der Telekom zu ihrem „AktivPlus“-Tarif sind rechtlich äußerst fragwürdig.959 Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes 960 darf das Begleichen der Telefonrechnung nicht mit der Begründung verweigert werden, dass Sextelefonate sittenwidrig seien. 958 959 SZ, 99, 2001, S. 13 SZ, 96, 2001, 50, München; die Tabelle ebda. 497 Ein Mobilfunkbetreiber hatte eine Kundin auf Bezahlung der HandyGebühren in Höhe von 20 000 DM verklagt. Die Frau hatte die Bezahlung mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe über ihr Mobiltelefon die Sondernummern mit der Vorwahl 0190 angewählt. Besitzer einer Telefonanlage – es muss nicht ISDN sein – können bestimmte Nummern automatisch bei der Installation sperren lassen, um einem Missbrauch vorzubeugen. Die Einwahl in das Internet sollte dabei jedoch über ein Modem erfolgen. Kosten für bestimmte Servicenummern (Stand 2001) Vorwahl 0130 0800 0180-1 0180-2 0180-3 0180-4 0180-5 0190-1 0190-2 0190-3 0190-4 0190-5 0190-6 0190-7 0190-8 0190-9 Kosten kostenlos kostenlos 0,12 DM pro Minute 0,12 DM pro Gespräch 0,18 DM pro Minute 0,48 DM pro Gespräch 0,24 DM pro Minute 1,21 DM pro Minute 1,21 DM pro Minute 1,21 DM pro Minute 0,85 DM pro Minute 1,21 DM pro Minute 0,85 DM pro Minute 2,42 DM pro Minute 3,63 DM pro Minute 2,42 DM pro Minute Dialer-Programme Eine gegen den eigenen Willen unbemerkt auf dem Computer installiertes „Dialer-Programm“ kann pro Verbindung Kosten in Höhe von bis zu 900 Euro verursachen. ZANDER-HAYAT: „Der höchste Betrag waren 4800 Euro pro Minute.“961 960 MM, 270, 2001, S. 1; (Az: XI ZR 192/97-NJW 1998, 2895) HÖRZU, 1. Bis 7. April 2002; Helga ZANDER-HAYAT arbeitet bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. 961 498 Der Surfer stößt auf eine scheinbar interessante Seite. Um sie zu öffnen, wird er jedoch aufgefordert, zuerst ein Programm herunterzuladen. Damit wählt er häufig einen „Dialer“ ein. Jetzt erfolgt die Abrechnung automatisch pro Verbindung oder pro Minute. Solche Programme können auch in E-Mails oder Computerspielen verpackt sein. Auch als Sicherheitsprogramme getarnte Angebote können lediglich die Aufgabe erfüllen, ein solches Programm unbemerkt auf dem heimischen Rechner zu installieren. Falsche Absender mit TOnline sind keine Seltenheit. Auch über „chats“ empfohlene Seiten sind mit großer Vorsicht zu genießen. Hunderte solcher Fälle werden derzeit962 bei der Polizei angezeigt. RICHARD: „Die Dunkelziffer dürfte um das Hundertfache höher liegen.“ Die Deutsche Telekom beteuert, mit diesem Betrug nichts zu tun zu haben. Die Telefongesellschaften sind zwar gesetzlich verpflichtet, im Inkasso-Verfahren auch die Gebühren anderer Anbieter einzutreiben, kassieren jedoch dabei auch 8% des jeweiligen Tarifs als Durchlaufgebühr. ZANDER-HAYAT: „Der höchste Betrag waren 4800 Euro pro Minute.“ Die Verbraucherschützer raten, die von der Telekom in Rechnung gestellten Posten nicht zu bezahlen, da in vielen Fällen der Tatbestand des Wuchers erfüllt sei. Die Telekom gebe dann die Forderungen an den Anbieter zurück. Erkennen von DIALER-Programmen: Download-Programme mit der Dateiendung „.exe“. Keine, kleine oder unauffällig platzierte Hinweise auf die entsprechenden Kosten schwer abbrechbare Downloads (bei einem Eintrag in die DFÜVerbindung); am besten den Computer sofort ausschalten. Eine Deinstallation des Dialer-Programms ist nur schwer oder nicht möglich. Sollte es trotzdem vorkommen, dass eine solche Installation auf Ihrem PC gelungen ist, können Sie: keinerlei Veränderungen am PC vornehmen den PC zur Polizei bringen 962 MM, 52, 2002, S. 3 vom 2./ 3. März; RICHARD ist Leiter der Münchner Internet-Fahndung. 499 Hinweise auf die Quelle geben, aus der der Dialer möglicherweise geladen wurde die Verbraucherschutzzentrale informieren und sich dort beraten lassen die Telefonrechnung nach Erhalt unverzüglich schriftlich reklamieren und den unrechtmäßig erhobenen Betrag zurückbuchen lassen; anschließend sollten Sie ständig Ihre DFÜ-Verbindungen überprüfen eine Kopie des Dialer-Programms zum Beweis anfertigen einen „Screenshot“ von der Webseite anfertigen einen Einzelverbindungsnachweis vom Telefonbetreiber für den fraglichen Zeitraum anfordern. Weitere Informationen unter: „www.dialerhilfe.de“ LINK963 empfiehlt den „0190 Warner“, der kostenlos aus dem Internet geladen werden kann: www.wt-rate.com Die Telekom selbst bietet gegen Entrichtung einer einmaligen „Schutzgebühr“ die Sperrung der 0190er Nummern an. Der Eindruck einer chronifizierten doppelbödigen Geschäftspraxis kann leicht entstehen. Die Rolle des Internet-Explorers (5.5) von Microsoft Als gefährlichster Knopf im neuen Internet-Explorer gilt der mit der Aufschrift „Zurück“.964 Manipulierte, schädliche Java-Scripts können so unbemerkt auf den eigenen Computer geladen werden, um beliebige Programme auszuführen. Auch persönliche Daten können auf diese Weise ausspioniert werden. Das Löschen von Dateien kann ebenfalls auf diese Art erfolgen. Wenn beim Surfen eine Adresse nicht gefunden wird, erscheint eine Fehlermeldung, die Windows aus dem Systemordner lädt. Der Browser soll dabei dann in die Sicherheitsstufe schalten, di nur für absolut vertrauenswürdige Inhalte gilt. Darunter fallen auch die Inhalte der eigenen Festplatte. Java-Scripts, die beim normalen 963 LINK ist Experte bei der Zeitschrift „Computerbild“. SZ, 94, 2002, V2 /19; eine Behauptung des Internet-Portals Security Focus Online. 964 500 Surfen gestoppt werden, können so ohne weitere Nachfrage aktiv werden. Entsprechende Sicherheitsvorkehrungen können durch Deaktivierung von „Active-X“ getroffen werden. (Befehle: Extras, InternetOptionen, Sicherheit, Stufe anpassen, alle Einträge auf „deaktivieren“ setzen.) Wird die Verbindung mit dem Internet aufgenommen, so werden meist automatisch die neuesten Versionen auf den Computer geladen. Die vorher getroffenen Sicherheitsmaßnahmen werden somit ungültig. Die Konzernzentrale von Microsoft bestreitet ein Sicherheitsproblem dieser Art.965 Für Nutzer mit standard best practises (Risiken vermeiden) bestehe keine Bedrohung. Anders ausgedrückt: Der Benutzer des InternetExplorers ist selber schuld, wenn er auf „zurück“ drückt. Der beste Schutz besteht darin, einen ausgedienten Computer ausschließlich für die Nutzung des Internets einzurichten, auf dem keinerlei wichtige und persönliche Informationen gespeichert sind. Auch ein anderes Betriebssystem wie LINUX bietet möglicherweise mehr Sicherheit. Um die Vorgänge besser einzusehen und zu kontrollieren, empfiehlt es sich, nach jeder Nutzung des Internets die Dateien zu suchen, die an diesem Tag neu erstellt wurden. Der genaue Beobachter entwickelt dabei schnell einen Blick für ungewöhnliche Vorgänge und Ordner, die in das System „eingeschmuggelt“ wurden. Gefälschte Medikamente Nach Schätzungen der WHO sind 10% aller Arzneien, die im Netz angeboten werden, gefälscht. FRIESE: „Im Internet wird Arzneimittelsicherheit mit Füßen getreten.“966 Arzneien, die in Deutschland nicht zugelassen sind, können problemlos aus dem Ausland im Internet bestellt werden. Die Gefahren seien weit größer als der Nutzen. 965 Veröffentlichung im US-Magazin Wired MM, 137, 2000, S. 1; FRIESE ist Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. 966 501 Unaufgeforderte, unfaire und aggressive Werbung im Internet Im Jahr 1999 wurden allein in Deutschland für rund 150 Millionen Mark Anzeigen geschaltet. Damit sich dieser Markt weiter etablieren kann, müssen neue Analyseverfahren über die Surfgewohnheiten entwickelt werden. Nach BERNOFF kann es sich kein bedeutendes Unternehmen mehr leisten, die Online-Welt zu vernachlässigen. 967 Die Befragung und das Aushorchen von Kindern bezüglich der Kaufgewohnheiten der Eltern ist Wirklichkeit geworden. Firmen wie Levis und Lego ködern die Kinder mit Werbegeschenken. SHEA weist darauf hin, dass Kinder TV-Werbung nebenbei wahrnehmen, während sie dagegen am Computer 100% konzentriert sind. Im Internet ist Werbung nach BRODY keine Unterbrechung des Programms, sondern das Programm selbst. Das Zauberwort aller Werbung im Internet heißt „Microtargeting“. Damit ist der direkte Dialog zwischen Werbern und Umworbenen gemeint. Kinder sind häufig begeistert von interaktiven Werbebotschaften, sind jedoch unfähig zwischen Programm und Promotion zu unterscheiden. CME-Kinderanwälte warfen im Sommer 1997 den Unternehmen Disney und Warner, McDonalds und Pepsi „besonders unfaire Werbemethoden“ vor Bei der Untersuchung von 212 auf Kinder zugeschnittenen WebSites amerikanischer Firmen wurde festgestellt, dass in 89% persönliche Daten von Kindern abgefragt wurden. Der ferngesteuerte Konsument Wir leben in einem Zeitalter einer bisher noch nie dagewesenen Medienmacht. Dies wird durch die Fusion von AOL und Time Warner mit einem neuen Börsenwert von 665 Milliarden DM deutlich. Der größte Internet-Provider der Welt, AOL mit seinen ca. 20 Millionen Kunden, ist über diese Verbindung in der Lage, seine Kunden direkt zu den Unterhaltungsangeboten von Time Warner zu führen. Andererseits erhält AOL durch diese Aktion zudem noch die Möglichkeit des Zugangs zu einigen der bedeutendsten Anbietern von Informationen. Dies sind der Nachrichtenkanal CNN und die bekannte Zeitschrift Time Magazin. Viele prominente Künstler stehen 967 SZ, 239, 1998, VII; BERNOFF ist Analyst beim Medienforscher Forrester Research; SHEA ist Kreativdirektor der New-Yorker Agentur Saatchi&Saatchi; BRODY ist Kinderpsychologe. 502 bei diesem Unternehmen unter Vertrag. Es ist zu erwarten, daß ein vielfältiges Angebot und die Möglichkeit, frei aus verschiedenen Angeboten auszuwählen durch solche Aktionen immer mehr eingeschränkt werden. Viren: Der Wurm mit dem Namen „Pokey“ 968 kommt in einer e-mail in den Computer. Wird er einmal aktiviert, löscht er alle Windows-Systemdateien. Die E-Mail mit dem Betreff „Pikachu Pokemon“ und der Nachricht: „Pikachu is your friend“ und dessen Bild als Anhang aktiviert den Schädling. Sicherheitslücken in E-Mail-Programmen969 Nutzer von Outlook und Outlook-Express (4.0,4.01,5.0 und 5.01 sowie Outlook 97, 98 und 2000 von Microsoft) sind durch einen Programmierfehler in der Betriebssystem-Familie Windows gefährdet. Dieser Fehler ermöglicht den hackern die entwicklung völlig neuartiger Viren. Dieser neue Virus muss nicht erst heruntergeladen und geöffnet werden wie die bisherigen Viren im Anhang an eine EMail, bevor er den Computer übernimmt. Bereits die Öffnung eines elektronischen Postfaches reicht dazu aus, dass unbemerkt die Kontrolle über den Computer des Nutzers übernommen wird. Der Virus könnte alle Dateien auf der Festplatte löschen. E-Mail als Stressfaktor970 E-Mail ist nach Ergebnissen einer australischen Studie zum schlimmsten Stressfaktor im Berufsleben geworden. E-Mail löst noch mehr Ärger aus als Produktivitätstests, die Einführung neuer Technik oder als Besprechungen. Ein Drittel der Befragten erklärte, dass sie schon einmal bereut hätten, eine e-Mail abgeschickt zu haben. 50% gaben an, dass die Empfänger ihre elektronische Post missverstanden hätten. Die Mehrheit der Angestellten misstraut den 968 MM, 198, 2000, S. 1 SZ, 165, 2000, S. 12 970 MM, 163, 2000, S. 1 969 503 Informationen auf dem Bildschirm und druckt vorsichtshalber jede Nachricht aus. Es ist praktisch möglich, über eine E-Mail Programme auf fremde Rechner einzuschmuggeln. Auf diese Weise können persönliche Zugangsdaten, die auf der Festplatte gespeichert sind ausspioniert und unbefugt weitergegeben werden. Einem Geschäftsmann aus Straubing entstand auf diese Weise ein Schaden in Höhe von 21 000 DM. Seine persönlichen Codes wurden durch 85 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet benutzt. Fremde gingen 8000 stunden auf seine Kosten „online“.971 Als Schutz vor einem solchen Angriff empfiehlt die Telekom: Installation eines Antivirenprogramms auf dem eigenen Computer Die Sicherheitseinstellungen auf „Maximum“ einstellen Das Passwort (Zugangscode) nicht auf der Festplatte speichern DOMAGALLA : „Der Kunde ist für die Sicherheit seiner Zugangsdaten verantwortlich.“ HELLMICH empfiehlt in einem Schadensfall den Geschädigten, die geforderte Summe nicht zu bezahlen, sondern nur die Internetkosten in sonst üblicher Höhe, da es Sache des Providers sei, der Sache nachzugehen, zumal diese oftmals nicht darauf hinweisen, dass Kunden im Schadensfall zu 100% haften, wenn sie das Passwort speichern. Das Internet als Schummelhilfe – und echtes Diskussionsforum BOECKMANN : „Nicht derjenige, der sich Wissen eingetrichtert hat, gilt als schlau. Clever ist, wer sich Wissen just in time verschaffen kann.“ Er kritisiert, dass Schule immer noch „Wissen auf Vorrat“ in den Schülerhirnen ansammle.972 Einige Adressen für geplagte Schüler: 971 www.biologie4u.de, ein deutschsprachiges Biologie-Forum; Hausaufgabenseite www.hausaufgaben.de, ruft Lehrer Studenten und Schüler dazu auf, Gratis-Beistand zu leisten MM, 178, 2000, S. 1; DOMAGALLA ist Sprecher der Deutschen Telekom; Ruth HELLMICH ist Juristin bei der Verbraucherzentrale Bayern. 972 SZ, 170, 2000, S. 14; BOECKMANN ist Didaktik-Professor in Klagenfurt. 504 www.fundus.org, hier liegen zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt 4517 Referate zum Kopieren bereit www.referate.net, hier sind sämtliche Adressen sauber aufgelistet- mit genauen Inhaltsangaben www.cheatweb.de, Schüler verraten 59 verschiedene Schummeltricks und 173 ausreden bei unerledigten Hausaufgaben Speicherung illegaler Daten auf dem heimischen PC Computerspiele, Bilder,Texte, Software, Musik oder Videos werden von vielen Privatpersonen (vier von fünf) illegal auf dem heimischen Computer genutzt, obwohl dafür Zahlungen geleistet werden müssten.973 Etwa ein Drittel des Speicherplatzes von Festplatten sind mit Daten belegt, die nicht rechtmäßig erworben wurden. 973 SZ,162,2001,V2/10; eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK); Erhebung der Daten in 2000 Haushalten 505 Die elektrifizierte Gesellschaft Wir sind inzwischen an jedem Ort der Erde Frequenzbereichen unterschiedlichster Bandbreite ausgesetzt. Dabei handelt es sich um sehr langsame Frequenzen, aber auch um Submikrometer-Wellen, die mit elektromagnetischen Feldern verbunden sind. Drahtlose Kommunikationssysteme, Funkgeräte, Mikrosender in Autoschlüsseln, aber auch leistungsstarke Sendeanlagen im Gigawatt-Bereich sind Strahlungsquellen. Für die U-Boot-Kommunikation werden Längstwellen eingesetzt, Mikrometerwellen werden bei technischen und militärischen Einrichtungen nachgewiesen. Zudem kreisen etwa 2000 Satelliten um die Erde. Auch sie erzeugen ein breites Spektrum von Strahlungen, welches von einigen Kilo-Hertz bis hin zur Röntgenstrahlung reicht. Die dabei erzeugten elektromagnetischen Felder beeinflussen nachweislich alle biologischen Organismen. Elektrosmog ist sinnlich nicht wahrnehmbar; dennoch spüren manche Menschen seine Wirkung. JOSSNER974 weist darauf hin, dass auch die Anwendung der verschiedenen, von der Industrie und im Haushalt benötigten Ströme „ein nicht mehr nachvollziehbar komplexes Gemisch von elektrischen, elektromagnetischen und weiteren energetischen Feldern“ erzeugt. Die Wissenschaft verliert immer mehr den Überblick über die wechselseitigen Wirkungen. In der Realität werden bedenkliche Wirkungen durch das synergetische Zusammenspiel der einzelnen Felder hervorgerufen. Die 50-Hertz-Felder des Netzstromes, die 16,66-Hertz-EisenbahnStromversorgung, das Gemisch aus Gleichstrom und die Mikrowellen von Handys tragen zu einer Häufung von Fehlgeburten, Schlag974 Co-med, 7 und 8, 1999, S. 18 f.; JOSSNER studierte Nachrichtentechnik, Elektronik und Biophysik; VARGA führte die Studie an der Universität Heidelberg durch; ULMER beschäftigt sich seit 45 Jahren mit Ernährung, Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie Ökologie. KLITZING ist Medizinphysiker an der Universität Lübeck; BLACKMORE ist Physiologe an der Universität Oxford. 506 anfällen und Krebs bei. Die 16,66-Hertz-Frequenz ist identisch mit der Beta-Frequenz in unserem Gehirn, die auch als „StressFrequenz“ bezeichnet wird. Alle lebenden Organismen sind aus Atomen und Molekülen zusammengesetzt, die den physikalischen und chemischen Naturgesetzen unterliegen; all diese Atome und Moleküle finden wir auch in der unbelebten Welt. Biologische Moleküle, einschließlich der Zellen, besitzen eine elektrokinetische Kraft, mit deren Hilfe sie Wirkungen auf ihre Umgebung ausüben und mit der sie in einer Wechselbeziehung stehen. Die Kommunikation der Zellen untereinander erfolgt durch chemische Reaktionen, die sich als energetische Wechselwirkungen der elektrischen Ladungen der Atome erklären lassen. Durch den Fluss von winzig geringen Mengen von Strom auf den Nervenbahnen erfolgt die Kommunikation der Zellen im Körper. JOSSNER weist darauf hin, dass die DIN-Normen einer technischen und nicht einer biologischen Schutzvorschrift entsprechen. VARGA belegte in einer wissenschaftlichen Studie, dass bei einer Bestrahlung von Hühnereiern mit „handyüblichen“ Hochfrequenzen (1,5mW/cm2) von 180 Küken nur noch drei geschlüpft sind und nach sechs Wochen keines mehr gelebt hat. In der unbestrahlten Kontrollgruppe schlüpften 159 Küken. Nach sechs Wochen lebten noch 156 der Tiere. Digital getaktete Mikrowellen beeinflussen auch die Produktion von der extrem wichtigen Antikrebshormone Endorphin und Melatonin in der Zirbeldrüse (Epiphyse). Diese Drüse bildet das geometrische Zentrum des Kopfes. Bei der geringsten elektromagnetischen Belastung wird die Produktion eingestellt und somit die körpereigene Krebsabwehr verhindert. Melatonin ist ein Neurohormon mit psychoaktiven Substanzen. Ihm wird ebenso ein synchronisierender Effekt auf die innere Uhr wie eine Schlüsselposition bei der Regulierung des Immunsystems zugeschrieben. So ist es auch mitverantwortlich für die Bildung von Antikörpern und die Regulation des Kalziumhaushaltes. Melatonin ist zudem eines der stärksten Antioxiantien, das jemals entdeckt wurde. Es verhindert allzu aggressive Reaktionen des Immunsystems und schützt somit vor Allergien. Auch der Schutz der Nervenzellen im Gehirn wird ebenso durch Melatonin mit gewährleistet wie auch die 507 Regulation der Östrogenwerte. Wird die Produktion und Ausschüttung von Melatonin verhindert (z. B. durch Strahleneinflüsse), so wird im Gegenzug die Ausschüttung des Stresshormons Serotonin verstärkt. Besonders gepulste Mikrowellen verändern nachweislich die Gehirnaktivität. KLITZING dazu: „Es könnte sein, dass das interzellulare Kommunikationssystem gestört wird. Das Gehirn reagiert auf diesen Reiz erst nach wenigen Minuten. Die Peaks bleiben erstaunlich lange nachweisbar, einige Stunden bis wenige Tage, auch wenn die Strahlenquelle, in diesem Fall das D- oder E- Netz- Handy, längst ausgeschaltet ist.“ BLACKMORE weist darauf hin, dass Dauerbenutzer mobiler Telefone Gefahr laufen, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsmängel, Müdigkeit oder andere kognitive Mängel zu erleiden. SEMM, wies in einer Studie 1995 nach, dass 60% der Nervenzellen bei einer Bestrahlung mit gepulster Hochfrequenz (D-Netz 900 MHz) falsch reagieren. Die Studie wurde wegen der kritischen Ergebnisse vom Auftraggeber nicht veröffentlicht. Mobilfunkwellen sind elektromagnetische Wellen. Sie werden von einem Sender (Antenne) abgestrahlt und breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Von einer zweiten Antenne werden diese Strahlen aufgefangen. Die zwischen den Antennen entstehenden Schwingungen bewegen sich im Bereich zwischen 900 Millionen und 1,8 Milliarden Hertz. Die Gesprächsinformationen werden bei einem Anruf im Handy komprimiert. In einem Zeitschlitz von 0,57 Millisekunden werden dann diese Informationen an die Basisstation übermittelt. Eine Pause von sieben Zeitschlitzen überbrückt den Abstand zur nächsten Information. Dadurch entsteht ein gepulstes Signal, welches in einer Sekunde 217mal ein- und ausgeschaltet wird. Sendestationen arbeiten mit einer Pulsung zwischen 217- und 1736mal pro Sekunde. Die gepulsten Hochfrequenzen durchdringen im Bereich des Mobilfunks auch sehr dicke Betonwände und können nicht abgeschirmt werden. Eine Schädigung oder gar Zerstörung der GehirnBlut-Schranke (eine Zellschutzschicht des Gehirns) durch die entstehende elektromagnetische Strahlung schließen kritische Wissenschaftler nicht aus. Das Eindringen von Giftstoffen in das Gehirn könnte so erleichtert werden. Auch bei Impfungen (Injektionsmaßnahmen) wird dieser Effekt von Kritikern vermutet. 508 SALFORD: „Unsere Forschungen zeigen, dass die Strahlung von mobilen Telefonen die Blut-Hirn-Schranke öffnet und es so vielen Giften leichter macht, in das Gehirn zu gelangen. Sezierte Rattenhirne weisen als Folge der Mobilfunkstrahlung gut sichtbare Spuren auf. Die Hirne sind übersät mit dunklen Flecken und deutlich geschädigt. Es tritt Flüssigkeit aus, verursacht eben durch diese elektromagnetische Strahlung." 975 ADEY: „Niederfrequent gepulste Hochfrequenzstrahlung greift tief in biologische Prozesse ein. Sie schädigt das Immunsystem.“ Die Blut-Hirn-Schranke versagt nach neueren Erkenntnissen schon bei Strahlungen, die 20 000fach unter denen eines Handys liegen. (Heimtelefone nach DECT-Standard und Mobilfunkbasisstationen, auch wenn nicht telefoniert wird) Eine neue britische Studie warnt vor der uneingeschränkten Nutzung von Mobiltelefonen durch Kinder und Jugendliche, da „gewisse Schädigungen“ nicht ausgeschlossen werden können.976 Handystrahlung gilt bei Kritikern deshalb als besonders gefährlich, weil sie im gleichen Frequenzbereich gepulst ist, in dem auch unsere Zellen kommunizieren. Gehirn und Nerven könnten durch diese Strahlung aus dem Takt gebracht werden. Handys des D-Netzes (Telekom und Vodafone) strahlen doppelt so stark wie die des ENetzes (E plus, Interkom). Auch viele schnurlose Festnetztelefone senden ähnliche Wellen aus. Bisher sind etwa 20 000 Studien, Forschungsberichte und Fachartikel über biologische Effekte elektromagnetischer Felder erschienen, die aber keinen gesicherten wissenschaftlichen Nachweis erbringen.977 Fadenwürmer wurden von britischen Wissenschaftlern mit Mikrowellen einer Frequenz von 750 Megahertz bestrahlt. Die Tiere produzierten im Gegensatz zu nicht bestrahlten Würmern so genannte Hitzeschock-Proteine. Gerät ein lebendiger Organismus durch äuße975 Risiko Mobilfunk, Informationsbroschüre der Bürgerwelle e.V.; Tel: 0 96 31/79 57 36 Fax: 79 57 34; SALFORD ist Professor für Neurochirgurgie an der schwedischen Universität Lund; SEMM forschte jahrelang für die Deutsche Telekom; ADEY ist Professor an der Loma-Linda-Universität in Kalifornien. 976 MM, 109, 2000, S. 1; eine von der britischen Regierung in Auftrag gegebene und von der BBC veröffentlichte Studie 977 MM, 280, 2001, S. 47, München 509 re Einflüsse in Bedrängnis, bilden sich diese Eiweiße. Wegen der gleichen Körpertemperatur von bestrahlten und unbestrahlten Würmern muss angenommen werden, dass die Strahlen selbst Ursache für dieses Phänomen sind. Bei Hitze hindern die entsprechenden Proteine andere Eiweiße daran, auszuflocken. Aufgrund der Beobachtungen wird vermutet, dass die Wellen möglicherweise direkt Signalwege beeinflussen, die für die Produktion von Hitzeschockproteinen zuständig sind.978 RAITHEL zu den möglichen Langzeitfolgen elektromagnetischer Felder, die auf den menschlichen Organismus einwirken: „Es gibt inzwischen Studien, die konkret auf die Folgen des Mobilfunks hindeuten. Ein definitiver Nachweis, dass die elektromagnetischen Felder beim Menschen Krankheiten verursachen, steht aber noch aus . . . Es verdichten sich aber auf unangenehme Art und Weise die Verdachtsmomente . . . “979 Thermische Auswirkungen: Erhitzung des Körpergewebes Athermische Auswirkungen: Sie sind durch Studien belegt und beeinflussen in erster Linie das Immunsystem und/oder das Nervensystem. Orientierungsprobleme (im Tierversuch beobachtet; die Tiere fanden ihren Futterplatz nicht mehr) Veränderungen im Bereich des Hormonhaushalts beim Menschen Veränderungen der Hirnströme Abweichende Funktionen der Blut-Hirn-Schranke Schlafstörungen Kopfschmerzen Konzentrationsverlust. KÖNIG: „Eltern sollten ihre Kinder möglichst von dieser Technologie fern halten“, obwohl es „derzeit keine wissenschaftlichen Bewei- 978 Nature, Bd. 405, 2000, S. 417, und in SZ 118, 2000,V2 /12 SZ, 176, 2001, S. 49, Bayern; RAITHEL ist Diplomingenieur am Umweltinstitut in München. 979 510 se dafür gebe , dass mobiles Telefonieren Gesundheitsgefahren in sich birgt.“980 Bekannt seien jedoch thermische und biologische Effekte, ( „veränderte Hirnströme“) die Vorsorge angeraten erscheinen ließen. Es wird zudem „dringend“ empfohlen, im Fahrzeug „ganz auf das Telefonieren“ zu verzichten. Klagen gegen ordnungsgemäß betriebene Mobilfunkanlagen sind derzeit chancenlos. Das folgt aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Bewertung der Gesundheitsgefahren von elektromagnetischen Strahlen (Aktenzeichen: 1 BvR 1676/01).981 Eine in München vorgestellte Studie982 (es wurden zahlreiche Forschungen ausgewertet, um den aktuellen Stand der Wissenschaft zu ermitteln) belegt nach SILNY, dass die jüngste Forschung davon ausgeht, dass eine Beziehung zwischen Mobilfunkwellen und Krebserkrankungen unwahrscheinlich sei. SILNY: „Zu beweisen, dass es keine gesundheitlichen Auswirkungen gibt, ist unmöglich. Dazu bräuchte man unendlich viele Untersuchungen.“ Ein Mobilfunkgegner antwortet in einem Lesebrief von SCHÄFER:983 „ . . . Was sind das für Studien, die da herangezogen wurden? Hat man sich die Mühe gemacht, auch nur einen Teil der ca. 20 000 wissenschaftlichen Publikationen der letzten 20 Jahre anzuschauen, die die Schäden, z. B. an Nerven- und Gehirnzellen (unter anderem!), durch gepulste elektromagnetische Strahlung beweisen, von bedeutenden Forschungsinstitutionen in der ganzen Welt (z. B. auch der Universitäten von Gießen, Lübeck, Zürich)? veröffentlicht . . . Und was ist mit den 2% der elektrosensiblen Personen unter uns (mit steigender Tendenz aufgrund der Dauerbestrahlung!)?“ 980 MM, 174, 2001, S. 1; KÖNIG ist Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz. 981 SZ, 70, 2002, S. 5 982 MM, 86, 2002, Oberbayern; SILNY stellte diese Studie des Verbands der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) vor. 983 MM, 89, 2002, Leserbriefe; SCHÄFER ist Biometeorologe aus Bad Tölz. 511 Versuche im Schlaflabor zeigen, dass die Traumphasen des Schlafes kürzer sind, sobald der Mensch hochfrequenten Strahlungen ausgesetzt ist. Dies ist aus dem Grund bedenklich, weil das Gedächtnis in diesen Zeiträumen Erinnerungen fixiert. Vor allem der Schlafplatz gilt bei jedem zweiten Bundesbürger durch Strahlungen, die von Radioweckern, Verlängerungskabeln unter dem Bett, von Nachttischlampen oder Mobiltelefonen ausgehen, als bedenklich belastet. Die zulässigen Strahlungswerte für Computerarbeitsplätze liegen bei 0,2 Mikrotesla. An den Schlafplätzen wurden bis zu 50 Mikrotesla gemessen.984 Wie unsere Augen, ist die Zirbeldrüse lichtempfindlich. Wellen und Photonen werden aufgesaugt und in Bioenergie umgewandelt. Diese Drüse steuert die Aktivitätsvorgänge des Körpers am Tage und ist für die Regenerationsvorgänge während des Schlafes verantwortlich. In die Hirnrinde eingelagert sind Magnetkristalle. Sie bestehen aus dem Eisenerz Magnetit und sind durch ein feines Netz mit der Epiphyse verbunden. In der schützenden Gehirnmembran sind 100 Millionen von ihnen pro Gramm enthalten. Sie regulieren nach ULMER offensichtlich auch den Transport von Substanzen durch die Zellmembranen. Durch Blutbildanalysen werden diese Erkenntnisse bestätigt. Weitere, beobachtete Auswirkungen: Verlängerung der Reaktionszeit Störung des Kurzzeitgedächtnisses Klingeln in den Ohren Klicken in den Zahnprothesen Entstehung von Spannungen am Brillenbügel (bis zu 600 Volt). Das menschliche Gehirn arbeitet ständig, es kennt keine Atempausen. Die elektrischen Spannungen in den Nervenbahnen bewegen sich zwischen 1 und 250 Mikrovolt. Wirken wesentlich höhere Spannungen von außen auf den menschlichen Körper ein, so können 984 www.das–gesunde–haus.de 512 nach ULMER Störungen, Irritationen, Entgleisungen und Schädigungen nicht ausgeschlossen werden. Ernstzunehmende Befunde aus Untersuchungen zur Mobilfunkstrahlung:985 die krebsfördernde Wirkung hochfrequenter, elektromagnetischer Felder direkte gentoxische Wirkung der Felder: DNS-Brüche und Schäden an den Chromosomen Beeinflussung der Zelltransformation, der Zellvermehrung und der Zellkommunikation Störungen der Proteinsynthese und der Enzymsteuerung Beeinflussungen des ZNS (neurochemische Effekte, Veränderungen der Hirnpotentiale und Beeinträchtigungen bestimmter Hirnfunktionen) Defizite im Lernvermögen (Tierexperimente) Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Fremd- und Schadstoffe Hinweise auf eine Beeinflussung des Hormon- und des Immunsystems. NEITZKE: „ Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen standen Wirkungen der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks auf Mensch und Tier, die bei so geringen Intensitäten auftreten, dass ein thermischer Effekt ausgeschlossen werden kann . . . Um den Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks zu verbessern, brauchen wir in Deutschland deutlich niedrigere Vorsorgegrenzen, wie sie bereits in einigen Nachbarländern gelten. Die Erfahrungen dort zeigen, dass die Nutzung der Mobilfunktechnologie und ein vorsorgender Gesundheitsschutz vereinbar sind.“986 985 Studie des Ecolog-Institus in Hannover; www.Ecolog-institut-institut.de 986 Report Naturheilkunde, 7 bis 8, 2001, S. 36 ; NEITZKE ist Koordinator der Arbeitsgruppe. 513 KLITZING: „Gepulste Strahlung verändert die Gehirnströme, Erbgutänderungen treten auf.“987 SEMM: „Bei Bestrahlung mit gepulster Hochfrequenz reagieren 60 % der Nervenzellen falsch. Tiefschlaf wird verhindert, das Immunsystem wird geschwächt.“ Das ECOLOG-Institut in Hannover hat für die Telekom-Tochter TMobil die Arbeiten anderer Forscher auf ihre Seriosität überprüft. Die Studie zeigt, dass schon heute umfangreiche Ergebnisse vorliegen: „Es gibt Hinweise, dass diese Felder ein erhöhtes Krebsrisiko bedeuten . . . Beeinflussungen von Gehirnfunktionen . . . Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit . . . Einflüsse auf den Schlaf.“ Obwohl die Gefahr der durch den Mobilfunk verursachten Strahlung bekannt ist, werden die Funk-Netze rasch weiter ausgebaut. Da viele Verantwortliche mit diesem Wissen von der Industrie und den Telefongesellschaften abhängig sind und zudem immer mehr Menschen ohne zwingenden Grund, sondern aus Prestigegründen Mobiltelefone nutzen, erscheint es unwahrscheinlich, dieser Entwicklung Einhalt gebieten zu können. Zur Situation in England Wegen der möglichen Gefahr (ein Zusammenhang zwischen der Entstehung von Gehirntumoren durch die Freisetzung von Radarwellen beim Telefonieren mit einem Handy wird seit langem von manchen Forschern vermutet, aber bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen) werden in England künftig Handys nur noch mit einem Merkblatt verkauft, das auf mögliche Gefährdungen hinweist.988 Die Regierung rät: Handytelefonate kurz zu halten Kinder nur im Notfall mit dem Handy telefonieren zu lassen. 987 MM, 275, 2001, S. 37 (Leserbriefe) KLITZING ist Medizinphysiker an der Universität Lübeck; SEMM arbeitet an der Universität Frankfurt; seine Studie wurde von der deutschen Telekom nicht veröffentlicht. 988 SZ, 299, 2000, S. 23 514 In Großbritannien besitzen bereits 70% der Teenager ein eigenes Mobiltelefon. Seit dem Sommer 2000 müssen die Schulen ihre Schüler über die Gesundheitsgefahren im Zusammenhang mit Mobilfunkstrahlen aufklären. Erhöhte Strahlung durch Freisprech-Einrichtungen? Messungen989 haben ergeben, dass durch den mit dem Handy verbundenen Ohrlautsprecher dreimal mehr Strahlung das Gehirn erreicht als beim herkömmlichen Telefonieren mit Handys. Offensichtlich tritt die Erhöhung der Strahlung durch die direkte Verbindung des Kabels mit dem Kopf auf. Ein deutsches und ein australisches Verbrauchermagazin veröffentlichten einen ähnlichen Test, kamen aber zu anderen Ergebnissen: Ökotest: Die Strahlung am Ohrstecker beträgt noch etwa 10% des Wertes an der Antenne. Choice: Die Strahlung am Ohrstecker werde auf 8% reduziert. MAEF: „Die drei Untersuchungen bestätigen sich geradezu in erfreulicher Weise.“ 10% der Strahlung im Ohr sind ebenso gefährlich wie die ganze Strahlung in einiger Entfernung vom Kopf. PETROWICZ weist darauf hin, dass die Wirkung von Strahlen auf den menschlichen Körper nicht nur von der Strahlungsdichte abhängt. Bestimmte Wellenlängen bewirken seiner Ansicht nach, dass der Mensch zum elektromagnetischen Resonanzkörper wird. CARLO will Beweise gefunden haben, die zeigen, dass Strahlung von Handys sowohl Gen-Schäden als auch Hirntumore hervorrufen kann. „Meine Daten bringen zum Ausdruck, dass es unverantwortlich wäre, Handys für absolut sicher zu erklären.“ 989 Studie des englischen Verbrauchermagazins Which in SZ, 187, 2000, V2 /10; Ökotest/Choice; MAEF ist selbstständiger Sachverständiger; PETROWICZ ist Strahlenexperte an der TU München; CARLO ist US-Pathologe und Sicherheitsexperte und ehemaliger Vorsitzender von Wireless Technology Research in Washington; in der Online-Ausgabe von Medscape werden mehr als 50 zum Teil unveröffentlichte Arbeiten präsentiert. 515 Die Analyse der Telefoniergewohnheiten von Patienten mit Gehirntumoren in fünf amerikanischen Krankenhäusern ergab einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Mobiltelefons und dem Auftreten des Tumors. Kritiker dieser Studien wiederum behaupten, CARLO habe aus einer großen Anzahl widersprüchlicher Ergebnisse die negativen besonders herausgestrichen. In einer Mitteilung einer Mobilfunk-Telefongesellschaft ist Folgendes zu lesen: „Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält Sicherheitsrichtlinien für Mobilfunktelefone vorerst nicht für notwendig. Es gebe noch keinen Hinweis darauf, dass die Benutzung von Handys gesundheitliche Risiken berge, teilte die WHO laut Nachrichtenagentur ap mit. Die Frage, ob die Strahlung, die beim Telefonieren vom Handy ausgeht, krebsfördernd sei, könne erst in drei bis vier Jahren beantwortet werden.“990 Nach SCHLAEFER991 ist noch unklar, wie gefährlich die Strahlung sei. Es besteht seiner Ansicht nach jedoch die Möglichkeit, dass sich die bereits bestehenden Hirntumore durch diese Wellen schneller entwickeln. Besonders das Gewebe junger Menschen sei besonders gefährdet, da es sich noch stark verändere. Der derzeitige wissenschaftliche Stand gehe jedoch nicht davon aus, dass die elektromagnetischen Felder Krebs auslösen können. Die Bundesärztekammer fordert ungeachtet der Meinung der WHO eine Senkung der Grenzwerte für Strahlung von Mobilfunkmasten. ECKEL: „Es gibt gewichtige Hinweise aus Tierversuchen, dass die Strahlen auch weit unterhalb der Grenzwerte schädigen.“992 40 Studien gäben inzwischen Hinweise darauf, dass Mobilfunkstrahlung auch weit unterhalb der bestehenden Grenzwerte wirke. Die Anzeichen reichten von Hirnschäden bei Tieren und Erbgutveränderungen in menschlichen Zellen bis zu Krebs bei Mäusen. Die derzei990 Cellway News, August 2000 MM, 207, 2000, S. 10; Klaus SCHLAEFER ist Krebs-Experte und arbeitet am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. 992 MM, 193, 2000, S. 2; ECKEL ist Professor und Vorsitzender des Ausschusses Gesundheit und Umwelt der Ärztekammer. 991 516 tigen Grenzwerte berücksichtigen vor allem die Wärmeerzeugung im Körper. Die oben angeführten Beispiele und Meinungen zeigen erneut, dass Wissenschaft ein Prozess ist, der zu völlig gegensätzlichen Anschauungen führen und der normalerweise nicht nachvollzogen oder überprüft werden kann. Er führt dazu, dass Laien sich ihre wissenschaftlich fundierten „Glaubensmeinungen“ bilden. Nicht nur die Unterlassungen, Wissen zu sammeln, sondern auch die Art und Weise, das gesammelte Wissen auszuwerten, sind eine erschreckende Praxis, bezahlte und interessenorientierte Wissenschaft in vielen Disziplinen zu betreiben. Augenkrebs bei starkem Handy-Gebrauch993 Ein statistischer Zusammenhang zwischen Krebs und der Benutzung von Mobiltelefonen wurde zum ersten Mal durch STANG wissenschaftlich nachgewiesen. „Wir sehen unter denen, die beruflich täglich mehrere Stunden lang ein Mobiltelefon benutzen, ein dreifach höheres Risiko, an einem Augentumor zu erkranken.“ Untersucht wurden 118 Patienten mit Augenmelanomen, die extrem selten im inneren Auge auftreten. Im statistischen Durchschnitt entwickelt nur einer von 200 000 Menschen diese Tumorart. Verglichen mit einer Gruppe von 475 gesunden Patienten hatten die Erkrankten häufiger angegeben, Handys oder Funkgeräte am Arbeitsplatz zu benutzen. Forscher des Fraunhofer-Institutes machten darauf aufmerksam, dass es zurzeit nicht möglich sei, die Unschädlichkeit von Handy-Strahlen zu belegen. Dazu BRINKMANN: „Es gibt keine Gefährdung durch elektromagnetische Felder, wenn die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten werden.“ 994 Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die Epidemiologen bereits jetzt etwas bemerken, was erst in späterer Zeit durch Experimente bestätigt werden kann. 993 SZ, 12, 2001, S. 14; STANG ist Biostatistiker an der Universität Essen; diese Studie wurde auch in der Fachzeitschrift Epidemiology veröffentlicht. 994 SZ, 13, 2001, S. 14; BRINKMANN arbeitet an der TU Braunschweig. 517 Handys als Instrument zur Wirtschaftsspionage995 und zur lückenlosen Überwachung Handys können im ausgeschalteten Zustand als Mikrofon arbeiten. Ergebnisse aus Konferenzen können so live abgehört werden. Jedes Handy nimmt im eingeschalteten Zustand automatisch regelmäßig Kontakt zur nächstgelegenen Mobilfunk-Relaisstation auf. Zurzeit besitzen etwa 50 Millionen Deutsche ein Mobiltelefon.996 Das Bundeswirtschaftsministerium plant zurzeit die komplette Erfassung der technischen Kommunikation, die ein Handy im Netz führt. Da die modernen Mobilfunknetze wie ein Schachbrett in Funkzellen mit einem Durchmesser von einem bis zu 35 Kilometern eingeteilt sind, ist der Betreiber eines Mobilfunknetzes automatisch über den Aufenthaltsort des Kunden informiert. Diese Zellen mit entsprechenden Basisstationen sind notwendig, um Anrufe sofort weiterleiten zu können. Die Mobilfunkbetreiber sind auf Anweisung der Justiz verpflichtet, das Abhören von Gesprächen und Kurznachrichten als auch Zugriffe auf die jeweilige Mailbox zu ermöglichen. Der Handy-Boom markiert somit den Beginn eines gigantischen Volksüberwachungsprogrammes. Die Handy-Gesellschaft Abgesehen von der noch nicht endgültig geklärten Gesundheitsgefährdung durch von Handys und die für ihre Funktion notwendigen Sendeantennen ausgehende Strahlung sind die Handykosten und somit unbezahlte Telefonrechnungen nach RÜGER997 bei 15% aller Beratungsgespräche in Schuldnerberatungsstellen mitverantwortlich für die Verschuldungen. Vor allem junge Menschen haben erhebliche Probleme mit der Transparenz der Tarife. Handys aus (einer) pädagogischen Sicht JESSEN, der in einem vierjährigen Forschungsprogramm die Auswirkungen von Mobiltelefonen auf den Alltag von Kindern unter995 MM, 197, 2000, S. 3; nähere Informationen im aktuellen Magazin der IHK München-Oberbayern. 996 MM, 84, 2001, S. 3 997 MM, 23, 2000, S. 1 und 2; RÜGER arbeitet bei einer Schuldnerberatungsstelle in München. 518 sucht hat, vertritt die Meinung, dass Kinder ohne ein eigenes Handy als „Außenseiter“ sozial gefährdet seien. Ihnen drohe ein Ausschluss aus dem Freundeskreis. „Verantwortungsbewusste Eltern sollten eigentlich jedem ihrer Kinder ab zwölf Jahren ein Mobiltelefon geben, damit es unter Gleichaltrigen nicht isoliert wird.“998 Finanzielle Fakten zum Gebrauch von Handys Der oftmals unüberlegte Gebrauch von Handys wird für viele Menschen (ebenso wie Kreditkarten) zu einer Schuldenfalle. In Bayern gilt jeder siebte Haushalt als verschuldet. Ursache dafür sind nach Ansicht von HINTERLEUTHNER999 Schicksalsschläge in Familien Verlust des Arbeitsplatzes immer häufiger das unkontrollierte Geldausgeben mit Kreditkarten Unterschätzung der Kosten eines Mobiltelefons. Drei Viertel der zwölf- bis19-Jährigen in Deutschland besitzen ein Mobiltelefon. 1000 BERTHOLD: „Viele haben überhaupt kein Gefühl dafür, wie schnell sie per Telefon in Schulden geraten.“1001 Nach Angaben des Münchner Instituts für Jugendforschung sind 6% der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren verschuldet. Bis zum 20. Lebensjahr ist jeder Fünfte mit durchschnittlich 1500 DM verschuldet. Die Schulden deutscher Jugendlicher werden vom BDIU (Verband Deutscher Inkasso-Unternehmen) auf 10 Milliarden Mark beziffert. Die Zahlungsmoral sinkt, Ratenangebote verführen gleichzeitig zu 998 JESSEN arbeitet an der Pädagogischen Hochschule Kopenhagen. MM, 254, 2001, S. 1; Regina HINTERLEUTHNER ist Sprecherin der Schuldnerberatungsstelle in Bayern. 1000 SZ, 270, 2001, München, S. 47; Angabe des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 1001 SZ, 270, 2001, S. 12; BERTHOLD ist Referent für Schuldnerberatung beim Diakonischen Werk. 999 519 unüberlegten Käufen. Die Zahl von Firmenpleiten und damit die Zahlungsunfähigkeit vieler Menschen nimmt dramatisch zu. Magnetfelder Die von Strom durchflossenen Oberleitungen von Zügen erzeugen ein Magnetfeld, das fast ungehindert durch Beton, Holz, Kunststoffe, Erde, viele Metalle und den menschlichen Körper durchdringt. Der Effekt auf 21-Zoll-Computer-Bildschirme im Umfeld solcher Leitungen (200 m) ist vielfach belegt. Über die Wirkungen auf den menschlichen Organismus dagegen gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es ist heute möglich, elektromagnetische Wellen durch Gegenwellen eines zweiten, bewusst erzeugten Magnetfeldes auszulöschen, indem die Dynamik der vorhandenen Felder durch zeitlich koordinierte Messungen erfasst wird. Am Computer wird daraufhin ein dreidimensionales Modell entwickelt, das die Arbeitsweise einer „Kompensationsanlage“ festlegt.1002 Ein Steuergerät, Magnetfeldsensoren und Kabelschleifen in Boden und Decke erzeugen dann das Gegenfeld. Eine Spezialfirma in München ist nach eigenen Angaben in der Lage, mit Hilfe subtiler Elektronikregelung Magnetfelder bis zu einer Grundfrequenz von rund 10 Kilohertz zu eliminieren. Darunter fallen auch die 16⅔-Hertz-Felder der Bahn, als auch die 50-HertzFelder der Stromleitungen. In der Schweiz wurden die Grenzwerte seit 1999 deutlich verschärft, um die Menschen vor schädlicher oder lästiger nicht-ionisierender Strahlung zu schützen. Ein neues Gutachten zur Sendeanlage Oberlaindern im oberbayerischen Valley (Gemeinde Miesbach) Sie strahlt rund um die Uhr mit einer Leistung von bis zu 1 Million Watt. 1002 SZ, 255, 2001, V2 /13; München: Firma Wurzacher, Elektronische Systeme; Installation für ein Einfamilienhaus: ca. 20 000 DM, Schutz eines Monitors ca. 1500 DM 520 TREMML: „Mittlerweile finden Sie in dem kleinen Ort kein Haus mehr, in dem es nicht einen oder zwei Krebsfälle gibt. Das ist furchtbar.“1003 FRENTZEL-BEYME führte in diesem Gebiet eine erste epidemiologische Studie von Sendeanwohnern in Deutschland durch. PAUL: „Das Ergebnis hat unsere Erwartungen bei weitem übertroffen.“ Wirkungsvoller Schutz vor Strahlungen 1004 Wissenschaftler der Universität Kassel stellten fest, dass Grasdächer und Lehmwände fast vollständig die Strahlung von Mobilfunksendeanlagen abschirmen. Ein Lehmgewölbe mit Grasdach dämpfe die auftretende Strahlung um mehr als 99%, während ein herkömmliches Ziegeldach nur ca. 50% der elektromagnetischen Wellen abhalte. Nach Auskunft des Bundesamtes für Strahlenschutz gibt es derzeit keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber, dass es bei Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte zu Gesundheitsschäden kommt. 1003 SZ, 144, 2001, S. 49, Bayern; Bernd TREMML ist Fachanwalt für Strahlenbelastungen in München; FRENTZEL-BEYME ist Professor am Zentrum für Umweltforschung und -technolgie der Universität Bremen; PAUL ist Mitglied der Initiative Sender-Freies-Oberland. 1004 MM, 128, 2001, S. 1 521 Die medizingeschädigte Gesellschaft – Schäden durch medizinische Behandlung Etwa 100 000 Menschen werden nach ZIMMERMANN in Deutschland jährlich durch eine medizinische Behandlung geschädigt. Weitere 25 000 Patienten überleben eine solche Schädigung nicht. Durch eine „Verschwörung des Schweigens“ ist es für Patienten nur schwer möglich, vor Gericht Schadenersatzforderungen zu stellen und durchzusetzen. BARTZ: „Das wahre Ausmaß ärztlicher Kunstfehler ist längst noch nicht bekannt.“1005 Die wirkliche Zahl liegt ihrer Ansicht nach weit höher als die 100 000 Fälle pro Jahr, die von der Verbraucherzentrale angegeben werden. Nach einer seit dem Jahr 1894 geltenden Rechtsauffassung besitzen die Patienten ein Selbstbestimmungsrecht, da nur sie letzten Endes ihr wahres Interesse selbst verstehen können. Der Körper des Patienten darf in der Folge nicht willkürlich zum Objekt gutgemeinter Heilversuche gemacht werden. Aus der Sicht vieler Ärzte stellt sich diese Situation nach ZIMMERMANN als „irrsinnige“1006 Regelung dar, die korrigiert werden müsste. Sie argumentieren, dass 1005 eine vollkommene Aufklärung über alle Eventualitäten einer Behandlung nicht möglich sei korrekte Befunde erst möglich seien, wenn der menschliche Körper durch eine Operation Einblicke erlaube Vieles bei medizinischen Eingriffen und Behandlungen unvorhersehbar und schicksalhaft sei bei Operationen oftmals schnell Entscheidungen getroffen werden müssen, die vorher nicht absehbar waren ausführliche Aufklärung den Patienten schaden könne SZ, 150, 2001, V2 /11; Gisela BARTZ ist Vorsitzende der Notgemeinschaft Medizingeschädigter in Dormagen. 1006 SZ, 56, 1998, S. 2; ZIMMERMANN ist Präsident des Allgemeinen Patientenverbandes; DEUTSCH ist Professor für internationales und ausländisches Privatrecht an der Universität Göttingen. 522 Patienten häufig nicht über die genaue Diagnose informiert werden wollten bei Bekanntgabe der Risiken einer Operation diese oftmals gefährlich lange hinausgezögert werden. Zudem sind die Ärzte verpflichtet, auch auf die persönlichen Umstände von Patienten bei der Aufklärung Rücksicht zu nehmen. Durch juristische Formulierungen werden sie zweifellos immer wieder in die Enge getrieben. Seitenlange, an die Patienten verteilte Formulare sollen sie selbst durch die Unterschrift der Patienten schützen. ZIMMERMANN geht davon aus, dass Ärzte als Gutachter vor Gericht es eher vorzögen, Kollegen zu helfen, als sie einem möglichen Urteil auszuliefern. DEUTSCH: „Ärzte machen genauso viele Fehler wie andere Leute.“ Amputationen bei Zuckerkranken In Deutschland werden nach Aussagen von WETZ pro Jahr etwa 28 000 Amputationen bei Zuckerkranken vorgenommen. „Das sind viel mehr als in anderen europäischen Staaten wie Frankreich, den Niederlanden, Italien und den skandinavischen Ländern . . Es könnten 8000 bis 10 000 weniger sein.“ 1007 Bereits im Jahr 1989 wurde Deutschland durch die WHO aufgefordert, die Amputationsrate zu halbieren. Experten gehen davon aus, dass besonders bei schweren Diabetikern – hier führen primär Sensibilitätsstörungen zu Verletzungen, Infektionen und dem Absterben von Gewebe – durch podologische (fußpflegerische) und orthopädieschuhtechnische Maßnahmen die Fußamputationen um 50% reduziert werden könnten. Unnötige Brustamputationen Mehrere hundert Patientinnen unterzogen sich zwischen 1994 und 1997 in Essener Krankenhäusern Brustamputationen. Sie hatten sich auf die Diagnosen eines Pathologen verlassen, die dieser in seinem privaten Institut gestellt hatte, obwohl es in vielen Fällen vermutlich keine Anzeichen für Karzinome gab. Einer 37-jährigen Klägerin 1007 SZ, 261, 2001, V2 12; WETZ arbeitet an der Universität Münster. 523 wurden jetzt 250 000 Mark Schmerzensgeld zugesprochen. Das Urteil gilt als richtungsweisend. Inzwischen wurde von der verantwortlichen Versicherung eine Rücklage von 18 Millionen DM gebildet.1008 Arzneimittelwerbung – Hervorheben der Vorteile – Herunterspielen der Nachteile – ein Vergleich: „Super“-Aspirine Produkt Vioxx (Merck & Co, MSD Sharp & Dohme) Celebrex (Pharmacia) Naproxen Vorteile laut Werbung magenschonender magenschonender Nachteile Preis Laut Studie traten bei 2 von 100 Patienten innerhalb von 9 Monaten Magengeschwüre auf Negative Daten bewusst verschwiegen Bei 4 bis 5 von 100 Patienten traten Magengeschwüre innerhalb von 9 Monaten auf Bei 2 von 100 Patienten Schlaganfälle oder Herzinfarkte 10-fach gegenüber anderen Schmerzmitteln 10-fach gegenüber anderen Schmerzmitteln Die US-Arzneimittelbehörde FDA mahnte das Unternehmen ab, dass die Werbungen für Vioxx „falsch, unausgewogen oder irreführend“ seien. „Sie haben es unterlassen, deutlich zu machen, dass das nur eine Hypothese ist, die nicht durch ernsthafte Daten untermauert wird.“ 1009 Dennoch hatte HOLT einen Vertrag mit Merck & Co abgeschlossen, um gegen Honorar Ärzte durch Vorträge von der Wirksamkeit des Medikaments zu überzeugen. 1008 SZ, 287, 2001, S. 14 SZ, 227, 2001, V2 /9; HOLT ist Rheumatologe an der John Hopkins University in den USA. 1009 524 Todesfälle bei Dialysepatienten 1010 Der US-Medizinproduktehersteller Baxter gab bekannt, dass eine Flüssigkeit, die bei der Herstellung von Fasern für die Dialysegeräte verwendet wird, mit für den Tod von ca. 33 Patienten eine Rolle gespielt habe. Diese Flüssigkeit sei nur im schwedischen Werk Ronneby zur Anwendung gekommen. Die Todesfälle sind in Spanien und Kroatien bekannt geworden. Endoskopie – gravierende Mängel bei der Reinigung von Instrumenten Bei Darm- und Magenspiegelungen setzen sich die Patienten einem hohen Risiko aus. Durch nicht ausreichende Reinigung der Instrumente besteht die Gefahr, sich mit folgenden Erregern (Viren/Bakterien, Würmern) und entsprechenden Krankheiten zu infizieren: HIV, Tuberkulose, Hepatitis, Salmonellen, Helicobacter, CreutzfeldJakob-Krankheit und Wurmerkrankungen. BOTZENHART: „Die Endoskopieaufbereitung bewegt sich zwischen dilettantisch und verbrecherisch.“ 1011 Zurückgebliebene Gewebereste stellen ein zusätzliches Risiko dar. Es ist nicht auszuschließen, dass Krankheiten dadurch nicht richtig diagnostiziert werden. In einer Studie wurden 300 gereinigte Endoskope im Raum München in Kliniken und Praxen untersucht. Von den Endoskopen, die je zwei Mal mikrobiologisch überprüft wurden, erfüllten in der ersten Phase ca. 60% nicht die Anforderungen; in der zweiten Phase – also nach der Beratung durch Hygiene-Fachleute waren es immer noch 40%. Von den Wissenschaftlern wurden hauptsächlich rückständige Fäkalkeime (mangelnde Desinfektion oder Reinigung) und Nasenkeime (Fehler beim Trocknen der Instrumente) entdeckt. 1010 SZ, 255, 2001, S. 14 SZ, 297, 2000, V2 /9; BOTZENHART ist Direktor des HygieneInstituts der Universität Tübingen. 1011 525 Fehldiagnosen von Ärzten Die Auswertung von Autopsie-Ergebnissen zeigt, dass das eigentliche Leiden bei ca. 25% der Patienten zu deren Lebzeiten nicht erkannt wird. Anders ausgedrückt, wird jedes vierte Krankheitsbild nicht erkannt. Bei etwa 10% verschlechtert dies die Prognose.1012 MUMMENTHALER: „Die modernen Diagnoseverfahren werden oft ungezielt und ohne richtige Vorbereitung eingesetzt . . . wir sind mehr und mehr fixiert auf das, was wir sehen.“ Die Fähigkeit, zuzuhören, sei bei vielen Medizinern verkümmert. Auch Ärzte neigen, – wie jeder Mensch – dazu, nur zu sehen, was sie sehen wollen. Auch Zeitmangel, Unlust und Unwissen tragen zur Häufigkeit von Fehldiagnosen bei. KRUSE weist darauf hin, dass viele Ärzte ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen. Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 25 000 Menschen an einer falschen Behandlung. Die meisten ärztlichen Kunstfehler ereignen sich mit 66,4% in der Chirurgie, gefolgt von der Gynäkologie und Geburtshilfe mit 18%.1013 Die Folgen von Fehlern während einer Geburt sind oftmals besonders schlimm, da die neugeborenen Kinder nicht selten schwere Behinderungen davontragen. Die Anzahl der ärztlichen Kunstfehler wird von Patientenorganisationen auf jährlich 400 000 geschätzt. Die chronische Überarbeitung vieler Ärzte ist nach MONTGOMERY die Hauptursache für diesen Tatbestand. Blutkonserven SCHEU gibt bekannt, dass in den Jahren zwischen 1976 und 1984 die deutsche Pharma-Industrie mit Hepatitis-C-Viren verseuchtes Blut aus den USA importiert hat. Dabei seien 3000 Bluter infiziert worden. Der seit 1976 in Deutschland als Standardtest bekannte „ALT-Test“ wurde nicht angewandt. 1012 Deutsche Medizinische Wochenschrift, Bd. 125, 2000, S. 363, in SZ, S. 129, 2000,V2 /16; MUMMENTHALER ist Neurologe in Zürich; Waltraut KRUSE arbeitet am Universitätsklinikum Aachen am Problem der Fehldiagnosen. 1013 SZ, 108, 2000, S. 2; Statistik der DAK; MONTGOMERY ist Vorsitzender der Ärzteorganisation Marburger Bund. 526 In den 80er Jahren hatten sich in der BRD 1368 Bluter an HIVverseuchten Blutprodukten mit Aids infiziert. 750 der Patienten sind inzwischen verstorben.1014 Hepatitis C ist in Deutschland eine der häufigsten Todesursachen. Hier soll es mehrere hunderttausend mit diesem Virus Infizierte – weltweit soll es 170 Millionen Infizierte geben. Das Virus wurde erst im Jahr 1988/89 entdeckt. Gegen diese Erkrankung gibt es keinen Impfstoff. Im Jahr 1998 haben sich acht Patienten über verseuchtes Blutplasma mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Als Ursache wurde das bisher beispiellose Versagen eines erprobten und zugelassenen Testverfahrens (Monalisa) angegeben. Das Paul-Ehrlich-Institut in Langen stufte den Fall als „singulären“ Vorfall ein und bezeichnete das Testverfahren ansonsten als in Ordnung.1015 Für den Tod von fünf Patienten durch verunreinigte Blutkonserven müssen sich zwei leitende Mediziner verantworten. Durch das mehrmalige Öffnen der Konserven zum Zwecke von Verträglichkeitsprüfungen waren Rahnella-aquatilis-Schmutzwasserkeime in die Blutbeutel gelangt. Die Dunkelziffer der Todesfälle durch verseuchte Blutkonserven soll noch höher liegen.1016 Infektion durch Ärzte und Heilpraktiker HOFFMANN weist darauf hin, dass infizierte Ärzte jedes Jahr mehr als 1000 Patienten mit Hepatitis B anstecken. Besonders gefährdet seien Patienten in chirurgischen, zahnärztlichen und gynäkologischen Arztpraxen sowie bei Heilpraktikern. 1017 Nach einer Freiburger Studie ist knapp ein Prozent des medizinischen Personals infiziert. Das Robert-Koch-Institut hält die errechnete Zahl für spekulativ. Mehr als 1000 Patienten sind im niederrheinischen Krankenhaus Kleve zwischen 1990 und 1994 von einem infizierten Chirurgen einer Hepatitis-B-Infektion ausgesetzt worden. Krankenhauspersonal ist nicht verpflichtet, sich gegen Hepatitis B impfen zu lassen. Neun 1014 SZ, 187,1999, S. 14 SZ, 151, 1999, S. 12 1016 SZ, 10, 1998, S. 12 1017 MM, 161, 1999, S. 1 1015 527 von zehn Mitarbeitern machen vom Angebot einer Schutzimpfung Gebrauch.1018 Todesfälle durch Hygienemangel Nach Schätzungen von SCHMIDT-BURBACH sterben jährlich etwa 40 000 Patienten, weil sie sich im Krankenhaus als Patienten infiziert haben. Etwa 30% der jährlich 450 000 bis 900 000 Infektionen könnten durch verbesserte Hygiene vermieden werden.1019 Antibiotika – unempfindliche „Superkeime“ in Krankenhäusern können auf Handtüchern und Baumwollkleidung monatelang überleben und auch übertragen werden. Auch auf Polyester (Trennvorhänge) kann das Bakterium des Stamms Staphylokokkus aureus bis zu sieben Wochen überleben. Besonders immungeschwächte Patienten sind durch sie hochgradig gefährdet. In Deutschland könnten jährlich etwa 400 000 Klinikinfektionen durch eine bessere Hygiene verhindert werden. Insgesamt infizieren sich etwa 800 000 Patienten jährlich in deutschen Krankenhäusern.1020 Asthma-Anfälle durch Schmerztabletten Häufiger als bisher vermutet, werden Asthma-Anfälle offensichtlich durch Schmerztabletten ausgelöst. SCHMITZ1021 stellte 500 AsthmaPatienten vor, bei deren Krankheit der Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Bei 80% dieser Patienten begännen die Beschwerden mit einer Entzündung der Nasenschleimhaut, etwa zwei Jahre später trete Asthma auf. Nach weiteren drei Jahren entwickelten die Patienten dann das so genannte ASSAsthma. Rund 70% der Betroffenen seien Frauen. 1018 MM, 244, 1999, S. 9 MM, 146, 1999, S. 3 1020 New Scientist, Nr. 227 und MM, 53, 2000, J 4 1021 MM, 73, 2001, S. 9; SCHMITZ ist Pneumologe der Hochgebirgsklinik Davos-Wolfgang in Graubünden/Schweiz. 1019 528 Todesfälle durch Nebenwirkungen von Medikamenten In Deutschland werden jährlich etwa 800 Millionen Arzneimittel verordnet. Die Zahl der Fallberichte über schwere Nebenwirkungen von Arzneien, die jedes Jahr beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingehen, wird mit 9000 bis 10 000 angegeben. Die Zahl der Fälle, die zu lebensbedrohenden Zuständen oder zu Dauerschäden geführt hat, wird auf ein Vielfaches geschätzt. 1022 KELLY analysierte 1520 Fallberichte der letzten 20 Jahre aus medizinischen Fachzeitschriften über schwere Nebenwirkungen von Medikamenten. Von 1520 Fällen mit schweren Nebenwirkungen Lebensbedrohliche Nebenwirkungen Todesfälle Dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen (meist Gehirn, Augen und Ohren) Anzahl 846 447 227 Viele dieser Fälle hätten nach KELLY verhindert werden können durch: bessere Untersuchung der Patienten bessere Überwachung mehr Labortests der Blutwerte genauere Dosierung der Medikamente (in 15% waren Irrtümer in der Medikation verantwortlich) richtigen Einsatz der Medikamente. Auch Doppelverordnungen sich gegenseitig ungünstig beeinflussender Arzneien führen häufig zu schweren Nebenwirkungen.1023 HAGEMANN (BfArM) geht davon aus, dass vor allem die Patienten von schweren Nebenwirkungen häufiger betroffen sind, die: mehr als ein Arzneimittel einnehmen 1022 SZ, 203, 2001,V2 /7; KELLY arbeitet an der Mercer-Universität in Atlanta, USA; auch in: American Journal of Health-System Pharm, Bd. 58, 2001, S. 1406 1023 British Medical Journal, Bd. 323, 2001, S. 427 529 unter mehr als einer Erkrankung leiden unter Nieren- und Leberfunktionsstörungen leiden. KELLY geht davon aus, dass auch genetische Faktoren bei dem Auftreten von großer Bedeutung sind. Im Jahr 1998 mussten in den USA fünf Medikamente wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden. Das deutsche Meldesystem wird im Vergleich zum amerikanischen als eher lückenhaft angesehen. Auch die Meldequote hält sich in Grenzen. FRÖLICH nennt die jährliche Zahl von etwa 25 000 Todesfällen durch unerwünschte Arzneimittelwirkung. Etwa 500 000 Patienten werden aufgrund dieser Nebenwirkungen in eine Klinik eingewiesen. Die meist nur 33 000 leichten Fälle wurden gemeldet.1024 CASCORBI stellt fest, dass mit den 25 000 Todesfällen damit mehr Menschen als bei Unfällen im Straßenverkehr (8000) gestorben seien. 1025 Die mögliche Häufung von Selbstmorden nach Einnahme einer Arznei wird zurzeit ebenfalls untersucht. Durch diese unerwünschten Nebenwirkungen werden jährlich Kosten von „vielen Milliarden Mark“ verursacht.1026 Akne-Medizin: „Accutane“ Dieses Mittel stand bereits im Mittelpunkt einer KongressUntersuchung, da sich bei Patienten Fälle von Depressionen und Selbstmord gehäuft haben.1027 Neuere Vermutungen gehen davon aus, dass der 15-jährige Charles Bishop, der mit einem Kleinflugzeug in einen Wolkenkratzer in Tampa (Florida) gerast war, dieses Medikament einnahm. 1024 SZ, 90, 1999, V2 /15 MM, 22, 1999, S. 1 1026 FRÖLICH in MM, 85, 1999, S. 1 1027 MM, 8, 2002, Weltspiegel 1025 530 Trotz „guter Erfahrungen“: Brustkrebstote durch Hochdosis-Chemotherapie In Fachzeitschriften werden fast wöchentlich Studien veröffentlicht, in denen die Wirkungslosigkeit vielversprechender Therapien belegt wird. In der ersten Hälfte der 90er Jahre begannen Ärzte immer mehr aufgrund von einzelnen positiven Fallberichten die HochdosisChemotherapie bei Frauen mit Brustkrebs zu favorisieren. Nicht selten erhielten die Patientinnen so hohe Dosen der Chemotherapeutika, dass gleichzeitig Transplantationen mit blutbildenden Zellen durchgeführt werden mussten, um den Tod hinauszuschieben. Diese sehr lukrative Therapie führte zu einem Run auf viele Kliniken. Vergleichsstudien zeigten jedoch folgendes Ergebnis: Alle Frauen, die die Strapazen der Hochdosis-Chemotherapie auf sich genommen hatten, lebten im Durchschnitt keinen Tag länger als die konventionell behandelten Frauen. JONITZ: „ Die Therapie entpuppte sich als teurer Irrtum.“ 1028 Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen: „Killermedikamente“? Kardiologen empfahlen Ende der 80er Jahre Patienten mit Herzrhythmusstörungen häufig zwei bestimmte Medikamente. Durch eine Vergleichsstudie stellte sich heraus, dass in der Gruppe von Patienten, die mit diesen Mitteln behandelt wurden, doppelt so viele starben wie in der Gruppe ohne Therapie. In den USA waren wegen „guter Erfahrungen“ bereits 800 000 Patienten mit diesen Medikamenten behandelt worden. Dieser Irrtum hat möglicherweise Zehntausende vorzeitig das Leben gekostet. 1029 JONITZ: „Wir können bei keiner Therapie sicher sein, ob sie nutzt, schadet oder überflüssig ist, solange man sie nicht wissenschaftlich erprobt hat.“1030 1028 SZ, 203, 2001,V2 /7; JONITZ ist Präsident der Berliner Ärztekammer. 1029 SZ, 203, 2001,V2 /7 1030 Weitere Informationen unter: Deutsches Netzwerk 531 „Medicus curat, natura sanat.“ Der Arzt behandelt, die Natur aber heilt! Todesfälle durch „Lipobay“1031 Grundsätzlich verringern cholesterinsenkende Medikamente eine bestimmte Form des Blutfetts LDL (ein Fett-Eiweiß-Komplex), das in der Leber gebildet wird. Dieser Komplex kann sich in den Wänden der Blutgefäße festsetzen, dort ranzig werden und die Arterien verkalken. Die neuen „Cholesterinsenker“ werden Statine genannt (Lipobay, Baycol, Staltor, Choltstat). Eine starke Überdosierung kann zu einem Zerfall der Muskelzellen führen. Der Inhalt der Muskelzellen (der toxische Farbstoff Myoglobin) gelangt in die Blutbahn und führt zu einer Verstopfung der Nierenkanäle; dies wiederum kann zu einem akuten Nierenversagen führen. Gemeldete Verdachtsfälle Todesfälle BRD 90 Spanien 40 Frankreich 29 USA 4 3 1 31 Allein in der Bundesrepublik Deutschland sind inzwischen 90 Fälle von Muskelzerfall durch die Einnahme des cholesterinsenkenden Mittels Lipobay registriert worden. In den USA werden gleichzeitig 31 entsprechende Todesfälle untersucht. Allein 29 der Todesfälle sind auf ein akutes Nierenversagen der mit Lipobay behandelten Patienten zurückzuführen. Evidenzbasierte Medizin: www.ebm-netzwerk.de und PatientenInformationsdienst der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung: www.patienten-information.de 1031 MM, 183, 2001, S. 3; SCHULZ von der Bundesvereinigung deutscher Apotheker-Verbände (ABDA) in Eschborn; BELZ ist Professor bei der Deutschen Gesellschaft für klinische Pharmakologie und Therapie. 532 In den vergangenen Jahren wurden immer wieder ähnliche Mittel vom Markt genommen, nachdem schwere Nebenwirkungen beobachtet wurden. Im Juni 1999 wurde der Vertrieb des Antibiotikums „Trovan“ gestoppt, nachdem weltweit zuvor 100 Fälle von schweren Leberschäden nach dessen Einnahme aufgetreten waren. Inzwischen wurde auch das französische Medikament „Zenas“ vom Markt genommen.1032 SCHULZ rät Patienten, die in Deutschland „Lipobay“ einnehmen, umgehend Kontakt mit ihrem Arzt aufzunehmen. Es gebe keinen Grund zur Panik. BELZ nennt als Alternative zu diesem Medikament den Wirkstoff Pravastatin, der so gut wie frei von Nebenwirkungen sei. Die Informationspolitik des Bayer-Konzerns wird von der bundesweiten Verbraucher-Initiative als „verantwortungslos“ bezeichnet. Bereits im Juni wurde von Bayer ein sogenannter „Rote-Hand-Brief“ verschickt. Weltweit wurde das Medikament „Lipobay“ zuletzt von etwa 6 Millionen Menschen eingenommen. Durch die Rücknahme vom Markt erwartet der Bayer-Konzern Ergebniseinbußen von ca. 1,3 Milliarden Mark.1033 Medikamenten-Nebenwirkungen bei der Behandlung von Krebspatienten Die Behandlung und Einweisung in eine Klinik wegen der Nebenwirkungen von Medikamenten nimmt ständig zu. Allein bei Krebserkrankungen kostet nach HAGER die Behandlung von Nebenwirkungen fast doppelt so viel wie die eigentliche Therapie.1034 Zudem seien die Leistungen nach Aussagen der Ärzte für Erfahrungsheilkunde in der so genannten Schulmedizin bei der Behandlung chronisch Kranker oft nicht befriedigend. Die Kosten im Gesundheitswesen könnten durch eine Förderung biologischer und naturheilkundlicher Methoden erheblich gesenkt werden. 1032 MM, 183, 2001, S. 1 MM, 182, 2001, S. 28 1034 MM, 250, 2001, S. 1; HAGER ist Vize-Vorsitzender der Gesellschaft für Onkologie. 1033 533 Todesfälle durch falsche Methadonbehandlung Nach SERVAIS/ERKENS1035 sterben etwa 10% Drogensüchtige durch fatale Fehler der Ärzte beim Verordnen des Heroinersatzmittels Methadon. ERKENS: „Die Dunkelziffer ist hoch, weil die Todesursache oft nicht genau festgestellt und dokumentiert wird.“ Über nicht seltene Vergiftungen der Familienangehörigen von Drogensüchtigen mit Methadon berichten PÜSCHEL/SCHMOLDT. Rinderbestandteile in 70% aller Medikamente Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen besteht jedoch kein Risiko, sich durch Tabletten mit BSE zu infizieren. SICKMÜLLER: „Nach menschlichem Ermessen sind Arzneimittel sicher . . . Ein großer Sicherheitsfaktor sind dabei hohe Temperaturen. Bei 200 Grad wird der Erreger nach allem, was man weiß, zerstört.“1036 Rinder aus Hochrisiko-Ländern wie Großbritannien würden grundsätzlich nicht verwendet. Schon seit zehn Jahren werde die Gefahr einer BSE-Übertragung durch Medikamente bekämpft. „Es war ja nicht auszuschließen, dass eine Übertragung stattfinden kann.“ Todesfälle durch die schlechte Handschrift von Ärzten In den USA wird die schlechte Handschrift von Ärzten für jährlich bis zu 100 000 Todesfälle verantwortlich gemacht. Das US-amerikanische Institute of Medicine erklärte, dass sowohl medizinische Fehler als auch die auf unleserlicher Schrift basierenden Fehlinformationen zum Tod von zahllosen Patienten führen.1037 Eine große Klinik in Los Angeles habe deshalb alle Ärzte angewiesen, Kurse zur Verbesserung ihrer Handschrift zu belegen. 1035 SZ, 229, 1998, V2 /12; Desiree SERVAIS und ERKENS sind Rechstmediziner an der TH Aachen; PÜSCHEL/SCHMOLDT sind Rechtsmediziner in Hannover. 1036 SZ, 279, 2000, S. 5; Professor Barbara SICKMÜLLER ist Geschäftsführerin des Bereichs Medizin und Pharmazie beim BPI (Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie). 1037 SZ, 114, 2000, S. 16 534 Schädigungen durch Impfungen Siehe dazu die entsprechenden Meldungen in: Die unendliche Geschichte der Impfungen Schäden durch verseuchte Augenspülmittel Eine bakteriell verseuchte Lösung verursachte bei mindestens 34 am Grauen Star operierten Patienten eine schwere Augenvereiterung. Ursache dafür war ein in Deutschland hergestelltes, steriles Medizinprodukt.1038 Schäden durch Fehler bei der Geburtshilfe Eine Analyse der DAK an 500 Verdachtsfällen im Zeitraum von 1983 bis 1989 ergab, dass die Ärzte in 62 Fällen bei der Geburtshilfe Fehler gemacht hatten. So sei jeder 10. Geburtsschaden mit schweren gesundheitlichen Folgen auf einen Arztfehler zurückzuführen.1039 Über 80% der Gehirnschäden bei Babys entstehen nach WENZ bereits lange vor der Geburt. Ist der Sauerstoffgehalt des Blutes unmittelbar nach der Geburt zu niedrig und zeigte das CTG auch während der Geburt einen Sauerstoffmangel an, so ist eine Mitschuld des Arztes auszuschließen. Mit Hilfe von computertomographischen Methoden oder von Kernspinresonanzuntersuchungen, die von Kinderneurologen am kindlichen Schädel durchgeführt werden, ist es möglich, ein geburtshilfliches Missmanagment zu erkennen. Die Krankenkassen sorgen für ein kompetentes Gutachten.1040 Schäden durch Röntgenstrahlen MENDELSOHN weist darauf hin, dass das „gefährlichste, durchdringendste Diagnosewerkzeug“ des Arztes das Röntgengerät sei.1041 Vor allem die kindliche Leukämie steht in einem exakt nachgewiesenen Zusammenhang mit vorgeburtlichen Röntgenbestrahlungen. Wissenschaftler haben vor dem amerikanischen Kongress in einer 1038 MM, 146, 1999, S. 1, und SZ, 147, 1999, L 2 MM, 5, 1998, S. 3 und 1 1040 SZ, 11, 1998, II 1041 MENDELSOHN, 1993, S. 5 1039 535 Anhörung darauf aufmerksam gemacht, dass genetische Schädigungen sowohl bei der jetzigen als auch bei der nachfolgenden Generation durch Bestrahlungen des unteren Körperbereichs auftreten können. In den USA werden die jährlichen Todesfälle, die in direktem Zusammenhang mit medizinischen oder zahnmedizinischen Röntgenanwendungen stehen, auf 4000 geschätzt. Es ist Kassenärzten in Deutschland offiziell nicht erlaubt, gesunden Frauen eine Früherkennungs-Mammographie anzubieten. Die Kassen bezahlen das Röntgen der Brust nur, wenn ein „konkreter Verdacht“ auf eine Krankheit besteht. Insider schildern, dass dieses Verbot täglich unterlaufen wird, indem Ärzte einen Verdacht konstruieren – ein roter Fleck reicht schon. Bisher haben die Kassenund Ärztevereinigungen keine konkrete Vorstellung davon, wie viele solcher verdeckten Untersuchungen jährlich durchgeführt werden. Schätzungen gehen von bis zu 90% aus. Wegen der fehlenden Spezialausbildung der deutschen Ärzte existiert eine so hohe Fehlerrate, dass die Frauen sich kaum Hoffnung machen können, ihr Risiko, an Brustkrebs zu sterben, durch eine Mammographie zu verringern. Zu oft jagen schlecht ausgebildete Ärzte den Frauen mit Verdachtsdiagnosen Angst ein, wobei der falsche Verdacht erst durch eine unnötige Operation bestätigt werde. Bei tatsächlichen Erkrankungen werden andererseits zu viele Tumore übersehen. Im Jahr 1992 wurde erstmals ein Mammographie-Gesetz eingeführt. Die Hälfte der Röntgenärzte erhielt damals zunächst keine Zulassung.1042 In Deutschland ist nach Angaben der Ersatzkassenverbände etwa die Hälfte aller Röntgenuntersuchungen nicht notwendig.1043 Nach KAUFFMANN wird in Deutschland mit jährlich 100 Millionen Röntgenuntersuchungen zu viel geröntgt. Auf die Hälfte der Aufnahmen könnte verzichtet werden. An der Qualität der Behandlung ändere sich dadurch nichts, zudem könnten 800 Millionen Mark eingespart werden. Statistisch gesehen werde jeder Bundesbürger 1,24 Mal im Jahr durchleuchtet. Die Ursache dafür liegt in der Tatsache begründet, dass jeder Arzt in Deutschland, im Gegensatz zu sämtlichen anderen Ländern, nach einer kurzen Zusatzausbildung „nebenbei“ röntgen dürfe.1044 1042 SZ, 131, 2001, S. 1 MM, 238, 1999, S. 1 1044 MM, 109, 1999, S. 1; KAUFFMANN ist Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft. 1043 536 Die Röntgen-Ärzte fordern im Gegensatz dazu MammographieUntersuchungen bereits ab dem 40. Lebensjahr. Einer schwedischen Studie zufolge verringere sich der Anteil der tödlich verlaufenden Erkrankungen um mehr als ein Drittel, wenn ab dem 40. Lebensjahr geröntgt werde.1045 Auch hier zeigt sich eines sehr deutlich: Jeder sieht ein bestimmtes Problem nur aus seiner Perspektive. Schnell sind „wissenschaftliche“ Studien und Belege zur Hand, welche entgegengesetzte Standpunkte unglaubwürdig erscheinen lassen. Es ist als sehr unwahrscheinlich anzusehen, dass ein freiberuflich arbeitender Mensch Maßnahmen ergreift, die zugleich sein Einkommen vermindern würden. So kann ein Röntgenarzt, dessen wichtigstes Instrument nun einmal das Röntgengerät ist, nicht zu weniger Röntgennaufnahmen raten. Jeder Mensch kann sich nur durch die Informationen aus verschiedenen Blickwinkeln sein eigenes Weltbild konstruieren und dann der entsprechenden Überzeugung nach handeln. Es gibt dort keine alleinige allgemein gültige Wahrheit, wo das Leben und die Lebensbedingungen sich ständig ändern. Wir wissen noch viel zu wenig und können viel zu wenig von den unendlich vielen Faktoren überschauen und in ihren gegenseitigen Wechselbeziehungen und der sich daraus ergebenden Wirksamkeit erfassen, um allgemein gültige Aussagen darüber zu treffen, was im Einzelfall gut und schlecht, richtig und falsch ist. Noch ist nicht geklärt, ob ionisierende Strahlen dauerhafte Spuren in Form von Schäden im menschlichen Erbgut hinterlassen. Eine britische Untersuchung an 36 000 Kindern von Arbeitern, die ständig einer bestimmten Strahlendosis ausgesetzt waren, erbrachte keine Hinweise auf Erbschäden.1046 Wir wissen jedoch nichts darüber, ob und wie weitere Generationen betroffen sind. Andere Studien wiederum machen deutlich, dass möglicherweise der Zeitraum vor der Befruchtung eine wichtige Rolle spielt. So wurde im Tierversuch festgestellt, dass bei den Enkeln betrahlter MäuseGroßväter eine langsamere Zellteilung stattfindet. Welche Folgen das für den wachsenden Organismus hat, und ob die Ergebnisse der 1045 MM, 108, 1999, S. 3 British Medical Journal, Bd. 315, 1997, S. 1181, in SZ 5, 1998, S. 24 1046 537 Tierversuche auf den Menschen übertragbar sind, ist noch nicht geklärt. Sowohl WILEY als auch MÜLLER ziehen mit Sicherheit in Betracht, dass Strahlenschäden an die nächste Generation weitergegeben werden können. Möglicherweise sind bei den Schädigungen Reparatursysteme betroffen, die das Erbgut nach einer Schädigung normalerweise wieder herstellen. Seit 1998 gibt es am Schwabinger Krankenhaus Durchleuchtungsund Aufnahmeverfahren, die eine 90%ige Einsparung der Strahlenbelastung ermöglichen. FÄRBER spricht von „einer enormen Strahlenreduktion“ durch die neuen Verfahren. 1047 Mit anderen Worten ausgedrückt bedeutet das, dass bei den herkömmlichen Verfahren eine erhebliche Strahlenbelastung auftritt. Nach KÜBLER/HÖLZEL kann eine wirksame Brustkrebsfrüherkennung unter 40 Jahren bisher weltweit nicht belegt werden. Von 100 000 Frauen erkranken heute in der Altersgruppe zwischen 25 und 40 Jahren etwa 25 an Brustkrebs. Keine anerkannte Methode ist in der Lage, dies zu erkennen. Der Nutzen einer qualitätsgesicherten Mammographie im Alter zwischen 50 und 70 Jahren wird behauptet.1048 Wie bei allen Studien und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen ist immer entscheidend, wer die Studie in Auftrag gegeben und bezahlt hat und welche Vereinbarungen bezüglich einer Veröffentlichung getroffen wurden. Grundsätzlich ist eine wissenschaftliche Absicherung nicht möglich, da geringfügig veränderte Bedingungen zu anderen Ergebnissen führen und grundsätzlich in Frage zu stellen ist, ob jemals überhaupt gleiche Bedingungen herrschen können. Auch ist nicht auszuschließen, dass Brüste fälschlicherweise bestrahlt werden. So wurde einer Frau über den Zeitraum von vier Wochen die gesunde anstatt der operierten Brust bestrahlt. Ihr wurde ein Schmerzensgeld in Höhe von 40 000 DM zugesprochen.1049 1047 SZ, 59, 1998, S. 40; Professor FÄRBER ist Leiter der Kinderröntgenabteilung im Krankenhaus München-Schwabing. 1048 SZ, 273, 1998, L 5 1049 MM, 19, 2000, S. 7; (Az: 3 U 84/99), Oberlandesgericht Hamm 538 Das Bundesamt für Strahlenschutz weist darauf hin, dass die Strahlenbelastung durch medizinische Untersuchungsmethoden in den vergangenen Jahren um 25% gestiegen und zudem höher als in anderen europäischen Ländern sei. 50% aller Röntgenuntersuchungen gelten als überflüssig, werden aber dennoch durchgeführt, weil entsprechend teuere Geräte dazu verführen, „Ammortisationsuntersuchungen“ durchzuführen. Strahlenschützer weisen darauf hin, dass die Ärzte nichtstrahlende Diagnosemethoden zu wenig einsetzen und oftmals Risiko und Nutzen nicht abwägten. Ihnen wird vorgeworfen, leichtfertig zu handeln und die Gesundheit der Patienten zu gefährden. Experten vermuten, dass der sorglose Einsatz – auch von veralteten Geräten – zu jährlich Tausenden von Krebserkrankungen führen. Die durchschnittliche Belastung habe sich von 1,5 auf 2 Millisievert pro Person und Jahr erhöht. Eine herkömmliche Röntgenaufnahme ist einer Strahlendosis von 0,3 Millisievert gleichzusetzen. Dies wiederum entspricht einem Achtel der natürlichen Strahlenbelastung pro Jahr. Eine Belastung von etwa 27 Millisievert tritt bei einem Computertomogramm des Bauchraumes auf. KUNI fordert einen kritischeren Umgang „mit dieser scharfen Waffe der Medizin“. Nach seiner Schätzung erkranken in Deutschland jährlich bis zu 50 000 Menschen an Krebs, weil sie Jahre zuvor durch medizinische Untersuchungen mit Röntgenstrahlen belastet wurden. Die unzureichende Ausbildung der Radiologen und die veraltete Ausstattung tragen nach Meinung von Fachleuten ihren Teil zu dieser Entwicklung bei. Nach Ansicht von Experten ist zudem jede fünfte Röntgenaufnahme so schlecht, daß sie kaum auszuwerten ist.1050 KUNI erklärt zu der gewaltigen Zahl von 50 000 Krebserkrankungen pro Jahr: „Das ist natürlich eine grobe Schätzung. Sie ergibt sich aus dem Vergleich der Strahlendosis, die die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki abbekamen, mit der jährlichen Dosis durch Röntgenuntersuchungen. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass die relative biologische Wirksamkeit der Röntgenstrahlung viermal größer ist als die der Atombomben. Röntgenstrahlen richten also viermal so viel Schaden im Gewebe an.“1051 1050 SZ, 177, 2000, S. 1 und 4; KUNI ist Professor für Nuklearmedizin in Marburg. 1051 Interview in der SZ, 181, 2000, V2 /8 539 KUNI weiter zur Praktik des Röntgens in Deutschland: An der Spitze der fragwürdigen Röntgenaufnahmen stehen die der Lunge bei gesunden jungen Menschen, die eine Arbeitsstelle antreten. Das zweite typisch Überflüssige sind Schädelaufnahmen bei Kleinkindern, wenn sie sich den Kopf angeschlagen haben. Das dritte typische Beispiel sind die Panorama-Aufnahmen von Zähnen; sie werden häufig gemacht, auch wenn es nur um einzelne Zähne geht, und sie sind mit einer deutlich höheren Strahlenbelastung verbunden als Einzelaufnahmen; Untersuchungen aus Chicago belegen, dass bösartige Tumore, wie zum Beispiel Speicheldrüsenkrebs, gehäuft bei Menschen auftreten, die mehrfach zahngeröntgt worden sind. Und das, obwohl das Zahnröntgen zu den weniger strahlenintensiven Verfahren gehört. Die Computertomographie belastet in der Regel sehr viel stärker als das Röntgen. Durch die Benutzung veralteter Röntgengeräte (mehr als 40%) können nach EDER1052 bei Bedienungsfehlern oder Störfällen durch die dort vorhandene Belichtungsautomatik und die fehlende Sicherheitsschaltung (ein Gerät mit dieser Sicherung schaltet nach 30 Millisekunden ab, wenn eine mehrfach gefaltete Bleischürze geröntgt wird) gegen Überexposition Strahlungen in bis zu 500-facher Höhe auftreten. Hochrechungen haben ergeben, dass bundesweit pro Jahr zwischen 30 000 und 50 000 Röntgenaufnahmen mit einer Dosis, die weit überhöht ist (mehr als das Zehnfache einer Normalaufnahme), durchgeführt werden. Als Ursache dafür werden technische oder bedienungsbedingte Störfälle angegeben. EDER: „Das ist Körperverletzung.“ LAUTERBACH: 1053 „In Deutschland lassen etwa 4 Millionen Frauen pro Jahr eine Mammographie anfertigen, allerdings meist in Praxen, die europäi1052 SZ,123, 2001, S. 59 ; EDER arbeitet am Bayerischen Landesamt für Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Sicherheitstechnik (LfAS). 1053 SZ, 244, 2001, V2 /12; LAUTERBACH ist Professor und Mitglied des Sachverständigenrats für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. 540 schen Qualitätsstandards nicht genügen. Das ist riskant, weil es oft zu „falschpositiven“ Befunden kommt: Ärzte schöpfen einen Verdacht, wo keiner besteht. Der Sachverständigenrat geht davon aus, dass in Deutschland jährlich 100 000 unnötige Brustoperationen stattfinden, weil Mammographie-Aufnahmen falsch beurteilt werden . . . Die meisten Ärzte wissen ja nicht einmal selbst, wie oft sie falschpositive Diagnosen stellen.“ Im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen zeigen sich die deutschen Ärzte deutlich röntgenfreudiger. Bei den Krankenkassen wurden folgende Untersuchungen abgerechnet: 1994 1997 83,15 Millionen 84,4 Millionen Pro Kopf und Jahr ergibt das 1,24 Untersuchungen in Deutschland. In Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Schweden wird nur halb soviel geröntgt. REISER weist darauf hin, dass das Risiko, später Krebs zu kriegen, überschätzt werde: „Es gibt dafür keinen Beweis, nur Hochrechnungen. . . . In Deutschland haben wir auch mehr Ultraschalluntersuchungen als in Europa und den USA zusammen.“ Große internationale Studien zeigten deutlich die Senkung der Brustkrebssterblichkeit um 30%. REGULLA: „Ein strahlenbedingtes Risiko nimmt im Alter jedoch deutlich ab.“1054 Das bedeutet aber, dass Kinder und Jugendliche durchaus durch die angesprochenen Untersuchungen hochgradig gefährdet sind. EDER vertritt die Meinung, dass „ionisierte Strahlung“ aus Kernkraftwerken, die im Verdacht steht, für die hohe Krebsrate bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken verantwortlich zu sein, im Vergleich zur Belastung aus anderen Quellen „völlig unerheblich“ sei. Sie machten nur ein Tausendstel anderer „Einwirkungsgrößen“ aus. So seien zudem noch die natürliche Strahlenbelastung, transatlantische Flugreisen, Röntgenuntersuchungen, eventuell auch Elektrosmog und anderes möglicherweise verantwortlich und mit zu be1054 MM, 178, 2000, S. 3; REISER ist Professor für Radiologie in München; REGULLA arbeitet am Institut für Strahlenschutz am GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit. 541 rücksichtigen.1055 Er bestätigt damit direkt die synergistische Wirkung schädlicher Einflüsse und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, seriöse Forschungen in allen diesen Bereichen voranzutreiben, da bei der inzwischen bekannten Vielzahl der Schädigungsmöglichkeiten auch eine Vielzahl von minimalen Dosierungen verheerende Folgen für das Individuum nach sich ziehen kann. Die Äußerungen der Experten zeigen deutlich, wie internationale Studien – die kein Laie nachprüfen kann – zur Rechtfertigung angeführt werden. Bezweifelt jemand solch unbequeme Studien, wird häufig mit folgenden Worten argumentiert: „Die Studie wirft zur Zeit noch inhaltliche und methodische Fragen auf“ oder: „Aufgrund des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes besteht momentan kein Handlungsbedarf.“ Es ist selbstverständlich, dass ein Wissenschaftler keine Sichtweise pflegen kann, die sein Dasein überflüssig machen würde oder seine Qualität in Frage stellen könnte. Es geht auch nicht grundsätzlich um den Nutzen von Untersuchungen oder Therapien. Jeder muss um sein Überleben in dieser Welt kämpfen und wird eine entsprechende Sichtweise pflegen und sie mit allen notwendigen Mitteln verteidigen. Mammographie und Prozentrechnung 1056 Studenten wurden gebeten, den Nutzen von Mammographieuntersuchungen zur Erkennung von Brustkrebs abzuschätzen. Bisher vertreten Ärzte gerne die Meinung, dass durch regelmäßige Mammographieuntersuchungen das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 25% verringert werde. Tatsächlich sterben jedoch nur vier von 1000 Frauen innerhalb von zehn Jahren. Dies bedeutet eine „relative Reduktion“ um 25% und somit, dass durch das Screening nur eine von 1000 Frauen gerettet werden könnte, während es für die anderen 999 Frauen ohne Nutzen ist. 1055 SZ, 169, 2001, S. 48; EDER ist Ministerialrat am bayerischen Umweltministerium. 1056 SZ, 297, 2000, V2 /9 542 Nur jeder vierte Student war in der Lage, bezüglich des Erfolges eines Mammographie-Screenings das wahre Verhältnis richtig zu berechnen. HOFFRAGE: „Solange Gesundheitsorganisationen bei der Aufklärung nur Wahrscheinlichkeiten und relative Risikoreduktion angeben, ist eine wirklich aufgeklärte Entscheidung der Patienten unwahrscheinlich.“ Die Probleme mit der Prozentrechnung können ohne Weiteres auch auf Wissenschaftler, Juristen und Ärzte erweitert werden. 1057 Augen-Operationen durch Laser-Therapie – eine Augenwischerei?1058 Eine solche Operation ersetzt die meistens ab dem 40. Lebensjahr notwendige Lesebrille nicht. Sehschwächen von mehr als 10 Dioptrien können auch durch die Lasertechnik nicht vollständig korrigiert werden. Vor allem bei jüngeren Patienten muss damit gerechnet werden, dass sich die Fehlsichtigkeit noch verändert. Ein Lasern ist in solchen Fällen grundsätzlich nicht zu empfehlen. Durch einen „Laser-Eingriff“ wird zwar die Kurzsichtigkeit in der Regel gemildert, das Sehvermögen insgesamt bessert sich jedoch nicht zwangsläufig. Benötigt ein Patient nach einer Operation dennoch eine Brille, so erweist sich die Anpassung der Sehhilfen als schwieriger. Bei der Operation oder danach häufig auftretende Probleme erfordern oftmals eine erneute Operation: 1057 Die zurückgeklappte Hornhaut bildet Falten Entstehung von trübem Fremdgewebe im Sehbereich Blutzellen in der Schnittstelle Blendeffekte bei Dunkelheit. Science, Bd. 290, 2000, S. 2261; HOFFRAGE ist Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1058 SZ, 7, 2000, V2 /11; ZEISBERG ist Augenarzt in Berlin; SEILER ist Arzt und Physiker an der Universität in Zürich. Weitere Informationen unter: http://www.augeninfo.de http://www.surgicaleyes.org (Lasergeschädigte berichten); http://members.aol.com/eyeknowwhy/index.htm (Kritische Info zu den Laserverfahren) 543 ZEISBERG weist darauf hin, dass es noch nicht viel bedeute, wenn man sich von einem „zertifizierten Laserarzt“ operieren lasse. Oftmals wird ein Zertifikat nach einer mehrstündigen Übung an Schweinsaugen oder durch eine abgeleistete Hospitanz erworben. Auch der Bericht über Befunde und Behandlungsdaten zur Erlangung eines Zertifikats kann nicht verhindern, dass Ärzte mit wenig Erfahrung operieren oder dass Patienten unsinnigerweise gelasert werden. SEILER warnt davor, dass Langzeiteffekte insgesamt noch wenig untersucht seien und sich Komplikationen erst allmählich entwickeln können, da sich die Biomechanik der Hornhaut erst mit den Jahren verändert. So kann z. B. eine gelaserte Hornhaut bei einer Schwangeren unter dem Einfluss der hormonellen Veränderungen bei Einsetzen der Wehen zerstört werden. Überflüssige Operationen werden deshalb häufig durchgeführt, weil die Auslastung der Geräte stimmen muss und eine Operation mehr Einnahmen verspricht als das Verordnen einer Brille. Es wird von Insidern berichtet, dass Ärzte, die an bestimmte Laserspezialisten überweisen, Provisionen erhalten sollen. Auch die zum Teil irreführende Werbung in diesem Bereich trägt dazu bei. Schmerztherapie1059 Mindestens 5 Millionen Menschen leiden nach Expertenschätzungen in Deutschland an dauernden schweren Schmerzen. Nach jüngsten Studien verordnen Ärzte in 75% aller Fälle Heilmethoden, die von Experten nicht empfohlen werden. Patientenversuche Alleine in Düsseldorf wurden 1300 Patienten ohne eine erforderliche vorherige Aufklärung operiert. Die Operationen wurden von zwei Medizinern im Rahmen einer von der Universität Magdeburg initiierten klinischen Studie ohne die vorgeschriebene Genehmigung durch die zuständige Ethikkommision vorgenommen. Die Hälfte der beteiligten Patienten wurde dabei nach Aussage der Staatsanwaltschaft ohne Zugabe von Antibiotika behandelt. Zwei Patienten musste nach einer Infektion mit einem gefährlichen Bakterium das be1059 MM, 237, 2000, S. 1 544 troffene Auge entfernt werden.1060 Ob bei diesen Patienten mit oder ohne Antibiotika operiert worden war, konnte trotz Auswertung der Patientenakten, der bei der Studie verwendeten Datenblätter und einer Befragung der Ärzte nicht festgestellt werden. Auch die Infektionsquelle sei weiterhin unklar. Den Patienten wird empfohlen, offensiv von den behandelnden Ärzten eine vollständige Aufklärung einzufordern. Es erweist sich dabei als nützlich, alle Fragen schriftlich festzuhalten. Die Ärzte seien zudem bei größeren Eingriffen per Gesetz zu einem halbstündigen Informationsgespräch verpflichtet. Die Anzahl der „heimlichen“ Studien geht nach Schätzungen in die Tausende. „Die Dunkelziffer von Studien ohne Information der Patienten ist gewaltig.“ Meist würden diese Studien im Auftrag der Pharmaindustrie durchgeführt, wobei die Mediziner dabei finanziell und karrieremäßig stark profitieren würden. Finanzielle Schäden durch doppelte Abrechnung Der DGB in Bayern hat Kassenärzten „unseriöse Methoden“ bei der Abrechnungspraxis vorgeworfen. DITTRICH wies darauf hin, dass einige Ärzte für die gleiche Untersuchung doppelt bei Patienten und Krankenkassen abgerechnet hätten.1061 Außerdem sollten Kassenpatienten medizinisch notwendige Untersuchungen zunehmend aus eigener Tasche bezahlen. Ursache für diese Entwicklung sei die „Gier nach Geld“ und die Ärztedichte in Bayern. Sechs Zahnärzte und drei Betreiber von Dentallabors wurden wegen Steuerhinterziehung und Betrugs angeklagt. Zwischen 1987 und 1992 sollen Steuern in Millionenhöhe hinterzogen worden sein. In 2300 Fällen sollen Patienten und Krankenkassen betrogen worden sein. So wurden z. B. billige Prothesen, Kronen und Brücken als hochwertiger Zahnersatz deklariert.1062 Im Jahr 2000 stieg die Zahl der Betrugsfälle durch Ärzte um fast 30% auf 17 400 Delikte. Gegen 1600 Verdächtige wird bereits ermittelt. Viele der Rechnungen seien um 15 bis 25% zu hoch. Die Ermitt1060 MM, 85, 2000, S. 10 MM, 85, 2000, S. 1; DITTRICH ist Vize-Präsident des Deutschen Gewerkschaftsbundes. 1062 SZ, 249, 1999, S. 16 1061 545 ler berichten darüber, dass die Ärzte recht erfinderisch seien. So rechneten Radiologen überhöhte Kontrastmittel ab, Laborärzte nehmen unnötige Analysen vor, die teuer sind. Hausärzte wollen an einem Wochenende 150 Notfallpatienten behandelt haben – eine besonders lukrative Form im Falle eines Betruges. Manche Mediziner verschaffen sich durch den Tausch von Patientenkarten, in der Absicht, zusätzliche Leistungen abzurechnen, illegale Nebeneinnahmen. Andere Ärzte sind an Pharmaunternehmen als stille Gesellschafter beteiligt und erhalten Umsatzanteile. Es liegt auf der Hand, dass dann bevorzugt Präparate eben dieser Firma verschrieben werden. Sicher trägt auch das undurchschaubare Abrechnungssystem seinen Teil zu der Misere bei. Detaillierte Rechnungen – nicht nur an Privatversichete – werden von vielen Ärzten aus bürokratischen Gründen abgelehnt.1063 Unnötige Operationen – Entfernung der Gebärmutter – Hysterektomie In Deutschland werden jährlich etwa 150 000 Gebärmütter entfernt. Wegen chronischer Blutungen über den Zeitraum von einem Jahr trotz hormoneller Behandlung werden davon etwa 30 000 operativ entfernt. RÖMER: „Ungefähr die Hälfte der Blutungspatientinnen erträgt die Operation jedoch umsonst.“1064 Jeder Eingriff dieser Art kostet etwa 6000 Mark. (Wenn diese Angaben stimmen, könnten somit Kosten von 450 Millionen Mark eingespart werden.) Bei einer Operation muss vor allem bei Frauen mit Herzproblemen oder bei einer Thrombose-Neigung eine intensive vorausgehende ärztliche Information erfolgen. Folgende alternative Eingriffe stehen zur Debatte: 1063 SZ, 179, 2001, S. 21 SZ, 95, 2000, V2 /10; RÖMER ist Gynäkologe an der Universität Köln. 1064 546 Art des Eingriffs Endometrium – Ablation oder Koagulation Hydrotherm –Ablation (HTA) „Rollerball“ – und „LaserAblation“ Ballon-Ablation Beschreibung Nur örtliche Betäubung; Entlassung am Tag des Eingriffs Ein Katheter wird durch den Muttermund in die Gebärmutter eingeführt; durch eine 90 Grad heiße Kochsalzlösung wird die Schleimhaut zerstört und verschorft; bisher nur in sechs Kliniken in Deutschland angeboten. Bei neun von zehn Patientinnen wurden die Blutungen nach der Behandlung deutlich reduziert; bei 35% wurden keine Blutungen mehr beobachtet. Bei ungeschicktem Vorgehen kann es zu Verbrennungen in der Scheide kommen. Die Gebärmutterschleimhaut wird mit einer Elektro-Schlinge bzw. mit einem Laser Punkt für Punkt verödet Ein in die Gebärmutterschleimhaut eingeführter Latex-Ballon wird mit heißer Flüssigkeit durchspült. Dieses Verfahren ist mit mehr Schmerzen verbunden. Alle oben angeführten Verfahren sind kontraindiziert bei einem Verdacht auf Myome, Polypen oder Krebszellen in der Schleimhaut. Bei 10 bis 15% der erfolgreich behandelten Frauen treten die Probleme innerhalb von zwei Jahren erneut auf. MENDELSOHN weist darauf hin, dass 1975 in den USA 1700 von 787 000 Frauen starben, denen die Gebärmutter entfernt wurde. Im Jahr 1979 wurden in Amerika etwa 690 000 Hysterektomien vorgenommen, „ . . . und es ist sehr zweifelhaft, ob mehr als ein Fünftel davon klinisch gerechtfertigt werden könnten – auf der Grundlage von lebensbedrohender medizinischer Notwendigkeit. Das heißt, dass über eine halbe Million Frauen die Operation aus Gründen erlitten, die bestenfalls noch zweifelhaft, schlimmeren- 547 falls aber leichtfertig waren.“1065 Untersuchungen von NEWTON „zeigen jedoch vermindertes sexuelles Verlangen bei 60% der Frauen, denen Gebärmutter und beide Eileiter entfernt worden waren. Auch andere Studien haben bestätigt, dass zwischen 20 und 42% der untersuchten Frauen nach der Hysterektomie überhaupt keinen Geschlechtsverkehr mehr hatten.“ Überflüssige Hormone – Östrogenbehandlung der Frauen In der weltweit zur Zeit größten Studie1066 testen 27 000 gesunde Amerikanerinnen Nutzen und Risiken der Hormone. Zwischenbilanz der Studie nach zwei Jahren: Gruppe hormonbehandelt Placebo Erwartungen Verzögerung des Knochenschwundes Befürchtungen Begünstigung von Thrombosen, Brust- und Gebärmutterkrebs Beobachtungen Eine geringe Zunahme der Zahl der Herzinfarkte, Schlaganfälle und Thrombosen; vor allem bei schlanken Frauen erhöht die Hormon-Therapie das Brustkrebsrisiko; 5 bis 6 von 1000 Frauen erkrankten daran; abhängig vom Präparat 4 von 1000 erkrankten an Brustkrebs Nach einem vertraulichen Bericht an das Bundesgesundheitsministerium ist die in Deutschland weit verbreitete Hormontherapie über mehrere Jahre hinweg für das Auftreten von mehr als 8000 Fällen von Brust- und Gebärmutterkrebs pro Jahr verantwortlich. GREISER et al. berechneten, dass von den etwa 42 000 Frauen im Alter zwischen 40 und 79 Jahren, die 1998 erstmals an Brustkrebs 1065 MENDELSOHN, 1989, 25, S. 109; Niles NEWTON ist eine Frau mit Psychiatrie-Professur an der medizinischen Fakultät der Northwestern University; S. 115 1066 JAMA, Bd. 283, 2000, S. 485 548 erkrankten, bei etwa 5000 der Tumor auf die Einnahme von Hormon-Präparaten zurückzuführen ist. Das trifft somit für jeden achten Tumor zu. Bei der Entstehung von Gebärmutterkrebs (8700 Fälle) wird ein Drittel auf die lange Einnahme von Hormon-Präparaten zurückgeführt.1067 Zwischen 1987 und 1998 hat sich die Zahl der verordneten Tagesdosen durch deutsche Ärzte versechsfacht. In den USA enthalten die Beipackzettel seit Jahren Hinweise auf das Krebsrisiko. GREISER: „Offensichtlich muss man die Hersteller zwingen, ehrlich zu sein.“ Durch eine Fragebogenaktion der AOK an je 10 000 Frauen, die sich für eine Hormontherapie entschieden hatten, wurde festgestellt, dass etwa zwei Drittel der Frauen nicht oder nicht ausreichend über das Risiko aufgeklärt wurde. RABE:1068 „Die Wahrheitsfindung ist langwierig.“ Ob durch die Verabreichung von Hormonen tatsächlich das Wachstum von Brustkrebs beschleunigt wird und ob sie in der Lage sind, HerzKreislauferkrankungen aufzuschieben, ist Gegenstand einer derzeitigen Untersuchung. Mehr als 200 Arbeiten zu diesen beiden Themen müssen ausgewertet werden. Dabei erwiesen sich die meisten Studien weniger zuverlässig als bisher angenommen. Es ist inzwischen nicht mehr auszuschließen, dass ein verzerrtes Bild von Nutzen und Risiken der Hormone entstanden ist. Bei den vorliegenden Studien wurden wichtige Einflussgrößen auf die Gesundheit der Frauen – allein für die Entstehung von Brustkrebs sind inzwischen 30 Faktoren bekannt – nicht berücksichtigt. RABE geht nicht davon aus, dass die vorgenommene Literatur-Analyse erheblich zur Wahrheitsfindung beitragen wird. „Das Ergebnis wird eher sein, dass wir das Ausmaß unserer Wissenslücken erkennen, aber auch das wäre wichtig.“ Insgesamt zeichnet sich offenbar die Tendenz ab, vorsichtiger mit der präventiven Gabe von Hormonen umzugehen. Es bleibt somit aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdig festzustellen: 1067 SZ, 182, 2000, S. 12; GREISER arbeitet für das „Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin“ (BIPS). 1068 SZ, 66, 2001, V2/19; RABE arbeitet an der Universität Heidelberg an einem Projekt zum Nutzen der Hormonersatztherapie. 549 Brustkrebs ist die häufigste Tumorart bei Frauen. Die auftretenden Fälle sollten registriert sein. Niemand kann genau Auskunft geben, wie häufig diese Krebsart wirklich auftritt. Zur Zeit werden jährlich ca. 47 000 Patientinnen neu diagnostiziert. Bisher wurde im schulmedizinischen Betrieb bei der Diagnose „Brustkrebs“ im Allgemeinen nicht nach folgenden Faktoren gefragt: Länge der Stillzeit Einnahme von Medikamenten/Hormonen/Antibaby-Pille Zahl der Schwangerschaften Wohnbereich in der Nähe von Strahlungsquellen. In Zukunft ist die gemeinsame Einrichtung eines nationalen Brustkrebs-Registers geplant, das in Zusammenarbeit zwischen neun Frauenarztverbänden und dem Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg eine möglichst hohe Anzahl von relevanten Daten sammeln und auswerten soll. Nach der neuen Lehrmeinung gelten die bislang entdeckten „Brustkrebs-Gene“ als Ursache für eine Häufung der Fälle in einer Familie. Dies ist das Ergebnis eines Projekts, an dem zwölf deutsche Unikliniken zusammen arbeiteten. MEINDL:1069 „In den meisten Familien ist es schlicht Zufall, wenn zwei Frauen erkranken.“ Es wird jedoch nicht mehr als Zufall angesehen, wenn drei oder mehr Tumore auftreten oder zwei der Kranken jünger als 50 Jahre alt sind. Weitere Ergebnisse der Forschung: 1069 Mittlerweile sind die beiden Brustkrebs-Gene BRCA1 und BRCA2 bekannt. Ausländische Studien gingen bisher davon aus, dass fünf bis acht von zehn Frauen mit Veränderungen an diesen Genen im Laufe ihres Lebens erkranken, viele schon vor dem 50. Lebensjahr. Diese Genmutationen begünstigen offenbar auch die Entstehung von Eierstockkrebs. SZ, 66, 2001, V2 /20; MEINDL ist Humangenetiker an der Universität München. 550 Bei 5 bis 10% der jährlich 47 000 Brustkrebsdiagnosen ist eine ererbte Mutation mit beteiligt. Von insgesamt 1000 untersuchten Hochrisikopatientinnen war bei 210 eine Mutation im BRCA1-Gen nachzuweisen, bei 90 eine Mutation im BRCA2-Gen. Ob bisher unbekannte Gene eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. In den 300 Familien mit Mutationen wurden wiederum 75 verschiedene Mutationen des BRCA1-Gens und 64 Mutationen des BRCA2-Gens gefunden. MENDELSOHN zur Einnahme der Antibabypille im Zusammenhang mit der Entstehung von Brustkrebs: „Das Wirkungsprinzip der Pille besteht darin, in einen natürlichen Prozess – den Eisprung – einzugreifen, indem man den Körper zu einer Fehlleistung zwingt. So gesehen wird jede Frau, die die Pille nimmt, im wahrsten Sinne des Wortes krank gemacht . . . In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich stapelweise Wissenschaftsberichte zu lesen bekommen, die sämtlich Erkrankungen und Todesziffern von Frauen betreffen, die die Pille genommen haben. Es hat sich gezeigt, dass diese Frauen deutlich anfälliger sind für Krebs in der Gebärmutter und am Gebärmutterhals, in der Brust und der Leber . . . Aber seit die Frauen angefangen haben, die Pille zu nehmen, ist das kritische Alter (für Brustkrebs, Anm. d. Verf.) weit unter 30 gesunken. Wissenschaftler, die eine Gruppe von 450 Frauen untersuchten, stellten zu ihrem Erschrecken 15 Fälle von Brustkrebs bei Frauen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren fest. Die 15 jungen Frauen nahmen alle die Pille.“1070 Neuere positive Erkenntnisse zur Brustkrebs-Statistik: 1071 52 Studien an insgesamt 160 000 Frauen wurden neu ausgewertet. Dabei kam man zu folgenden Erkenntnissen: 1070 1071 Etwa neun von zehn Frauen werden bis zu ihrem 80. Geburtstag nicht an Brustkrebs erkranken. Selbst wenn Mutter, Schwester oder Tochter bereits an Brustkrebs erkrankten, bleiben die meisten Frauen davon verschont. MENDELSOHN, 1989, S. 136 bis 137 SZ, 261, 2001, V2 /11; Lancet, 2001, Bd. 358, S. 1389 551 Von 100 Frauen erkranken bis zum 50. Lebensjahr etwa ein bis zwei an dem Tumor, auch wenn sie keine betroffenen Verwandten haben. Wenn eine Verwandte erkrankt ist, so sind es statistisch gesehen vier von 100 Frauen, die erkranken. Bei der Erkrankung von zwei Verwandten sind es acht von 100 Frauen. Nur ein bis zwei von 100 Frauen sterben an dem Tumor, bevor sie 50 Jahre alt werden. Brustkrebsrisiko im Alter zwischen 50 und 80 Jahren: Etwa sechs Frauen müssen laut Statistik mit dieser Diagnose zwischen 50 und 80 Jahren rechnen. Bei Erkrankung einer Verwandten sind es zehn von 100 Frauen. Sind zwei Verwandte erkrankt, so sind es 13 Betroffene. Bis zum 80. Geburtstag sterben je nach familiärem Risiko drei bis sieben von 100 Frauen an Brustkrebs. MENDELSOHN weist unter anderem darauf hin, dass es in den Jahren von 1940 bis zu den siebziger Jahren auch üblich war, das synthetische weibliche Hormon Diäthylstilböstrol (DES) „großzügig“ zu verordnen. „1972 begannen sich dann die Langzeitwirkungen von DES zu zeigen. Bei einigen Frauen, die das Hormon genommen hatten, trat Brustkrebs auf, bei ihren weiblichen Kindern Scheidenkrebs und bei den Knaben, die sie seither geboren hatten, genitale Abnormitäten.“1072 Solche Erkenntnisse konnten natürlich nicht in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht werden, die gleichzeitig durch Werbung für bestimmte Medikamente finanziert wurden. Die Erkenntnisse MENDELSOHNS wurden aus einsehbaren Gründen auch nicht in einem renommierten Medizin-Verlag publiziert. Ethische Gesichtspunkte waren ausschlaggebend, dieses Wissen zu veröffentlichen. „Die Ärzte, . . . die . . . so entschieden ihre unhaltbaren Standpunkte verteidigten, bestärkten . . . meine Entschlossenheit, auch weiterhin alle medizinischen Praktiken aufzudecken, die ich verabscheue.“ 1072 MENDELSOHN, 1989, S. 41 552 Durch die Weiterentwicklung und Forschung im pharmazeutischen Bereich sollten möglicherweise bereits bekannte Schäden ausgeschlossen werden. Es wurde die zweite und dritte Generation der Pille entwickelt. Folgende Tatsachen sind (auf statistischer Grundlage) zu diesen Medikamenten inzwischen nachzulesen:1073 Pro Jahr entwickeln 15 von 100 000 Frauen, die mit der Pille der zweiten Generation verhüten, eine Thrombose, die unter Umständen tödlich enden kann. Bei der Pille der dritten Generation erhöht sich diese Zahl auf 25 pro 100 000. Diese Erkenntnisse lagen der Pharmafirma Wyeth vor. Die entsprechende Studie wurde jedoch nicht veröffentlicht und RundfunkJournalisten bei der Ankündigung einer Sendung zu diesem Thema mit juristischen Schritten gedroht. BECKMANN zur Rechtssituation: Die Firma Wyeth scheint zunächst im Recht, denn es besteht keine Verpflichtung von Pharmakonzernen, ihre Studien zu veröffentlichen. „Unerfreuliche Ergebnisse müssen sie aber an die Behörden weiterleiten. Die Firma selbst rechtfertigt sich damit, dass die Studie keine neuen Ergebnisse vorweisen könne und dass sie mangelhaft gewesen sei. ROSENDAAL dazu: „Ob die Studie es wert ist, entscheidet man, bevor man sie beginnt . . . Auch wenn nichts Neues dabei herausgekommen ist, ist das Ergebnis von Interesse.“ Es lassen sich grundsätzlich folgende Gesichtspunkte zur Taktik der selektiven Veröffentlichung von Studien festhalten: Studien, die das erhoffte Ergebnis zeigen, werden veröffentlicht. Studien mit unerfreulichen oder geschäftsschädigenden Ergebnissen werden zurückgehalten. Es gibt vielfältige Argumentationen, auch das Zurückhalten zu rechtfertigen. Die Ergebnisse sind oftmals eine Interpretationssache. Ein Rechtsstreit ist oftmals langwierig; bis zu einer Entscheidung – oftmals erst nach mehreren Jahren – wird das Medika1073 SZ, 66, 2001, V2 /21; BECKMANN ist Mitarbeiter am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. 553 ment ohne Rücksicht auf mögliche Schädigungen weiter verkauft. Elf von 18 vergleichenden Untersuchungen weisen laut BECKMANN inzwischen ein erhöhtes Thrombose-Risiko für die Pille der dritten Generation nach. Die Erklärung für dieses Phänomen scheint vorzuliegen: Antibabypillen beinflussen den Faktor V der Blutgerinnung. Dieser wird durch das „aktivierte Protein C“ (APC) gehemmt. Auf diese Weise können leichter Pfropfen im Blut entstehen. Bereits 1995 hatten Studien darauf hingewiesen, dass die in den achtziger Jahren zugelassenen Verhütungsmittel das Risiko von Thrombosen stärker erhöhen als ältere Präparate. Die Pillen der dritten Generation unterscheiden sich von der Vorgängergeneration durch die Auswahl des Gestagen-Hormons. Damals hatte die Bonner Behörde die Hersteller aufgefordert, in den Beipackzetteln darauf hinzuweisen, dass einige Hormon-Varianten das Risiko der Entstehung von Blutgerinnseln stärker erhöhen als andere; Frauen unter 30 sollten die Präparate gar nicht einnehmen.1074 Thrombosehäufigkeit pro Jahr: pro 100 000 gesunde Frauen : bei Einnahme der Pille der 2. Generation: bei Einnahme der Pille der 3. Generation: 5 –10 20 30 – 40 Hormone nach Schlaganfall wirkungslos Frauen, die bereits einen Schlaganfall erlitten, werden durch Hormongaben nicht vor einem weiteren Hirninfarkt geschützt. 664 Frauen mit dem Durchschnittsalter von 72 Jahren nahmen nach einem Schlaganfall an einer von VISCOLI/HORWITZ 1075 geleiteten Studie teil, in der Wirkung von 17ß-Östradiol getestet wurde. Die 1074 SZ, 227, 2001, S. 9 SZ, 250, 2001,V2 /13; Catherine VISCOLI und HORWITZ arbeiten an der Yale Universität in Haven, USA; auch in: New England Journal of Medicine, 2001, Bd. 345, S. 1243 1075 554 eine Hälfte der Versuchsgruppe bekam täglich ein Milligramm des Hormons, die andere Hälfte ein Placebo verabreicht. Die Ergebnisse nach einer Beobachtungszeit von drei Jahren: Frauen, die mit der Ersatztherapie/Placebos behandelt wurden: 99/93 waren gestorben oder hatten einen weiteren Schlaganfall erlitten. Die Diskussion darüber, ob Hormone bei jüngeren Frauen eine Schlaganfall verhindern können, hält an. Unnötige Tonsillektomien – nur in den USA? „Mehr als 90% der in den USA vorgenommenen Tonsillektomien sind technisch unnötig, und doch werden 20 bis 30% aller Kinder dieser Operation unterzogen. Eines von 1000 stirbt an den unmittelbaren Folgen der Operation, und 16 erleiden schwere Komplikationen. Alle verlieren wertvolle Immunisierungsmechanismen.“1076 „Jahrzehntelang waren Tonsillektomien der Broterwerb der Chirurgen und Kinderärzte in der Chirurgie. In den dreißiger Jahren nahmen die Ärzte 1,5 bis 2 Millionen Tonsillektomien pro Jahr vor . . . Ich bezweifle, dass bei mehr als einem von 10 000 Kindern dieser Eingriff notwendig ist, und doch werden pro Jahr noch immer Hunderttausende von Tonsillektomien vorgenommen. Sie führen in 100 bis 300 Fällen zum Tod, und bei 16 von 1000 Operationen treten Komplikationen auf.“1077 Reihenuntersuchungen an Schulkindern aus dem Jahr 1934 – ein klassisches Beispiel für die Voreingenommenheit der Ärzte 1078 Untersuchungen 1. Reihenuntersuchung von 1000 Kindern aus öffentlichen Schulen 1076 Ergebnisse Bei 61% der Kinder waren die Mandeln bereits entfernt worden ILLICH, 1995, S. 80 und 81 MENDELSOHN, 1990, S. 140 und141 1078 Harry BAWKIN in New England Journal of Medicine, 1945, Bd. 232, S. 691bis 697, zitiert in ILLICH, 1995, S. 68 1077 555 New Yorks 2. Untersuchung der 39% durch eine andere Gruppe von Ärzten ( 39% ohne Befund). 45% dieser Kinder wurde zu einer Tonsillektomie geraten (der Rest ohne Befund wurde nach Hause geschickt). 3. Untersuchung der Gruppe ohne 46% wurde zu einer Entfernung Befund aus der 1. Untersuchung der Mandeln geraten durch andere Ärzte 4. Dritte Nachuntersuchung der Empfehlung zur Tonsillektomie Gruppe der 2. Untersuchung bei einem ähnlichen Prozentsatz. (Kinder ohne Befund) Zum Schluss blieben nach drei Untersuchungsgängen von 1000 Kindern noch 65 übrig, bei denen die Ärzte keine Tonsillektomie angeordnet hatten. Unnötige Untersuchungen – Fehldiagnosen und daraus resultierende Fehlbehandlungen Ein Test ergab, dass bei Brustkrebs jede zweite Diagnose falsch ist.1079 Dadurch, dass die Vorsorgeprogramme nicht auf dem neuesten Stand seien, aber auch durch die Anwendung alter Geräte sei der Tod von 2100 Frauen nicht vermieden worden.1080 Jede zweite Tumordiagnose der an einem Test beteiligten Ärzte sei trotz eindeutiger Röntgenbefunde falsch gewesen. Ein Viertel aller Untersuchungen in den USA sind nach einer neuen Studie unnötig. Etwa die Hälfte aller Komplikationen und 35% aller Sterbefälle als Folge von Operationen wären nach dieser Studie vermeidbar gewesen.1081 OHMANN geht in Deutschland davon aus, dass 40% der Diagnosen bei Erstuntersuchungen falsch waren. Auch nach weiteren Untersuchungen mit Labordiagnosen waren noch 20% der Diagnosen falsch. 1079 MM vom 3. 6. 1994 Monitor, ARD, 2. 6. 1994 1081 SZ, 35, 1998, S. 2; eine Untersuchung der „Public Health Research Group“; OHMANN ist Leiter des Funktionsbereichs Theoretische Chirurgie der Universität Düsseldorf. 1080 556 „Bei jüngeren Ärzten ist nahezu jede zweite Diagnose falsch, bei erfahrenen Ärzten immerhin noch jede fünfte.“ In einer anderen Studie des niedersächsischen Sozialministeriums wird die Behauptung vertreten, dass jede zweite Gebärmutterentfernung überflüssig sei, ebenso 40% aller Eingriffe an Eierstöcken und Eileitern sowie 30% der Blinddarmoperationen bei Frauen. Jeder zweite Kaiserschnitt sei nicht notwendig gewesen, wurde bei Untersuchungen an der Universität in Rom festgestellt. KRUSE verweist auf die Möglichkeit, durch Rückmeldungen der Kollegen aus allen Fachsparten Fehldiagnosen festzustellen.1082 Auch die Irreführung der Ärzte durch gut informierte Patienten ist ein Grund für Fehldiagnosen. Juristen und Ärzte werden wesentlich seltener operiert als der Durchschnittsbürger. Es lohnt sich auch, bei Ärzten nachzufragen, welche Impfungen sie selbst erhalten haben und wann und ob sie regelmäßig – wie empfohlen – aufgefrischt wurden. Ein Blick in den Impfpass der Ärzte kann Klarheit verschaffen. Jeder Arzt, der die empfohlene Vorsorge bei sich selbst und seiner Familie nachweisen kann, ist meiner Ansicht nach glaubwürdig. Eingriffe an Ärzten und „Normalbürgern“: ein Vergleich nach einer Schweizer Studie Art des operativen Eingriffs Chirurgische Eingriffe allgemein Mandelentfernungen Leistenbrüche Gallenblasenerkrankungen Normalbürger/Erhöhung in % 33% 47% 53% 84% Es liegt keine Erklärung dafür vor, warum das so ist. Medizin und Pharmaforschung – ein ewiger Kreislauf ? Die Frage, ob die wissenschaftliche Medizin und die Pharmaindustrie in vielen Fällen durch ihre Arbeitsweise und -techniken dafür 1082 MM, 121, 1998, S. 1; Waltraut KRUSE ist Professorin an der Uniklinik Aachen. 557 sorgt, dass immer genügend Arbeitsfelder vorhanden sind, muss jeder selbst versuchen zu beantworten. Ob die Zunahme der Lebenserwartung wirklich dem Konto der Medizin zugerechnet werden darf, bleibt offen. Es ist eine nicht zu leugnende Tasache, dass sowohl Zivilisationskrankheiten als auch unheilbare Krankheiten wieder auf dem Vormarsch sind und dass Glauben und Wissen nicht weit voneinander entfernt sind. Aufrichtigkeit, minimale Eingriffe in den menschlichen Organismus, eine gesunde Lebensweise, mehr Verantwortungsbewusstsein auf Seiten der erziehenden Generation und eine gehörige Portion Skepsis können möglicherweise schwerwiegenden Schäden vorbeugen. Millardenschäden durch Betrug im Gesundheitswesen1083 Eine siebenköpfige Arbeitsgruppe, der sich inzwischen rund 60 Krankenkassen angeschlossen haben, ist seit 1998 damit beschäftigt, dieser Form von Wirtschaftskriminalität Einhalt zu gebieten. Der aufgedeckte Gesamtschaden wird für das Jahr 2001 alleine für Niedersachsen mit etwa 50 Millionen Mark angegeben. In Bayern gibt es keine vergleichbare Arbeitsgruppe. Operationen durch kranke Ärzte Trotz eines Hirnschadens und offenbar erheblicher psychischer und physischer Beeinträchtigungen hat ein hirnkranker Chirurg angeblich weit mehr als 120 Operationen durchgeführt. Bei mindestens einer Operation erlitt ein Kind aufgrund eines Behandlungsfehlers irreparable Schäden. Die Operationen, an denen er mitwirkte, waren auch als Teil seiner beruflichen Rehabilitation gedacht.1084 Ein weiterer Chirurg der Universitätsklinik Göttingen verschwieg 24 Jahre lang seine Hepatitis-B-Infektion und operierte in diesem Zeitraum über 4000 Patienten. Mindestens zwei Patienten seien mit der gleichen Virus-Untergruppe des Arztes infiziert.1085 Die Krankenhausleitung hatte nach Bekanntwerden des Falls dem Arzt gegenüber das Verbot ausgesprochen, Patienten ohne Impfung zu operieren. 1083 MM, 172, 2001, S. 1 SZ,157, 2001, S. 14 1085 MM, 160, 2001,Weltspiegel; Mitteilung von OPPERMANN, Wissenschaftsminister, Hannover 1084 558 In Aachen hatte in einem ähnlichen Fall ein Arzt 47 von 2000 Patienten angesteckt. In diesen Fällen stellt sich die Frage, warum die Ärzte selbst nicht geimpft waren, wenn Impfungen einen wirksamen Schutz bieten sollen. Krankmachende Krankenhausbesuche Etwa 7% der Patienten, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden, erleiden dort „kompensationsberechtigte“ Schäden. Nur im Baugewerbe oder Bergbau ereignen sich mehr Unfälle als im Krankenhaus, wenn lediglich Industriezweige berücksichtigt werden. Von 50 Kinder-Patienten stößt einem im Krankenhaus ein Unfall zu, der eine nachfolgende spezifische Behandlung erforderlich macht. Einer von fünf in eine Forschungsklinik eingelieferten Patienten muss statistisch damit rechnen, sich ein Leiden zuzuziehen, das durch die Behandlung von Ärzten zugefügt wurde und das in einem von 30 Fällen tödlich endet.1086 1086 ILLICH, 1995, S. 26 und 27 559 Die fragwürdig geschützte Gesellschaft Die unendliche Geschichte der Impfungen EDWARD JENNER, die erste Pockenimpfung vornehmend „Ich weiß nicht, ob ich nicht doch einen furchtbaren Fehler gemacht und etwas Ungeheueres geschaffen habe.“1087 I. KANT befürchtete, dass sich die Menschen durch die Pockenimpfung „zu sehr mit der Tierheit gleichstellen . . . und sich eine Art Brutalität einimpfen“ könnten.1088 „. . . Bist du sicher, dass diese Impfung dich schützt?“ „Ganz sicher“, erklärte ich. „Vielleicht sollte ich dich begleiten“, meinte er stirnrunzelnd. „Das geht nicht – du bist nicht geimpft, und Typhus ist schrecklich ansteckend . . .“ 1089 „. . . Sie müssen morgen ins Spital kommen, um sich impfen zu lassen. Aber um ein Ende zu machen, und ehe wir die Geschichte anfangen, merken Sie sich, dass Ihre Chancen davonzukommen, nur eins zu zwei stehen. . . .“1090 „ . . . Die Statistik über die Wirkung der vorbeugenden Impfung war in seinem Gedächtnis eingegraben. Aber er war unfähig, die wöchentliche Zahl der Pestopfer anzugeben, und er wusste wahrhaftig nicht, ob die Seuche zunahm oder zurückging. . . .“ 1091 1087 EDWARD JENNER, zitiert in: ENDERS, 1995, S. 115 zitiert in: KARGER-DECKER,1973, S. 207 1089 Diana GABALDON, Ferne Ufer, 1999, S. 718 und 719 1090 Albert CAMUS, Die Pest, 1956, S. 74 1091 Albert CAMUS, Die Pest, 1956, S. 125 1088 560 Iatrogene Faktoren als Ursachen für Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen . . . Als unausweichliche Schlussfolgerung bietet sich an, dass die genetisch bedingten, die ernährungsbedingten, die umwelt- und verhaltensbedingten wie auch die medizinisch bedingten Einflüsse, die die menschliche Reaktion auf Infektionskrankheiten bestimmen, unendlich komplex sind. Daher müssen wir sehr zurückhaltend mit der Behauptung sein, Infektionen völlig zu verstehen oder über zuverlässige Mittel zu ihrer Kontrolle zu verfügen. . . .“1092 Diese Zeilen sind heute aktueller denn je, in einer Zeit, in welcher nicht nur Infektionskrankheiten sondern auch Allergien, chronische Erkrankungen, Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen sowie geistige Behinderungen weltweit stark zunehmen. Es stellt sich daher immer wieder die Frage nach dem „warum“. Die medizinische Forschung scheint sich trotz der immer wieder propagierten Fortschritte im Kreis zu drehen. Alle Ansätze, welche die Errungenschaften eben dieser modernen Medizin in Frage stellen, werden von vorneherein als abwegig abgewiesen oder als unverantwortliches Denken und Tun abqualifiziert. Es scheint mir dennoch wichtig, den Nutzen oder Schaden von Impfungen immer wieder zu hinterfragen. Aufgrund der vielen möglichen neurologischen Schädigungen ist es an der Zeit, den Mythos „Impfung“ in Frage zu stellen und die vielen Faktoren, die gerne verschwiegen oder nur marginal angeführt werden, zu benennen. Es wird immer mehr beklagt, dass Kinder nicht mehr richtig denken, nicht mehr richtig begreifen und konzentriert arbeiten können. Eine neurologische Schädigung kann neben vielen anderen Ursachen dafür verantwortlich sein. Heute, da Eltern immer weniger Zeit für ihre Kinder aufbringen können, scheint bedingungsloser, kurz- und langfristiger Schutz vor Krankheit wichtig zu sein. Ob dies aber sinnvoll und überhaupt mög1092 McKEOWN, T., Die Bedeutung der Medizin, 1982, S. 153; McKeown, Professor für Sozialmedizin an der Universität von Birmingham. 561 lich ist, welcher Preis letzten Endes dafür bezahlt werden muss, darüber besteht keine Einigkeit. Aufgrund meiner vielen Gespräche mit Lehrkräften von GrundHaupt- und Sonderschulen und als Ergebnis langjähriger eigener Beobachtungen, schält sich eine klare Erkenntnis heraus: Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, unerklärliche Verhaltensweisen oder der Verlust von Rechtsempfinden nehmen stark zu. Lässt sich dies alles nur durch gesellschaftliche Faktoren erklären oder sind möglicherweise andere, noch zu wenig bekannte Faktoren Auslöser solcher Entwicklungen? Die folgende Arbeit soll dazu beitragen, zum Teil sehr unpopuläres Gedankengut zu einem neuen Bild aus sonderpädagogischer Sichtweise zu verknüpfen, auch wenn dadurch manches als sicher geltendes Wissen in Frage gestellt werden wird. Impfschäden in der medizinischen Literatur Zunächst sollen aus der medizinischen Literatur vielfältige Stellen zitiert werden, welche beweisen sollen, dass seit langer Zeit sowohl die Gefährlichkeit von Impfungen als auch die möglichen, daraus resultierenden Schäden bekannt sind. Gerade im Hinblick auf Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen ist es von großer Bedeutung, auch eine Schädigung des ZNS durch iatrogene Faktoren in Betracht zu ziehen. Der Verfasser vermutet, dass die auffälligen, zunehmenden Verhaltensänderungen und Lernbehinderungen neben anderen, bereits angeführten gesellschaftlichen Faktoren, auch durch iatrogene Schädigungen mehrerer Generationen bedingt sein könnten. Diese These soll im Folgenden belegt werden. Die biologische Reifung läßt sich nach CASE1093 durch verschiedene Prozesse erklären. 1093 OERTER/MONTADA, Entwicklunspsychologie, 1995, S. 563 562 Der Mensch ist einerseits bereits bei der Geburt mit einer Kernausstattung von Problemlösungsprozessen ausgerüstet, während andererseits bereits unmittelbar nach der Geburt die Automatisierung von Lernprozessen einsetzt. Eine wesentliche Voraussetzung für den zweiten, wichtigen Vorgang (Informationsverarbeitung im Kurzzeitspeicher) ist die Myelinisierung (Markscheidenbildung) im Gehirn. Myelin ist eine weiße, fette, zähe Substanz welche wasserundurchlässig ist und die Nerven derart umhüllt wie die Isolierung einen elektrischen Draht. COULTER führt dazu an: „Die Entwicklung des Nervensystems des Kindes während der Schwangerschaft und nach der Geburt vollzieht sich in zwei Phasen. Zuerst treten die Nervenfasern (Neuronen und Achsenzylinderfortsätze) in Erscheinung. Erst wenn sie alle an Ort und Stelle sind, beginnt der Prozeß der Umhüllung mit Mark. Bevor die Myelinisierung beginnt, sind die Nervenfasern verletzlich, da Nervenimpulse marklose Fasern langsamer durchlaufen als mit Mark umhüllte. Auch kann es Kurzschlüsse zwischen den Fasern geben. Aber im Augenblick der Geburt hat die Myelinisierung eben erst begonnen. Bei einigen Nerven fängt sie überhaupt erst im Alter von acht Monaten oder noch später an. Sie entwickelt sich dann in unterschiedlichem Tempo je nach neurologischem Sektor weitere 15 Jahre, und bei manchen Nerven hält die Myelinisierung bis zum 40. Lebensjahr an! Sie beginnt in den phylogenetisch älteren Teilen des Gehirns (den Teilen, die der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat) und geht dann auf die phylogenetisch jüngeren Teile über (die den Menschen vom Tier unterscheiden). Da die Großhirnhälften und die Großhirnrinde (der Ort des Gedächtnisses und der höheren Verstandesfunktionen) die phylogenetisch jüngsten Teile sind, sind sie auch die letzten, die vollständig mit Mark umgeben werden – erst im fünften Lebensjahr oder noch später.“1094 1094 COULTER, L. Harris, Impfungen der Großangriff auf Gehirn und Seele, 1995, S. 63 563 Dabei ist von Bedeutung, dass verschiedene Systeme auch in der Myelinisierung variieren. CASE weist darauf hin, dass bestimmte Leistungen erst dann ohne Störungen möglich werden, wenn die betreffende Markscheidenbildung in den entsprechenden Regionen des Gehirns abgeschlossen ist. Die Nervenfasern sind also äußerst verletzlich, bevor der Prozeß der Myelinisierung abgeschlossen ist. Eine Untersuchung von DIETRICH und Mitarbeitern aus dem Jahre 1988, bei der die elektromagnetischen Resonanzen der Gehirne von Säuglingen im Alter von vier Tagen bis zu 36 Monaten aufgezeichnet wurden, stellt fest, dass „die entwicklungsmäßig zurückgebliebenen Kinder ungenügende Myelinisierung aufwiesen.“1095 Neueste Forschungen zeigen, dass isolierte Myelin bildende Zellen offensichtlich in der Lage sind, blankliegende Nerven von gentechnisch veränderten Ratten zu umhüllen und somit defektes Gewebe ersetzen können.1096 Bei Patienten mit multipler Sklerose und den damit oft einhergehenden schweren Bewegungsstörungen geht die schützende Myelinschicht der Nerven allmählich zugrunde. Bei Kindern mit Impfschäden, oder bei Kindern, die eine deutliche Entwicklungsverzögerung aufweisen, sind ebenfalls oftmals deutliche Bewegungs- und Koordinationsstörungen zu erkennen. STEINHAUSEN weist in dem Kapitel „Organische Psychosyndrome“ auf folgende Tatsache hin: „Zu den entzündlichen Erkrankungen des ZNS zählen die durch Bakterien, Viren, Protozoen und Pilze bzw. in der Folge von Allgemeinerkrankungen oder Impfungen bedingten Krankheitsbilder Enzephalitis und Meningitis.“1097 Es soll die vornehmliche Aufgabe dieser Arbeit sein, zu hinterfragen, welche Faktoren möglicherweise bestimmte Krankheitsbilder und die damit verbundenen Beeinträchtigungen auslösen können. Um die 1095 o. a. S. 164 Oliver BRÜSTLE, Neuropathologe an der Universität Bonn in der Fachzeitschrift Science; SZ Nr. 174, 31.7. / 1. 8. 1999, S. 12 1097 STEINHAUSEN, H.C., Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 1996, S. 95 1096 564 ganze Breite der Entwicklung aufzuzeigen wird immer wieder auch auf entsprechende geschichtlich-medizinische Texte zurückgegriffen werden. Dass es sich dabei sehr häufig um homöopathische Ärzte und deren Beobachtungen handelt, hängt damit zusammen, dass es gerade diese Berufsgruppe war, die sehr oft mit hoffnungslosen Fällen von Impfschäden konfrontiert wurde und der es gelang, die entsprechenden Fälle nicht aus schulmedizinischer Sicht zu betrachten, sondern eigene Perspektiven zu entwickeln, welche bei einer schulmedizinischen Behandlung aufgrund der anderen Denk- und Betrachtungsweise nicht möglich gewesen wären. Impfbeschwerden Nach dem Reichsimpfgesetz vom 4. März 1874 muss in Deutschland jedes Kind vor Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Jahres der Schutzpckenimpfung unterzogen werden. Dieselbe wird im 12. Lebensjahre nochmals wiederholt. Gesetzliche Gründe zur Unterlassung der Impfung sind nur Krankheitszustände der Impflinge, während in England auch Gewissensbeschwerden der Eltern berücksichtigt werden. Impfbeschwerden kommen nach dem Impfen öfters vor, besonders infolge zu tiefer Einschnitte, Verunreinigung der Wunden und Benutzung verdorbener Lymphe. Seitdem die reine Kuhpockenlymphe allgemein benutzt wird und die Impfvorschriften viel strenger als früher sind, kommen wirklich ernste und gefährliche Folgen bei vorher gesunden Kindern nicht mehr so häufig vor, dagegen läßt sich nicht leugnen, dass die Impfung bei schwächlichen und skrofulösen Kindern schlummernde Krankheiten zum Ausbruch bringen und somit zu ernsten Gesundheitsstörungen Veranlassung geben kann. 1098 Im gleichen Text wird darauf hingewiesen, dass zwischen dem 7. und 9. Tag nach dem Impfen Fieber, rosenartige Geschwulst oder tiefe Geschwüre auftreten können. 1098 VOGEL, G. Homöopathischer Hausarzt, 1923, Neuauflage 1984, S. 128 565 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde von EDWARD JENNER die Behauptung aufgestellt, dass ein von ihm entwickeltes Impfverfahren zuverlässigen Schutz vor der Pockenerkrankung biete. 1099 Diese Behauptung wird bis zum heutigen Zeitpunkt aufrechterhalten und wird uns mehr oder weniger bewußt fast täglich durch entsprechende Zeitungsmeldungen regelrecht „eingeimpft“, obwohl vielfältiges Beweismaterial existiert, welches sogar vermuten lässt, dass Impfungen – auch in der heutigen Form- möglicherweise sogar mehr Schaden als Nutzen bringen. Eine Übersicht über entsprechende Zeitungsmeldungen zweier verschiedener Tageszeitungen im Zeitraum von 1994 bis zum Jahr 2002 soll dies verdeutlichen.1100 Als die Impfschäden immer bedrohlichere Ausmaße annahmen sprach JENNER seine Zweifel gegenüber der medizinischen Gesellschaft aus: „Ich weiß nicht, ob ich nicht doch einen furchtbaren Fehler gemacht und etwas Ungeheueres geschaffen habe.“1101 BUCHWALD weist darauf hin, dass es vor allem Waisenkinder waren, die damals in den Landesimpfanstalten geimpft wurden. ebenso war es üblich, das von den Waisenkindern gewonnene neue Impfmaterial unter den Fürstenhöfen auszutauschen. Durch diese Handhabung wurden aber auch alle bekannten Erkrankungen des Blutes einschließlich der Geschlechtskrankheiten schnell zu weiterer Ausbreitung gebracht. 1807 wurde in Hessen die gesetzliche Impfflicht eingeführt. Andere Länder schlossen sich an. Etwa 70 Jahre später entstanden die ersten Hilfsschulen in Deutschland, so 1879 in Elberfeld, dann 1881 in Braunschweig und in Leipzig. Das Reichsimpfgesetz trat 1875 in Deutschland in Kraft. Bereits im Jahre 1884 wies der englische homöopathische Arzt J. C. BURNETT auf einen Zustand hin, den er als Vakzinose bezeichnete.1102 1099 BUCHWALD, G., Impfen - das Geschäft mit der Angst, 1995, S. 20 1100 WALTER, J. Überblick über Zeitungsmeldungen 1101 zitiert in: ENDERS, 1995, S. 115 1102 BURNETT, J.C., Vakzinose und ihre Heilung mit Thuja, 1991, S. 11 566 Allein ein Blick auf die in den Impfstoffen enthaltenen Impfstoffzusätze verdeutlicht nach ROY1103 die Gefahren, die diese Stoffe für den menschlichen Organismus darstellen. Impfstoffzusätze Antibiotika Betapropriolakton Formaldehyd Natriumtimerfonat Thiomersal Protaminsulfat Neomycin Gentamycin Human-Albumin Hühnereiweiß Hydrolysierte Gelatine Aluminiumhydroxid Aluminiumphosphat Bekannte Nebenwirkungen allergieauslösend inaktiviert Impfstoffe; krebserregend Allergieauslöser; Bronchitis, Asthma, krebserregend als Konservierungsmittel als Konservierungsmittel Blutungshemmend: plötzlicher Blutdruckabfall, Atemstörungen, Hautrötungen (Komaprophylaxe): Allergie, Magen-Darm-Störungen (Antibiotikum): Nieren-, Hör- und Gleichgewichtsstörungen, Allergen, Immunsuppressivum (als Stabilisator): Allergen Allergen (als Füllstoff, Bindemittel): aus Tierknochen (als Adjuvans): Allergen (als Adjuvans): Allergen, Alzheimerische Krankheit Wird der Quecksilbergehalt aller Impfungen addiert, die ein Kind bis zu seinem zwölften Lebensjahr erhalten sollte, so wird der zulässige Grenzwert für den Körper eines Erwachsenen bei weitem überschritten. Eine besondere Gefahr besteht durch die Impfstoffe, die aus tierischen Seren oder menschlichen Krebszellen hergestellt werden, da durch den Akt der Impfung die Artenschranke durchbrochen wird, wenn unter Umgehung des Verdauungskanals direkt in den Organismus gelangen. 1103 ROY, Carola u. R., 1997, S. 34 f. 567 Ist der sprunghafte Anstieg von Allergien in den letzten Jahrzehnten möglicherweise auf eine genetische Langzeitwirkung von Impfungen zurückzuführen? Jeder dritte Deutsche leidet unter Allergien. Experten gehen davon aus, dass nur jeder zehnte Allergiker richtig behandelt wird.1104 Neben den klassischen Allergien wie Heuschnupfen oder allergisches Asthma ist auch bei Kontaktallergien der Haut und verwandten Erkrankungen wie der Neurodermitis eine starke Zunahme zu verzeichnen. Es sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, welche Rolle die über Jahrzehnte hinweg bei mehreren Generationen vorgenommenen Impfungen dabei spielen. Da wenig Aussicht besteht, der Wahrheit über Statistiken oder von der Pharma-Industrie finanzierte „wissenschaftliche“ Untersuchungen näher zu kommen, bleibt nur ein einfacher Weg: Jeder interessierte Laie sollte selbst beginnen, Fragen zu stellen. Beobachten sie und fragen sie von Allergien Betroffene. Fragen sie danach, wie viele Impfungen bisher durchgeführt wurden, wann sie durchgeführt wurden und beurteilen sie selbst, ob das auftreten einer Allergie in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung stehen könnte. Impfungen sollen die Abwehrkraft stärken, das Immunsystem trainieren. Es besteht aber auch die Möglichkeit einer Schädigung, nämlich dann, wenn es überfordert wird durch provozierte Abwehrreaktionen; nämlich dann, wenn Impfstoffe mit Zusatzstoffen und entsprechenden Erregern zu einem willkürlich von Ärzten gewählten Zeitpunkt routinemäßig ohne gründliche körperliche Untersuchung, ohne eingehende Beratung und ohne Abwägung der Notwendigkeit durchgeführt werden. Fragen sie auch nach, wenn „Kinderkrankheiten“ auftreten. Alleine in meinem Bekanntenkreis weiß ich von einem Mumps-Fall der trotz Impfung auftrat und von einer Masern-Erkrankung eines Erwachsenen trotz Impfung. Fragen sie nach und tauschen sie ihre Erfahrungen aus. Albert CAMUS beschreibt in seinem Roman „Die Pest“ sehr anschaulich den klassischen Verlauf einer Epidemie. Über die Rolle eines entsprechenden Impfstoffes kann der Leser in seinem Werk selbst philosophieren. 1104 MM, 2001, 103, S. 1 568 Überblick über Impffolge-Symptome aus der „schulmedizinischen“ Literatur Hinweise zu den Literaturangaben: (Die hochgestellten Zahlen beziehen sich auf die Literaturangaben in der Fußnote, die nachfolgenden, großen Zahlen in runder Klammer beziehen sich immer auf die Seite der zuletzt angegebene Quelle.) Alle Daten sind eigentlich nichts Gegebenes. Es sind vielmehr Zahlen, die bereits einem menschlichen Verarbeitungsprozess unterworfen wurden. Somit sind sie „capta“ geworden, „Gefangene“ des menschlichen Geistes mit all seinen Schwächen und Irrtümern. Da jede Statistik aufgrund bestimmter Interessenlagen erstellt wird und jeweils immer nur die gemeldeten oder bekannten Daten ausgewertet werden, sind die folgenden Daten und Symptome grundsätzlich nur als Möglichkeiten zu sehen, vor allem deshalb, weil sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort des Auftretens grundsätzlich nicht vorhersagbar ist. Wir haben es auch im wissenschaftlichen Bereich immer nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun, obwohl uns hier durch viele Veröffentlichungen ein ganz anderes Bild vermittelt wird. Die der Literatur entnommenen Prozent- und Zahlenangaben haben somit nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Für den von einer ernsthaften Symptomatik betroffenen Menschen und seine Angehörigen ist es letzten Endes unbedeutend, wie oft dieses Symptom auftritt. Hinter allen Zahlen steht der betroffene Mensch. Die Häufigkeitsangaben haben folgende Bedeutung. häufig mehr als 10%, gelegentlich 1-10%, selten weniger als 1%, sehr selten weniger als 0,1% und Einzelfälle einzelne Fallmeldungen, noch nicht quantifizierbar.1105 Diese Begriffe sind natürlich immer in die Relation zur verkauften und angewendeten Anzahl der Impfstoffpräparate zu setzen. 1105 Rote Liste, 1995, Zusammenstellung von Gegenanzeigen und Anwendungsbeschränkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen, S. 115 569 Abkürzungen: P: Polio, D: Diphterie, T: Tetanus, HIB: Haemophilus influenzae Typ b. , Spiess1106, S. 37 DPT,HIB,Polio (S. 59) 1. Lebensjahr : Krampfanfälle; präexistierende Erkrankungen des ZNS können zeitgleich mit dem Impfprozess klinisch auftreten. (56)P: Enzephalopathie 1: 140 000, Risiko bleibender cerebraler Schäden 1: 300 000 (38)P: Fieber, Bewusstseinstrübung, Unruhe, persistentes Schreien, Krampfanfälle, muskuläre Hypo-oder Hypertonien, anhaltende mentale oder motorische Retardierung. (164)D: Lokalreaktion (mind. 20 mm Durchmesser), Aluminiumzysten, Fieber, Übelkeit, Nephrose, vorübergehende thrombozytopenische Purpura, Hämaturie, Exazerbation einer Tuberkulose oder einer Allergose, vereinzelt zerebrale und neurale Schäden, polyneuritische Lähmungen als Gaumensegel- Facialis - und Abduzenparese, mit Akkomodationsstörung, Papillitis und Optikusneuritis, periphere Paresen an den Extremitäten. (173) T: selten örtliche Reaktionen, Rötung, Schwellung, sterile Absezessbildung, hyperergische Reaktionen, Exantheme, Urtikaria, anaphylaktischer Schock mit Todesfällen, Hitzegefühl, regionale Lymphknotenschwellungen (184) HIB: in 1-2% lokale Rötungen und Schwellungen, Irritabilität, Apathie, erbrechen und Fieber bis 40 Grad (195) Polio: Impfpoliomyelitis, hohes Fieber, anhaltende Durchfälle, Meningitis, Paresen (205) Masern: Impfmasern mit Fieber über 39 Grad bis zu 5 Tagen und flüchtigem Exanthem, Fieberkrämpfe, Enzephalitis (218) Röteln: Virämie, Lymphadenopathie, Gelenkschwellungen 1106 SPIESS, Impfkompendium, 1994 570 (228) Mumps: Lokalreaktionen selten, Fieber, Fieberkrämpfe, mumpsähnliche Erkrankung, Diabestesinduktion wird diskutiert. 1107 (236) Influenza: 10% geringe Hautrötung, Verhärtung der Injektionsstelle, leichte Temperaturerhöhung, Muskelschmerzen (260) Hepatitis A/B: gelegentlich Rötung, Schwellung, leichter Schmerz, selten Kopfschmerz, Übelkeit, leichtes Fieber,allergische Reaktionen auf Thiomersal (271) FSME: lokale Entzündung mit Reaktion der Lymphknoten; Allgemeinreaktionen: Fiebr- Kopf- Kreuz- Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, gelegentlich auch Übelkeit, Neuritiden und Neuralgien in seltenen Fällen (276) Varizellen : gelegentlich Rückenschmerzen, Hautausschlag, Tachykardie, Blutdruckabfall, Atemnot, bis hin zum anaphylaktischen Schock (wie bei allen anderen Immunglobulinpräparaten auch) (288) Tollwut: Rötung, Verhärtung, Juckreiz, Fieber, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Neurokomplikationen (?) (293) Gelbfieber: Rötung, Schwellung, leichter Temperaturanstieg, Kopf- Gliederschmerzen (301) Typhus: gelegentlich Magen-Darm-Beschwerden (307) Cholera: bei ca. 10% Nebenwirkungen und Komplikationen zu erwarten; Allgemeinreaktionen: Temperatursteigerung, Schüttelfrost, gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerz, Übelkeit, Brechreiz, Unpäßlichkeit, Urtikaria und Purpura selten (313) Japanische Enzephalitis: bei Impfungen nach 1965 eine erstaunlich geringe Nebenwirkungsrate*; Fieber, allgemeine Schwäche und abdominelle Symptome 1107 ROY, 1997, S. 224, berichtet über 19 in der Fachliteratur angeführte Fälle von Diabetes nach einer Mumpsimpfung und drei Diabetesfälle nach einer Mumpserkrankung. 571 (318 f.) Pocken: Abnorme Lokalreaktionen: Aufflammen der Reaktion („Reaktion auf schlafende Keime“), Impfulzera, Impfkeloid, Nebenpocken, Vaccinia serpiginosa, area bullosa, area migrans Kutane/okuläre Reaktionen: Vaccinia secundaria und translata, generalisata oder gangraenosa, Vakzine des Auges, postvakzinale Exantheme, Purpura, Organerkrankungen, Angina, Pneumonien, Myokardaffektionen, Dyspepsien, Nierenerkrankungen, Osteomyelitis, Postvakzinale Zerebralsymptome, Okkasionskrämpfe, Meningitische Reaktionen, Myelitische und bulbäre Reaktionen, Postvakzinale Enzephalopathie und Enzephalitis** (331) Meningokokken-Meningitis: Lokal- und Fieberreaktionen (337) Pneumokokken: lokale Rötung, leichter Schmerz, lokale Verhärtung, leichtes Fieber; bei Wiederholungsimpfungen sechsmal häufiger Reaktionen (343) Pest: lokale Rötung und Schwellung, regionale Lymphknotenschwellungen, Fieber, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit Mendelsohn1108 Zu den Impfungen allgemein: (232): es ist nicht bekannt, welchen Schaden artfremde Proteine im menschlichen Körper anrichten es gibt keinen schlagenden wissenschaftlichen Beweis für die Wirksamkeit von Massenimpfungen Epidemien erlöschen in Ländern mit Massenimpfungen und solchen ohne Massenimpfungen nahezu gleichzeitig (233): möglicherweise ist die starke Zunahme von Autoimmunerkrankungen*** auf die künstliche Immunisierung zurückzuführen (233) Pocken: 30 Jahre lang starben Kinder durch Pockenimpfungen, obwohl die Krankheit selbst keine Bedrohung mehr darstellte. 1108 MENDELSOHN, 1990, S. 232 f. 572 MENDELSOHN1109 (165) Diphterie: Vier von 16 Diphterieopfern waren im Jahre 1969 in Chicago völlig immun gegen die Krankheit; fünf weitere hatten eine oder mehrere Dosen des Impfstoffes injiziert bekommen, zwei von ihnen zeigten vollständige Immunität. (166): Bei einem weiteren Bericht mit drei Todesfällen war eines der Todesopfer und auch 14 der 23 erkrankten völlig immun gewesen. (166) Keuchhusten: Das Serum gegen Keuchhusten wirkt nur bei der Hälfte der Geimpften; es besteht grundsätzlich die Gefahr von Krämpfen und Gehirnschäden. (166) Masern: Ein Zusammenhang zwischen Impfung und Enzephalopathie besteht: 1: 1 000 000; zudem gibt es einen häufige Zusammenhang zwischen der Impfung und neurolgischen Erkrankungen.**** (167) Röteln: Arthritis (167) Polio: Einige Poliofälle in den USA wurden durch den SalkImpfstoff ausgelöst. Apotheken-Depesche 5/95: Impfung gegen FSME, Masern, Mumps Zwillingsbrüder wurden zweimal gegen FSME und anschließend gegen Masern/Mumps geimpft. Beide hörten nach den ersten Impfungen schlecht, nach der MasernImpfung ertaubten beide: ein Bruder vollständig, der andere auf dem rechten Ohr. Erhöhte Aufmerksamkeit bei der Kombination beider Impfungen und eine genaue Indikationsstellung bei der FSMEImpfung sind notwendig, bis weitere Informationen vorliegen. PZ (Pharmazeitung?), Nr.46, S. 23, Jahrgang, 16. 11.95 Entschädigung von Impfopfern Ende der 70er Jahre waren in der DDR mehrere tausend Frauen einer Anti-D-Impfprophylaxe unterzogen worden. Dabei wurden Hepatitis-Infizierte Immunglobuline verabreicht, die bei einer nicht exact bekannten Zahl von Frauen zu einer Hepatitis-C-Infektion führten. Es können maximal 6773 Frauen infiziert worden sein. Die Opfer würden lediglich als „Impfschäden“ eingestuft, mit der Folge, dass 1109 MENDELSOHN, 1988, S. 165 f. 573 keine Haftungs-Schmerzensgeld und Ausgleichsansprüche bestünden. Wissenschaftliche Untersuchungen ließen vermuten, dass bei vielen infizierten Frauen die Erkrankung langsam abklinge oder nicht schwerwiegend werde. Auch bei COULTER/FISHER, QUAST und LINDEN/BÜHLER finden sich zahlreiche Hinweise auf die Möglichkeit von Schadensfällen durch Impfungen. Zu den * im oben angeführten Text: * ROGGENDORF weist darauf hin, dass es Befürchtungen bezüglich schwerer Nebenwirkungen im Bereich des ZNS gab. Ausschlaggebend dafür war die Herstellung der betreffenden Vakzine aus Mäusehirnsuspensionen. Es wurde selten auch über Meningitis, Demyelinisierung und Polyneuritis berichtet. ** „ . . . Die jüngeren Kinder sterben eher an der zerebralen Impfkomplikation, die älteren überleben mit entsprechend höherer Frequenz bleibender Hirnschäden.“(322) Jetzt folgt ein wichtiger Hinweis für alle Lehrerinnen und Sonderpädagoginnen, da sie möglicherweise mit den Folgen von Impfschäden umgehen müssen: „Residualschäden bei Überlebenden werden zwischen 6 und 50% angegeben. Am häufigsten sind spastische Paresen, Hyperkinesen, extrapyramidale Störungen und Intelligenzdefekte in Abhängigkeit von der Schwere der Dauer der Impfenzephalitis oder Impfenzephalopathie.“ (322) *** Bei einer Autoimmunerkrankung ist die körpereigene Abwehr nicht mehr in der Lage artfremdes Eiweiß von körpereigenem zu unterscheiden. MENDELSOHN stellt die Frage: „Haben wir Mumps und Masern gegen Krebs und Leukämie eingetauscht?“ (234) Interessanterweise finden sich genau entgegengesetzte Behauptungen unter der Rubrik „Medizin aktuell“. Die folgende Zeitungsmel- 574 dung zeigt, wie unterschiedlich der Nutzen von Impfungen gesehen werden kann:1110 Leukämiegefahr durch zu wenig Impfungen Heidelberg (ap) - Das Ausbleiben frühkindlicher Infektionskrankheiten und fehlende Impfungen können nach neuen Forschungserkenntnissen offenbar zur Entstehung von Leukämie bei Kindern beitragen. Ein "untrainiertes Immunsystem" halte dem Angriff der Krebszellen nicht lange stand, sagte der Mainzer Krebsforscher Jörg MICHAELIS gestern auf einem Leukämiekongreß im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Auffällig sei, daß Einzelkinder und Kinder, die spät in eine Kindertagesstätte gebracht werden, sich als besonders anfällig gezeigt hätten. Dagegen hält der Wissenschaftler englische Untersuchungen, die Anfang der 90er Jahre einen Zusammenhang zwischen der Impfung des Blutgerinnungsvitamins K bei Babys und dem Auftreten von Leukämiefällen herstellten, für relativiert. Er sprach sich dafür aus, die zur Zeit in Deutschland geltende Impfbeschränkung für Vitamin K bald aufzuheben. MICHAELIS bezog sich bei seinen Angaben auf Untersuchungen, die zwischen 1992 und 1995 in den niedersächsischen Gemeinden Sittensen und Elbmarsch durchgeführt wurden. Einen direkten Zusammenhang zwischen der überdurchschnittlichen Häufigkeit von Leukämiefällen in der Elbmarsch und dem nahegelegenen Kernkraftwerk Krümmel habe bislang nicht bewiesen werden können. Wie so oft, begegnen uns völlig widersprüchliche Aussagen. Es bleibt zu bedenken, dass diese Zeitungsmeldung vermutlich wesentlich mehr Leser erreicht hat, als die vorher angeführte Äußerung von MENDELSOHN. 1110 Münchner Merkur, 16. Januar 1996 575 ****dazu zählen: Ataxie: lebensgefährliche Störung des geordneten Ablaufs und der Koordination von Muskelbewegungen; ein anderer Ausdruck dafür ist im Bereich der Sonderpädagogik auch Apraxie, womit eine eingeschränkte Geschicklichkeit bezüglich der Bewegungsplanung gemeint ist. Daneben existiert noch der Begriff Dyspraxie, womit eine stark eingeschränkte Fähigkeit des geschickten Einsatzes der Extremitäten bei der Bewegungsplanung gemeint ist, jedoch nicht in so starker Ausprägung wie bei einer Apraxie. AYRES schreibt dazu: „ . . . Dyspraxie ist eine der häufigsten Manifestationen von Störungen der sensorischen Integration bei Kindern mit Lernstörungen oder auch geringen cerebralen Dysfunktionen.“1111 Eine normale Persönlichkeitsentwicklung wird durch Störungen im Nervensystem verhindert. Die betroffenen Kinder brauchen aus diesem Grund besonders viel Bestätigung und Liebe (S. 149). Auch orale Apraxien mir einer eingeschränkten Beweglichkeit der Mundmuskulatur und damit verbundenen Artikulationsschwierigkeiten sind in der Praxis bekannt. Retardation: Die geistige und/oder körperliche Entwicklung ist verlangsamt Überspanntheit nicht entzündliche (aseptische) Gehirnhautreizung Schlaganfälle Halbseitige Lähmung Wie so oft begegnen uns immer wieder völlig widersprüchliche Aussagen. Es bleibt zu bedenken, dass die oben angeführte Zeitungsmeldung vermutlich wesentlich mehr Leser erreicht hat, als die vorher angeführte Äußerung von MENDELSOHN. An einem Beispiel möchte ich verdeutlichen, dass Wissen sehr oft mit Glauben verwechselt wird. Nehmen wir an, ein Kind erhält eine Impfung. Nun bestehen sehr viele Möglichkeiten einer Bewertung dieses medizinischen Eingriffs: 1111 AYRES, Bausteine der kindlichen Entwicklung, 1984, S. 128 576 Bewertung der Impfung in den Augen des Beobachters nach den auftretenden Folgen: 1. 2. 3. 4. Das Kind erkrankt nicht an der Krankheit, gegen die geimpft wurde. Die Bewertung: Eine Impfung ist nützlich und sie schützt. Die Nicht-Erkrankung wird meistens der Impfung zugeschrieben, obwohl nicht nachweisbar ist, ob das Kind auch ohne Impfung nicht erkrankt wäre. Über mögliche Spätfolgen (Prionen -Problematik) wird nicht nachgedacht, auch nicht über die Summierung der Schäden durch mehrere verschiedene Impfungen oder andere schädigende Faktoren im Sinne einer synergistischen Wirkungsweise. Das Kind erleidet einen anerkannten Impfschaden : Die Bewertung: Die Impfung war schädlich. Eine Erkrankung erfolgt trotz Impfung: Bewertung: Die Impfung war nutzlos. Erkrankung ohne Schäden bei Nichtimpfung: Wir können nicht wissen, wie der Organismus sich verhalten hätte, wenn geimpft worden wäre. Eine Bewertung ist nicht möglich. Impfbefürworter weisen auf die Möglichkeit einer wissenschaftlich exakten Diagnostik bei einem Impfschadensverdacht hin. 1112 Durch die modernen und subtilen Arbeits- und Untersuchungsmethoden der Virologie/Serologie, Genetik, Radiologie und Biochemie erscheinen laut Meinung der genannten Autoren ältere Impfschadensgutachten als wissenschaftlich nicht mehr haltbar. (362) Oftmals wurde bei vermuteten Impfschadensfällen eine völlig andere Grunderkrankung diagnostiziert; auf diese wurden dann auch die vermeintlichen Impfschäden zurückgeführt. Es ist jedoch eine Tatsache, dass in „Harrisons Innere Medizin“1113 darauf hingewiesen wird, dass Impfungen sowohl als Auslöser von Impfreaktionen als auch von Impfschäden anzusehen sind. Hier zeigt sich deutlich, dass sich unter der Bezeichnung „wissenschaftlich“ endlose Diskussionen führen lassen, deren Teilergebnisse und abschließende Fakten von einem Laien nicht mehr nachvollziehbar sind. Menschliche Beobachtungen reichen für die Herstellung 1112 WIERSBITZKY,BRUNS, Atypische Impfverläufe und aktuelle Impffragen – Die pädiatrische Impfberatungsstelle, 1995, S. 352 1113 Harrison’s Innere Medizin, USA, 13. Auflage, 1995 577 von medizinischen Kausalzusammenhängen offensichtlich nicht aus. Es gibt immer Argumente für und wider bezüglich einer Tatsache – jedoch scheint die Meinung eines Menschen bezüglich eben dieser Tatsache einerseits von den eigenen Beobachtungen, andererseits aber auch von der Vielfalt der bewusst oder unbewusst aufgenommenen Informationen abzuhängen. Faktum ist, dass wir praktisch nicht die Möglichkeit haben, alles zu prüfen und durch Fachleute prüfen zu lassen, was für uns von Wichtigkeit ist. Wir müssen uns im Falle einer für uns wichtigen Prüfung die Fachleute auswählen, von denen bekannt ist, dass sie die Gutachten so verfassen, wie es unserer Meinung entspricht. So wurde auf dem 1. Impfkritikerkongress in Augsburg im Jahre 1997 darauf hingewiesen, dass es sehr wohl von der Wahl des Gutachters abhängt, wie ein Gutachten ausfällt. Ähnliche Erfahrungen sind täglich in Pressemeldungen zu lesen, die sich mit Gutachten beschäftigen, Gutachten die z. B. im psychiatrischen Bereich abgegeben werden und oft zu fatalen Folgen führen. Der Mensch ist ein Mängelwesen und bleibt es, so wie die Geschichte der Medizin auch eine Geschichte von unzähligen Irrtümern ist. Bereits im Jahre 1982 weist der Sozialmediziner McKEOWN darauf hin, dass es nicht möglich ist, eindeutige Ursachen für den Rückgang von Epidemien und somit für den Rückgang von Erkrankungen oder gar von Todesfällen festzustellen. Die Einführung der BCG-Impfung fällt so zeitlich etwa mit dem zunehmenden Gebrauch von Streptomycin zusammen, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die Epidemieverläufe einzelner Krankheiten zum Zeitpunkt der Impfungen jweils kurz vor dem vollständigen Abklingen waren.1114 Auch BUCHWALD weist auf diese Zusammenhänge immer wieder hin.1115 Selbstverständlich spielen auch Faktoren wie die Wohnverhältnisse, die Ernährung oder die hygienischen und somit sanitären Verhältnisse eine Rolle dabei, ob ein Mensch empfänglich für eine Krankheit ist oder nicht. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang eine Meldung des Berliner Robert-Koch-Instituts vom Juli 1977: 1114 1115 MC KEOWN, Die Bedeutung der Medizin, 1982, S. 136 f. BUCHWALD, Impfen – Das Geschäft mit der Angst, 1995 578 „Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland jährlich eine Million Patienten eine Krankenhausinfektion erleiden.“ Zu den dadurch bedingten Todesfällen in Krankenhäusern werden Zahlen zwischen 10 000 und 40 000 genannt.1116 In den meisten Fällen werde eine mangelnde Hygiene dafür verantwortlich gemacht. Ärztliche Kunstfehler werden immer mehr zu einem Problem in der modernen Medizin. Bei der Auswertung von 80 000 Schadensfällen in 150 deutschen Kliniken über mehrere Jahre hinweg wurde festgestellt: „Laut unserer Datei wurden 279 Fremdkörper in Patienten vergessen: Bauchtücher, Kompressen, Tupfer, Schere oder Nadelhalter.“ (siehe dazu auch das Kapitel: Schäden durch medizinische Behandlungen) Die teuersten Fehler entstehen jedoch im Bereich der Geburtshilfe. „Dort ereignen sich zwar nur 2% der Fehler, diese können in Rekordfällen jedoch mehr als sieben Millionen Mark kosten.“ 1117 Bei den 80 000 untersuchten Fällen stellen 2% immerhin die beachtliche Zahl von 1600 medizinischen Fällen dar, bei der menschliches Leid und Folgekosten in immenser Höhe entstehen. Allergien und Impfungen Die Impfstoffe wurden im Laufe der Zeit immer wieder verändert. SPIESS bemerkt, dass die Zahl der allergischen Reaktionen „vom verzögerten Typ“ (49) durch die Zusatzsubstanz Formaldehyd deutlich vermindert werden konnte und gibt damit zu, dass solche Reaktionen offensichtlich vormals deutlich vorhanden waren. Ebenso wird von einer drastischen Verringerung der Allergien durch die Antibiotikazusätze Penicillin und Streptomycin berichtet, seit diese Substanzen durch Neomycin ersetzt wurden. Im gleichen Satz wird eingestanden, dass Allergien früher häufiger beobachtet wurden. Es ist seit Jahren bekannt, dass das in vielen Hautsalben enthaltene Antibiotikum Neomycin z. B. für allergische Hautreaktionen bei bis zu 15% der Patienten verantwortlich ist. 1118 1116 SZ, 164, 1997, S. 1 SZ, 162, 1997, S. 10 1118 Arzneimittelkommisiom der deutschen Ärzteschaft, Arzneiverordnungen , 1981, S. 377 1117 579 Auch von Formaldehyd sind schwere Auswirkungen auf den menschlichen Organismus bekannt, so z. B. die Gefahr von Schleimhautreizungen der Augen und der Atemwege und die Möglichkeit von Verätzungen und Ekzemen auf der Haut.1119 Die Gefährlichkeit dieser Zusatzstoffe wird natürlich in erheblichem Maß dadurch gesteigert, dass sie durch die Injektion direkt in die Blutbahn gelangen. Artfremde Eiweiße und vor allem Eiweißfragmente in Form von Prionen stelllen eine weitere besondere Gefahr dar, weil die BlutHirn-Schranke umgangen wird. Die Zusatzsubstanz Phenol „kann Ursache für eine lokale Typ-IVReaktion bilden“. Lactalbuminhydrolysat kann in Verbindung mit einer Nahrungsmittelallergie (Milcheiweiß) theoretisch eine allergische Reaktion auslösen. (50) Die Impfungen führen zu immunologischen Reaktionen im Körper, das heißt, dass Reaktionen lokaler und systemischer Art zu erwarten sind. (56) Speziell die DTP-Impfungen führen bei jedem zweiten Kind zu Temperaturanstieg, Gereiztheit, seltener zu Anorexie, Erbrechen, Schläfrigkeit und anhaltendem Schreien. Nach REINHARDT können bereits 11 bis 12% aller Neugeborenen als Hochrisikogruppe für die Entwicklung von Allergien angesehen werden (SPIESS, 45). Es erscheint nicht mehr verwunderlich, dass bei der immer noch hohen Durchimpfungsrate und den in den Impfstoffen enthaltenen Zusatzstoffen die Allergien unter den Kindern ständig zunehmen. So weist GRAF im Jahr 1994 darauf hin: „Bei Einschulung (1994) ist jedes zweite Kind Allergiker und eine höhere Dunkelziffer wird vermutet, jedes 5. Kind bereits Neurodermitiker und jedes 15. Kind Asthmatiker.“1120 Eine Zeitungsmeldung aus dem Jahre 1998 bezeichnet jedes zehnte Kind in Deutschland als Asthmatiker. Die Tendenz sei zunehmend. „Asthma wird vererbt, aber für den Ausbruch der Krankheit sind die Lebensumstände entscheidend“, so der Vorsitzende der deutschen Arbeitsgemeinschaft Asthmaschulung.1121 1119 FORTH u. a., Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 1980, S. 552 1120 GRAF, 1994, Die Impfentscheidungen, S. 24 1121 Münchner Merkur, 100, 1998, S. 3, 2./3. Mai 580 Es ist verständlich, dass die Kinderärzte wegen des Gesundheitszustandes der Jugendlichen in größter Sorge sind. Gleichzeitig ist nach den vorausgehenden Ausführungen aus wissenschaftlicher Sicht – nicht jedoch aus wirtschaftlicher Sichtweise, – unverständlich, warum nicht auch Zusammenhänge zwischen Impfstoffen und dem Gesundheitszustand der Jugendlichen vermehrt hergestellt werden. Fast ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind nach Aussage der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde chronisch krank.1122 An erster Stelle aller chronischen Leiden liegen die Allergien, gefolgt von den Erkrankungen des Bewegungsapparates und Fehlernährungen. GRITZ führt als Ursachen dafür folgende Gründe in folgender Rangordnung auf: 1. 2. 3. Umweltfaktoren Falsche Ernährung Psychosoziales Umfeld (Entwicklung von Fehlhaltungen durch das Alleinsein) Ärzte mit kritischem Wissenschaftsverständnis sollten meiner Ansicht nach auch Ursachen in den von ihnen angewandten Methoden suchen und nicht von vorneherein ausschließen. Von der Regierung erwarten die Ärzte, dass die „Dominanz der Krankenkassen“ massiv beschränkt wird und die Verantwortung für die Gesundheit der Kinder zum großen Teil beim Staat bleibt. An dieser Stelle ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Eltern und die Kinder selbst in erster Linie die Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und tragen müssen. Das Abgeben der Verantwortung bedeutet zugleich den Verlust des Gespürs für die eigene Gesundheit! Bleibende zerebrale Schäden durch Impfungen SPIESS gibt bei der Pertussisimpfung die Möglichkeit von Schäden mit 1: 300 000 an. (56) Wir dürfen davon ausgehen, dass diese Zahl absolut niedrig angesetzt ist. Erkrankungen, die auf eine Pertus- 1122 bei der Eröffnung des 95. Jahrestages der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in München am 9. September, in SZ, 209, 1999, L 2 581 sisimpfung zurückgeführt werden, umfassen „die ganze Bandbreite frühkindlicher zerebraler Erkrankungen“(153). Im Jahre 1992 wurden in den alten und neuen Bundesländern zusammen 809 083 Kinder geboren. In eine einfache Gleichung übersetzt bedeutet das, dass ca. drei (2,69) Kinder im Jahre 1992 alleine durch eine Pertussisimpfung bleibende cerebrale Schäden davontrugen, wenn davon ausgegangen wird, dass nahezu alle Kinder die vorgeschriebenen und empfohlenen Impfungen erhielten. Auf zehn Jahre hochgerechnet bedeutet dies 30 geschädigte Kinder, das heißt drei voll besetzte Sonderschulklassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass laut Aussagen der Impfärzte eine Verbesserung der Impfstoffe kontinuierlich vorangetrieben wurde. Andere Schätzungen finden sich bei COURNOYER, die – sich auf Coulter berufend – darüber berichtet, dass jährlich ca. zehn Menschen an der Krankheit und etwa 943 an der Impfung sterben (87). QUAK bemerkt zu den anerkannten Impfschäden in der BRD: „Sich langsam entwicklende oder erst spät auftretende Schäden sind nur sehr schwer in einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung zu bringen, da zwischenzeitlich viele weitere Faktoren bezogen auf den Menschen einwirken, die statistisch nicht oder kaum fassbar bzw. voneinander zu trennen sind. Deswegen werden solche Schäden meist nicht als Impfschäden anerkannt: Bis zum Jahre 1991 bezogen in der Bundesrepublik Deutschland „nur 1870 Impfgeschädigte Versorgungsleistungen nach dem BSeuchG (21). Nach Buchwald (31) wurden bis 1992 in Deutschland 3407 Impfschadensfälle juristisch anerkannt. Dies entspräche einer Prävalenz von 4,3 auf 100 000, bei einer Inzidenz von 0,21 auf 100 000. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland ergibt das ca. 170 anerkannte Impfschadensfälle pro Jahr. Die Zahl der gestellten Anträge ist natürlich um ein Vielfaches höher.“1123 Im Jahre 1953 wurde von KÖNIG eine Zusammenstellung veröffentlicht, in der 82 Fälle von Pertussis-Impfschäden aus der gesamten Literatur enthalten waren. Fünf Jahre später waren bereits 107 Fälle verzeichnet, davon 93 aus den USA.1124 1123 QUAK, 1996, Impfungen und Impffolgen, Internet, Stichwort : Impfungen 1124 COULTER/FISHER, Dreifach-Impfung, Ein Schuss ins Dunkle, 1991, S. 71 582 STRÖM, wies in den 50er Jahren darauf hin, dass die neurologischen Komplikationen nach der Pertussis-Impfung höher seien als durch die natürliche Erkrankung (73). MILLER et al. wiesen in der NCES-Studie 1981 darauf hin, dass es eine „bedeutsame Verbindung zwischen ernsthaften neurologischen Erkrankungen und der Keuchhusten-Impfung“ gebe (78). QUAST et al.1125 sehen als Ursache einer perivenösen Enzephalomyelitis eine Immunreaktion pathologischen Charakters und weisen darauf hin, dass die Impfstämme – so Hundenierenzellen, Entenembryonen oder aber Kaninchenzellen für die Auslösung einer Myelitis verantwortlich sein können. ROGGENDORF weist auf die Möglichkeit einer Meningitis oder einer Demyelinisierung nach vorausgegangener Impfung gegen Japanische Enzephalitis hin. Grund dafür waren die Vakzine, die aus Mäusehirnsuspensionen hergestellt wurden.1126 Die Tatsache, dass eine schwere Schädigung des ZNS durch Fremdeiweiße erfolgen kann, wird also auch in der schulmedizinischen Literatur eingestanden. Der Zeitablauf und naturgemäße Prozess des entwicklungspsychologischen Geschehens in den ersten Lebensjahren kann durch Impfungen – besonders wenn sie mit Injektionsmaßnahmen verbunden sind, zur Entgleisung gebracht werden. GRAF weist darauf hin, dass durch die Injektionsmaßnahmen die natürlichen „Fremderkennungswege“ umgangen werden.1127 Durch die Polio-, Masern oder Rötelnimpfung gelangen Viren ohne Vorwarnung in das menschliche Nervensystem. Dort erfolgt ein Einbau des Genmaterials im Zellkern von Nervenzellen, wobei jederzeit die Möglichkeit einer Reaktivierung besteht. (20) Autopsien nach postvakzinaler Enzephalitis brachten wiederholt gelblich-rote Läsionen in verschiedenen Hirnarealen zum Vorschein. Betroffen waren jeweils die weiße Substanz von Rückgrat, Hirnstamm oder Kleinhirn. Eingefärbte Gewebeproben zeigten eine vollständige oder unvolllständige Zerstörung der Myelinhüllen, wobei die Nerven selbst sich weit weniger angegriffen zeigten.1128 1125 QUAST, THILO, FESCHAREK, 1993, Impfreaktionen, S. 205 In SPIESS, Impfkompendium, 1994, S. 313 1127 GRAF, Impfentscheidungen, 1996, S. 19 1128 MERRIT, 1979, S. 102 und 103 1126 583 Impfversagen Bei der Masern-Mumpsimpfung wird eine Schutzrate von etwa 95% angegeben.1129 Gelegentlich ist auch ein Impfversagen möglich. Dies gilt im Übrigen auch für andere Impfungen. Das Auftreten einer Masernerkrankung ist trotz vorausgehender Impfung möglich. (44) Der Impfschutz wird an dieser Stelle im gleichen Buch mit über 90% angegeben, während oben noch von 95% gesprochen wird. Eine Masern-Erkrankung vermag nach STICKL sogar vorausgegangene Impfungen negativ zu beeinflussen (64). Die Ursachen für ein Impfversagen entsprechen im Wesentlichen denen für das Auftreten von Impfschäden. Ergänzt werden kann noch das Auftreten einer beeinträchtigten Impfreaktion (SPIESS/78). Es ist möglich, dass trotz regelrechter Grundimmunisierung (Hepatitis B) nach drei bis vier (!) erfolgten Impfungen kein ausreichender Anti-HBs-Titer gebildet wird. Erklärt wird diese Tatsache durch sogenannte „Low-Responder“, bei denen es zu keiner IgMStimulierung gegen das HBs-Antigen kommt (QUAST, 102). Für die Praxis wird eine wiederholte Impfung empfohlen, verbunden mit entsprechender Laborkontrolle. Dass ein 100%iger Schutz durch Impfungen nicht erfolgen kann, wird ersichtlich, da es mit Sicherheit mehrere Personen gibt, die zur Gruppe der „Low-Responder“ zählen. QUAK berichtet über mehrere große Impfunfälle: „Da Impfstoffe millionenfach auf ganze Populationen angewandt werden, können übersehene virale Durchseuchung, Rückmutation oder Neumutation des attenuierten Impfstoffes oder ungenügende . . . Erregerabschwächung für viele Menschen dramatische Konsequenzen haben (30). Große Impfunfälle treten immer wieder auf. Ein paar Beispiele aus der Medizingeschichte: 1944 gab es in Brazzaville aufgrund einer Gelbfieberimpfung 102 Erkrankungen an Enzephalitis und 17 Tote. 1942 wurde eine mit Hepatitisviren durchseuchte Gelbfieberimpfung in den USA durchgeführt. Die Folge: 28 585 Hepatitisfälle und 62 Tote. Im Jahre 1955 der sogenannte CutterVorfall in den USA; dabei gab es 250 Polioerkrankungen und zehn Tote wegen lebender Erreger im Totimpfstoff. In Berlin traten 1960 innerhalb von vier Wochen 25 Fälle von paralytischer Poliomyelitis auf, nachdem ein Impfstoff angewandt wurde, der noch eine Restfähigkeit zur Erzeugung einer Poliomyelitis besaß (56). Und 1988 bis 1129 QUAST, 100 und mehr knifflige Impffragen, 1990, S. 40 584 1992 die oben beschriebene Enzephalitishäufung bei der MMRImpfung.1130 Über weitere Fälle von sogenanntem „Impfversagen“ berichtet ROY1131: Namibia, 1994: Impfpoliomyelitis durch Fehler bei der Kühlung des Impfstoffes. Holland, 1978 und 1993: Impfpoliomyelitis bei 557 Menschen. Brasilien, 1962: Impfpoliomyelitis bei 196 Menschen. USA, seit 1961: Jeder auftretende Fall ist auf Impfpolyomyelitis zurückzuführen. Rumänien, 1988 bis 1992: Impfpoliomyelitis durch die Impfung selbst bei 18 Kindern, durch den Kontakt mit geimpften Kindern bei 13 Kindern. In regionalen Zeitungen und Informationsblättern erscheinen in jüngster Zeit aufwendige Werbeanzeigen mit einer Länge bis zu einer halben Seite nach dem üblichen Schema. Ein Angst einflößendes Foto und lange Erläuterungen, in welchen eingeräumt wird, dass es . . . „gravierende Impfkomplikationen“ bei der Polioimpfung sogar in Deutschland gab. „ . . . Die wenigen aufgetretenen Poliofälle waren aus dem Ausland eingeschleppt oder durch die Impfung selbst verursacht worden . . .“1132 Die Polioepidemie von 1978 in den Niederlanden wird folgendermaßen begründet: Die dort erkrankten 110 Personen hatten sich aus religiösen Gründen nicht impfen lassen (vgl. dazu die Darstellung bei ROY). Überblick über Impffolge-Symptome aus der homöopathischen Literatur Die mit * gekennzeichneten Fälle wurden von Dr. Eichelberger aus der alten homöopathischen Literatur übernommen. 1130 QUAK, 1996, Impfungen und Impffolgen , Seite 6, Internet, Stichwort: Impfung 1131 ROY, 1997, S. 237 f. 1132 Kreisbote, Landkreis Weilheim-Schongau, 2. 9. 1998, S. 33 585 Erklärung: Name des Verfassers, Quelle (I bedeutet Band 1 und II Band 2), Jahr, Seiten oder bei EICHELBERGER: Fallbeschreibung Nr. (F), Art der Impfung, Alter und Geschlecht des Impflings (35/w bedeutet: 35 Jahre alt, weiblich), Symptome und Komplikationen Abkürzungen für die Impfungen: BCG: Tuberkulose, HIB: Haemophilus influenzae Typ b, FSME: Frühsommermeningoenzephalitis, DPT: Diphterie, Polio und Tetanus, MMR: Masern, Mumps und Röteln Braun, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 46 bis 48 BCG: lokale Abszessbildungen, inguinale Lymphknotenschwellungen, Lymphknoteneiterungen und – wenn auch sehr selten – Aussaat der Impfbakterien im ganzen Körper HIB: Erkrankungen trotz mehrmaliger HiB-Impfungen FSME: Nervenentzündungen, Lähmungen und allergische Erkrankungen (z. B. Capillary leak Syndrome) Masern/ Mumps: Tausende Erkrankungen trotz Impfungen (Ungarn); Risiko von Erkrankungen in höherem Erwachsenenalter Pertussis: 50% der Säuglinge bekommen Fieber, Schreiattacken über Stunden und Tage sowie Krampfanfälle Eichelberger, Klassische Homöopathie I, 1979, F 95 Grippe (35/w): ständige Müdigkeit, Herzklopfen, Kreislaufbeschwerden, häufige Kopfschmerzen im Stirn- und Nebenhöhlenbereich, Halsbeschwerden 1979, F 185 Pocken (59/w): Fieber, Impfarm (1 Woche starke Schwellung), eitrige Pusteln (3 Wochen), Ekzem nässend und juckend 1979, F 213 Polio Schluckimpfung (35/m): nach 3 Tagen Schwäche in den Gliedmaßen, dauernde Stürze, beidseitige Schwellung der Halsdrüsen, Schweiß an Unterschenkeln und Füßen, Gelenkschmerzen in Fingern und Knien 1979, F 281 Pocken und Polio (24 /m): Augenmuskelschwäche, Spannungsgefühl in der Stirn, Steifheitsgefühl der Augäpfel und der Mundpartie, Lichtempfindlichkeit, betrachtete Gegenstände wackeln 586 II/1982, F 92 Diphterie/Tetanus (1/w): Gesichtsblässe, nach 3 Tagen starke Durchfälle wässrig, grün, schwarz, stinkend; Wiederauftreten von starken, bereits früher vorhandenen Hautausschlägen (Rötungen vom Bauchnabel bis zu den Knien und über das ganze Gesäß), hohes Fieber II/1982/149* wiederholte, regelmäßige Impfungen im Kindesalter (50/m): dyspeptische Beschwerden, Magengeschwür, Frieren, übermäßig viele Warzen, ständige Übersäuerung und Brechattacken, Blähbauch, Flatulenz, Schmerzen im Oberbauch II/1982 , F 154* Pocken (?), Kind: Hautausschläge, welche durch äußere Medikamente nach innen „vertrieben“ wurden; darauf Krämpfe und in der Folge Epilepsie (bis zu siebenmal täglich) II/1982/214 Pockenimpfung (36/m): hartnäckige Hämorrhoidalbeschwerden mit Blutungen, Jucken, Depressionen II/1982, F 291* Pocken (3/m): Hautausschlag, welcher mit Salben „vertrieben“ wurde, danach hartnäckiger Husten mit Auswurf im Kehlkopf II /1982, F 295* Pocken (?m): chronischer Magenkatarrh, nach Behandlung desselben faustgroße Geschwulst in der linken Brust Eichler, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 60 bis 63 Komplettimpfung, inklusive HIB (Kleinkind): Neurodermitis constitutionalis, Hitze der Haut, lautes, schmerzbedingtes Schreien, starke Unruhe, muss ständig beschäftigt werden, sehr zornig und oft unzufrieden, eigensinning und oft stur, aus dem Schlaf oft hochschreckend, dabei ganz große Augen, rollt den Kopf im Schlaf hin und her, schnarcht im Schlaf, Mund nachts meistens offen Fuckert, Deutsches Journal für Homöopathie, 1995, S. 50 bis 52 DPT/II+HiB (Säugling/m): Fieber, Verhalten gedäm