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Die „endlose Leidrede der Melancholie“ – Zyklische Struktur und spätromantischer Weltschmerz in der „Winterreise“ Magisterarbeit im Studiengang MAGISTER ARTIUM der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen - Nürnberg in der Philosophischen Fakultät II (Sprach- und Literaturwissenschaften) Betreuerin: Prof. Dr. Christine Lubkoll vorgelegt von: Julia Hartel aus Pegnitz Erlangen, im August 2005 2 Inhaltsverzeichnis Einleitung………………………………………………………………………...……...4 1. Melancholie-Diskurse von der Antike bis zur Gegenwart………………......……....9 1. 1 Der Melancholie-Diskurs in Medizin und Psychoanalyse……………………10 1. 1. 1 Die „melancholia“ der Antike……………………………………………11 1. 1. 2 Pathologisierung der Melancholie im 18. Jahrhundert…………..……...12 1. 1. 3 Melancholie und Psychoanalyse…………………………………...…….13 1. 1. 3. 1 Sigmund Freud…………………………………………………13 1. 1. 3. 2 Julia Kristeva…………………………………………………...14 1. 1. 3. 3 Moderne psychoanalytische Melancholiekonzepte…………….14 1. 2 Melancholie und Theologie: Die Todsünde „acedia“ im Mittelalter….…….15 1. 3 Melancholie und Mythologie: Der Saturn-Kult…………………………...….17 1. 4 Melancholie und Soziologie………………………………………………….....18 1. 4. 1 Robert Burtons Melancholieverbot………………………………………18 1. 4. 2 Die Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert………………...………..19 1. 4. 3 Bürgerliche Melancholie, Weltschmerz und Hypochondrie im 18. Jahrhundert………………………………...……………………..20 1. 4. 4 Melancholie und Aufklärung……………………………………………..22 1. 5 Melancholie und Philosophie…………………………………………..………24 1. 5. 1 Melancholiereflexionen bei Pseudo-Aristoteles………................……….24 1. 5. 2 Melancholie in der Renaissance: Marsilio Ficino…………………….…26 1. 5. 3 Philosophische Begründung der Melancholie bei Denis Diderot..............27 1. 5. 4 Melancholie und Anthropologie.................................................................27 1. 5. 5 Melancholie und literarische Erfahrungsseelenkunde...............................28 1. 5. 6 Walter Benjamin.........................................................................................29 1. 6 Melancholie und Literatur..................................................................................29 1. 6. 1 „Wonne der Wehmut“: Die Empfindsamkeit.............................................29 1. 6. 2 Die europäische Weltschmerz-Bewegung um 1800....................................31 1. 6. 3 Melancholie und Romantik.........................................................................34 2. Das Wandern: Melancholie-Symptom und -heilmittel.............................................36 3. Wilhelm Müller und Franz Schubert – zwei „Weltschmerzler“?.............................40 3. 1 Wilhelm Müller....................................................................................................40 3. 2 Franz Schubert...................................................................................................44 4. Der Gedicht- bzw. Liederzyklus: Entwicklung und Merkmale.................................50 4. 1 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Gedichtzyklus...........................50 4. 2 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Liederzyklus.............................55 4. 3 Zu überprüfende zyklische Merkmale der „Winterreise“............................59 3 5. Die „Winterreise“.......................................................................................................60 5. 1 Entstehungsgeschichte der Dichtung.................................................................60 5. 2 Entstehungsgeschichte der Komposition...........................................................61 5. 3 Die zyklischen Merkmale der Dichtung............................................................62 5. 3. 1 Linearität....................................................................................................62 5. 3. 2 Kohärenz.....................................................................................................65 5. 3. 2. 1 Die formale Anlage der Gedichte................................................65 5. 3. 2. 2 Kohärenzstiftende Motive...........................................................66 5. 3. 2. 2. 1 Traurigkeit und Schmerz..........................................69 5. 3. 2. 2. 2 Orientierungslosigkeit und Unruhe..........................76 5. 3. 2. 2. 3 Einsamkeit und Menschenverachtung......................77 5. 3. 2. 2. 4 Einbildungskraft.......................................................79 5. 3. 2. 2. 5 Desillusionierung......................................................82 5. 3. 2. 2. 6 Todessehnsucht.........................................................85 5. 3. 2. 2. 7 Nihilismus.................................................................88 5. 3. 3 Mittelpunktsbezogenheit: thematisches Zentrum Wanderschaft...............90 5. 3. 4 Geschlossenheit.........................................................................................91 5. 4 Die zyklischen Merkmale der Komposition......................................................95 5. 4. 1 Linearität...................................................................................................96 5. 4. 2 Kohärenz....................................................................................................99 5. 4. 2. 1 Die formale Anlage der Lieder...................................................99 5. 4. 2. 2 Bezüge zwischen den Liedern....................................................99 5. 4. 3 Mittelpunktsbezogenheit..........................................................................102 5. 4. 4 Geschlossenheit.......................................................................................105 5. 5 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ – Die Melancholie in der Komposition...........................................................................................107 5. 5. 1 Tonartencharakteristik............................................................................111 5. 5. 2 Rhythmik..................................................................................................114 5. 5. 3 Harmonik.................................................................................................115 5. 5. 4 Melodik....................................................................................................118 5. 5. 5 Tongeschlechter.......................................................................................119 Zusammenfassung und Ausblick.................................................................................121 Literaturverzeichnis......................................................................................................125 Wahrheitsgemäße Erklärung.......................................................................................136 Lebenslauf der Verfasserin..........................................................................................137 4 Einleitung „Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, „nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.“ Eines Tages sagte er zu mir, „komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.“ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze „Winterreise“ durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, „Der Lindenbaum“, gefallen. Schubert sagte hierauf nur, „mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen“; und er hatte recht, bald waren wir begeistert von dem Eindruck der wehmütigen Lieder, die Vogl meisterhaft vortrug.“1 Diese Erinnerung Josef von Spauns an den Eindruck, den die „Winterreise“ anfangs auf ihn und einige andere Freunde Franz Schuberts machte, sagt etwas sehr Wesentliches über dieses Werk aus. Es ist „schauerlich“, „düster“ und „wehmütig“ – kurz: melancholisch. Dies gilt für den Text des Werkes aus der Feder Wilhelm Müllers gleichermaßen wie für den Liederzyklus, also die vertonte Version, auf die sich obiges Zitat bezieht. Zu behaupten, dass sich hierüber seit der Entstehungszeit des Werks alle Rezipienten einig sind, stellt wohl keine Übertreibung dar. Andererseits existiert keine Analyse des Zyklus, in der einmal explizit untersucht worden wäre, woran diese Behauptung festzumachen sei. Meist bleibt es hier bei der recht vagen Feststellung, dass die Gedichte bzw. Lieder der „Winterreise“ melancholisch seien.2 Konkrete Belege für die Melancholie des Werks oder gar eine umfassend begründete Einordnung desselben in den Melancholie-Diskurs liegen bislang noch nicht vor. Bosse und Neumeyer3 und auch Braungart und Dürr4 befassen sich ansatzweise mit dieser Frage, in der möglichen Ausführlichkeit wird das Problem jedoch auch hier nicht behandelt. Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit zu schließen versuchen. Hierzu erfolgt im ersten Kapitel ein Abriss des Melancholie-Diskurses von der Antike bis zur Gegenwart, der in den verschiedensten Disziplinen (der Medizin, der Theologie, der Literatur u.a.) vonstatten geht, um schließlich eine genauere Aussage darüber treffen zu können, was unter der bislang unscharf bestimmten „Melancholie der 1 VON SPAUN, Josef: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert (1858). In: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Wiesbaden 1983, S. 160 f. 22 Vgl. z.B.: COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles. Interpretations and Texts. Chapel Hill 1970, S. 48. 3 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön. Musensohn und Wanderlied um 1800. Bd. 35 der Rombach Wissenschaft-Reihe Litterae. Hrsg. von Gerhard NEUMANN und Günter SCHNITZLER. Freiburg im Breisgau 1995, insb. S. 122 ff. 4 BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert. Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie. Hrsg. von Georg BRAUNGART und Walther DÜRR. Stuttgart 1996, S. 7-37. 5 ‚Winterreise’“ konkret zu verstehen sei. Besonders in diesem Kapitel muss aus Gründen der Länge auf einige Aspekte verzichtet werden, die auch überaus interessant wären: So werden etwa die Melancholie-Reflexionen der Frankfurter Schule bis auf diejenigen Walter Benjamins weggelassen (letzterer bezieht sich besonders stark auf den historischen Melancholie-Diskurs).5 Nietzsche und Schopenhauer müssen hier ebenfalls unberücksichtigt bleiben; Kierkegaard wird nur ganz kurz angetippt. Mit dem Themenkomplex Melancholie ist auch das darauf folgende Kapitel verknüpft, das sich mit dem Zusammenhang von Melancholie und Wandern bzw. Reisen beschäftigt; ebenso soll das Kapitel über die beiden Künstler Müller und Schubert bzw. deren weltanschaulichen Hintergrund Wesentliches zur Beantwortung der Fragestellung leisten. Besonders zur Biographie Wilhelm Müllers existiert aufgrund des verstärkten Forschungsinteresses der letzten Jahrzehnte eine beachtliche Menge an Sekundärliteratur, die in diesem Rahmen natürlich nicht in vollem Umfang verarbeitet werden kann. Als grundlegend wird hier die immer noch einschlägige Monographie von Cecilia Baumann6 betrachtet. Ansonsten werden in erster Linie diejenigen Forschungsarbeiten und Quellen herangezogen, die für die spezielle Fragestellung des Kapitels relevant sind. Die dort entwickelten Ergebnisse werden auch bei der Betrachtung der Texte der „Winterreise“ noch einmal aufgegriffen und z.T. vertieft. Die Melancholie, die aufgrund dieser Untersuchungen als für die „Winterreise“ bestimmend herausgearbeitet wurde, soll sodann sowohl auf textlicher wie auch auf musikalischer Ebene konkret nachgewiesen werden.7 Hierbei geht es in der Dichtung vor allem um die Darstellung bestimmter kohärenzstiftender Motive, die ich als „Melancholie-Motive“ bezeichne, da sie durchweg aus dem traditionellen MelancholieDiskurs stammen. Bezüglich der Komposition soll die Frage erörtert werden, mit Hilfe welcher musikalischer Mittel die Melancholie der „Winterreise“ zum Ausdruck gebracht wird. Ein anderer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Betrachtung der zyklischen Anlage von Musik und Text. Zu diesem Thema liegen zwar schon weitaus mehr Publikationen vor8 (zu nennen wären u.a. Ludwig Stoffels´ Abhandlung „Die Winterreise. Müllers 5 Zu den anderen Vertretern der Frankfurter Schule und deren Verbindungen zur Melancholie vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München 1996, S. 156 ff. 6 BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles: His Life and Works. Pennsylvania State University, USA 1981. 7 Es ist durchaus möglich, den Text der „Winterreise“ losgelöst von der Komposition zu betrachten (umgekehrt ist dies natürlich nicht denkbar). Man muss schließlich berücksichtigen, dass das Werk zuerst als Gedichtzyklus veröffentlicht und erst später vertont wird. 8 Budde behauptet dennoch, dass diese Frage bislang selten gestellt worden sei (vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München 2003, S. 9). 6 Dichtung in Schuberts Vertonung“9, Christiane Wittkops Beitrag „Polyphonie und Kohärenz“10, die sich ausschließlich mit der Dichtung auseinandersetzt11, oder auch Elmar Buddes eben zitierter Band „Schuberts Liederzyklen“, in der die Vertonung im Vordergrund steht12). Doch dass die Melancholie der „Winterreise“ in verschiedener Hinsicht in der zyklischen Struktur des Werks ihren Ausdruck findet, scheint bisher noch niemand festgestellt zu haben. Wenn der Zyklus also auf mehrere zyklische Kriterien hin analysiert wird – auch hier werden Dichtung und Vertonung betrachtet –, dann wird dabei auch immer auf die jeweiligen Verbindungen zum MelancholieDiskurs Bezug genommen. Zur Entwicklung der zu überprüfenden Kriterien und zur Möglichkeit einer Einordnung der „Winterreise“ in die Geschichte des Gedicht- bzw. Liederzyklus wird ein eigenes Kapitel diesem Themenkomplex gewidmet sein. Hierbei wird sich zeigen, dass zyklische Dichtung gerade in der Epoche der Romantik eine äußerst wichtige und verbreitete Gattung darstellt: Da die Romantiker nämlich die Unmöglichkeit ihres Bestrebens erkennen müssen, das „Ganze“ zu erfassen, versuchen sie zumindest die Annäherung daran durch kleine „Teile“. Der Behauptung ClausMichael Orts im alten „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“, man könne z.B. aus der Tatsache, dass in dieser Zeit „Gedichtzyklen [...] nur sehr selten explizit als solche überschrieben“ seien, schließen, „wie wenig im 19. Jh. Zykl. D. ausdrücklich und als solche reflektiert worden“ sei13, kann also nicht zugestimmt werden. Dies mag vielleicht für den Begriff „Zyklus“ gelten – nicht jedoch für die Gattung an sich. Ein anderer Einwand könnte lauten, der Zyklusbegriff sei in dieser Zeit noch nicht so streng wie z.B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (da man etwa Zyklen selten als Ganzes zur Aufführung bringt, sondern häufiger einzelne Teile herauslöst und in Konzerten mit anderen Programmpunkten kombiniert14). Man würde hier also dem Zyklus Eigenschaften unterstellen, die der Dichter gar nicht gekannt und somit nicht beabsichtigt haben könne. Dagegen wäre jedoch mit Joachim Müller einzuwenden, dass ein Zyklus auch dann als solcher angesehen werden kann, wenn rückwirkend 9 STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung. Bd. 48 der Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik. Hrsg. von Martin VOGEL. Bonn 1987. 10 WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“. Stuttgart 1994. 11 Wittkop widmet sich auch der Untersuchung von Motiven in der „Winterreise“, sie erkennt sogar einige Motive, die sich mit meinen Melancholie-Motiven überschneiden, doch sie benennt sie nicht als solche und nimmt auch sonst keinen Bezug auf den Melancholie-Diskurs. 12 Vgl. Anmerkung 8. 13 ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklische Dichtung“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus KANZOG und Achim MASSER. Berlin und New York 19842, Bd. 4, S. 1106. 14 Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 9. 7 Kriterien bei ihm feststellbar sind, die für zyklische Dichtung als konstitutiv erkannt werden können.15 Zur Entwicklung der zu überprüfenden zyklischen Kriterien lehne ich mich an eben diesen Aufsatz Joachim Müllers an, indem ich mich wie er sozusagen an der Etymologie des Wortes „Zyklus“ orientiere, d.h. die Eigenschaften eines Kreises auf den Zyklus zu übertragen versuche. Dies geschieht in der Absicht, der ursprünglichen Bedeutung der Gattungsbezeichnung möglichst nahe zu kommen; und wiederum muss Claus-Michael Ort widersprochen werden, der Müllers Vorgehensweise zur Herleitung der Zykluskriterien beinah als etwas einfältig darstellt.16 Was bei der Textanalyse übrigens aus Gründen der Begrenzung unterbleiben muss, sind ausführlichere Sprach- und Formanalysen; da motivische, d.h. inhaltliche Bezüge zwischen den Texten im Vordergrund stehen, erscheint dies in diesem Zusammenhang aber auch verzichtbar. Von der großen Anzahl an Forschungsarbeiten zur „Winterreise“, die sich allerdings in den meisten Fällen eher allgemein mit Fragen des Wort-Ton-Verhältnisses oder eben mit Text und Vertonung separat auseinandersetzen, werden hier in erster Linie diejenigen Beiträge eingehender mit einbezogen, die am ehesten etwas zu meiner spezifischen Fragestellung – also zur zyklischen Struktur und zur motivisch-thematischen Gestaltung der „Winterreise“ – beitragen. Insgesamt kann diese Abhandlung im Grunde als „interdisziplinär“ bezeichnet werden, da sie sich auf kultur-, literatur- und musikwissenschaftlichem Terrain bewegt. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Betrachtung des Verhältnisses von Text und Musik der „Winterreise“; es wird also im wesentlichen ein komparatistisches Verfahren zugrunde gelegt. Hierbei muss man sich mit der nicht immer unproblematischen Tatsache arrangieren, dass Literatur und Musik verschiedene Betrachtungsweisen erfordern: Während sich zum Beispiel die Melancholie auf textlicher Ebene relativ eindeutig belegen lässt – es sind hier, wie gesagt, eindeutige Melancholie-Motive zu finden –, kann dies in der Vertonung oft nur an dem Eindruck oder den Gefühlen festgemacht werden, die bestimmte kompositorische Strategien, die Schubert zum Teil in Anlehnung an entsprechende Traditionen verwendet, im Hörer erwecken (ein Wechsel von Dur nach Moll etwa wird aufgrund bestimmter Hörgewohnheiten zumeist, jedoch auch wiederum nicht zwingend, als Verdunkelung der Stimmung empfunden). Zudem, so formuliert Schmid Noerr, „stoßen wir beim Versuch, Musik zu ‚verstehen’, auf 15 Vgl. MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift. Hrsg. von Dr. H. SCHRÖDER und F. R. SCHRÖDER. 20. Jahrgang, Heft I/2 (Jan./Feb. 1932). Heidelberg 1932, S. 6. Müller bezieht sich in diesem Kontext speziell auf Shakespeare-Sonette; das Argument ist aber durchaus auch verallgemeinerbar. 16 Vgl. ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklische Dichtung“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, S. 1107 f. 8 einen ihr allein eigenen Kern von ‚Bedeutung’, der sich nicht auf den wie immer gearteten Kontext ihres kommunikativen Gebrauchs reduzieren läßt. Die Musik setzt ihrer Projektion auf sprachlich bestimmbare Inhalte, und seien sie noch so ungegenständlich, einen prinzipiell unauflösbaren Widerstand entgegen. Mit diesem Widerstand, ja dieser Eigendynamik der Musikalität muß jede Interpretation rechnen [...]“.17 Dieser Widerstand lässt sich dadurch erklären, dass Musik „zu ihrem unwesentlichsten Teil auf der Nachbildung sinnlicher Gegebenheiten beruht“; sie ist eine „gegenstandslose“ Kunst.18 Die Ideen, die sie vermittelt, sind nicht eindeutig zu definieren. Andererseits kann Musik „die namenlosen Stimmungen“ ausdrücken, zu deren Bestimmung man in der Sprache immer Situationen beschreiben muss, in denen diese Stimmungen dann aufkommen können.19 Es geht bei der Betrachtung der Komposition übrigens, um auch dies von vornherein klar zu machen, nicht um genaue Analysen, also um Feinstrukturen des Werks, sondern eher um das Aufzeigen von Gesamttendenzen, das zugegebenermaßen in gewisser Weise nicht zuletzt wegen des beschränkten Rahmens zum Teil auch laienhaft bleiben muss. Zur Zitierweise wäre schließlich noch zu sagen, dass hier zwischen den Gedichttexten Müllers und dem von Schubert vertonten Text unterschieden wird: Die Gedichte werden nach der Müller-Gesamtausgabe20 zitiert, angegeben werden bei der ersten Erwähnung der Gedichte jeweils Gedichtnummer, Seiten- und ggf. Zeilenzahl, ab der zweiten Erwähnung nur noch die Zeilenzahl in Klammern hinter den Zitaten. Der von Schubert an manchen Stellen veränderte Text wird nach der für diese Arbeit verwendeten Notenausgabe21 zitiert. Als Belege für die besprochenen Lieder werden ebenfalls beim ersten Mal jeweils Nummer, Seiten- und ggf. Taktzahl, ab dem zweiten Mal nur noch die Taktzahl in Klammern hinter die Zitate gesetzt. Einzig beim Titel wird keine Unterscheidung getroffen: Abgesehen davon, dass der Zyklus bei Wilhelm Müller eigentlich „Die Winterreise“ heißt und erst Franz Schubert den Artikel streicht, 17 SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund. Eine Interpretation des Liedes „Gute Nacht“ aus dem Zyklus „Winterreise“ von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Zum Verstehen von Musik und Sprache. In: Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen BELGRAD u.a. Frankfurt/Main 1987, S. 373 f. 18 Ebd., S. 374. 19 Ebd., S. 375. 20 MÜLLER, Wilhelm: Die Winterreise. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von MariaVerena LEISTNER. Band I: Gedichte I. Berlin 1994, S. 170-186. 21 SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie IV: Lieder. Bd. 4, Teil a. Vorgelegt von Walther DÜRR. Kassel u.a. 1979, S. 110-191. 9 wird in dieser Arbeit der Einfachheit halber immer nur von der „Winterreise“ gesprochen, auch wenn vom Text die Rede ist. 1. Melancholie-Diskurse von der Antike bis zur Gegenwart Wenn von der These ausgegangen wird, dass die „Winterreise“ von Melancholie geprägt ist, dann stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, was Melancholie denn überhaupt sei. Heute bezeichnet der Begriff oft schlicht eine „traurige Stimmung“, doch entspricht dies auch der Melancholie, die in der „Winterreise“ transportiert wird? Und woran lässt sich die Behauptung, die „Winterreise“ sei melancholisch, im Detail festmachen? Es erscheint sinnvoll, einen Überblick darüber zu geben, wie das Phänomen Melancholie in der Geschichte gedeutet und erklärt wurde. Hierbei wird sich zeigen, dass es im Lauf der Zeit eine Vielzahl von unterschiedlichen Bedeutungen und Konnotationen besaß – und dass bis heute keine vollständige Definition des Phänomens erfolgen konnte. Dieser Abriss von Melancholie-Diskursen soll also einerseits transparent machen, welche Vorstellungen von Melancholie zur Entstehungszeit der „Winterreise“ kursieren, und andererseits auch das Verständnis der auf die Melancholie anspielenden Motive, die in der „Winterreise“ auftauchen, erleichtern. Das Phänomen Melancholie, das in der menschlichen Realität wohl schon so lange existiert, wie es Menschen gibt, wird im Lauf der Jahrhunderte zum Reflexionsgegenstand der verschiedensten Disziplinen, und besonders in der Literatur stellt es „ein dauerhaft attraktives Thema und Motiv“ dar.22 Medizin, Theologie, Philosophie, Literatur und Soziologie beschäftigen sich mit der Melancholie wohl vor allem, um eine Antwort darauf zu finden, wie sie zu erklären und wie mit ihr umzugehen sei. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass diese eigentlich theoretischen Melancholie-Diskurse in manchen Phasen wiederum Einfluss auf die gesellschaftliche Realität haben. Dies gilt z.B. für das 18. Jahrhundert, in der Melancholie-Reflexionen in der Literatur tatsächliche „Melancholie-Fälle“ in der Gesellschaft hervorrufen. Natürlich spielen hierbei auch fast immer äußere Entwicklungen, wie etwa die Politik, eine Rolle.23 22 WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart und Weimar 1997, S. 1. 23 Diese These vertritt auch Mattenklott, indem er behauptet, dass Melancholie nur scheinbar grundlos auftrete; in Wahrheit sei sie doch immer auf (sozial-)geschichtliche Entwicklungen zurückzuführen (vgl. MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968, S. 10 f.). 10 Auffällig ist die Tatsache, dass die Melancholie von Anfang an und zu allen Zeiten als ambivalentes Phänomen charakterisiert wird, dass man ihm also positive wie negative Merkmale zuschreibt.24 Was ich an dieser Stelle auch schon vorweg nehmen möchte, ist der Hinweis darauf, dass es zahlreiche Begriffe gibt, die z.T. mit dem Begriff „Melancholie“ synonym verwendet werden. Werner Nesbeda unterscheidet hier die Begriffe „Schwermut“, „Trübsinn“, „Wehmut“, „Weltschmerz“ und später „Misanthropie“, „Hypochondrie“ etc., die ihm zufolge zwar alle nicht ganz genau das Gleiche bezeichnen wie „Melancholie“, aber dennoch in gewisser Weise mit ihr in Zusammenhang stehen.25 Einzig der Begriff „Schwermut“ kann als vollwertiges Synonym der Melancholie betrachtet werden.26 Die „Stationen“, die ich bei meinem Durchgang durch den Melancholie-Diskurs ansteuere, habe ich deshalb gewählt, weil die meisten von ihnen immer bemüht werden, wenn es um Melancholie geht, und weil sie auch selbst immer wieder aufeinander Bezug nehmen. Man kann sagen, dass über die Jahrhunderte hinweg quasi eine „virtuelle Diskussion“ über Melancholie stattfindet; der Melancholie-Diskurs zeichnet sich also durch ein „ausgeprägte[s] Traditionsbewußtsein“ aus.27 1. 1 Der Melancholie-Diskurs in Medizin und Psychoanalyse Mit der Melancholie als medizinischem Phänomen und vor allem den jeweils aktuellen Behandlungsmethoden befasst sich Jean Starobinski in seiner „Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900“.28 Er weist hier darauf hin, dass das Wort „Melancholie“ sei dem fünften vorchristlichen Jahrhundert von Ärzten benutzt werde, dass es jedoch immer sehr verschiedene Erscheinungen bezeichne.29 Denn während etwa in der Antike mit „Melancholie“ noch das Vorherrschen des schwarzen Gallensaftes gemeint ist, wird das Wort auch in der aufkommenden Psychoanalyse gebräuchlich und meint hier die Krankheit der Depression. Interessant ist aber, dass sich die unterschiedlichen Bedeutungen von Melancholie nicht ablösen, sondern vielmehr nebeneinander bestehen bleiben, selbst wenn sie sich z.T. widersprechen. „Neu 24 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik. Studien zur deutschen Romantik (Diss.). München 1991, S. 140. 25 Vgl. ebd., S. 16 ff. und 22 ff. 26 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt/Main 1984, S. 13. 27 WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 196. Die Beschäftigung der bildenden Kunst mit der Melancholie (v.a. Albrecht Dürers Stich „Melencolia I“ von 1514) kann leider in diesem Rahmen nicht untersucht werden (vgl. hierzu: KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990, S. 406-522). Der Bezug zur Musik wird weiter unten hergestellt. 28 STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Basel 1960. 29 Vgl. ebd., S. 9. 11 auftauchende Bedeutungen verdrängen die alten nicht, kurz, es handelt sich nicht um einen Verfalls- und Verwandlungsprozeß, sondern um ein sich parallel vollziehendes Fortleben.“30 1. 1. 1 Die „melancholia“ der Antike Ihre Wurzeln hat die Beschäftigung mit der Melancholie, wie gesagt, in der Antike. Hier kommt nämlich die so genannte „Humoralpathologie“ auf, die „Viersäftelehre“, die im vor ca. zweieinhalbtausend Jahren entstandenen „Corpus Hippocraticum“ entwickelt wird und in die das Wort „melancholia“ um 400 v. Chr. Eingang findet. In der Schrift „Von der Natur des Menschen“, die vermutlich von Polybos, dem Schwiegersohn des Hippokrates, stammt, trägt dieser als erster die Lehre von der Vierzahl der Säfte, der „humores“, im menschlichen Körper vor: Hier seien außer der „melancholia“, also des „schwarzen Gallensaftes“, noch das Blut („sanguis“), der Schleim („phlegma“) und die gelbe Galle („cholera“) vorhanden31 – heute ist bekannt, dass von diesen vier Säften gerade der schwarze Gallensaft nicht existiert. Doch der Humoralpathologie zufolge lassen sich aus der Ausgewogenheit („Eukrasie“) bzw. dem Ungleichgewicht („Dyskrasie“) dieser Säfte Krankheiten, aber auch Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften des Menschen erklären.32 „Die vier Säfte sind also insofern Ursache von Krankheit und Gesundheit, als ihre richtige Mischung Gesundheit bedeutet, das Überwiegen oder der Mangel des einen oder des anderen Stoffes aber die Krankheit bedingt.“33 Traurigkeit oder, modern gesprochen, depressive Verstimmungen eines Menschen, führt man auf das Vorherrschen des schwarzen Gallensaftes gegenüber den anderen Säften zurück. Als für diesen Saft typisch wird seine Fähigkeit angesehen, sich extrem erhitzen bzw. abkühlen zu können. So erklärt man es sich auch, dass die Betroffenen schlaff und stumpfsinnig oder auch rasend bis zum Wahnsinn sein können.34 Gefestigt wird dieses Viererschema im zweiten Jh. n. Chr. noch durch den römischen Arzt Claudius Galenus, der die Säfte in Analogie zu den vier Elementen und allen anderen wichtigen Vierheiten – wie den Jahreszeiten oder den Lebensaltern – setzt, wobei er die Auffassung vertritt, dass in jeder Jahreszeit und in jedem Lebensalter ein anderer Saft vorherrschend sei (die „melancholia“ z.B. im Herbst bzw. im 30 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 39. Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 32 f. Entstehen kann diese Theorie zum einen aus der Lehre der Pythagoreer, die die Vierheit als perfekte Harmonie ansehen, sowie aus der Naturphilosophie des Empedokles, der grundsätzlich eine Gemischtheit des Materiellen annimmt (vgl. ebd., S. 33). 32 Vgl. ebd. 33 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 47. 34 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 21. 31 12 Mannesalter).35 Später wird dieses System noch um die Qualitäten Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit bzw. noch später durch deren Kombinationen (warmtrocken, warm-feucht, kalt-feucht, kalt-trocken) ergänzt.36 Der „melancholia“ wird die Kombination „kalt-trocken“ zugeordnet. Was im Lauf des Mittelalters auch noch zu Galens Schema hinzukommt, sind die vier Temperamente: Der Sanguiniker, der Phlegmatiker, der Choleriker und der Melancholiker werden als vier verschiedene psychologische Typen betrachtet. Dies beruht auf der Annahme, dass die Säfte nicht nur physische, sondern vor allem psychische Auswirkungen auf den Menschen hätten. Grundsätzlich bleiben aber Galens Erkenntnisse bis ins 18. und 19. Jahrhundert erfolgreich.37 1. 1. 2 Pathologisierung der Melancholie im 18. Jahrhundert Das Stigma der Krankheit haftet auch die folgenden Jahrhunderte hindurch fast immer in irgendeiner Form an der Melancholie, wenn auch andere Bedeutungen hinzutreten. Besonders interessant wird der medizinische Melancholie-Diskurs wieder im 18. Jahrhundert, in dem sich in der Philosophie zwar eine Nobilitierung, parallel in der Medizin aber eine Pathologisierung der Melancholie durchsetzt. Dies hat seinen Grund in den teilweise polemischen Urteilen, die die Aufklärer über die Melancholie fällen (hierauf wird jedoch weiter unten noch eingegangen). Melancholie wird mit „Geistesstörungen“ gleichgesetzt, also als eine Form des Wahnsinns betrachtet.38 Mitverantwortlich für die Entstehung dieser neuen Idee ist der Franzose Anne-Charles Lorry, der die Theorie aufstellt, dass es neben der durch die schwarze Galle bedingten Humoralmelancholie (= „Melancholia adusta“) auch eine „nervöse Melancholie“ (= „Melancholia nervosa“) gebe, die sich durch Verkrampfungszustände des Körpers auszeichne.39 „Von jetzt an wird diese Krankheit als innerhalb des Nervensystems sich abwickelnd angesehen: die Melancholie bleibt nun eine Erkrankung des sinnlich reizbaren Seins.“40 Im Lauf des 18. Jahrhunderts setzt sich diese Überzeugung immer mehr durch, so dass die Ideen der Humoralpathologie bald ihre Gültigkeit gänzlich verlieren und nur noch die Nerven bzw. der Kopf als Ursache für die Entstehung von Melancholie betrachtet werden.41 Bei Diagnose und Therapie werden nun übrigens auch 35 Vgl. KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 39. Vgl. ebd., S. 44. 37 Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 27. 38 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 60. 39 Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 51 f. 40 Ebd., S. 55. 41 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 22 ff. 36 13 Veranlagung und soziales Umfeld der Patienten berücksichtigt42, doch paradoxerweise wird die Schuld für die Erkrankung immer zuerst beim Patienten selbst vermutet.43 Vor allem dann, wenn die Therapie keine Wirkung zeigt, erfolgt ein Ausschluss des Betroffenen aus der Gesellschaft (d.h. konkret: Er wird in ein Irrenhaus eingewiesen).44 Hierbei muss allerdings auch erwähnt werden, dass die angewendeten „Heilmethoden“ eher Foltermethoden gleichkommen (Behandlung mit Arsen, Schocktherapie und Kastration sind hierfür nur wenige Beispiele).45 1. 1. 3 Melancholie und Psychoanalyse Der Begriff der Melancholie kehrt auch in modernen psychoanalytischen Theorien wieder, so etwa bei Sigmund Freud und Julia Kristeva. 1. 1. 3. 1 Sigmund Freud Freuds Schrift „Trauer und Melancholie“ von 191746 wird von Martina WagnerEgelhaaf als „Basistext aller psychoanalytischen Melancholietheorie“ bezeichnet.47 Der Verfasser erklärt hier die Entstehung von Melancholie in etwa folgendermaßen: Eine Person verliert ein geliebtes Objekt oder erfährt eine Enttäuschung durch ein geliebtes Objekt. Daraufhin zieht sie aber nicht, wie im Falle der Trauer, mit der Zeit ihre Libido wieder von dem Objekt ab, sondern beginnt sich mit diesem zu identifizieren. Somit richtet sich nun auch der Hass, der eigentlich dem Gegenüber aufgrund der erfahrenen Kränkung gilt, gegen das eigene Ich. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass sich Melancholiker nach Freuds Aussage mit permanenten Selbstvorwürfen quälen. All dies geschieht natürlich vollkommen unbewusst. Der Melancholiker selbst weiß nicht, was er verloren hat. Ein besonders interessanter Aspekt, den Freud herausarbeitet, besteht in der ausgeprägten Mitteilsamkeit des Melancholikers. Er kann nicht aufhören, seine Klagen und Selbstvorwürfe ständig zu wiederholen. Hierbei empfindet er auch keinerlei Scham vor den Zuhörern: „Man könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der eigenen Bloßstellung eine Befriedigung findet“.48 42 Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 41. 44 Vgl. ebd., S. 41 sowie S. 67 ff. 45 Vgl. ebd., S. 47 ff. 46 FREUD, Sigmund: Trauer und Melancholie. In: Ders.: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander MITSCHERLICH, Angela RICHARDS und James STRACHEY. Bd. III: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt/Main 1982, S. 193-212. 47 WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 159. 48 FREUD, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 201. 43 14 1. 1. 3. 2 Julia Kristeva Von Freuds Überlegungen geht auch die Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva aus, indem sie in ihrer Abhandlung „Black sun“49 ebenfalls eine Verlusterfahrung als Hauptursache der Melancholie annimmt. Allerdings führt sie die Schwermut nicht auf den Verlust eines konkreten „Objekts“ („Object“) zurück, sondern ihrer Ansicht nach trauert der Melancholiker um ein abstraktes „Ding“ („Thing“)50, etwas nicht Benennbares, das er im Moment seiner Geburt verloren hat: das Eins-Sein mit der Mutter.51 Anstatt zu versuchen, diesen Verlust zu überwinden, klammert sich nun der Melancholiker an seiner Traurigkeit als einer Art „Ersatzobjekt” fest: „For such narcissistic depressed persons, sadness is really the sole object; more precisely it is a substitue object they become attached to, an object they tame and cherish for lack of another.”52 Man könnte hier also beinah von einer „Verlust-Lust” sprechen: Durch seine Traurigkeit möchte der Melancholiker die Erinnerung an die Verlusterfahrung unbedingt erhalten – was seine Melancholie natürlich wiederum fördert. 1. 1. 3. 3 Moderne psychoanalytische Melancholiekonzepte In der modernen Psychoanalyse wird die Melancholie heute häufig als „zyklothyme“ oder auch „endogene Depression“ bezeichnet. Laut Wolfram Schmitt53 sind sich die Psychiater zumeist einig bezüglich der Symptome dieser Erkrankung, nicht jedoch in der Frage, „was Melancholie ist“. Sie zeichnet sich aus durch solche Merkmale wie „1. Verstimmung 2. Vitalstörungen 3. Hemmung 4. Wahn 5. Suizidalität 6. körperliche Störungen, insbesondere Biorhythmusstörungen“, die in verschieden starker Ausprägung auftreten können.54 Doch über die tatsächlichen Ursachen der Melancholie existieren lediglich Theorien, vom „biologisch-naturwissenschaftliche[n] Konzept“, demzufolge die Melancholie manchen Menschen einfach in den Genen liegt55, über das „rollentheoretische Konzept“, in dem die Melancholie auf eine „Übergewissenhaftigkeit“ des Betroffenen, d.h. eine zu starke Identifikation mit seiner Rolle, zurückgeführt wird, bis hin zum Verständnis der Melancholie als Folge von „Wahrnehmungsveränderungen“.56 49 Als die beiden „für das heutige KRISTEVA, Julia: Black Sun. Depression and Melancholia. New York 1989. Ebd., S. 13. 51 Vgl. ebd., S. 27 ff. 52 Ebd., S. 12. 53 SCHMITT, Wolfram: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie. In: Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur I: Melancholie in Literatur und Kunst. Hrsg. von Dietrich VON ENGELHARDT u.a. Stuttgart 1990, S. 14-28. 54 Ebd., S. 14. 55 Ebd., S. 18. 56 Ebd., S. 19. 50 15 Melancholieverständnis wohl grundlegenden Positionen“ bezeichnet Schmitt erstens „die phänomenologisch deskriptiv-verstehende Richtung der Kurt-Schneider-Schule, fortgeführt vor allem durch Weitbrecht“, und zweitens „die phänomenologischanthropologisch-daseinsanalytischen Ansätze, verbunden mit den Namen Minkowski, Straus, v. Gelbsattel, Binswanger und Tellenbach“. Während das erste Konzept davon ausgeht, dass die Melancholie „wesentlich eine emotionale Störung“ sei, geht es dem zweiten Ansatz um den Versuch einer „Wesensbestimmung der Melancholie“, also um die Frage, worin ihre grundlegende Ursache bestehen könne, aus der dann auch alle Symptome ableitbar seien.57 1. 2 Melancholie und Theologie: Die Todsünde „acedia“ im Mittelalter Mit dem Erstarken des Christentums im Mittelalter wird die Melancholie – wenn auch unter einem anderen Namen, nämlich als „acedia“ (also „Trägheit“, genauer: „Herzensträgheit“) bzw. „tristitia“ („Traurigkeit“) – von einer Krankheit zu einer der Sieben Todsünden.58 Der Grund für diese Verschiebung liegt darin, dass die Kirche es nicht akzeptieren kann und will, dass ein erlöster Christ, der sich über die Vergebung seiner Sünden und auf ein Leben im Neuen Jerusalem freuen soll, Trägheit bzw. Traurigkeit empfindet und sich ihr hingibt. Anders ausgedrückt: Wenn ein Mensch nicht an sein Seelenheil glauben will, muss die Kirche als diejenige Instanz, die sich als dessen Vermittlerin sieht, ein solches Verhalten natürlich als Sünde verurteilen. Zugeordnet ist diese Form der Melancholie übrigens v.a. den Mönchen, weswegen sie auch als „Mönchskrankheit“ bezeichnet wird.59 Die einzige Form von Trauer, die in dieser Zeit erlaubt, ja fast geboten ist, ist die Trauer über die eigene Sündhaftigkeit sowie auch über die Sündhaftigkeit der Welt allgemein. Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Traurigkeit geht auf eine Passage im zweiten Brief des Paulus an die Korinther (2. Korinther 7, 10) zurück, in der dieser zwischen „nützlicher, heilsbefördernder Traurigkeit“ (im Lateinischen: „tristitia utilis, salutaris“) und „todbringender Traurigkeit“ („tristitia mortifera“) unterscheidet.60 57 Ebd., S. 20. Vgl. zu diesem Abschnitt: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 38 ff. Zu den Sieben Todsünden gehören außerdem der Hochmut („superbia“), die Habsucht („avaritia“), die Wollust („luxuria“), der Zorn („ira“), die Völlerei („gula“) und der Neid („invidia“). 59 STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 35. 60 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 40. In einer modernen Lutherbibel lautet dieser Vers: „Denn die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut; die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod“ (Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin LUTHERS. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 2000, S. 210) 58 16 Diese Verteufelung der Melancholie wird auch in der Literatur verarbeitet, und zwar auch und vor allem noch „in der protestantisch geprägten quasi-belletristischen Teufelbücherliteratur im Gefolge des Lutherischen Teufelsglaubens [...]“, in der es für jedes Laster einen personifizierten Teufel gibt (für die Melancholie ist dies der „Melancholische Teuffel“).61 Im Lauf der Zeit verschwindet das „acedia“-Konzept allmählich aus dem Bewusstsein und findet auch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Erwähnung mehr in Lexika. Bei der Wiederentdeckung des Begriffs der „acedia“ (in Verbindung mit dem „ennui“) in dieser Zeit ist allerdings ihre Sündendimension verblasst. Sie wird nun eher als Vorform des Weltschmerzes aufgefasst, und besitzt eine mehr kulturpsychologische denn moraltheologische Bedeutung.62 Ihren Negativ-Charakter verliert die Melancholie in der Theologie im Laufe der Jahrhunderte aber nie. Sie wird hier immer abgelehnt, denn wer an ihr leidet, hat offensichtlich kein Gottvertrauen und keinen Glauben an die Erlösung.63 Darauf, dass auch noch die Theologie des 18. Jahrhunderts die Melancholie als Hybris verurteilt, da der Melancholiker nicht bereit sei, die Gnade Gottes zu akzeptieren, sondern „die Schuld an der schlechten Welt als seine persönliche“ ansehe, weist Mattenklott hin.64 In eine ähnliche Richtung gehen auch die Gedanken Søren Kierkegaards, der in seinem „melancholiespezifischen Hauptwerk“65, das den Titel „Die Krankheit zum Tode“66 trägt, die Verzweiflung als „Sünde“ – eben als „Krankheit zum Tode“ – bezeichnet: „Verzweiflung ist die Sünde“.67 Und ähnlich wie die mittelalterliche Kirche kritisiert er die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft des melancholisch-verzweifelten Menschen, an die Vergebung der Sünden durch Gottes Gnade zu glauben: „Du sollst glauben“, hieß es in alten Tagen, kurz und gut, so nüchtern wie möglich – jetzt ist es genial und ein Zeichen für eine tiefe Natur, es nicht zu können. „Du sollst an die Vergebung der Sünden glauben“, hieß es, und der einzige Kommentar zu diesem Text lautete: „Dir soll ein Unglück geschehen, wenn du es nicht kannst; denn was man soll, das kann man“ – jetzt ist es genial und ein Zeichen für eine tiefe Natur, es nicht glauben zu können.68 Kurz: Für Kierkegaard ist es „Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln“.69 61 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 47. Vgl. ebd., S. 52 ff. 63 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 140. 64 MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 33. 65 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 146. 66 KIERKEGAARD, Søren: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela PERLET. Stuttgart 1997. 67 Ebd., S. 87. 68 Ebd., S. 132. 69 Ebd., S. 129. 62 17 1. 3 Melancholie und Mythologie: Der Saturn-Kult Nicht nur in der antiken Medizin, sondern auch in der Mythologie dieser Zeit finden sich Gedanken, die in den Melancholie-Diskursen der folgenden Jahrhunderte weiterwirken. Hierzu gehört die Idee, die Melancholie mit dem Planeten Saturn in Verbindung zu bringen. Fast allen Schriftstellern des späteren Mittelalters und der Renaissance galt es als unumstößliche Tatsache, daß die Melancholie, die krankhafte wie die natürliche, in einer besonderen Beziehung zu Saturn stehe und daß dieser „schuld habe“ an den unglücklichen Eigenschaften und Schicksalen des Melancholikers.70 Diese Zuordnung der Melancholie zum Planeten Saturn ist bei arabischen Autoren des 9. Jahrhunderts belegbar, so etwa bei Abû Ma´šar.71 Sie hängt damit zusammen, dass man glaubt, die Farbe Saturns sei schwarz und seine Natur sei kalt und trocken – was ja, wie oben ausgeführt, den Eigenschaften der schwarzen Galle entspricht.72 Andererseits richten sich die Charakteristika, die man den Planeten zuschreibt, aber auch nach dem, was die Mythologie von den entsprechenden Gottheiten überliefert. Hierbei war im Zuge der Hellenisierung der altlateinische Flurgott Saturn mit dem Gott Kronos (bzw. Chronos) gleichgesetzt worden.73 Schon in den Quellen, aus denen die Saturnvorstellung der arabischen Astrologie hervorgegangen ist, waren die Wesenszüge des uralten lateinischen Flurgotts Saturnus zusammengeflossen mit denen des Kronos, des von Zeus gestürzten und entmannten Sohns des Uranos, sowie mit denen des Chronos, der schon im Altertum mit jenen beiden gleichgesetzten Zeitgottheit.74 Kronos erscheint schon immer als extrem ambivalent, als Gott der Gegensätze. Er ist der Gott der Ernte und des Goldenen Zeitalters, und zugleich grausam und zurückgezogen. Durch diese Analogisierung Saturns mit Kronos und Chronos, die ja beide verschiedene Eigenschaften in sich tragen, ist das vielschichtige Bild Saturns zu erklären, das seinerseits wiederum auf die Melancholie übertragen wird. Wie die Melancholie, so verleiht auch Saturn, jener Dämon der Gegensätze, der Seele sowohl die Trägheit und den Stumpfsinn als auch die Kraft der Intelligenz und der Kontemplation. Wie die Melancholie bedroht auch er die ihm Unterworfenen, mögen sie noch so erlauchte Geister sein, mit Schwermut oder gar Irrsinn.75 70 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 203. Vgl. ebd., S. 203. 72 Vgl. ebd., S. 204. 73 Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 27. 74 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 210 f. 75 Ebd., S. 245. 71 18 Anliegen der Kirche ist es im Mittelalter natürlich, diesen Glauben an die Astrologie zu bekämpfen. So werden sowohl der Saturn- als auch der Kronoskult in dieser Zeit verdrängt.76 1. 4 Melancholie und Soziologie 1. 4. 1 Robert Burtons Melancholieverbot In der Barockzeit wird die Melancholie „zum Signum einer ganzen Epoche“, was aus den Auseinandersetzungen im politischen wie religiösen Bereich herrührt und auch seine Wurzeln in einem zunehmenden „Vertrauensverlust in die göttliche Heilsgewißheit“ hat.77 Eine Reaktion hierauf findet sich in der Vorrede zu Robert Burtons “Anatomy of Melancholy”78, die im Jahre 1621 in erster Auflage erscheint (fünf weitere Auflagen folgen). Im Hauptteil dieses Werkes definiert Burton die Melancholie79, erläutert ihre verschiedenen Erscheinungsformen80 und analysiert ihre Ursachen81, wobei er alle bis zu seiner Zeit aufgestellten Theorien mit in seine Darstellung einbezieht. Eine „entscheidende Passage“ der Abhandlung stellt jedoch laut Lepenies die Vorrede dar82, da sie eine Gesellschaftsutopie als Gegenentwurf zur in der Gesellschaft herrschenden Melancholie enthält. Burtons Ansicht nach ist die Melancholie gerade im England seiner Zeit extrem weit verbreitet. Dies führt er auf die Missstände im Staat zurück: Aber wo sich Unzufriedenheit, allgemeine Mißstände, Armut, Barbarei, Bettlertum, Plagen, Kriege, Rebellionen, Aufruhe, Meuterei, Zwietracht, Müßiggang, Ausschweifungen, Genußssucht breitmachen, wo das Land brachliegt, wüst und von Mooren, Fenn und Einöden durchsetzt, wo die Städte daniederliegen, verkommen und arm, und die Dörfer entvölkert sind, wo die Menschen verwahrlost, schmutzig und sittenlos leben, da herrschen notwendig Mißmut und Melancholie; und ein solches Königreich, ein solches Land hat einen kranken Körper und bedarf der Fürsorge und Reform.83 Ausgehend von dieser Charakterisierung entwirft Burton nun eine Gesellschaftsutopie vom neuen England, dessen hervorstechendstes Merkmal Ordnung ist. Er beschreibt einen „effizienten, auf reibungsloses Funktionieren haltenden, monarchischen, bis in 76 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 22. WALTHER, Lutz: Einleitung. In: Melancholie. Hrsg. von Lutz WALTHER. Leipzig 1999, S. 21. 78 BURTON, Robert: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Übersetzt von Ulrich HORSTMANN nach der 6., verbesserten Originalauflage von 1651. Zürich und München 1991. 79 Vgl. ebd., S. 146 ff. 80 Vgl. ebd., S. 152 ff. 81 Vgl. ebd., S. 154 ff. 82 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1969, S. 24. 83 BURTON, Robert: Anatomie der Melancholie, S. 84. 77 19 Einzelteile durchgeplanten Staat, der der Unordnung der Melancholie die perfektionierte Ordnung entgegenhält [...]“.84 Burton schafft sich demnach den „Gegenentwurf zu einem in Melancholie versunkenen Staat“.85 Damit geht auch automatisch ein Melancholie-Verbot einher: Denn wo das Glück der Staatsbürger von oben her festgelegt wird, ist der unglückliche Melancholiker ein Störfaktor.86 1. 4. 2 Die Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert Doch nicht nur in Gesellschaftsutopien finden sich Melancholie-Verbote. Auch am absolutistischen Hof im Frankreich des 17. Jahrhunderts kann Melancholie nicht geduldet werden, da sie Unzufriedenheit mit dem System suggerieren würde.87 Laut Lepenies ist die Melancholie des entmachteten Adels in dieser Zeit auf seine Langeweile zurückzuführen, die wiederum aus der mangelnden Pflege des „sekundären Ordnungssystems“ (z.B. der Etikette) durch den Herrscher – der übrigens als einziger melancholisch sein darf – resultiert. Die Fronde, also der Widerstand gegen den König, ist eine Reaktion hierauf: Der Adel versucht sich wieder mehr Gewicht zu geben. Doch dieser Versuch scheitert; die resignierten Adeligen suchen sich deshalb eine andere Möglichkeit, ihre Langeweile zu vertreiben und flüchten sich in den Salon – in der Absicht, sich selbst ein sekundäres Ordnungssystem zu errichten. Ausschließlich dort ist Melancholie gestattet; zudem kann die Langeweile, der „ennui“88, an diesem Ort literarisch verarbeitet werden. „Die literarische Produktion der Salons ist verarbeitete Langeweile.“89 Auch am Hof herrscht Langeweile, die jedoch, wie gesagt, nicht offen gezeigt werden darf, da dies den Verdacht auf Rebellion erregen könnte. Als Versuch der Kompensation erschafft der König die Etikette. Erwächst also bei den Utopisten der Renaissance die Melancholie aus der Unzufriedenheit über die herrschende Unordnung, so ist die Melancholie bei Hofe und in den Salons durch die Langeweile begründet, die durch ein „Zuviel an Ordnung“ entsteht.90 84 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 36. Ebd., S. 31. 86 Vgl. ebd., S. 37. 87 Vgl. zu diesem Abschnitt: LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 50 ff. 88 Das Phänomen des „ennui“ entdeckt Roland Lambrecht auch in der Gegenwart wieder (vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 216 ff.). Seiner Meinung nach ist es sogar charakteristisch für die moderne Wohlstandsgesellschaft, in der niemand Mangel leiden muss: Anstatt die Abwesenheit physischer Nöte als Befreiung anzusehen und zu genießen, fühlt sich der moderne Mensch gelangweilt, er vermisst die Herausforderung und empfindet so „Überdruß im Überfluß“ (ebd., S. 221). 89 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 72. 90 Ebd., S. 69. 85 20 1. 4. 3 Bürgerliche Melancholie, Weltschmerz und Hypochondrie im 18. Jahrhundert Im Deutschland des 18. Jahrhunderts entsteht ein Phänomen, das Lepenies als „bürgerliche Melancholie“ bezeichnet. Diese ist kennzeichnend für eine bürgerliche Gesellschaftsschicht, die ein gewisses Potenzial an Geld und Intelligenz mitbringt, und trotzdem (noch) nicht politisch involviert ist, da der Adel sie nicht zum Zug kommen lässt.91 Das Resultat ist die Melancholie der Bürger. Dieser von Lepenies behauptete Zusammenhang von politischer Ohnmacht und der Entstehung der Melancholie in dieser Schicht wurde von Hans-Jürgen Schings angezweifelt. Seiner Meinung nach ist gerade das antimelancholische Selbstverständnis für die bürgerliche Aufklärung kennzeichnend. Dass Langeweile und Melancholie in der bürgerlichen Schicht thematisiert werden, ist für ihn eher ein Indiz für die moralische Opposition des Bürgertums. „Sollte es eine ‚bürgerliche’ Melancholie geben, so gibt es auch eine nicht weniger bürgerliche Kampfansage an die Melancholie“.92 Als Parallelbegriffe für diese „bürgerliche Melancholie“ nennt Lepenies übrigens die Schlagwörter „Weltschmerz“ und „Hypochondrie“, „weil sie in der Zeit als synonym gelten und nicht zuletzt daher jeder seine eigentümliche Färbung gewinnt“.93 Der Begriff „Weltschmerz“ war von Jean Paul geprägt worden und ursprünglich bezogen auf die Empfindungen Gottes in Anbetracht des menschlichen Schicksals. Von hier aus wird er aufgegriffen, um damit „eine in Deutschland etwa zwischen 1814 und 1840 vorherrschende pessimistische Geisteshaltung, gleichbedeutend [...] mit einer inneren Zerrissenheit“94 zu beschreiben, die sich v.a. in der Literatur der Zeit niederschlägt (hierauf wird weiter unten noch eingegangen). Ab etwa 1840 ist der Begriff jedoch zunehmend negativ besetzt und wird eher abschätzig gebraucht.95 „Melancholie“, „ennui“, „mal du siècle“, „Byronismus“ und „noia“ werden als Synonyme für den Begriff „Hypochondrie“ gebraucht.96 In England spricht man vom „Spleen“.97 Die Hypochondrie wird zu dieser Zeit als harmlosere Ausprägung der Krankheit Melancholie betrachtet. „Der Hypochondrist ist der Melancholiker im Diminutiv.“ Worunter er leidet, das sind die Folgen von Langeweile und Überspanntheit, und „nicht 91 Ebd., S. 79 f. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 224. 93 Ebd., S. 86. 94 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 20. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen. Weltschmerz und VerWeltlichung. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus VON SEE. Bd. 15: Europäische Romantik II. Hrsg. von Klaus HEITMANN. Wiesbaden 1982, S. 57. 97 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 13. 92 21 jedermann kann es sich leisten, hypochondrisch zu sein, nicht z.B. die Bauern.“98 Das Phänomen greift vielmehr unter Bürgern und Gelehrten um sich, gehört dort fast „zum guten empfindsamen Ton“.99 Dass es sich ziemlich weit verbreiten kann, liegt wohl vor allem daran, dass so viel darüber diskutiert und geschrieben wird: „Die Hypochondrie ist nicht zuletzt ein Produkt ihrer medialen Verbreitung“.100 Sie ist die Modekrankheit des 18. Jahrhunderts.101 Als weibliches Pendant zur Hypochondrie gilt übrigens die Hysterie.102 Die Auswirkungen des Weltschmerzes hingegen erweisen sich als weniger harmlos. Sengle weist darauf hin, dass durch dieses Phänomen eine regelrechte „Selbstmordepidemie“ ausgelöst werde: „Die verschiedensten und absonderlichsten Motive können zum Selbstmord führen; er ist aus einem tragischen Einzelfall zu einer Massenerscheinung geworden“.103 Die Gründe für den Weltschmerz sind sozialer, wirtschaftlicher, politischer und geistiger Natur. Zum einen herrscht allgemeine Frustration aufgrund der mangelnden nationalen Einheit nach dem Zusammenbruch des preußischen Reiches 1806.104 Man strebt politische Freiheiten an, die angesichts der bestehenden Machtverhältnisse entweder unerreichbar sind oder neu etabliert werden, wo man nach einer Revolution bereits auf Besserung gehofft hatte. Diese politische Desillusionierung kann „dem Weltschmerz nur zusätzlichen Auftrieb geben“.105 Hinzu kommt eine „akute soziale und wirtschaftliche Krise“, die Deutschland in dieser Zeit beutelt106: Das Land ist arm, die Agrarkrise löst Hungersnöte aus.107 Auch die gesellschaftliche „Kollektivierung“ und „Nivellierung“, die Sengle erkennt, begünstigen den Weltschmerz der Epoche. Gemeint sind Tendenzen, die die Interessen des Individuum „Verbürgerung, zugunsten der Demokratisierung, Gesellschaft zurücktreten Technisierung oder lassen, wie Industrialisierung, etwa [...] karitatives Vereinswesen oder frühsozialistische Selbsthilfe [...]“.108 Laut Sengle ist die Schwermut im Deutschland dieser Zeit aber letztlich in einer religiösen Problematik begründet. Mit dem Zunehmen der wissenschaftlichen Erkenntnisse werden das christliche Weltbild wie auch die Existenz Gottes überhaupt 98 SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 49. Ebd., S. 70. 100 WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 148. 101 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 89. 102 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 70. 103 SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. I: Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel. Stuttgart 1971, S. 5. 104 Vgl. ebd., S. 9. 105 Ebd., S. 57. 106 Ebd., S. 12. 107 Vgl. ebd., S. 14. 108 Ebd., S. 24. 99 22 immer stärker hinterfragt, und im Zuge dessen wachsen die Unsicherheit der Menschen „bezüglich letzter Wert- und Sinnfragen“ und die Zweifel, ob überhaupt irgendetwas wahr sei. Derartige Entwicklungen sind zwar nicht neu (bereits in der Renaissance lassen sich solche Tendenzen der Säkularisierung im Bewusstsein des Menschen feststellen), aber in der Restaurationszeit erreichen sie ihren bisherigen Höhepunkt.109 Ein durch den Verlust metaphysischer Werte bedingter, umfassender Nihilismus hält Einzug in das Denken der Zeitgenossen und natürlich auch in die Literatur.110 „Was man als vorromantischen und romantischen Weltschmerz anzusprechen gewöhnt ist, offenbart sich somit als lediglich eine weitere Etappe in einer weit zurückreichenden, langfristigen geistesgeschichtlichen Entwicklung“.111 Im Laufe des 19. Jahrhunderts geht der Weltschmerz durch Verdrängung in Gestalt von äußerer Geschäftigkeit zurück.112 Im Fin de siècle bricht er aber wieder durch. Das Ende des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch den „destruktiven Weltschmerz der ‚Décadents’“.113 Wie schon der Adel des 17. Jahrhunderts versucht übrigens auch das Bürgertum des 18. Jahrhunderts, seine Situation literarisch zu verarbeiten: Lepenies bezeichnet es als auffallend, „wie die Melancholie sich hier in einer Klasse ausbreitet, die sich als Ort ihrer Gesellschaftsflucht die Literatur auswählt“.114 Bemerkenswert ist hierbei die Tatsache, dass die Melancholie, obwohl sie ja eigentlich eine ganze Klasse betrifft, in der Literatur der Zeit als jeweils individuelles Phänomen dargestellt, d.h. auf die Psyche des Individuums zurückgeführt wird.115 Eine Konsequenz aus dieser Melancholie der Bürger ist deren Abwendung von der Welt. Es handelt sich dabei also um eine weltferne Melancholie (anders als die weltnahe Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert). Man zieht sich zurück, in die Innerlichkeit einerseits, aber auch in die Natur, oder von der Residenz weg in die Kleinstadt.116 1. 4. 4 Melancholie und Aufklärung Wie oben schon angedeutet, erfährt die Melancholie im 18. Jahrhundert die verschiedensten Neubewertungen. Aus Sicht der Aufklärung z.B. wird sie sehr negativ beurteilt. So wie das Phänomen im Mittelalter der durch die Kirche vermittelten Weltsicht und Lebensauffassung zuwider gelaufen war, so läuft sie jetzt dem 109 Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 28 ff. 111 HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 59. 112 Vgl. ebd., S. 81. 113 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 350. 114 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 87. 115 Vgl. ebd., S. 88. 116 Vgl. ebd., S. 99 ff. 110 23 Gesellschaftskonzept der Aufklärung zuwider und wird infolgedessen von ihren Verfechtern zum Teil radikal abgelehnt. Jene Gruppen, die die Ziele der Aufklärung nicht anerkennen und die von ihren Anführern deshalb als Gegner betrachtet werden – also die Religionisten, Schwärmer, Pietisten, Enthusiasten, Fanatiker etc. – werden als Melancholiker angesehen.117 Der Begriff bekommt den Beigeschmack eines Schimpfwortes für alles, was nicht aufklärerisch ist.118 Was die Aufklärer an diesen Strömungen besonders kritisieren, sind deren Opposition zur Amtskirche und ihr Trauergebot.119 Im Zuge dessen werden den Melancholikern auch sämtliche negativen Charaktereigenschaften und Gewohnheiten zugeschrieben, die bei den Aufklärern besonders verpönt sind, wie Geiz, Hass, Rachgier, Grausamkeit, Heimtücke und Misanthropie; hinzu kommen Sorge, Furcht und Verzweiflung.120 Für die Aufklärer ist „der misanthropische Melancholiker [...] eine einzige große Provokation der Gesellschaft, die ihre ideale Selbstdarstellung in Begriffen wie Geselligkeit, Menschenliebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Mitleid, Liebe, Gehorsam, Sparsamkeit zu finden glaubt.“121 Laut Nesbeda werden dem Melancholiker offenbar grundsätzlich die Untugenden zugeschrieben, die von der jeweiligen Gesellschaft am meisten abgelehnt werden.122 Die Pietisten versuchen übrigens durchaus, sich und ihre „tristitia spiritualis“ zu verteidigen: Sie erklären ihrerseits die Rationalisten und Orthodoxen für melancholisch und führen dies auf deren Weltlichkeit zurück. Auch aus ihrer Sicht hat die Melancholie im Sinne einer „weltlichen Traurigkeit“ also einen negativen Beigeschmack.123 Obwohl die Vorstellung vom „melancholischen Pietisten“ während des ganzen Jahrhunderts ein Negativbild bleibt, wird durch dieses Schlagwort der „göttlichen Trauer“ aber trotzdem schon der Boden für eine Nobilitierung der Melancholie bereitet.124 Dies liegt auch nicht zuletzt in der Affinität der Melancholie zur Empfindsamkeit begründet, auf die weiter unten noch eingegangen wird: „Die Empfindsamkeitsbewegung hat wesentlich zur Verfeinerung und ‚sittlichen Erhebung’ der Melancholie beigetragen und die Umwertung zur ‚sanften Schwermut’ vorbereitet“.125 117 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 73. Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 25. 119 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 73 ff. 120 Vgl. ebd., S. 41 ff. 121 Ebd., S. 47. 122 Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 23. 123 Vgl. ebd., S. 26. 124 Vgl. ebd., S. 27. 125 Ebd., S. 34. 118 24 1. 5 Melancholie und Philosophie 1. 5. 1 Melancholiereflexionen bei Pseudo-Aristoteles Die nun schon mehrfach angesprochene Nobilitierung der Melancholie hat ihre Wurzeln ebenfalls in der Antike, und zwar in den so genannten „Problemata physica“126. Dieses Werk wurde lange Zeit Aristoteles zugeschrieben, in Wahrheit stammt es aber wahrscheinlich von dessen Schwiegersohn Theophrast, weswegen in neuerer Zeit von einem „Pseudo-Aristoteles“ als Verfasser gesprochen wird.127 Hier wird in das Kapitel „Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft“ mit folgender Frage eingestiegen: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker [...]?“.128 Die Grundlage des Werkes bildet das Denken der Humoralpathologie. Der Verfasser unterscheidet zwischen tatsächlicher melancholischer Krankheit, die durch eine vorübergehende Veränderung des schwarzen Gallensaftes entstehe, und zwischen der Melancholie, die jenen Menschen von Natur aus eigen sei, bei denen dieser Saft grundsätzlich über die anderen Säfte vorherrsche. Diese gleichsam angeborene Melancholie mache die betreffenden Menschen zu ganz außergewöhnlichen, ja hervorragenden Personen. Denn die schwarze Galle sei, wie verschiedene andere Substanzen auch, charakterbildend, und bewirke dadurch die Außergewöhnlichkeit und die besonderen Fähigkeiten der Melancholiker. Allerdings müsse das Mischungsverhältnis stimmen, damit ein Melancholiker wirklich als hervorragender Mensch bezeichnet werden könne: „die Menge des melancholischen Saftes“ muss „groß genug sein, um den Charakter über das Durchschnittsmaß zu erheben, aber auch nicht so groß, daß sie ‚allzu tiefe’ Melancholie erzeugt und daß seine Temperatur ein Mittelmaß zwischen ‚zu warm’ und ‚zu kalt’ zu halten hat.“129 Nur dann könne man von einer genialen Veranlagung der Melancholiker sprechen. Denn eine kalte Mischung verursache Depression, eine zu warme Mischung Tollheit. Da es aber auch möglich ist, daß die Ungleichmäßigkeit gut gemischt sein und sich in gewisser Weise richtig verhalten kann, und, wo es nötig ist, unser Zustand wärmer und wieder kalt ist oder umgekehrt, weil er (bestimmte Eigenschaften) im Übermaß besitzt, deshalb sind alle Melancholiker außergewöhnlich, nicht infolge von Krankheit, sondern infolge ihrer Naturanlage.130 126 ARISTOTELES: Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft. Übersetzt von Hellmut FLASHAR. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Ernst GRUMACH. Bd. 19: Problemata physica. Berlin 1962, XXX, 1 (S. 250-256). 127 Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 17. 128 ARISTOTELES: Problemata physica, S. 250. 129 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 79 f. 130 ARISTOTELES: Problemata physica, S. 256. 25 Die Melancholie ist also ein ambivalentes Phänomen: Der melancholische Saft kann an sich gesunde Menschen krank machen, wenn er zeitweilig zu stark vorherrscht, und er kann gebürtige Melancholiker wahnsinnig machen, wenn er in zu großer Menge vorhanden ist und die falsche Temperatur hat. Der Verfasser dieser Schrift „sucht denjenigen Menschen zu begreifen und in gewisser Weise zu rechtfertigen, der groß ist, weil seine Affekte über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen und weil er dennoch stark genug ist, sie trotz ihres Übermaßes im Gleichgewicht zu halten [...].“131 Die hier stattfindende Nobilitierung der Melancholie wird von nun an immer neben der negativen Bewertung derselben durch die Medizin existieren. Alle späteren Ansätze, in denen eine Verbindung von Melancholie und Genie angenommen wird, fußen auf diesen pseudo-aristotelischen Gedanken.132 In einer anderen Schrift des Aristoteles, nämlich in „De memoria et reminiscentia“133, stellt dieser eine weitere Besonderheit der melancholischen Veranlagung heraus: die ausgeprägte Fähigkeit zur – unwillkürlichen – Erinnerung. Dieses bezeichnende Merkmal der Melancholiker führt Aristoteles darauf zurück, dass „Vorstellungen diese besonders heftig bewegen“.134 Sie seien also weder Herr über ihre Erinnerungen noch über ihre Imaginationen. Interessant ist, dass diese unkontrollierte Fähigkeit durchaus ambivalent gesehen wird: Einerseits wird sie als kreativ eingestuft. Andererseits wird aber auch eine Gefahr darin gesehen: Der Melancholiker kann sich in seinen Imaginationen auch leicht verlieren, und somit „unter der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, Objekt und Bild, Bezeichnetem und Bezeichnendem in besonders hohem Maße leiden“.135 Doch diese beiden Eigenschaften des Melancholikers, sein gutes Gedächtnis und seine Einbildungskraft, ziehen sich laut Wagner-Egelhaaf durch alle Stationen des Melancholiediskurses. „Gedächtnis/Erinnerung und Imagination/Einbildungskraft sind die anthropologisch wie poetologisch reflektierten Quellen, in die das Paradigma des Melancholikers in der Folge, d.h. über mehr als zweitausend Jahre hinweg, eingespannt bleibt“.136 131 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 89. Vgl. LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 27. 133 ARISTOTELES: De memoria et reminiscentia. Übersetzt und erläutert von R. A. H. KING. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Hellmut FLASHAR. Bd. 14, Teil II: Parva naturalia. Berlin 2004, 449b-453b (S. 13-20). 134 Ebd., 453a20 (S. 19). 135 LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile.“ Erinnern und Vergessen in melancholischen Gedichten der Romantik. In: Sonderdruck aus: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Hrsg. von Günter OESTERLE. Würzburg 2001, S. 161. 136 WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 36. Hierauf weist auch Mattenklott hin: zum Gedächtnis vgl. MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 11; zur Einbildungskraft vgl. ebd., S. 34 ff. 132 26 1. 5. 2 Melancholie in der Renaissance: Marsilio Ficino Diese „Vorstellung des hochbegabten Melancholikers“ gerät laut Klibansky/Panofsky/Saxl „in den ersten zwölf Jahrhunderten nach Christus“ offenbar „völlig in Vergessenheit“.137 Doch dann avanciert die Renaissance zur „goldene[n] Zeit der Melancholie“.138 Das liegt nicht zuletzt am Einfluss des Neuplatonikers Marsilio Ficino, der eine „der bedeutendsten Gestalten in der Geschichte des MelancholieProblems“ darstellt.139 Dieser betrachtet sich selbst als Melancholiker – er ist im Zeichen Saturns geboren – und empfindet dies zunächst als „verhängnisvoll“.140 Doch später ändert er seine Meinung: Der Neuplatonismus glaubt nicht mehr an die böse Wirkung von Gestirnen, weswegen nun auch dem Planeten Saturn ein guter und heilvoller Einfluss zugeschrieben wird.141 1489 veröffentlicht Ficino seine berühmte Schrift „De vita libri tres“142 und plädiert darin – im Gefolge des Pseudo-Aristoteles und gegen die Überzeugung des Mittelalters – für eine erneute Nobilitierung der Melancholie, indem er sie als das typische Merkmal des Gelehrten beschreibt.143 Diese Sichtweise setzt sich in der Frührenaissance auch allgemein durch. Ficino „zeigt, wie man den günstigen Einfluß der Melancholie ausnützen und die Gefahren, die sich in ihrem Gefolge zeigen, beschwören kann“.144 Die Melancholie wird hier nämlich einerseits als göttliche Gabe bezeichnet, die Saturn seinen Kindern schenke145; dennoch lässt Ficino die gefährliche Dimension der Melancholie nicht unbeachtet: „ihr können Genie und Krankheit entspringen“.146 Damit die unheilvolle Seite der Melancholie nicht die Oberhand gewinnen kann, muss der Betroffene also ganz bestimmte Maßnahmen ergreifen: So gibt Ficino etwa konkrete Ratschläge für eine sinnvolle Ernährung147 und empfiehlt auch die Einnahme von gewissen Medikamenten148. Dennoch wird die Melancholie durch ihn „zum Lebensgefühl des modernen ‚homo litteratus’“.149 137 KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 126. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 42. 139 LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 218. 140 Ebd., S. 219. 141 Vgl. KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 236. Saturn wird sogar so sehr glorifiziert, dass man ihn zum obersten Schutzpatron der „Platonischen Akademie“ in Florenz ernennt (vgl. ebd., S. 393). 142 FICINO, Marsilio: Three Books on Life. Hrsg. von Carol V. KASKE und Johan R. CLARK. Binghamton und New York 1989. 143 Vgl. ebd., Buch Eins, Kapitel III ff. (S. 113 ff.). 144 STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 42. 145 Vgl. FICINO, Marsilio: Three Books on Life, Kapitel VI, S. 123. 146 STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 82. 147 Vgl. FICINO, Marsilio: Three Books on Life, Kapitel X, S. 133 ff. 148 Vgl. ebd., Kapitel XIX ff. (S. 147 ff.). 149 VÖLKER, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978, S. 11. 138 27 1. 5. 3 Philosophische Begründung der Melancholie bei Denis Diderot In der Philosophie des 18. Jahrhunderts nimmt der Ansatz Denis Diderots einen äußerst wichtigen Platz ein, der in seinem für die ‚Encyclopédie’ verfassten Artikel „mélancolie“150 diese alte Verknüpfung der Melancholie mit dem Genie-Gedanken, zumindest indirekt, aufgreift. Er weist nämlich auf die Phantasie des Melancholikers hin, die der Seele ein angenehmes Lebensgefühl bereite, und betont, dass die Melancholie den Sinnenfreuden durchaus nicht abgeneigt sei, kurz: Er behauptet eine „geistige, seelische und ästhetische Hypersensibilität“ des Melancholikers.151 Besonders interessant ist jedoch die allgemeine Begründung für die Melancholie, die der Philosoph am Beginn des Artikels liefert: Für ihn ist sie eine Folge der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen den menschlichen Vorstellungen von Vollkommenheit der eigenen Person sowie der Umgebung und der unvollkommenen Realität.152 Dies kann einerseits anregend auf die Phantasie wirken, andererseits kann es aber eben auch passieren, dass der Betroffene sich auf Wahnvorstellungen versteift.153 Mit dieser „Verbindung von ‚Mangelbewußtsein’ und ‚Fixierung’ weist Diderot schon weit auf moderne psychoanalytische Melancholietheorien voraus“.154 1. 5. 4 Melancholie und Anthropologie Die Anthropologie, also die Lehre vom Menschen, die in der Zeit der Aufklärung aufkommt, wird schnell „zur sehr populären Basis der Melancholie-Lehre“155: Sie beschäftigt sich intensiv mit den Zusammenhängen zwischen körperlichen und seelischen Prozessen, also mit dem Komplex Gehirn – Nerven – Seele, wo man nun auch die Ursachen für die Melancholie sucht.156 Das Melancholie-Thema zieht sich durch sämtliche anthropologische Abhandlungen der Zeit – und wird dabei zumeist kritisch beleuchtet, d.h. pathologisiert. Interessanterweise besitzt aber die Anthropologie selbst durch ihren pathologischen Einschlag eine deutliche Affinität zur Melancholie.157 Das liegt vor allem an ihrem Prinzip der (Selbst-)beobachtung, das zur Melancholie verleitet. Somit führt sie geradezu das Übel herbei, von dem sie befreien sollte.158 150 DIDEROT, Denis: Mélancolie. In: Ders.: Encyclopédie. Neufchastel 1765. Bd. 10, S. 307-311. Diderot stellt hier die religiöse, nämlich durch Gewissensqualen bedingte, und die medizinische, d.h. krankhafte, sich in wahnhaftem Verhalten äußernde Melancholie als zwei Sonderformen dieses Phänomens dar. 151 LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile“, S. 162. 152 Vgl. DIDEROT, Denis: Mélancolie, S. 307. 153 Vgl. ebd., S. 308. 154 LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile“, S. 162. 155 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 49. 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 11 f. 158 Vgl. ebd., S. 37. 28 Trotzdem ist sie „der Boden, aus dem die Geschichte der Melancholie neue Kraft zieht“.159 Auch Immanuel Kant forscht auf dem Gebiet der Anthropologie und beschäftigt sich somit automatisch mit der Melancholie. Der Ansatz der Pathologisierung dieses Phänomens fehlt bei ihm nicht. Doch in erster Linie erfährt das Bild des Melancholikers durch Kant eine Aufwertung. Er behauptet, dass der Melancholiker „vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene“ besitze160 und spricht ihm die Eigenschaft der Standhaftigkeit zu.161 Der Melancholiker mache sich nicht vom Urteil anderer abhängig, lasse sich nicht von den wechselnden Moden beeindrucken und zeichne sich durch treue Freundschaft aus. Wahrhaftigkeit spiele für ihn eine große Rolle, er sei ernsthaft und beharrlich.162 Diese positive Schilderung hinterlässt natürlich in der Anthropologie (und auch in der Literatur) der Zeit bei der Beurteilung der Melancholie ihre Spuren.163 Allerdings betont Kant, dass die „Ausartung dieses Charakters“ zu Schwermut, Schwärmerei, Freiheitseifer und Enthusiasmus führen könne und der Melancholiker dann in der Gefahr stehe, „ein Phantast oder ein Grillenfänger zu werden“.164 Entscheidend ist, daß Kant die fatalen Negativelemente auf ihren eigentlichen pathologischen Kern zurückdrängt und der Melancholie [...] einen Freiraum für moralische Qualitäten schafft. Damit entlastet er den Melancholiker als Gegenfigur zur Aufklärung und öffnet [...] in einer radikalen Wende den Weg zum melancholischen Genie.165 1. 5. 5 Melancholie und literarische Erfahrungsseelenkunde Auch in der so genannten „literarischen „konkurrierenden Form der Anthropologie“ 166 Erfahrungsseelenkunde“, jener , die, anders als diese, nicht empirisch ausgerichtet ist, und sich nicht für Typologien, sondern für den individuellen Fall interessiert, findet eine Auseinandersetzung mit der Melancholie statt. Einer der wichtigsten Vertreter dieser neuen wissenschaftlichen Richtung ist Karl Philipp Moritz, der auch eine Zeitschrift Erfahrungsseelenkunde“, zum Thema, nämlich das „Magazin zur herausgibt. Dieses enthält u.a. Berichte von „Melancholiepatienten“. Hierbei sind „autobiographische Dokumente aus der Sphäre des Pietismus [...] als Anschauungsmaterial [...] besonders erwünscht“.167 In der 159 Ebd., S. 12. KANT, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Hrsg. von Klaus H. FISCHER. Schutterwald/Baden 2002, S. 29. 161 Vgl. ebd., S. 30. 162 Vgl. ebd., S. 31. 163 Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 53 ff. 164 KANT, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 31. 165 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 39. 166 SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 28. 167 Ebd., S. 137. 160 29 Erfahrungsseelenkunde untersucht man also speziell die religiöse Melancholie, die man – scheinbar objektiv, in Wahrheit aber auch vor einem recht deutlich polemischen Hintergrund – auf den Pietismus zurückführt.168 Auch die „Hypochondrie“ wird hier behandelt.169 1. 5. 6 Walter Benjamin Einen wichtigen und immer wieder zitierten Beitrag zum Melancholie-Diskurs in der Moderne liefert der Schriftsteller, Kritiker und Philosoph Walter Benjamin.170 Er knüpft einerseits durch Rückbezüge auf die Humoralpathologie, Aristoteles, Dürer etc. an die tradierten Melancholie-Reflexionen an171, untersucht die Melancholie andererseits aber speziell im Hinblick auf das barocke Trauerspiel. Laut Benjamin betrachtet der Barock die Weltgeschichte als Geschichte eines Verfalls. So erscheint den barocken Dichtern die Natur nicht in der Knospe und Blüte sondern in Überreife und Verfall ihrer Geschöpfe. Natur schwebt ihnen vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte.172 Dem Verfall des Irdischen steht die Unvergänglichkeit nach dem Tod gegenüber. Diese Spannung wird nun im Trauerspiel allegorisch dargestellt, und zwar „im Wort“ sowie „im Figuralen und im Szenischen“173: „Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen“174. Die im Trauerspiel auftretenden allegorischen Figuren sind also Benjamin zufolge Melancholiker. „Der Fürst ist das Paradigma des Melancholischen“.175 Aber auch der Höfling trägt einen „Zug des Saturnmenschen“, nämlich Treulosigkeit: „der Verrat ist sein Element“.176 1. 6 Melancholie und Literatur 1. 6. 1 „Wonne der Wehmut“: Die Empfindsamkeit Ab dem 18. Jahrhundert findet der Melancholie-Diskurs auch Eingang in die Literatur. Hierbei ist zu beachten, dass sich die literarische Darstellung der Melancholie und ihre 168 Vgl. ebd., S. 137 f. Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 63. 170 BENJAMIN, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Der.: Gesammelte Schriften. Bd. I.I. Hrsg. von Rolf TIEDEMANN und Hermann SCHWEPPENHÄUSER. Frankfurt/Main 1974, S. 203-430. 171 Vgl. hierzu insb. ebd., S. 317-335. 172 Ebd., S. 355. 173 Ebd., S. 367. 174 Ebd., S. 397. 175 Ebd., S. 321. 176 Ebd., S. 333. 169 30 tatsächlichen Ausprägungen in der Gesellschaft wechselseitig durchdringen: Die Melancholie wird literarisch verarbeitet, doch je mehr darüber gelesen und geschrieben wird, desto mehr scheint sie sich auch auszubreiten. Wichtig ist, dass sich die Literatur dieser Zeit v.a. auf den mit der Melancholie verknüpften Genie-Gedanken bezieht. Dies zeigt sich z.B. in der Dramatik des Sturm und Drang. Darauf, dass die Melancholie „in der Gestalt des Genies [...] die Dramatik des Sturm und Drang beherrscht“, weist Mattenklott hin.177 Ludwig Völker führt die Tatsache, dass die Melancholie in der Literatur, speziell in der Gattung der Poesie, zu so einem beliebten Gegenstand avanciert, auf die von Aristoteles behauptete melancholische Veranlagung von Dichtern zurück. Durch die Fortführung dieser Idee bei Ficino habe der neue Melancholie-Begriff Einzug in die Künste, u.a. in die Literatur Italiens, Spaniens, Frankreichs und Englands gehalten.178 Gerade in England sei durch Werke wie Shakespeares „Hamlet“ „die Grundlage für eine breit wuchernde empfindsame Melancholie-Lyrik geschaffen“ worden.179 In Deutschland hingegen dauere es bis zum 18. Jahrhundert, bis sich durch den Einfluss der empfindsamen englischen „Gräber- und Kirchhofspoesie“ der neue, positive Melancholie-Begriff in der Literatur durchsetze. „Die deutsche Lyrik der Empfindsamkeit übernimmt von der englischen Melancholie-Lyrik deren MelancholieBild mit der charakteristischen Verbindung von melancholischer Reflexion und dichterisch-produktiver Tätigkeit [...]“. Plötzlich wird die Melancholie auch in Deutschland regelrecht als Muse verehrt, es ist die Rede von den „Vergnügungen der Melancholey“ (so die Übersetzung des Buches „Pleasures of Melancholy“ von Thomas Warton).180 Zwar bleibt die Sicht auf die Melancholie auch hier ambivalent: In manchen Gedichten wird sie nicht als sanft, sondern als schrecklich dargestellt (z.B. in Ludwig Neuffers „An die Schwermuth“).181 Völker erkennt die Tendenz, die Literatur selbst als Mittel gegen die Melancholie (im Sinne der düsteren Schwermut) zu verstehen und einzusetzen.182 „Dies gilt insbesondere für den Autor, der als sein eigener Arzt das Schreiben betreibt, um drohender Melancholie zu begegnen“, und auch der Leser soll durch die Lektüre vor diesem Phänomen bewahrt werden.183 Aber dennoch findet eine richtiggehend inflationäre Hinwendung zum Thema statt, die Melancholie wird somit zu 177 MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 44. Vgl. auch S. 46. Vgl. VÖLKER, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 11 f. 179 Ebd, S. 12. 180 Ebd., S. 13. 181 Vgl. ebd., S. 14. 182 Vgl. ebd., S. 17 ff. 183 Ebd., S. 19. Die „edle[...] Melancholie“ als Motiv findet sich ebenso wie das gegen die Melancholie eingesetzte „Therapeutikum Poesie“ (ebd., S. 127) in Gedichten bis ins 20. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 127 ff.). 178 31 etwas Besprochenem. Die „joy of grief“, die erstmals in James Mcphersons „Ossian“ auftaucht und die Michael Denis in der deutschen Übersetzung des Werkes mit „Wonne der Wehmut“ wiedergibt, wird zum literarischen Motiv.184 Es taucht „in zahllosen Belegen aus den siebziger und achtziger Jahren“ des 18. Jahrhunderts auf185 – Goethes Gedicht „Wonne der Wehmuth“ von 1775 und Karl Philip Moritz´ „Anton Reiser“ sind hierfür nur zwei von vielen Beispielen –, da es hervorragend geeignet erscheint, die für die Empfindsamkeit typischen „gemischten Gefühl[e]“ auszudrücken.186 Wie oben schon erwähnt, erfährt die Melancholie durch diese Entwicklungen auf literarischem Gebiet, aber ebenso durch die Untersuchungen der Anthropologie, auch bei den Aufklärern langsam eine Aufwertung. Allerdings wird die Empfindsamkeit von diesen immer noch abgelehnt, solange sie nicht an den Verstand gekoppelt ist. Alles andere wird als „affektierte Empfindsamkeit“ bzw. „Empfindelei“ bezeichnet.187 1. 6. 2 Die europäische Weltschmerz-Bewegung um 1800 Im frühen 19. Jahrhundert entsteht in Europa die so genannte „WeltschmerzBewegung“, deren Ursachen, Ausprägungen und Symptome oben bereits skizziert wurden. In der Literatur dieser Epoche finden sich nun die verschiedensten Versuche, all diese beschriebenen Entwicklungen zu verarbeiten.188 Als wichtige Vertreter der Weltschmerz-Strömung gelten Byron, Leopardi und Musset. Die deutschen Repräsentanten sind vor allem Lenau, der junge Heine, Platen, Büchner, Waiblinger und Grabbe.189 In Frankreich wäre außerdem noch François René de Chateaubriand zu nennen. Laut Sengle sind die Strategien der deutschen Dichter der Restaurationsepoche, mit dem Weltschmerz, den sie doch fast alle erlebt haben, umzugehen, sehr verschieden: Autoren wie Grillparzer, Heine, Immermann oder Alexis zum Beispiel versuchen ihre Verzweiflung mit Hilfe des Humors, der Ironie oder der „Beschwörung vergangener besserer Zeiten oder gegenwärtiger Idyllen“, eben „biedermeierlicher“190 Idyllen, zu 184 Vgl. hierzu: RICHARDSON, Peter: Wonne der Wehmuth/Joy of Grief. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Begründet von Ludwig HERRIG, hrsg. von Rudolf SÜHNEL u.a. 126. Jahrgang, 211. Band. Braunschweig 1974, S. 377-381. 185 Ebd., S. 380. 186 Ebd., S. 377. 187 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 31 f. 188 Vgl. SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 110. 189 Vgl. TÖKEI, Eva: Weltschmerz bei Leopardi und Lenau. In: Lenau-Forum. Vierteljahresschrift für Vergleichende Literaturforschung. Hrsg. von Viktor SUCHY und Klaus HEYDEMANN. Jahrgang 18, Folge 1-4. Stockerau 1992, S. 50. 190 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Biedermeier“ eigentlich unscharf und deshalb recht umstritten ist (vgl. HÄNTZSCHEL, Günter: Zur Literatur der Epoche. In: Kunst des Biedermeier 1815-1833. Hrsg. von Georg HIMMELHEBER. München 1988, S. 61), da damit im 32 überwinden. Die tatsächlichen „Weltschmerzpoeten“ jedoch geben sich ihrem Nihilismus und ihrer Hoffnungslosigkeit unverhohlen hin.191 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie für das Biedermeier „zu wenig beherrscht, zu wenig ehrfürchtig und bescheiden“ sind, sich aber selbst vom Jungen Deutschland distanzieren.192 Auf der anderen Seite stehen die Vertreter eben dieses Jungen Deutschlands, die versuchen, durch ihre Veröffentlichungen politische Ideen zu verbreiten und gegen die Entwicklungen in Deutschland zu protestieren. In seiner Abhandlung „Der Weltschmerzler“ befasst sich Harald Bost193 mit der in der Zeit des Weltschmerzes entstandenen Literatur und leitet aus der Analyse diverser Texte Charakteristika weltschmerzlerischer Figuren ab (auf diese Charakteristika wird zum Teil unten noch detaillierter eingegangen).194 Er definiert den Weltschmerz als „Leiden der Welt“ sowie als „Leiden an der Welt“.195 Grundsätzlich trennt Bost zwischen zwei Generationen und damit zwei Phasen des Weltschmerzes.196 Die weltschmerzlerischen Helden der ersten Phase (zu ihnen gehören Werther197, Hyperion und Ortis) unterscheiden sich laut Bost von denen der zweiten Phase dadurch, dass erstere anfangs noch den enthusiastischen Wunsch verspüren, „Unmögliches verwirklichen zu können“, dann aber durch eine Verlusterfahrung die menschliche Bedingtheit erkennen müssen und dadurch am Leben verzweifeln.198 Die Helden der zweiten Generation (zu ihnen sind z.B. Michail Lermontows „Ein Held unserer Zeit“ sowie die Helden der Werke Byrons zu rechnen) sind hingegen von Anfang an desillusioniert und des Lebens überdrüssig.199 Allgemeinen nur Harmlosigkeit und Angepasstheit assoziiert werden, während die „hintergründigen Dimensionen“ dieser Literatur dabei unter den Tisch fallen (ebd., S. 59). Sie als eher konservativ und traditionell zu betrachten, gerade im Gegensatz zur fortschrittlich orientierten Literatur des Jungen Deutschland und des Vormärz, erscheint jedoch nicht unangebracht (vgl. ebd., S. 62). Grundsätzlich setzt sich momentan als Begriff für die Literatur dieser Zeit wohl die Bezeichnung „Literatur der Restaurationsepoche“ durch; „Biedermeier“ bezeichnet hierbei deren „triviale, unterhaltsame Sparte“ (ebd., S. 61). 191 SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 225. 192 Ebd., S. 222 f. 193 BOST, Harald: Der Weltschmerzler. Ein literarischer Typus und seine Motive (Diss.). St. Ingbert 1994. 194 Bost bezieht sich ganz konkret auf die Phase des Weltschmerzes, benutzt den Begriff „Weltschmerz“ jedoch häufig als Synonym für Melancholie allgemein („Melancholie, ennui und Weltschmerz hat es immer gegeben und wird es immer geben“; vgl. ebd., S. 100). 195 Ebd., S. 230. 196 Ein drittes Auftauchen des Weltschmerzler-Typus erkennt Bost in den Décadents und Dandys der Jahrhundertwende (vgl. ebd., S. 280). 197 Laut Heitmann stellen „Die Leiden des jungen Werthers“ das zeitlich erste Werk der Weltschmerzliteratur dar (vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 64). 198 BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 138. 199 Vgl. ebd., S. 280. 33 In England findet sich seit etwa 1740 unverkennbar vom Weltschmerz geprägte Literatur, die als „literature of woe“ bezeichnet wird und dem berühmten englischen Schriftsteller George Gordon Noël Lord Byron (1788-1824) den Weg bereitet.200 Byron selbst wiederum hat großen Einfluss auf die Entstehung der europäischen Weltschmerz-Bewegung; er wird von Sengle als „europäische[r] Chorführer des Weltschmerzes“ bezeichnet.201 Berühmt wird er aufgrund seiner revolutionären Gesinnung202, aber auch aufgrund seiner Leidenschaftlichkeit und Melancholie, die laut Heitmann einerseits in seiner Biographie begründet liegt, andererseits aber auch mit politischer Frustration und religiöser Nostalgie zusammenhängt. In seinem Werk thematisiert er die „Götterlosigkeit der Welt“203, seine Helden sind einsam, ihre „seelischen Verwundungen zugleich masochistisch aufwühlend und narzißtisch genießend“.204 Byron selbst wird oft mit seinen Helden identifiziert.205 Er beeinflusst das literarische Schaffen von Dichtern in fast ganz Europa, besonders in Italien, Deutschland, Russland und Polen.206 „Byron galt sowohl als Hauptvertreter als auch als Vorbild mit dem Weltekel, der Blasiertheit, dem Spleen, Nihilismus und der Skepsis seiner Dichtung, deren Grenzen mit seiner ästhetisierten Lebensweise von ihm bewußt verwischt wurden.“207 Die Begeisterung für Byrons Person und sein Werk wird mit dem Schlagwort „Byronismus“ überschrieben, dem in Deutschland viele der genannten Weltschmerz-Poeten, unter anderem z.B. Heine und Lenau, anhängen. Hentschel hebt jedoch hervor, dass der Byronismus in Deutschland sich von dem in anderen Ländern unterscheide: Die Restaurationspolitik Metternichs und auch die daraus erwachsene Apathie des Volkes mache revolutionäre Bestrebungen unmöglich, so dass Byrons politische Botschaften hier nicht großflächig auf fruchtbaren Boden fallen könnten.208 Es ist also in Deutschland eher die melancholische Seite Byrons, die bekannt wird und die man nachzuahmen versucht.209 200 Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 69. SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 11. 202 Byron engagiert sich aktiv für den Griechischen Unabhängigkeitskrieg; vgl. hierzu: PROTOPSALTIS, E.G.: Byron and Greece. Byron´s Love of Classical Greece and his Role in the Greek Revolution. In: Byron´s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe. A Symposium. Hrsg. von Paul Graham TRUEBLOOD. London 1981, S. 91-107. 203 HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 70. 204 Ebd., S. 71. 205 Vgl. ebd., S. 73. 206 Vgl. TRUEBLOOD, Paul Graham: Conclusion: Byron and Europe. In: Byron´s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe, S. 200. Zum Einfluss Byrons auf weitere Länder Europas vgl. die entsprechenden restlichen Kapitel des Buches. 207 TÖKEI, Eva: Weltschmerz bei Leopardi und Lenau, S. 49. 208 Vgl. HENTSCHEL, Cedric: Byron and Germany. The Shadow of Euphorion. In: Byron´s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe, S. 72. 209 Vgl. ebd., S. 87. Dagegen argumentiert Blaicher, der behauptet, die Zeitgenossen würden Byron viel stärker in einem politischen Licht sehen, als dies heute rückblickend angenommen werde (vgl. BLAICHER, 201 34 Interessant ist, dass gerade Wilhelm Müller viel zum Bekanntwerden Byrons in Deutschland beiträgt, indem er diverse Artikel, Rezensionen seiner Werke, ein Gedicht und eine Biografie210 über ihn verfasst, die 1826 publiziert wird. Eine Verbindung zwischen den beiden Dichtern bestehe, so Blaicher, durch ihr ähnliches Temperament und ihre liberale, ja revolutionäre politische Einstellung.211 So hebt Müller in seiner Byron-Biografie die „politischen Ideen des liberalen Dichters” mehrfach lobend hervor212, und betont auch die Tatsache, dass er „ein wilder und feuriger Geist“ sei.213 Er bezeichnet ihn als „groß und edel“214 und als überaus talentierten Dichter. Besonders begeistert zeigt er sich von Byrons Engagement für die Befreiung Griechenlands von den türkischen Belagerern. Laut Blaicher sieht Müller in Byron eher den Liberalen und Revolutionär, und weniger den Misanthropen, den andere in ihm sehen. „Müller developed the political aspect of the poet as a champion of freedom.“215 Doch je mehr Müllers Sicht der Dinge in Vergessenheit gerate, desto mehr bleibe Byron im kollektiven Gedächtnis als Melancholiker und Misanthrop zurück.216 1. 6. 3 Melancholie und Romantik Nesbeda führt die Schwermut der romantischen Dichtung, die „durch Umwertung, qualitative Potenzierung und Abstraktion ein überaus hohes Maß an poetischer Dignität“ erreicht habe217, auf eine durch den deutschen Idealismus verursachte geistige Krise zurück. Diese Krise bestehe darin, dass die Autonomie des Ichs, das vom Idealismus zunächst stürmisch gefeiert worden sei, von den spätromantischen Dichtern als beängstigend empfunden werde.218 Der Grund hierfür liege in der Angst vor IchBezogenheit und Isolation begründet. Vor allem die Werke Tiecks und Brentanos würden daher den Weg „des Ichs von vermeintlich unumschränkter Freiheit zu verzweifelter Schwermut“ spiegeln.219 Aus dieser tiefgreifenden Identitätskrise der Romantiker lasse sich auch ihr Geschichtsmodell erklären, in dem sie sich selbst in Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century Germany. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Hrsg. von Klaus HEITMANN u.a. 138. Jahrgang, 1. Halbjahresband 1986 (Bd. 223). Berlin 1986, S. 2). 210 MÜLLER, Wilhelm: Lord Byron. In: Ders.: Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 4: Schriften zur Literatur, S. 157-288. 211 Vgl. BLAICHER, Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century Germany, S. 9. 212 MÜLLER, Wilhlem: Lord Byron, S. 167. 213 Ebd., S. 247. 214 Ebd., S. 273. 215 BLAICHER, Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century Germany, S. 9. 216 Vgl. ebd., S. 15 f. 217 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 142. 218 Vgl. ebd., S. 67. 219 Ebd., S. 72. 35 einem Zwischenstadium, einer „Zeit der Schwermut“, zwischen einem vergangenen goldenen Zeitalter und dem Wiedereintreten eines neuen paradiesischen Zustandes sähen. Ihre Sehnsucht richte sich also auf die Wiedererlangung des verlorenen Glückszustandes.220 In der Lyrik der Romantik erkennt Nesbeda folgende, immer wieder auftauchende Konzeption221: Das Ich erlebt einen Verlust (oder eine Enttäuschung, die mit Desillusionierung einhergeht), wird von Sehnsucht gequält und begibt sich auf die Suche, um das Verlorene wiederzuerlangen. Wenn die Suche ohne Erfolg bleibt, gerät das Ich in die Situation von Orientierungslosigkeit und Angst. Es ist isoliert und befindet sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Kennzeichnend für die Seelenlage des Ichs sind Hoffnung bzw. Resignation, die sich bis zur Todessehnsucht steigern kann, da im Tod die einzig mögliche Erlösung vermutet wird. In nahezu allen Gedichten, so Nesbeda, findet am Ende auch eine Erlösung statt, indem das Ich Liebe erfährt oder Gott und den Glauben sowie die Liebe „als übergeordnete Macht anerkennt“.222 Die Natur223 werde, anders als in der vorromantischen Lyrik, nicht mehr als harmonischer Ort dargestellt, der das melancholische Ich trösten könne, sondern besitze eher bedrohlichen Charakter: Sie sei stets zu weit oder zu eng, oft wüst, öde, schauerlich etc., so dass sich das Ich darin einsam fühlen müsse. Es ist auffällig, wie genau dieses Schema – abgesehen vom Erlösungsaspekt – auch auf Müllers „Winterreise“ zutrifft. Dem Zusammenhang von Melancholie, Wahnsinn und Künstlertum in der romantischen Literatur widmet sich Franz Loquai in seiner bereits zitierten Abhandlung „Künstler und Melancholie in der Romantik“. Er vergleicht die Sichtweise der Medizin um 1800 und des 19. Jahrhunderts auf die Melancholie mit der Sichtweise der Literatur: Die Ärzte dieser Zeit vertreten, wie oben schon ausgeführt, die Ansicht, dass es sich bei der Melancholie um eine Nervenkrankheit, um eine Form des partiellen Wahnsinns, handle.224 Als für diese Krankheit besonders anfällig werden von den Medizinern die Künstler und Gelehrten bezeichnet.225 In den Augen der Gesellschaft gelten die Melancholiker als Störenfriede und werden meist isoliert, da sie sich den geltenden Normen nicht anpassen und angeblich auch nichts Nützliches für die Gesellschaft 220 Vgl. ebd., S. 84. Vgl. hierzu: ebd., S. 122 f. 222 Ebd., S. 122. 223 Vgl. hierzu: S. 104 f. sowie S. 123. 224 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 5. 225 Vgl. ebd., S. 57 f. 221 36 leisten.226 Die Literatur des 19. Jahrhunderts entwirft nun mit ihren fiktionalen Texten „ästhetische Gegenbilder zur medizinischen Doktrin“.227 Sie stellt vielfach melancholische und deshalb gesellschaftlich isolierte Künstler dar, wobei häufig medizinische Abhandlungen als Grundlage benutzt werden; dennoch wendet sich die Literatur gegen die Sichtweise der Gesellschaft: Sie beruft sich zum einen auf die Nobilitierung der Melancholie in Antike und Renaissance und entlarvt zum anderen den melancholischen Bürger, der im Gegensatz zum echten Melancholiker nicht isoliert wird, als bloßen Anhänger einer affektierten Empfindelei.228 Auf der anderen Seite entwickelt die romantische Literatur aber die Utopie einer Annäherung von Leben und Kunst: Sie hat die Abschaffung der Melancholie, ja der Krankheit allgemein zum Ziel. Zum Erreichen dieser höheren Harmonie muss jedoch die Melancholie mit ihrer Negation der bürgerlichen Normen quasi als Durchgangsstation durchschritten werden229: „Alle Krankheiten fungieren als Katalysatoren bei der Gewinnung der höheren, vollkommenen Gesundheit“.230 Der Melancholiker soll also nicht, wie es der Forderung der Gesellschaft entspricht, isoliert werden, sondern der melancholische Künstler fungiert dieser Idee zufolge sogar als Vermittler dieses Ideals.231 Allerdings bleibt diese Idee selbst in den Texten der Zeit utopisch: Häufig findet doch eine Isolation der Künstlerfiguren statt.232 2. Das Wandern: Melancholie-Symptom und -heilmittel Zu den vielen Charakteristika, die dem Melancholiker im Lauf der Geschichte immer wieder zugeschrieben werden, gehört unter anderem seine immerwährende Sehnsucht nach Ortswechseln – wobei ihn diese niemals glücklich machen können: Er findet auch in neuen Umgebungen immer wieder Begründungen dafür, nicht glücklich sein zu können.233 Bost zufolge wird dieses Motiv in der Weltschmerz-Literatur deshalb häufig verarbeitet: „Die Sehnsucht, ein in der Vergangenheit (nicht) besessenes Glück wieder zu finden, treibt die Weltschmerzler auf Reisen. Die Reise ist das Urbild der Sehnsucht, in der der innere Widerspruch des Weltschmerzlers Prozeßcharakter gewinnt.“234 226 Vgl. ebd., S. 67 ff. Ebd., S. 3. 228 Vgl. ebd., S. 89 ff. 229 Vgl. ebd., S. 228 ff. 230 Ebd., S. 234. 231 Vgl. ebd., S. 241 ff. 232 Vgl. ebd., S. 276. 233 Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 103. 234 BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 411. 227 37 Doch bereits in der Antike wird dieses Phänomen beobachtet: Seneca zum Beispiel beschäftigt sich, wie Lambrecht ausführt235, in seinen beiden Werken „Epistulae morales ad Lucilium“ („Moralische Briefe an Lucilius“)236 und „De tranquilitate animi“ („Von der Ruhe des Gemüts“)237 mit der Reisewut seiner römischen Zeitgenossen, die es auf der verzweifelten Suche nach innerem Glück nie lange an ein und demselben Ort aushalten. Der Autor beschränkt sich jedoch nicht auf die Beschreibung dieses fluchtartigen Reisens in seiner Epoche, sondern er kritisiert es auch, indem er auf die Vergeblichkeit dieser Fluchtversuche hinweist: Durch Reisen kann man zwar von einem Ort entfliehen, aber nicht vor sich selbst.238 Und dabei empfindet man sich selbst ja als „eigentliche Quelle seiner Mißstimmung und seines Unglücks“.239 Im 104. seiner „Moralischen Briefe an Lucilius“ bringt Seneca diese Gedanken schließlich auf die „knappste und treffendste Formel [...]: tecum fugis“240, was in der deutschen Übersetzung mit „...du reistest mit dir selbst“ wiedergegeben wird.241 Natürlich verurteilt Seneca nicht jede Form des Reisens als vergeblichen Fluchtversuch vor der eigenen Traurigkeit. In seiner Schrift „Von der Ruhe des Herzens“ stellt er, wie Lambrecht formuliert, das „geistige Verkrampfungen lösende Sich-für-die-WeltInteressieren“ dem „Vor-sich-selbst-Fliehen“ gegenüber, indem er ersteres gleichsam als Therapeutikum beschreibt. „Interesse am Fremden“ ist also legitim, kann sogar heilsam sein, „Sehnsucht melancholiebefördernd. nach Ferne“ ist dagegen eher gefährlich, 242 Im Mittelalter gilt das Reisen grundsätzlich als Melancholie-Symptom, seine heilende Wirkung gerät vorübergehend in Vergessenheit.243 Selbstverständlich akzeptiert sind natürlich Pilgerreisen und Wallfahrten, d.h. Reisen zu religiösen Zwecken.244 Und auch im weiteren Verlauf der Geschichte wird das Reisen immer zweckgebunden bleiben, bevor um 1800 das „standesindifferente“ und zweckfreie Wandern aufkommt, 235 Vgl. zu diesem Abschnitt: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 105 ff. SENECA, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften. Bd. 4: Briefe an Lucilius. Zweiter Teil: Brief 82124. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto APELT. Leipzig 1924. 237 Ders.: Von der Gemütsruhe. In: Lucius Annäus Senecas ausgewählte Schriften. Deutsch von Albert FORBIGER. Bd. 3. Berlin 19142, S. 160-200. 238 „Also flieht vor sich selbst beständig ein jeder. Aber was hilft es, wenn er sich nicht entfliehen kann? Er selbst folgt sich nach und drängt als der lästigste Begleiter (ebd., S. 169). 239 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 107. 240 Ebd., S. 110. 241 SENECA, Lucius Annaeus: Brief 104. In: Philosophische Schriften. Bd. 4, S. 217. 242 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 113 (mit Verweis auf: SENECA, Lucius Annaeus: Vom glückseligen Leben / Trostschrift für Marcia / Von der Ruhe des Herzens. Übersetzung von H.M. ENDRES. München o. J., S. 153 f.). 243 Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 75. 244 Vgl. hierzu: HERBERTS, Klaus: Unterwegs zu heiligen Stätten – Pilgerfahrten. In: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hrsg. von Hermann BAUSINGER u.a. München 1991, S. 23-31 sowie: PLÖTZ, Robert: Wallfahrten. In: Reisekultur, S. 31-38. 236 38 wie Bosse und Neumeyer erläutern.245 Zuvor hatte der Stand des Reisenden Art und Zweck der Unternehmung bestimmt: Die jungen Adeligen, also der „Wehrstand“246, hatten „Kavalierstouren“247 zum Zweck der „Façonierung“ (d.h. der „Eingewöhnung“ in höfische Umgangsformen) und der „ständische[n] Selbstdarstellung“ (also der Repräsentation der eigenen Macht) im Ausland unternommen.248 Die Gelehrten aus dem so genannten „Lehrstand“249, zu dem auch die Geistlichen gehörten, hatten sich auf Bildungsreisen begeben, und für die Handwerker aus dem „Nährstand“250, dem städtische Bürger und auch Bauern zugehörten, war es Pflicht gewesen, sich nach der Lehrzeit für mindestens drei Jahre auf Wanderschaft zu begeben. Wer, abgesehen von diesen Gruppen, nicht sesshaft, sondern auf den Straßen anzutreffen gewesen war, „war sozial stigmatisiert: mit Sicherheit arm, möglicherweise kriminell“.251 Dass das Wandern am Ende des 18. Jahrhunderts „entstigmatisiert“ wird252, führen Bosse und Neumeyer auf vier Ursachen zurück: Erstens wird die Wanderschaft der Gesellen eingeschränkt, da man in ihrer Mobilität ein staatliches und wirtschaftliches Problem sieht. Zweitens inspiriert Rosseaus „Emile“ von 1762 viele „empfindsame Reisende“253, ihre Touren nicht mehr in der Kutsche, sondern zu Fuß zu erleben, um den Naturgenuss zu steigern. Drittens führt die geographische und geologische Erforschung der Alpen dazu, dass immer mehr Laien sich für die dort entdeckten Natursehenswürdigkeiten interessieren. Die „empfindsamen Reisen“, wie sie in Laurence Sternes „Sentimental Journey through France and Italy“ von 1768 oder auch in Johann Georg Jacobis „Winterreise“ (1969) und „Sommerreise“ (1770) beschrieben werden, stellen hierbei wichtige Inspirationsquellen dar.254 Immer mehr kommt es in Mode, dass man auf Reisen Sehenswürdigkeiten nicht nur besichtigen, sondern vor allem „empfinden“ will. Zunehmend unwichtiger wird hierbei die Standeszugehörigkeit: „Der Wanderstaub verwischt die sozialen Unterschiede“255, es geht um den „natürlichen Menschen“256. Reisen und Wandern ist nun auch als Selbstzweck möglich. 245 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 17. Vgl. zu diesem Abschnitt S. 17 ff. 246 Ebd., S. 18. 247 Vgl. hierzu: SIEBERS, Winfried: Ungleiche Lehrfahrten – Kavaliere und Gelehrte. In: Reisekultur, S. 47-57. 248 Ebd., S. 48. 249 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 18. 250 Ebd., S. 18. 251 Ebd., S. 22. 252 Ebd., S. 23. 253 Ebd., S. 25. 254 Vgl. zum Einfluss der „Sentimental Journey“: SAUDER, Gerhard: Sternes „Sentimental Journey“ und die „Empfindsamen Reisen“ in Deutschland. In: Neue Bremer Beiträge. Bd. 1: Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang GRIEP und Hans-Wolf JÄGER. Heidelberg 1983, S. 302-319. 255 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 29. 39 Im Lauf der Jahrhunderte, mit dem Wachsen der Städte, war aber auch die Vorstellung vom melancholieheilenden Potential des Reisens wieder aufgekommen257: Man verspürt immer mehr den Drang, dem Lärm und Schmutz der Stadt zu entfliehen, sucht körperliche Betätigung in der Natur. Ärzte und Schriftsteller des 17. und 18. Jahrhunderts, wie z.B. der Doktor George Cheyne oder der Dichter Matthew Green, geben hierzu mittels der Literatur die entsprechenden Anstöße. Wer jedoch ernsthaft unter Melancholie bzw. „Spleen“, wie man ja im England dieser Zeit sagt, leidet, für den sind einfache Landpartien nicht ausreichend; er muss weiter weg fahren, vorzugsweise in südliche Länder. Man hofft, den Spleen der Patienten – der zugegebenermaßen oftmals nicht mehr als „eine zur Schau getragene Haltung“ ist258 – durch die Besichtigung antiker Baukunst und Bildhauerei zu kurieren. Die deutsche Bildungsrevolution bzw. die „Humboldtschen Reformen“ sind der vierte Faktor, der laut Bosse und Neumeyer die Entstigmatisierung des Wanderns um 1800 begünstigt. Durch diese Reformen werden die Selbsttätigkeit und die „Selbstbewegung des Geistes“ der Studenten fest im Bildungswesen verankert.259 In diesem Zuge werden sie auch dazu ermutigt, zu reisen und fremde Kulturen kennen zu lernen, nicht zuletzt, um die Modernisierung der Gesellschaft zu gewährleisten. Dies geht so weit, dass es als sich selbst entehrend angesehen wird, wenn ein Akademiker keine Bildungsreisen unternimmt. In fast diskriminierender Weise wird vom Typ des nicht studierten Bürgers gesprochen, der sich handwerklich betätigt und nicht reist: Er wird als „Philister“ bezeichnet, während sich im 18. Jahrhundert für den akademisch gebildeten Bürger der Begriff des „Musensohn[s]“ etabliert.260 Doch bei diesem „gebildeten Wandern“ besteht, um wiederum den Bogen zur Melancholie zu schlagen, die Gefahr, „nicht nur den Weg, sondern sogar den Boden zu verlieren“261: Es kann dem Wanderer passieren, dass ihn die Hoffnung verlässt, weil er so weitab von der Gesellschaft unterwegs ist. Das Wandern wird also ab dieser Zeit auch durchaus wieder ambivalent gesehen und in der Literatur entsprechend dargestellt: Die jetzt entstehenden Wanderlieder sind teilweise fröhlich und optimistisch gehalten und transportieren eine positive Aufbruchsstimmung262, sind teilweise aber auch durch 256 Ebd., S. 42. Vgl. hierzu: STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 75 ff. 258 Ebd., S. 78. 259 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 34. 260 Ebd., S. 38. 261 Ebd., S. 44. Vgl. auch zum Rest dieses Abschnitts ebd., S. 44. 262 Sengle bezeichnet die „Wander- und Reiselieder“ der Biedermeierzeit als „im allgemeinen munterer, leichter oder sogar spielerisch und ironisch“ im Vergleich zu denjenigen der Romantik. So sei auch das Wandern in dieser Zeit „nicht mehr Ausdruck einer ungestümen, letzten Endes das ‚Unendliche’ meinenden Sehnsucht, sondern eine lustvolle Bewegung mit Anfang und Ende, womöglich in 257 40 die genau entgegengesetzte Stimmung geprägt. Interessant ist, dass hier wiederum eine Verbindung zu den vier Temperamenten und den ihnen zugeordneten Jahreszeiten hergestellt wird: Die optimistischen Lieder besitzen als Kulisse eher die Sommermonate, da diese mit dem sanguinischen bzw. cholerischen Temperament in Zusammenhang gebracht werden, die melancholischen Lieder263 die Wintermonate (aufgrund ihres Zusammenhangs mit Phlegma und Melancholie). Die Überzeugung, Melancholie-Patienten durch Reisen heilen zu können, ist übrigens nicht von ewiger Dauer: „Die Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind sich prinzipiell darin einig, daß Reisen niemals einen Melancholiker heilen; von einigem Nutzen können sie bei einer Rekonvaleszenz sein, als Vorstufe zu einer Wiederaufnahme der normalen Tätigkeit.“264 3. Wilhelm Müller und Franz Schubert – zwei „Weltschmerzler“? Im folgenden soll ein kurzer Blick auf die Biographien Wilhelm Müllers und Franz Schuberts geworfen werden, und zwar insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihres sozialhistorischen Hintergrundes bzw. ihres daraus resultierenden Weltbildes. Die Berücksichtigung dieser Aspekte kann nämlich einiges zum Verständnis der „Winterreise“ beitragen. 3. 1. Wilhelm Müller Der zu seiner Zeit recht bekannte, mit nur knapp 33 Jahren sehr jung verstorbene Wilhelm Müller265 ist der Nachwelt vor allem als Dichter einfacher, volksliedhafter Lyrik in Erinnerung geblieben.266 Konkret sind es eigentlich nur zwei Werke, die seinen Namen lebendig erhalten haben: „When Müller is remembered today, it is usually in Gesellschaft“ (SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. II: Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 499). 263 Ein Beispiel hierfür wäre die „Winterreise“ von Johann Georg Jacobi (1769). Wie später gezeigt werden wird, wird aber in Müllers „Winterreise“ nicht nur die Vorstellung vom fröhlichen, optimistischen Wandern völlig pervertiert, sondern sogar die Melancholie, wie sie etwa schon Jacobis Werk transportiert, noch weiter zugespitzt. 264 STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 79. 265 Bei den Ausführungen zu Müller beziehe ich mich v.a. auf: BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, sowie auf: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung (Diss.). Berlin 1989. 266 Es ist unbestreitbar, dass Müller sich in seiner Lyrik inhaltlich und formal stark an das Volkslied anlehnt. Dennoch geht es ihm nicht um eine bloße Imitation des Volksliedes; vielmehr ist er der Ansicht, dass Lyrik zeitgemäß zu sein habe (vgl. MÜLLER, Wilhelm: Über die neueste lyrische Poesie der Deutschen. Ludwig Uhland und Justinus Kerner. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 4: Schriften zur Literatur, S. 304). Deshalb übernimmt er einige Elemente aus der Volkslieddichtung, füllt sie aber mit einer neuen, zeitgemäßen Botschaft. Das gilt für seine Gedichte über den Griechischen Unabhängigkeitskrieg, aber auch in seine Trinklieder versucht er politisch-kritische Ideen zu integrieren – was der Zensur natürlich missfällt. Für sein Talent in dieser Gattung spricht u.a. die Bewunderung, die ihm Heinrich Heine entgegenbringt (vgl. hierzu: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 263). 41 connection with Schubert´s settings of Die schöne Müllerin and Die Winterreise”.267 Lange Zeit wurde er sogar als sentimental und naiv belächelt, die vielen Facetten seiner Persönlichkeit (z.B. sein Interesse für Philologie, Journalismus und besonders Politik268) waren hingegen lange Zeit in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Forschung wieder verstärkt ihr Augenmerk auf ihn gerichtet, wobei sein Talent und die beachtliche Menge seiner Veröffentlichungen auch wieder stärker gewürdigt werden.269 Dabei herrscht besonders oft Uneinigkeit darüber, welcher Epoche man Wilhelm Müller zuordnen könne. Gelegentlich wird er als Vorreiter des Jungen Deutschland bezeichnet – hierfür spricht, dass er in vielen Werken politische Ideen zu transportieren versucht. Am meisten verbreitet ist jedoch die Meinung, dass Müller der Romantik zugehöre. Im Jahr 1812 beginnt er ein Philologiestudium in Berlin, das er allerdings zugunsten seiner freiwilligen Teilnahme an den Befreiungskriegen 1813/14 unterbricht und danach zwar wieder aufnimmt, aber nicht zu Ende führt. In seiner Berliner Zeit knüpft er wichtige Kontakte: Vor allem nach seinem Militärdienst ist er zu Gast in verschiedenen Berliner Salons (u.a. bei Rahel Varnhagen von Ense) und genießt dank seiner verbindlichen Art die Sympathie der Zeitgenossen. Im Sommer 1817 begibt sich Müller als Reisebegleiter Baron von Sacks auf eine Italienreise, von der er 1818 zurückkehrt. Bei seiner Rückkehr wird ihm besonders deutlich bewusst, wie sehr sich die politischen Verhältnisse in Deutschland in den letzten paar Jahren zum Schlechteren gewandelt haben. Beim Wiener Kongress in den Jahren 1814/15 hätte die politische Machtverteilung in Mitteleuropa nach Napoleon neu strukturiert werden sollen. Doch bald schon stellt sich heraus, dass nicht eine Neuordnung, und schon gar nicht Demokratie, sondern vielmehr eine Restauration der vorrevolutionären, spätfeudalen Machtverhältnisse das Ergebnis dieses Kongresses ist. Meinungs- und Pressefreiheit werden von der Zensur unterdrückt, was sich durch die ‚Karlsbader Beschlüsse’ von 1819 noch verschärfen wird. All diese Entwicklungen müssen dem liberal eingestellten Müller missfallen. An seinen Freund Rumohr schreibt er, wieder in Deutschland angelangt, folgende Zeilen: Das Vaterland hat mich mit Reif u Schnee u Nebel begrüßt, das wäre noch zu ertragen, aber, aber, die Philisterei (verzeihen Sie den 267 BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 61. Vgl. zu Müllers politischer Einstellung: KLENNER, Andreas: Kein Sänger der Weltflucht. Wilhelm Müller als kritischer Beobachter seiner Zeit. In: Wilhelm Müller. Eine Lebensreise. Zum 200. Geburtstag des Dichters. Kataloge der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau. Bd. I. Hrsg. von Norbert MICHELS. Weimar 1994, S. 71-75. 269 Vgl. hierzu z.B.: KREUTZER, Hans Joachim: Wilhelm Müller. Der Artist in den Traditionen der Literatur. In: Ders.: Obertöne. Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste. Würzburg 1994, S. 176-195. 268 42 burschikosen Ausdruck) stürzt so schrecklich auf mich ein, wie auf den Simson, als er die Säulen umriß, die den Festsaal der Goliathsbrüder trugen. Ich weiß nicht, ob es allen Leuten so geht, die aus Italien heimkehren: [...]. In Wahrheit, wenn es überall in Deutschland ist, wie in München, so muß ich es bedauern, Italien je betreten zu haben, oder mein ganzes Streben dahin richten, es wieder zu sehen. Nichts will mir hier behagen.270 In Dessau wird Müller 1819 trotz seines fehlenden Abschlusses als Lehrer und Herzoglicher Bibliothekar eingestellt. Außerdem baut er seine journalistische Betätigung weiter aus, die er bereits 1817 aufgenommen hat: Er schreibt Rezensionen für mehrere Journale und beginnt vor allem eine intensive Zusammenarbeit mit dem Brockhaus-Verlag, dem er in den folgenden Jahren regelmäßig Texte (Reiseberichte, Rezensionen und andere Artikel) liefert. Dies tut er nicht zuletzt, um seine Frau und seine zwei Kinder ernähren zu können (die Familie hat er 1821 mit Adelheid von Basedow gegründet). Als Philologe arbeitet er, ebenfalls ab 1821, an der „Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste“ mit, die Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Grubers 1818 in Leipzig gegründet hatten (1825 wird Müller Mit-Herausgeber). Außerdem initiiert er die Publikation der mehrbändigen „Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts“ und ist hin und wieder als Übersetzer tätig (er übersetzt z.B. das Nibelungenlied sowie griechische Volkslieder). Sein Schaffen als Dichter beginnt er um das Jahr 1815. Dass bei ihm politisches Engagement und schriftstellerische Betätigung immer eng zusammenhängen, zeigt sich schon früh: Mit einigen anderen Heimkehrern aus den Befreiungskriegen (unter ihnen auch sein Freund Wilhelm Hensel) veröffentlicht er 1816 eine Sammlung politischer Gedichte, die sog. „Bundesblüten“, die allerdings von der Zensur der Metternichschen Restaurationszeit nicht geduldet werden. Das Zensur-Problem wird Müller sein Leben lang begleiten. Ab 1821 schreibt er Gedichte über die griechischen Unabhängigkeitskriege, 1822 die berühmten „Lieder der Griechen“. „Müller supported the Greeks in the hope that their struggle for freedom might help turn the tide of European politics“.271 Er versteht diese Gedichte als Aufrufe, Griechenland tatkräftig zu unterstützen, womit er teilweise auch erfolgreich ist: Manche seiner Landsleute ziehen wirklich für Griechenland in den 270 MÜLLER, Wilhelm: Brief an Baron Karl von Rumohr vom 15. November 1818. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 5: Tagebücher. Briefe, S. 126. 271 BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 107. 43 Krieg.272 Diesem Interesse für die Befreiung der Griechen von ihren türkischen Belagerern verdankt Müller auch den Spitznamen „Griechen-Müller“, für den er heute noch bekannt ist. Die Griechenlieder und andere Gedichte sowie Prosastücke erscheinen übrigens ab etwa dieser Zeit in verschiedenen Zeitschriften wie „Hermes“, „Urania“ und anderen. Seine Prosa, z.B. die beiden Novellen „Der Dreizehnte“ und „Debora“, die zur Zeit ihres Erscheinens großen Erfolg haben, erfreuen sich heute keiner großen Berühmtheit mehr. Seinen Philhellenismus beweist Müller aufs Neue, indem er nach dem Tod Lord Byrons im Jahr 1824 die oben schon erwähnte erste deutsche Biographie des Dichters sowie mehrere Besprechungen von verschiedenen von ihm geschaffenen Werken herausgibt und ihm ein Gedicht widmet. An der „Winterreise“, die 1824 in ihrer endgültigen Form erscheint, arbeitet Müller ab ca. 1821 oder 1822, als junger, „happily married father-to-be with a reasonably secure and comfortable existence in his hometown“.273 Es fällt schwer, sich zu erklären, wie Müller in dieser ja eigentlich recht glücklichen Zeit seines Lebens ein so melancholisches Werk schaffen kann. Tatsächlich existieren auch keine Quellen, die über diese Frage konkret Auskunft geben könnten. Baumann spekuliert, die Ahnung seines frühen Todes oder „the dreary winter weather in Dessau“ könnten den Dichter hierzu veranlasst haben.274 Auch seine diversen Krankheiten – er hat ein Augenleiden, später Husten, wahrscheinlich Tuberkulose – könnten hier eine gewisse Rolle spielen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass es die Frustration angesichts der politischen Situation in Deutschland, d.h. der zu seiner Zeit überhaupt weit verbreitete Weltschmerz ist, die Müller dazu bringt, ein solches Werk zu schreiben. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang eine briefliche Äußerung Müllers gegenüber Ludwig Tieck vom 11. Juli 1827: „Ich leide seit einiger Zeit an dem Übel, welches mit dem weiten und schwankenden Namen der Hypochondrie bezeichnet wird“275, erklärt der Dichter seinem Kollegen. Wie oben schon erwähnt, stellen laut Wolf Lepenies die Begriffe „Hypochondrie“ und „Weltschmerz“ Synonyme dar; Müller ist sich also offenbar nicht nur des Melancholie-Diskurses seiner Epoche bewusst, sondern reiht sich als Person hier auch noch explizit ein. Äußerungen dieser Art und auch nicht zuletzt die in seinen letzten Werken so deutlich feststellbare Resignation, die im Charakter sowie inhaltlich 272 Vgl. ebd., S. 112. Griechenland ist Müller für sein Engagement so dankbar, dass das Land im Jahr 1891 in Dessau eine Statue für ihn errichtet. 273 Ebd., S. 67. 274 Ebd., S. 67 f. 275 MÜLLER, Wilhelm: Brief an Ludwig Tieck vom 11. Juli 1827. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 5, S. 421. 44 stark an die Weltschmerz-Literatur erinnern, liefern demnach gewichtige Argumente dafür, in Wilhelm Müller einen „Weltschmerzler“ zu sehen. 3. 2 Franz Schubert Im Falle Franz Schuberts stellt sich nun die Frage, ob er als Zeitgenosse Müllers einen ähnlichen weltanschaulichen Hintergrund hat wie dieser. Dafür spricht zumindest die Tatsache, dass Text und Musik der „Winterreise“ sich zu so einem stimmigen Ganzen fügen, ohne dass die beiden Künstler einander kennen würden. Man könnte hieraus schließen, dass sie von ähnlichen Empfindungen bestimmt sind. Ist auch Schubert politisch frustriert? Ist auch er vom Weltschmerz ergriffen? Dürr behauptet, Schuberts ganzes Leben sei „von Aufbegehren und Leid, Veränderungswillen und Resignation“ gezeichnet.276 Dem Schubert-Lexikon zufolge dauert es aber einige Zeit, bis Schubert mit dem Gefühl des Weltschmerzes überhaupt in Berührung kommt, da ihm seine Erziehung und seine Freunde „weltanschaulichen Halt“ bieten.277 Doch natürlich ignorieren weder Schubert noch seine beiden Freundeskreise die politischen Vorgänge seit den Befreiungskriegen. Sie alle sind sich der politischen Lage nicht nur bewusst, sie streben auch „nach Veränderung, Überwindung der Metternichschen Repressionsmaschinerie“, wenn auch auf verschiedene Weise: Der „Linzer“ Kreis um Josef von Spaun, indem er sich für Bildung einsetzt (durchaus politisch verstanden als „Voraussetzung für anzustrebende Veränderungen auf der Grundlage eines emphatischen Freundschafts- und Harmoniebegriffs“), der „Wiener“ Kreis um Franz von Schober eher dadurch, dass hier Utopien von einer „besseren“ Welt entworfen werden, die man durch die Mittel der Kunst erreichen zu können glaubt.278 Obwohl Schubert also ein scheinbar „biedermeierliches“ Leben führt, indem er z.B. an solchen Aktivitäten wie der Literatur- und Musikpflege in den Salons teilnimmt279, und auch, obwohl seinen Liedern hin und wieder eine „biedermeierliche Patina“ zugeschrieben wurde280, kann er keineswegs als „Prototyp des sog. ‚biedermeierlichen’ Menschen“ gelten.281 Im Gegenteil: Einige seiner Werke, besonders manche Lieder, sind sogar als Kritik an der Metternichschen Restauration aufzufassen. Natürlich müssen solche Botschaften immer gründlich getarnt werden, nämlich im Sinne einer „Einkleidung“ der Lieder „in ein gefälliges Äußeres“; alles andere würde sofort den 276 DÜRR, Walther: Schubert und seine Zeit. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer. Leipzig 2002, S. 7. 277 DÜRHAMMER, Ilija: Art. „Weltschmerz“. In: Schubert-Lexikon. Hrsg. von Ernst HILMAR und Margret JESTREMSKI. Graz 19972, S. 500. 278 BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert, S. 10. 279 Vgl. HILMAR, Ernst: Art. „Biedermeier“. In: Schubert-Lexikon, S. 42. 280 BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert, S. 24 f. 281 HILMAR, Ernst: Art. „Biedermeier“. In: Schubert-Lexikon, S. 42. 45 Verdacht der Zensur erregen. Schuberts Freund Johann Mayrhofer z.B. bettet seine Gedichte, von denen Schubert mehrere vertont, zu diesem Zweck häufig in eine antike Kulisse ein; Beispiele hierfür sind das Lied „Heliopolis“ oder „Der zürnenden Diana“.282 Trotz oder vielleicht sogar aufgrund dieser realistischen Einschätzung der politischen Situation seiner Zeit glaubt Schubert aber auch an romantische Utopien: Diese spiegeln sich z.B. in seiner Erzählung „Mein Traum“ vom 3. Juli 1822283, der Walther Dürr „unverkennbare biographische Bezüge“ zuschreibt.284 Es geht darin um das Zerwürfnis des Ich-Erzählers mit seinem Vater nach dem Tod der Mutter (eine Konstellation, die so auch in Schuberts Biographie zu finden ist); durch die erlösende Kraft der Kunst finden Vater und Sohn am Ende aber wieder zueinander und Versöhnung wird möglich. Natürlich möchte Schubert derartige Utopien auch mit Hilfe seiner romantischen Musik transportieren. Hierzu muss er sich allerdings der „biedermeierlichen“ Institutionen (d.h. der Musiksalons, der Akademien, der Opernbühne und auch der Kirche) bedienen.285 „An der Gestalt Franz Schuberts [...] läßt sich exemplarisch zeigen, wie aus der bürgerlichen Gesellschaft des Biedermeier die große Kunst der Romantik erwächst, sie zugleich spiegelnd, negierend oder auch verändernd.“286 Doch dieser von Utopien begeisterte Schubert ist nur die eine Seite der Medaille: Es sind von ihm auch eine Reihe von Äußerungen überliefert, aus denen ganz andere, sehr resignative Töne sprechen. Seit Ende 1822 oder Anfang 1823 hat er mit der Syphilis zu kämpfen, was ihn offenbar stark belastet. An Schober schreibt er 1823: „Vor allem muß ich Dir ein Lamento über den Zustand unserer Gesellschaft287 wie über alle übrigen Verhältnisse ankündigen; denn außer meinen Gesundheitsumständen, die sich (Gott sey Dank) nun endlich ganz fest zu stellen scheinen, geht alles miserabl [sic!].“288 Ein anderer Brief an Leopold Kupelwieser vom 31. März 1824 bezeugt, dass Schuberts Gesundheitszustand sich zu dieser Zeit wieder verschlechtert, dass dies aber zwar ein 282 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder. In: Schubert Handbuch. Hrsg. von Walther DÜRR und Andreas KRAUSE. Kassel u. a. 1997, S. 167 f. 283 SCHUBERT, Franz: Mein Traum (1822). In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie VIII: Supplement, Bd. 5: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Kassel u.a. 1964, S. 158 f. 284 DÜRR, Walther: Franz Schuberts Wanderjahre. In: Franz Schubert. Jahre der Krise 1818-1823. Arnold Feil zum 60. Geburtstag am 2. Oktober 1985. Hrsg. von Werner ADERHOLD u.a. Kassel u.a. 1985, S. 11. Die im Titel angesprochene, von Dürr und Feil beobachtete „Krise“ in Schuberts Leben ist im Sinne eines Aufbruchs zu verstehen und hängt deshalb nicht mit dem Weltschmerz zusammen (vgl. DENNY, Thomas A. / HILMAR, Ernst: Art. „Krise“. In: Schubert-Lexikon, S. 256). 285 Vgl. DÜRR, Walther: Zwischen Romantik und Biedermeier: Franz Schubert. In: Kunst des Biedermeier 1815-1833, S. 55 ff. 286 Ebd., S. 54. 287 Gemeint ist hier die „Lesegesellschaft“, also der „Wiener“ Freundeskreis. 288 SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 30. November 1823. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 207. 46 wichtiger, doch keineswegs der einzige Faktor für seine Schwermut ist. Schubert beschreibt sich darin als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt [...], dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will, u. der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, [...] dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe u. Freundschaft nichts biethen als höchstens Schmerz, dem Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden droht [...].289 Aus der gleichen Zeit stammt folgende Notiz Schuberts: Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht! Man glaubt immer, zu einander zu gehen, und man geht immer nur neben einander. O Qual für den, der dieß erkennt! Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.290 Es ist wahrscheinlich, dass Schubert, seit er sich an Utopien bzgl. der politischen Entwicklungen in seiner Heimat festhält, auch schon fühlt, wie ausweglos die Situation in Wahrheit ist. Insofern ist er offenbar ebenso vom Weltschmerz betroffen wie viele seiner Zeitgenossen. Hierfür sprechen nicht nur seine persönlichen Äußerungen, sondern auch die vielen von ihm zur Vertonung ausgewählten Liedtexte, die häufig vom Tod oder von der Wanderschaft handeln, wobei letztere auch oft in den Tod führt. In seinem ganzen Werk finden sich immer wieder stark melancholisch geprägte Kompositionen. Einer Untersuchung von Dürhammer291 zufolge befassen sich 50% der Schubertschen Lieder mit dem Gefühl der Wehmut, häufig in einer abendlichen oder nächtlichen Kulisse.292 Seine Kunst als Ausdrucksmittel seiner Gefühle scheint für Schubert die einzige Möglichkeit zu sein, seine Unzufriedenheit zeitweilig zu vergessen, wie folgender Auszug eines Briefes an Schober belegt: Ungeachtet ich nun seit 5 Monathen gesund bin, so ist meine Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels Abwesenheit, 289 Ders.: Brief an Leopold Kupelwieser vom 31. März 1824. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 234. 290 Ders.: Notiz vom 27. März 1824. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 232 f. 291 DÜRHAMMER, Ilija: Zu Schuberts Literaturästhetik. Entwickelt anhand seiner zu Lebzeiten veröffentlichten Vokalwerke. In: Internationales Franz Schubert Institut. Mitteilungen 14. Schubert durch die Brille (Januar 1995). Tutzing 1995, S. 5-99. 292 Vgl. ebd., S. 47. In der selben Statistik wurde anhand aller von Schubert zur Vertonung ausgewählten Texte auch ermittelt, wie ein für ihn offenbar idealer Liedtext durchschnittlich beschaffen sei: Er besitze „drei bis fünf Strophen von jeweils vier alternierenden Versen, möglichst jambischen Tri- oder Tetrametern“ und Kreuzreime, behandle „eine wehmütige Liebesgeschichte in abendlich-nächtlichem Ambiente“, in dem auch Wasser eine Rolle spielen könne, ende „mit einem lakonischen Schlußsatz, einer Frage oder Aufforderung“ und sei vorzugsweise ein Rollengedicht (ebd., S. 50 f.). Diesen interessanten, wenn auch etwas fragwürdigen Berechungen zufolge ist Wilhelm Müller somit der perfekte Dichter für Schubert, da seine Gedichte häufig diesem Muster entsprechen (vgl. ebd., S. 52). 47 und verlebe manchmal sehr elende Tage; in einer dieser trüben Stunden, wo mir [ich] besonders das Thatenlos unbedeutende Leben, welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte mir folgendes Gedicht, welches ich nur darum mitteile, weil ich weiß, daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe u. Schonung rügst: Klage an das Volk! O Jugend unsrer Zeit, Du bist dahin! Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet, Nicht einer von der Meng´ sich unterscheidet, Und nichtsbedeutend all´ vorüberzieh´n. Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt, Und nur als Letztes jene Kraft mir bleibet; Denn thatlos mich auch diese Zeit zerstäubet, Die jedem Großes zu vollbringen wehrt. Im siechen Alter schleicht das Volk einher, Die Thaten seiner Jugend wähnt es Träume, Ja spottet thöricht jener gold´nen Reime, Nichtsachtend ihren kräft´gen Inhalt mehr. Nur Die, o heil´ge Kunst, ist´s noch gegönnt Im Bild´ die Zeit der Kraft u. That zu schildern, Um weniges den großen Schmerz zu mildern, Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt.293 Hans Joachim Kreutzer weist darauf hin, dass dieses Gedicht von manchen Biographen zu Unrecht auf eine „individuelle Lebenssituation“ Schuberts bezogen worden sei; vielmehr müsse es als „ein vollgültiges Zeichen zeitgenössischen Bewußtseins“ gesehen und „politisch ernstgenommen werden [...]“.294 Weiter unten soll auch noch einmal darauf zurückgekommen werden. Den eindeutigsten Beleg für Schuberts Weltschmerz liefert aber wohl die Wahl der „Winterreise“ zur Vertonung als Liederzyklus.295 Mayrhofer erklärt in seinen „Erinnerungen an Franz Schubert“, dass nach seiner Meinung schon die Entscheidung, die Müllersche „Winterreise“ zu vertonen, beweise, wie der Tonsetzer ernster geworden. Er war lange und schwer krank gewesen, er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten. Die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt; er 293 SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 21. September 1824. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 258 f. 294 KREUTZER, Hans Joachim: Produktive Symbiosen. Franz Schubert und die literarische Situation seiner Zeit. In: Ders.: Obertöne, S. 158. 295 Fischer-Dieskau ist zwar der Ansicht, es gebe „keine mit Händen zu greifende Erklärung für das Phänomen WINTERREISE“ (FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder. Stuttgart 1996, S. 329); ich behaupte jedoch, dass der Weltschmerz hierfür eine ziemlich gute Erklärung abgibt. 48 drückte sie in schneidenden Tönen aus. Ich wurde schmerzlich ergriffen.296 Wie sehr Schubert die Vertonung der „Winterreise“ offenbar psychisch mitnimmt, drückt der bereits oben zitierte Bericht Josef von Spauns aus; Letzterer bekundet in demselben Zitat auch seine Vermutung, dass die Beschäftigung mit der „Winterreise“ Schuberts frühen Tod mit nur 31 Jahren mit verursacht habe.297 Dass die Vertonung der „Winterreise“ für Schubert ein äußerst wichtiges Projekt darstellt, lässt sich daran erkennen, dass er die letzten Korrekturen an dem Liederzyklus auf seinem Sterbebett vornimmt.298 Auch Wilhelm Müller war relativ kurz nach Beendigung seiner Arbeit am Zyklus verstorben. Aufgrund all dieser Beobachtungen kann man wohl bei Schubert und Wilhelm Müller als dessen „geistigem Partner“299 den Weltschmerz beider Künstler als gemeinsames Lebensgefühl annehmen, das sich auch in ihrem Werk widerspiegelt.300 Dieser Ansicht ist auch Emil Staiger301 (der Müller allerdings Unrecht tut, indem er ihn als eher zweitklassigen Dichter darstellt302). Staiger ist der Meinung, Müller wie Schubert hätten wahrgenommen, dass zu ihrer Zeit ein schmerzenreicher Abschied stattfand [...] von einem sinnerfüllten und von Liebe beseelten Dasein, vom Glauben an ein Ziel der Geschichte, an eine wenn auch tief verborgene Einheit von Schicksal und Vorsehung, an eine Erde, mit einem Wort, die eine Heimat der Menschen sein könnte.303 Durch diese Wahrnehmung seien sie auch auf der Ebene der Kunst verbunden gewesen (wobei allerdings Müller auch noch implizit und ohne Nennung plausibler Gründe 296 MAYRHOFER, Johann: Erinnerungen an Franz Schubert. In: Über Schubert, S. 44 f. Vgl. von SPAUN, Josef: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert (1858). In: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 162. Dieser Aussage widerspricht Fischer-Dieskau, indem er darauf hinweist, dass Schubert zur Zeit der Vertonung der „Winterreise“ auch ganz andere, heitere Werke geschaffen habe, wie etwa das „strahlend lebensfreudige Klaviertrio Es-Dur“, eine zweite Serie von Klavier-Impromptus und anderes (FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 327). 298 Vgl. VON SPAUN, Josef: Über Schubert (1829). In: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 36. 299 FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 330. 300 Völlig anderer Ansicht ist hier Theodor W. Adorno (ADORNO, Theodor Wiesengrund: Schubert. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV: Moments musicaux. Impromptus. Hrsg. von Rolf TIEDEMANN. Frankfurt/Main 1982, S. 18-33). Er will nicht an das subjektive Moment in Schuberts Werk und schon gar nicht an eine göttliche Inspiration des Komponisten glauben (vgl. ebd., S. 19). Die „bewegende[...] Subjektivität“ sei vielmehr im „Wahrheitscharakter“ von Schuberts Musik untergegangen (ebd., S. 21). Dieser These hängt heute allerdings kaum jemand mehr an; der subjektive Charakter von Schuberts Werken wird im Gegenteil stark betont. Teilweise wird der Künstler auch mit dem melancholischen heimatlosen Wanderer der „Winterreise“ identifiziert und gilt in dieser Hinsicht sogar oftmals als Typus des modernen getriebenen Menschen (vgl. BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert, S. 36.). Dazu passt auch, dass Schubert von vielen Zeitgenossen als „Genie“ beschrieben und charakterisiert wird: Die geniale Veranlagung wird dem Melancholiker schon seit der Antike zugeschrieben (vgl. ebd., S. 31). 301 STAIGER, Emil: Wilhelm Müller – Schubert: Winterreise. In: Ders.: Musik und Dichtung. Vierte, um einen 2. Teil erweiterte Auflage. Zürich 1980, S. 187-199. 302 Vgl. ebd., S. 190 f. sowie S. 193. 303 Ebd., S. 197. 297 49 unterstellt wird, sein Weltschmerz sei mehr oder weniger aufgesetzt oder nachgeahmt gewesen304): „Besser haben sich ein Komponist und ein Dichter nie wieder verstanden, obwohl die Musik das Wort des Dichters in Regionen erhebt, von denen sich dieser nichts träumen ließ.“305 Eine solche geistige Verbundenheit zwischen Müller und Schubert nimmt auch Heinz Wetzel an.306 In seinen Augen sind die politische Lage Deutschlands, Selbstzweifel, aber vor allem ein Gefühl der inneren Einsamkeit die Hauptgründe für Müller, die „Winterreise“ zu schreiben. Er habe „unter der Unfähigkeit“ gelitten, „mit seiner Lyrik Leser zu erreichen, bei denen er die Fähigkeit zu einer adäquaten Rezeption und damit zu einer Teilnahme voraussetzte, die seine Einsamkeit aufgehoben hätte“; dies sei erst durch die Vertonung seiner Gedichte durch Schubert geschehen.307 Kreuels ist der Ansicht, dass die „dichterische, mitunter geradezu mediale Kraft in der Übermittlung seelischer Inhalte“, die in den Gedichten zutage trete, in seiner feinstofflichen Gestaltwerdung stetigen Absterbens und des Ich-Verlustes, Schubert in besonderem Maße angesprochen haben muß, weil es seine musikalische Semantik der Darstellung seelischer Prozesse, insbesondere seiner eigenen seelischen Lagerung, herausgefordert hat.308 So ist es wohl auch zu erklären, dass Text und Musik der „Winterreise“ so sehr aus einem Guss zu sein scheinen. Mit ihrer Kunst reihen sich die „Weltschmerzler“ Müller und Schubert also in den Jahrhunderte alten Melancholie-Diskurs ein. Bei Müller äußert sich dies darin, dass er in seinen Gedichten, besonders in der „Winterreise“, spätromantische Gedanken und Motive (z.B. Einsamkeit oder Todessehnsucht) verwendet, die einerseits in der Melancholie-Tradition stehen, andererseits aber in der Epoche der Spätromantik, bedingt durch die historische Situation, zu ganz neuer Aktualität, zu einer neuen Begründung, gelangen. Franz Schubert wählt eine große Anzahl romantischer Gedichte – darunter eben die „Winterreise“ –, die von jener Melancholie bestimmt sind, für seine Vertonungen aus. 304 Vgl. ebd., S. 188 f. Ebd., S. 195. 306 WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise: Die Frage nach den Zusammenhängen. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit. Hrsg. von Helmut KOOPMANN u.a. 53. Jahrgang, 1993. Sigmaringen 1993, S. 139-171. 307 Ebd., S. 171. Dass Müller sich tatsächlich die Vertonung seiner Gedichte gewünscht haben dürfte, belegt auch folgender Tagebucheintrag: „Ich kann weder spielen noch singen und wenn ich dichte, so sing ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte; so würden meine Lieder besser gefallen, als jetzt. Aber, getrost, es kann sich ja eine gleichgestimmte Seele finden, die die Weisen aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgibt“ (MÜLLER, Wilhelm: Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1815. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 5, S. 10). 308 KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert). Versuch einer behutsamen, gegenseitigen Distanzierung. In: Wilhelm Müller. Eine Lebensreise, S. 99. 305 50 Natürlich lassen sich bei ihm auch verdeckt kritische, zuweilen sogar idyllische Liedtexte finden; die Melancholie scheint ihn aber dennoch sein ganzes Leben lang zu begleiten. In seiner Musik sind die melancholischen Züge jedenfalls nicht zu übersehen: „Es ist Musik, die ihren charakteristischen ‚Ton’ hat, einen Ton, den Schubert wohl auch absichtsvoll anschlägt, mit dem er sich – aus gegebenem Anlaß – mitteilen, mit dem er aber doch zugleich auch seinem persönlichen ‚Schmerz’ Ausdruck geben will.“309 Die „Winterreise“ speziell kann also als ein im zeitgeschichtlichen Kontext des Weltschmerzes entstandenes und von spätromantischer bzw. weltschmerzlerischer Melancholie geprägtes Werk charakterisiert werden. Zusätzlich enthält es jedoch auch Anklänge an den traditionellen Melancholie-Diskurs, wie weiter unten noch gezeigt werden soll. Eventuell könnte man die „Winterreise“ sogar als zeitkritisches Werk auffassen: Es wird zwar darin nicht ausgesprochen, woher die Melancholie des Protagonisten tatsächlich kommt, aber man könnte sie relativ leicht auf den Entstehungskontext beziehen und somit die Unzufriedenheit der Künstler herauslesen. Auf diese These sowie auch auf die konkreten Bedeutungen der anderen Beobachtungen zum weltanschaulichen Hintergrund Müllers und Schuberts für die „Winterreise“ wird allerdings weiter unten noch einmal detaillierter eingegangen. 4. Der Gedicht- bzw. Liederzyklus: Entwicklung und Merkmale Das folgende Kapitel soll dazu dienen, die „Winterreise“ in die Geschichte des Gedicht- bzw. Liederzyklus einzuordnen. Außerdem sollen die Merkmale solcher Zyklen herausgearbeitet werden, aus denen schließlich eine Aufstellung von zyklischen Kriterien erfolgen wird, auf die hin ich Text und Musik der „Winterreise“ überprüfen möchte. Die Frage, inwieweit diese Kriterien auch mit der im Werk vermittelten Melancholie in Verbindung stehen, wird ebenfalls in diesen nächsten Kapiteln untersucht. 4. 1 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Gedichtzyklus Den Gedichtzyklus könnte man allgemein und in Anlehnung an Orts Definition des Zyklus im neubearbeiteten „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ als „Gruppe von selbständigen, in narrativer Sukzession oder thematischer Variation 309 DÜRR, Walther: Zwischen Romantik und Biedermeier: Franz Schubert. In: Kunst des Biedermeier 1815-1833, S. 53. 51 aufeinander bezogenen Gedichten [...]“ verstehen.310 Die Einzelglieder eines Zyklus stehen also einerseits jeweils für sich, andererseits aber bestehen unter ihnen dennoch weitaus größere Verbindungen, als dies in bloßen Gedichtsammlungen oder -reihen der Fall ist.311 Mustard312 unterscheidet grundsätzlich zwischen „arrangierten“ und „komponierten“ Zyklen, also solchen, bei denen erst im Nachhinein Gedichte nach einem zyklischen Prinzip zusammengestellt werden, und solchen, die der Dichter von Anfang als Zyklen plant und konzipiert. Zudem trifft sie eine Unterscheidung zwischen „narrativen“ Zyklen, denen eine erzählte Handlung zugrunde liegt, und „Variationszyklen“, in denen ein Thema oder Motiv in allen Gedichten in je variierter Form behandelt wird.313 Die Entwicklungsgeschichte des deutschen Gedichtzyklus setzt etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts ein. Der Begriff „kýklos“ (lat. „cyclus“), den man im Deutschen mit „‚Kreis’, ‚Kreislauf’, ‚Ring’ oder ‚Rad’“ wiedergeben könnte314, taucht zwar bereits in der Antike auf und bezeichnet dort den Zusammenhang von Einzeltexten, z.B. von Sagenkreisen. Auch bei der Anordnung von Liedern zur Zeit der Minnesänger sowie bei Gedichtgruppen des 15. und 16. Jahrhunderts sind vereinzelt zyklische Tendenzen zu erkennen. Doch den entscheidenden Impuls zur Ausbildung wirklicher Gedichtzyklen bekommen deutsche Dichter tatsächlich erst im 17. Jahrhundert, und zwar durch Petrarcas Sonettzyklen. In Anlehnung hieran beginnt man nämlich, Gedichte entsprechend ihrer Form (der Ode, der Elegie oder eben des Sonetts) zu zyklischen Gruppen zusammenzustellen. Besonders verbreitet ist diese Praxis jedoch noch nicht. Auch im 18. Jahrhundert wird Gedichtzyklen keine besondere Bedeutung beigemessen; die wenigen, die in dieser Zeit entstehen, sind strukturell nicht eben anspruchsvoll. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre zyklische Struktur vom Autor nicht bewusst geplant und demnach relativ lose ist. Meist beruht sie lediglich entweder auf der jeweiligen Form der Gedichte oder auf einem bestimmten, sie verbindenden Thema; teilweise sind sie auch chronologisch oder entlang einer narrativen Linie sortiert. Meistens entstehen sie nur, weil Dichter nach einer Möglichkeit suchen, ihre Gedichte in einer gewissen Ordnung zu veröffentlichen. 310 ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk MÜLLER u.a. Berlin, New York 2003, Bd. 3, S. 899. 311 Es wäre zu überlegen, ob hier nicht noch ein Kriterium der Länge aufgestellt werden sollte: Denn ob z.B. eine Gruppe von drei Gedichten, auf die die anderen genannten Kriterien zutreffen, bereits als Zyklus bezeichnet werden kann, ist fraglich. 312 MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature. New York 1946. 313 Ebd., S. 5. 314 ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft S. 899. 52 Erst in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts begegnet der Begriff „Zyklus“ überhaupt im kunstphilosophischen Diskurs315, so etwa bei Friedrich Schlegel316, aber indirekt auch bei August Wilhelm Schlegel, der über den Sonettzyklus und die Beschaffenheit des Zyklischen allgemein zu reflektieren beginnt (allerdings ohne den Terminus „Zyklus“ zu benutzen). In seinen „Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre“ z.B. bezeichnet er eine Sammlung von Sonetten Petrarcas als „ganzen Liebesroman“.317 Im dritten Teil der „Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst“ sagt er, die Sammlung sei ein „wahrer und vollständiger lyrischer Roman“.318 Sehr deutlich betont er die Beziehungen der Gedichte untereinander, durch die die Bedeutung des ganzen Werks erst erhellt werde.319 „Here, in this description, although he does not use the term ‚cycle’, Schlegel characterizes roughly the narrative cycle which was later to become such a popular form.“320 Laut Mustard sind diese Äußerungen “the first attempt to formulate the cyclic principle, […]”.321 Obwohl Schlegel selbst keine Zyklen in der von ihm eigentlich beschriebenen Form verfasst, gerät durch seine theoretischen Überlegungen Mustard zufolge die Form des Sonettzyklus gleichsam in Mode: „A. W. Schlegel initiated the vogue of the sonnet cycle in these early years of the Nineteenth Century and contributed more to a theoretical analysis and understanding of the cycle form than any other poet of the time.”322 Novalis ist der erste romantische Dichter, der die zyklische Form verwendet, z.B. in seinen „Hymnen an die Nacht’“. Grundsätzlich sind die Zyklen der romantischen Epoche entweder philosophisch bzw. didaktisch ausgerichtet oder in Briefform verfasst und bestehen häufig aus Sonetten. Der Grund für die zunehmende Beliebtheit des Gedichtzyklus in der Romantik liegt wohl darin, dass die Dichter in dieser Epoche das Gefühl haben, keines ihrer Themen in befriedigender Weise erfassen zu können. Die zyklische Form kommt ihnen hierbei entgegen: Sie bietet die Möglichkeit, einen Gedanken, ein Motiv oder ein Thema immer wieder anders zu beleuchten, ohne dabei notwendigerweise zu einem Ergebnis oder einem Ende kommen zu müssen. Durch die 315 Ort zufolge setzt sich der Begriff in der Literatur zu Anfang des 19. Jahrhunderts „nur zögernd“ durch (ebd., S. 899). 316 Vgl. SCHLEGEL, Friedrich: Philosophie der Philologie. Hrsg. von Josef KÖRNER. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Hrsg. von Richard KRONER. Bd. 17, 1928. Tübingen 1928, S. 49 und 51. 317 SCHLEGEL, August Wilhelm: Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre. Hrsg. von August WÜNSCHE. Leipzig 1911, S. 152. 318 Ders.: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Dritter Teil: Geschichte der romantischen Litteratur. Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken hrsg. von Bernhard SEUFFERT. Heilbronn 1884, S. 204. 319 Vgl. ebd., S. 203 ff. 320 MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature, S. 36. 321 Ebd., S. 37. 322 Ebd., S. 33 f. 53 Beleuchtung einzelner Teile wird die Annäherung an die Erkenntnis des „Ganzen“ denkbar. So ist es auch zu erklären, wieso die romantischen Zyklen häufig einen fragmentarisch anmutenden Charakter besitzen: Eine klare Begrenzung durch Anfang und Ende würde ihren Inhalten nicht entsprechen. Sie erwecken deshalb den Eindruck, jeweils noch beliebig erweitert werden zu können. Was ebenfalls auffällt, ist die weitaus stärkere innere Verbindung ihrer Einzelteile, die sie v.a. im Gegensatz zu älteren Werken auszeichnet. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Dichter jetzt beginnen, ihre Zyklen von Anfang an als solche zu konzipieren und nicht erst im Nachhinein Gedichte zusammenzustellen. Daneben gibt es aber in der Romantik auch die Praxis, Einzelgedichte in größere Formen, z.B. in Romane, einzubetten, anstatt sie in Zyklen anzuordnen.323 Dies entsteht wohl einerseits aus dem Bedürfnis heraus, ihnen einen Rahmen zu verleihen, andererseits aufgrund der Vorliebe für gemischte literarische Formen. Ähnlich wie die Romantiker legt auch Goethe seine Gedichtzyklen an, wobei er allerdings, wie Ort betont, den Begriff „Zyklus“ nicht auf seine eigenen Gedichtzyklen wie z.B. den „West-östlichen Divan“, sondern nur auf Malerei anwendet.324 In den Jahren 1815 bis 1830 steigt die Produktion von Gedichtzyklen stetig an. Fast jeder in dieser Zeit lebende Autor schreibt wenigstens einen. Diese „zyklische Neigung der Biedermeierzeit“, die auch Friedrich Sengle erkennt, führt dieser auf die Tatsache zurück, dass in dieser Epoche „dem Einzelgedicht keine absolute Autonomie“ zukomme. Man sei hier gar nicht auf der Suche nach dem einzig wahren Gedicht.325 Gerade in den 1820er Jahren tritt der „komponierte“ Zyklus, den Goethe und die Romantiker gepflegt hatten, zugunsten des „arrangierten“ wieder in den Hintergrund; Dichter wie Heine, Rückert, Eichendorff oder eben Wilhelm Müller sehen im zyklischen Arrangement eine gute Möglichkeit zur geordneten Veröffentlichung ihrer Gedichte. Hierbei achten sie darauf, diese möglichst in einer, wenn auch recht locker gefügten, narrativen Anlage zusammenzustellen.326 Dass gerade der narrative und 323 Ein Beispiel wäre Eichendorffs Roman „Ahnung und Gegenwart“. Vgl. ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 899. 325 SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. II, S. 624 f. 326 Wilhelm Müllers Zyklus „Die schöne Müllerin“ stellt als „komponierter“ und auffällig kohärenter Zyklus gegenüber den sonst üblichen „arrangierten“ Zyklen eine Ausnahme der Zeit und auch in seinem eigenen dichterischen Werk dar, das ansonsten fast ausschließlich aus „arrangierten“, lose verbundenen Zyklen besteht. Auch die „Winterreise“ ist natürlich im Gegensatz zu „Die schöne Müllerin“ ein „arrangierter“, weil in seiner endgültigen Form erst rückwirkend zusammengestellter Zyklus. Trotzdem täuscht sich Mustard, wenn sie die „Winterreise“ als „Sammlung“ von Gedichten mit einem Mangel an innerem Zusammenhang bezeichnet (MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature, S. 88 f.). 324 54 meist recht lange Zyklus in dieser Zeit so beliebt ist, liegt wohl in der hier grundsätzlich vorherrschenden Begeisterung für die Epik begründet. Ab 1830 finden erneut Veränderungen statt: Chamisso, Lenau, Droste-Hülshoff, Hebbel u.a. besinnen sich erneut auf den „komponierten“ Zyklus und pflegen diesen nun als ganz eigene Kunstform; die Zyklen dieser Periode sind viel fester gefügt und auch nicht mehr so lang wie die vorhergehenden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geschieht im Bereich des Gedichtzyklus nichts nennenswert Neues mehr; alle vorhandenen Tendenzen und Ausprägungen werden lediglich gefestigt. Erst ab den 1880er Jahren finden wieder Neuerungen statt: Dichter wie Avenarius, Conradi, Holz oder Mombert, sowie später George und Rilke, suchen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem Lebensgefühl der Moderne mit ihren immer komplexer werdenden Existenzbedingungen für das Individuum Rechnung tragen können. Da dies in der Form des Zyklus besser zu vermitteln ist als in der Form des Einzelgedichts, entstehen in der Moderne wieder sehr umfangreiche, teilweise äußerst komplexe und vor allem „komponierte“ Gedichtzyklen. Es wäre an dieser Stelle noch zu fragen, welche Kriterien, über die oben zitierte Definition hinaus, einen Gedichtzyklus überhaupt ausmachen. In seinem schon erwähnten Aufsatz „Das zyklische Prinzip in der Lyrik“ von 1932 versucht Joachim Müller, genau diesem Problem auf den Grund zu gehen. Seine Grundannahme ist hierbei, dass es hauptsächlich formale Elemente seien, die einen Gedichtzyklus konstituieren würden. Um diese formalen Elemente benennen zu können, geht Müller von der wörtlichen Bedeutung des Begriffs „Zyklus“ aus: Er versteht ihn, ganz wörtlich, als „Kreis“ und leitet aus den rein geometrischen Eigenschaften des Kreises auch die Merkmale von Gedichtzyklen ab. Eine „motivische Schwerpunkts- oder Mittelpunktsbezogenheit“ wird von ihm als erstes Charakteristikum bezeichnet: Allen Gedichten eines Zyklus muss ein Motiv gemeinsam sein, auf das sich alle Elemente des Ganzen beziehen.327 Als zweites Merkmal nennt Müller das Vorhandensein eines „thematischen Apriori“; hierunter versteht er das „Erlebnis“, das quasi den Ausgangspunkt des zyklischen Werks darstelle und das dann vom Autor in Gedichtform umgesetzt werde.328 Ein drittes Kriterium stellt der „lyrische Ablauf“ des Zyklus dar, also die stetige Vertiefung und „Verlebendigung“ des thematischen Apriori in den einzelnen Gedichten. Auf diese Weise schließt sich die „Linie der motivischen Variation [...] zum ‚Kreis’, aber so, daß das Thema gleichsam eine Spirale durchschritten hat. Das thematische Apriori kommt am Ende eines Zyklus auf einer 327 328 MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik, S. 5 f. Ebd., S. 6 f. 55 höheren Stufe zu sich selbst zurück [...]“.329 Müller unterscheidet außerdem noch zwischen „losen“ und „geschlossenen“ Zyklen330, allerdings nicht ohne hier auch Zwischenformen einzuräumen. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass die einzelnen Gedichte nicht immer in einer ungebrochenen Linie angeordnet sind, wobei sie aber trotzdem durch das thematische Apriori stets verbunden bleiben. Letztere sind fester gefügt, so dass die Einzelteile nicht beliebig umgestellt werden könnten. In Anlehnung an diese von Müller entdeckten Merkmale wurde auch die Liste von Kriterien erstellt, auf die hin die „Winterreise“ untersucht werden soll. Vorher soll jedoch noch ein Abriss der Entwicklung des Liederzyklus gegeben werden. 4. 2 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Liederzyklus In seinem Artikel „Zyklus“ in der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ definiert Ludwig Finscher331 den musikalischen Zyklus ganz allgemein als „Gruppe von in sich geschlossenen Gebilden (Werken oder Sätzen), die formal und/oder inhaltlich so aufeinander bezogen sind, daß sich eine übergeordnete Einheit ergibt und daß Form und Inhalt des einzelnen Teils und Form und Inhalt des Zyklus einander wechselseitig erhellen“332 Die Form kommt im 19. Jahrhundert auf, indem Komponisten beginnen, die immer beliebter werdenden Gedichtzyklen zeitgenössischer Dichter zu vertonen. Hierbei wird versucht, der inhaltlichen oder thematischen Kohärenz der Texte auch auf musikalischer Ebene Rechnung zu tragen, z.B. durch tonale Geschlossenheit oder durch motivische Verwandtschaften.333 Insofern sind wirkliche Liederzyklen von bloßen „Liedersammlungen“ des 19. und 20. Jahrhunderts abzugrenzen, bei denen die formalen und/oder inhaltlichen Beziehungen der Einzelbestandteile nur auf der textlichen Ebene bleiben. Bei Liederzyklen ist also u.a. zu untersuchen, „ob die komponierten Texte einen Zyklus bilden“ und „ob der Komponist diese poetische zyklische Form durch eine musikalische verstärkt oder überlagert hat“.334 Genau diese Frage soll im Hinblick auf die „Winterreise“ betrachtet werden. 329 Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. 331 FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich BLUME. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Hrsg. von Ludwig FINSCHER. Kassel u.a. 1998, Sachteil, Bd. 9, Sp. 2528-2537. 332 Ebd., Sp. 2528. 333 Vgl. Dürhammer, Ilja / HILMAR, Ernst: Art. „Liederzyklen“. In: Schubert-Lexikon, S. 280. 334 FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2528. 330 56 Recht fragwürdig erscheinen die Kriterien, die laut Christian Höltge335 einen Liederzyklus konstituieren können. Er argumentiert nämlich hauptsächlich inhaltlich: Seiner Meinung nach können unter anderem solche Merkmale wie eine verbindende Idee der Texte, ein bestimmter Widmungsträger oder auch die Lebensumstände des Komponisten zur Entstehungszeit des Werkes einen Zyklus ausmachen. Eine tatsächlich zyklische Anlage im Sinne einer geschlossenen Kreisform auf musikalischer Ebene (z.B. durch einen Bezug des Nachspiels des letzten Liedes auf das Vorspiel des ersten) sei eher selten.336 Fragwürdig sind solche Kriterien deshalb, weil der sich daraus ergebende Zyklusbegriff zu locker ist; Höltge vernachlässigt bei seiner Bestimmung des Zyklischen die formale Seite, d.h. die Struktur des Werkes. Eine Verbindung von Anfang und Ende sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene ist keineswegs so unwichtig und so selten, wie Höltge behauptet. Walther Dürr, der das deutsche Sololied des 19. Jahrhunderts untersucht hat337, bezeichnet Liederzyklen als „exzeptionelle Erscheinung in der Liedkomposition“338; sie seien weder am Anfang noch am Ende des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung gewesen. Dies ist laut Dürr darauf zurückzuführen, dass ein Gedichtzyklus epischen oder dramatischen Charakter bekommt, indem Autoren einzelne Gedichte in eine Form bzw. in einen Ablauf bringen. Auf die Erwartungen, die man – vor allem noch in der Goethezeit – an die Beschaffenheit von Liedern stellt, passen jedoch solche Elemente nicht. Man bevorzugt hier einfache, schlichte, leicht zu singende und eben genuin lyrische Lieder.339 Aus diesem Grund muss sich der Liederzyklus erst noch einbürgern. Als Wurzeln des Liederzyklus werden im allgemeinen das „Liederspiel“ einerseits340, sowie der Liederkreis „An die ferne Geliebte“ op. 98 von Ludwig van Beethoven andererseits bezeichnet.341 Letzteres Werk ist bereits auf textlicher Ebene streng zyklisch angelegt: Der Dichter Alois Jeitteles stiftet einen inhaltlichen und sprachlichen Rückbezug des letzten Gedichts auf das erste, so dass man hier wirklich von einer 335 HÖLTGE, Christian: Text und Vertonung. Untersuchungen zu Wort-Ton-Verhältnis und Textausdeutung in deutschsprachigen Liederzyklen mit Klavierbegleitung. Europäische Hochschulschriften. Reihe 36, Bd. 78 (Musikwissenschaft). Frankfurt/Main 1992. 336 Vgl. ebd., S. 20 ff. 337 DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Sprache und Musik. Wilhelmshaven 19992. 338 Ebd., S. 245. Auch Budde weist darauf hin, dass Liederzyklen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unüblich gewesen seien (vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 21). Vgl. zum Rest dieses Abschnitts: DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 245. 339 Dass es erst eine Weile dauert, bis man den Blick vom einzelnen Lied weg und hin auf die zyklische Komposition als eigenständige Kunstform richtet, sieht man z.B. daran, dass erst im Jahr 1856 die erste Aufführung des 1823 entstandenen Zyklus „Die schöne Müllerin“ stattfindet, in der das Werk vollständig vorgetragen wird. 340 Aus einem solchen entstand ja auch Wilhelm Müllers erster Liederzyklus „Die schöne Müllerin“. 341 Vgl. FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2535 / DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 246-255. 57 Anlage in Kreisform sprechen kann. Zudem bezieht er auch die restlichen Texte formal und inhaltlich aufeinander. Dieser Anlage trägt Beethoven bei der Vertonung Rechnung, unter anderem indem er das Thema des ersten Liedes im letzten wieder aufgreift. Budde ist jedoch der Ansicht, dass Franz Schubert der erste gewesen sei, der „das lyrisch-literarische Problem des Zyklus musikalisch-kompositorisch reflektierte und zu einem überzeugenden Ganzen gestaltete“. Während Beethovens Vertonung der Gedichte von „An die ferne Geliebte“ „eher als die Durchkomposition einer lyrischen Folge von Gedichten im Sinne von Anfang – Mitte – Schluß zu charakterisieren“ sei, habe Schubert das Problem des Zyklischen in den Texten seiner Gedichtzyklen reflektiert und musikalisch ausgestaltet.342 Auch Dürr bezeichnet Franz Schubert als „eigentlichen Begründer der Gattung Liederzyklus in der Geschichte des Liedes“.343 Schubert komponiert seit 1814 vielfach mehrere Gedichte aus der Feder einzelner Dichter (z.B. Körners oder Kosegartens) nacheinander und veröffentlicht sie, nach Dichtern oder nach inhaltlichen Aspekten sortiert, in seinen Liederheften.344 In den „Liederjahren“ 1815 und 1816 beginnt er damit, solche Lieder nicht bloß zusammenzustellen und zu ordnen, sondern sie wirklich durch zyklische Elemente zu verbinden. Tatsächlich begründet wird die Gattung Liederzyklus von Schubert aber durch „Die schöne Müllerin“ und die „Winterreise“.345 Beide gelten allgemein als prototypische Liederzyklen.346 Allerdings würde sich, so Dürr, in beiden Fällen der Inhalt der Gedichtzyklen durch die Vertonung verändern: Der „Schönen Müllerin“ nehme Schubert mit Hilfe musikalischer Mittel den Charakter des Spielerischen und mache die Wanderschaft zum eigentlich Thema des Zyklus. In der „Winterreise“ habe Schubert die durch den Dichter festgelegte Reihenfolge der Texte bei der Komposition nicht beachtet (s. Kapitel zur Entstehungsgeschichte), worin sich ausdrücke, dass er dessen Ordnung keine 342 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 21. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 263. Zum Schaffen Schuberts vgl. ebd., S. 255-278. 344 Nicht immer ist man sich hierbei bzgl. der Frage der Intention einer zyklischen Anlage sicher (vgl. DÜRHAMMER, Ilija / HILMAR, Ernst: Art. „Liederzyklen“. In: Schubert-Lexikon, S. 281). 345 Dürr zufolge wird im Fall der „Schönen Müllerin“ der zyklische Zusammenhang durch den Text, im Fall der „Winterreise“ eher durch die Musik gestiftet (vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 263). Dass in der „Winterreise“ jedoch durchaus auch inhaltliche Kohärenz vorliegt – was ja auch Mustard nicht erkennt (s.o.) –, wird zu zeigen sein. 346 „Die schöne Müllerin“ und die „Winterreise“ „are considered excellent examples of the lyric cycle, in which a series of poems forms a dramatic entity“ (BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 37). 343 58 Bedeutung beigemessen habe. Er habe überhaupt durch die Vertonung das Werk „umgeschaffen“347 und die durch den Dichter vorgegebene Struktur verändert.348 Ähnlich wichtig für die Entwicklung des Liederzyklus ist Robert Schumann.349 Auch er veröffentlicht Liederhefte mit nach zyklischen Gesichtspunkten geordneten Vertonungen; am liebsten fasst er vertonte Texte jeweils eines einzelnen Dichters zusammen. Doch auch Schumann komponiert tatsächliche Liederzyklen, indem er z.B. Gedichte von Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff und Adalbert von Chamisso vertont und durch musikalische Mittel zueinander in Beziehung setzt. Robert Schumann und Franz Schubert gebrauchen also „den Begriff Zyklus schon ganz selbstverständlich [...]: Was als ein Zyklus von Gedichten intendiert ist oder auch nur verstanden werden kann, wird in der Vertonung ein Liederzyklus: [...]“.350 Ähnlich bedeutsam ist der Liederzyklus laut Dürr seit Schumann nicht mehr geworden.351 Auch Finscher ist der Ansicht, dass nach Schumann keine „neue[n] Arten der Zyklusbildung“ mehr entstanden seien; dies liege vor allem daran, „daß der Primat der poetischen vor der musikalischen Zyklusbildung unangefochten geblieben“ sei.352 Hugo Wolf versucht sich noch verschiedentlich im Bereich Liederzyklus, jedoch sind hier nur sehr vereinzelt tatsächlich zyklische Merkmale verwirklicht. Gleiches gilt für Richard Wagner und seine „Wesendonck-Lieder“, die auch keinen eigentlichen Zyklus bilden.353 Gustav Mahler komponiert noch kleinere Zyklen (z.B. die fünf „Kindertotenlieder“ nach Texten von Rückert), von Peter Cornelius ist der Zyklus „Trauer und Trost“ als tatsächlicher Zyklus überliefert. Doch insgesamt geht die Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Brahms´ „Romanzen aus L. Tiecks Magelone“ op. 33 kann man als Zyklus im strengeren Sinne betrachten; hier ist Einheitlichkeit gegeben durch die Handlung und durch die Folge der Affekte, in musikalischer Hinsicht durch die Melodik und die Textdeklamation. Dürr weist aber 347 DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 277. Auf diese These wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen. 349 Zum Schaffen Schumanns vgl. ebd., S. 278-297. 350 FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2535. 351 Zu den Liederzyklen nach Schumann vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 297-311. 352 FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2536. 353 Dagegen argumentiert Höltge, dessen Ansicht nach die Lebensumstände Wagners zur Entstehungszeit der „Wesendonck-Lieder“ sowie auch deren einheitlicher musikalischer Ausdruck und ihr gemeinsamer thematischer Rahmen den zyklischen Zusammenhalt gewährleisten (vgl. HÖLTGE, Christian: Text und Vertonung, S. 102 f.). Höltge ist überhaupt, anders als Dürr und Finscher, der Ansicht, der Liederzyklus habe gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewonnen und sich vor allem im 20. Jahrhundert zu einer „musikalischen Erscheinung von großer Stil- und Formvielfalt“ entwickelt (ebd., S. 32). Als Beispiele nennt er außer den „Wesendonck-Liedern“ (vgl. ebd., S. 95-167) „Trauer und Trost“ von Peter Cornelius (vgl. ebd., S. 33-94), außerdem die „Liebesbriefe“ von Lothar Kempter (erschienen 1895; vgl. ebd., S. 168-218), „Amore“ von Grete von Zieritz (1927; vgl. ebd., S. 219-278) und „Gestalten und Schatten“ von Fritz Kröll (UA 1979, vgl. ebd., S. 279-239). Alle diese Werke werden von ihm anhand seiner oben angedeuteten Kriterien eindeutig als Liederzyklen klassifiziert. 348 59 darauf hin, dass es nicht Brahms´ Absicht gewesen sei, einfach einen Text musikalisch umzusetzen: Er habe vielmehr „eine Reihe von ‚Stimmungsbildern’“ schaffen wollen: „Der Dichter hat zwar die Texte und die Affekte vorgegeben, dann aber tritt er zurück und überläßt dem Musiker das Wort“.354 Dürr betont also bei seiner Untersuchung des Liederzyklus sehr stark die Autorität des Komponisten, der in dieser Gattung von Anfang an im Vordergrund gestanden sei, da er die Texte eines Dichters bearbeiten, in ihrer Reihenfolge verändern und auch inhaltlich umdeuten könne, wie es ihm beliebe. Hier führe er z.T. auch über den Dichter hinaus. Der Komponist „wählt die Bausteine aus, die er zum Zyklus verbinden will, ordnet sie nach seinem Gutdünken und bezieht sie aufeinander durch die Mittel der Musik“355; indem er durch musikalische Mittel Inhalte verändere, sei er sogar „Herr über den Text“.356 4. 3 Zu überprüfende zyklische Merkmale der „Winterreise“ Nach dieser Einordnung der „Winterreise“ in die Entwicklungsgeschichte des Gedichtbzw. Liederzyklus möchte ich nun die zyklischen Kriterien vorstellen, auf die hin dieses Werk untersucht werden soll. Hierbei gehe ich, ähnlich wie Joachim Müller, von der wörtlichen Bedeutung des Wortes „Zyklus“ (=Kreis) aus und leite aus der Metaphorik des Begriffs die Struktur der Form ab. Der Kreis ist dem Duden zufolge in der Geometrie als „gleichmäßig runde, in sich geschlossene Linie“ definiert, „deren Punkte alle den gleichen Abstand vom Mittelpunkt haben“.357 Aus dieser Definition möchte ich folgende Kriterien auf den Liederzyklus anwenden: 1.) Linearität (eine narrative, temporale oder thematische Entwicklung vom Anfang bis zum Ende), 2.) Kohärenz, d.h. inneren Zusammenhang, 3.) Mittelpunktsbezogenheit, also den Bezug aller Bestandteile auf ein gemeinsames Zentrum und 4.) Geschlossenheit, d.h. eine Verknüpfung oder sogar ein Ineinanderfallen von Anfang und Ende. Wie oben schon erläutert, könnte man den Begriff „Zyklus“ im Deutschen auch mit „Kreislauf“ übersetzen; in diesem Fall wäre 354 DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 309. Ebd., S. 297. 356 Ebd., S. 283. Ob derartige Behauptungen der Wahrheit entsprechen können, wird, wie gesagt, weiter unten zumindest in Bezug auf die „Winterreise“ überprüft. Es soll jedoch bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass Dürr bei seinen Behauptungen die bereits erwähnte Tatsache übersieht, dass Gedichtzyklen von Autoren ja zunächst als eigenständige Kunstwerke geschaffen werden und die Dichter oft gar nicht ahnen können, dass ein Komponist sie je vertonen wird. Man sollte sich also davor hüten, den Wert der Dichtungen zu relativieren, indem man sie, wie Dürr, zumindest indirekt, erst in der Vertonung als Liederzyklen als vollständige Werke anerkennt. 357 DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In 8 Bänden. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Hrsg. und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther DROSDOWSKI. Mannheim u. a. 1994, Bd. 4, S. 1992. 355 60 wohl die Wiederholung bzw. die Wiederkehr des Anfangs das hervorstechendste Merkmal. Es soll untersucht werden, ob ein zyklischer Zusammenhang zwischen den Gedichten bzw. Liedern der „Winterreise“ besteht, also welche dieser oben genannten Merkmale Text sowie Musik der „Winterreise“ aufweisen. Ich behaupte, dass es sich bei dem Werk um einen relativ strengen Zyklus handelt, auf den die Merkmale des Kreises bzw. des Kreislaufs zutreffen. Die Argumente, die hierfür sprechen, werden im Anschluss an einige allgemeine Informationen zur Entstehungsgeschichte des Werkes dargelegt werden. 5. Die „Winterreise“ 5. 1 Entstehungsgeschichte der Dichtung Die 24 Gedichte der „Winterreise“ erscheinen nicht von Anfang an als Einheit.358 Zunächst werden 12 Gedichte im Almanach „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823, Leipzig und Berlin 1823“ unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern“ veröffentlicht. Weitere 10 Gedichte kommen im Breslauer Periodikum „Deutsche Blätter für Poesie, Literatur, Kunst und Theater“ zum Abdruck, worauf Müller noch zwei ergänzt. Da der Zyklus durch diese Erweiterung eine Art Handlung bekommen hat, muss Müller die jetzt insgesamt 24 Gedichte umstellen. Der gesamte Zyklus wird dann in der neuen Ordnung 1824 von Christian Ackermann in Dessau mit einer Widmung an Carl Maria von Weber359 als zweiter Band in den „Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ herausgegeben. Zu der Auswahl des Titels „Winterreise“ dürften Müller Johann Georg Jacobis gleichnamige Reisebeschreibung von 1769 sowie das Uhlandsche Gedicht „Winterreise“ inspiriert haben. Auch lassen sich in Müllers Zyklus Motive aus diesen beiden Werken finden.360 Dazu gehört u.a. die Analogisierung von Melancholie und Winter, die bei Uhland und Jacobi stattfindet und von Müller in seinem ganzen Zyklus ausgeführt wird.361 Außerdem stellen Bosse und Neumeyer zahlreiche Bezüge der 358 Ich beziehe mich im folgenden v.a. auf: BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 69 ff. Der Text der Widmung lautet: „Dem Meister des deutschen Gesanges Carl Maria von Weber als ein Pfand seiner Freundschaft und Verehrung gewidmet von dem Herausgeber“. 360 Vgl. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 57. Vgl. auch: HÖRISCH, Jochen: „Fremd bin ich eingezogen“ – Die Erfahrung des Fremden und die fremde Erfahrung in der ‚Winterreise’. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik. 1. Jahrgang 1991. Hrsg. von Ernst BEHLER u.a. Paderborn 1991, S. 57. 361 Vgl. BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 122. 359 61 „Winterreise“ zum Werk Goethes fest362 (hierauf soll später noch einmal zurückgekommen werden). 5. 2 Entstehungsgeschichte der Komposition Franz Schubert vertont die „Winterreise“ im Jahr 1827, also im Sterbejahr Wilhelm Müllers. Als Schubert, vermutlich im Februar 1827, mit der Komposition beginnt, kennt er nur den ersten Teil der Gedichte. Den zweiten findet er erst später in der Bibliothek eines Freundes und vertont ihn dann in erstaunlich kurzer Zeit im Spätsommer des selben Jahres. Bei der Komposition übernimmt er die endgültige Anordnung Müllers nicht. Er lässt die ersten 12 Gedichte in ihrer ursprünglichen Reihenfolge stehen und fügt die zweiten 12 einfach an, wobei er nur die beiden Gedichte „Die Nebensonnen“ (Nr. 20, S. 183) und „Mut!“ (Nr. 23, S. 185) umstellt. Zudem nimmt er auch mehrere geringfügige Textveränderungen vor und ändert den Titel des Werks von „Die Winterreise“ in „Winterreise“ (wohl um die Allgemeingültigkeit der darin behandelten Thematik anzudeuten).363 Das Werk ist in zwei autographen Teilen überliefert, wobei der zweite Teil reinschriftlich, der erste als erste Niederschrift, also mit vielen Korrekturen, angelegt ist. Das Lied „Gute Nacht“ (Nr. 1, S. 110 ff.) ist das einzige Stück, das im ersten Teil reinschriftlich verzeichnet ist – eine Ausnahme, deren Bedeutung weiter unten transparent werden wird. Zudem fallen Abweichungen zwischen diesen Autographen und dem Erstdruck der „Winterreise“ auf. So wurden etwa einzelne Lieder in andere Tonarten transponiert, ohne dass in jedem Fall klar wäre, ob die Änderungen von Schubert selbst oder von fremder Hand herrühren. Der erste Teil erscheint im Januar 1828 in Druckfassung, der zweite im Januar 1829, so dass Schubert die Veröffentlichung der zweiten Abteilung gar nicht mehr erlebt. Ob Wilhelm Müller etwas von der Vertonung seiner Gedichte durch Franz Schubert wusste, ist nicht bekannt; von einer Begegnung der beiden Künstler ist jedenfalls nichts überliefert. 362 Vgl. ebd., S. 140 ff. Schuberts Abweichungen vom Müllerschen Text sind im einzelnen vermerkt in: SCHOCHOW, Maximilian / SCHOCHOW, Lilly (Hrsg.): Die Winterreise. In: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter. Bd. II. Hildesheim 1974, S. 395-410. 363 62 5. 3 Die zyklischen Merkmale der Dichtung Im folgenden soll der Text der „Winterreise“ auf seine zyklischen Merkmale hin überprüft werden. Eine derartige Untersuchung liegt zwar schon mit Ludwig Stoffels364 vor, der durchaus auch die zyklische Anlage der „Winterreise“ erkennt; allerdings untersucht er den Text des Werks allein auf die in dem von mir ebenfalls zitierten Aufsatz Joachim Müllers aufgestellten Zykluskriterien. Ich werde mich deshalb nur vereinzelt auf seine Ergebnisse beziehen und verzichte auf eine ausführlichere Zusammenfassung, da ich ja, wie gesagt, in Anlehnung an Müllers Vorgaben eigene Kriterien für die Untersuchung entwickelt habe. 5. 3. 1 Linearität Zu den Merkmalen eines Kreises gehört unter anderem, dass er eine – wenn auch gekrümmte – Linie darstellt. Die Frage, ob die „Winterreise“ als linear zu bezeichnen sei, ist auf den ersten Blick schwer zu beantworten: Schließlich entsprechen sich ja Müllers bzw. Schuberts Reihenfolge der Lieder nicht – dies könnte also bedeuten, dass die Abfolge der Texte beliebig ist; das Kriterium der Linearität wäre somit hinfällig. Die Forschung hat sich über dieses Problem schon vielfach den Kopf zerbrochen. Klaus Günther Just zum Beispiel behauptet, die Struktur der „Schönen Müllerin“ sei „zyklisch im engeren Sinne des Wortes“365, während die „Winterreise“ eine „eher lineare Struktur“ aufweise. Sie beschreibe eine Linie, die „ins Unendliche“ auslaufe. „Vom Formalen her“ sei sie aber strenger zyklisch gebaut als der erste Zyklus Müllers.366 Leider erklärt Just nicht, welche formalen Kriterien er damit meint; auch ist nicht einsichtig, warum sich Linearität und zyklischer Bau ausschließen sollten. Nicht uninteressant ist die These Haeslers, die einzelnen Gedichte der „Winterreise“ würden jeweils „eine Umgehung des zentralen Themas mit immer sich ändernder Perspektive auf den gleichen Sachverhalt“ darstellen; als dieser immer gleiche Sachverhalt wird „das nimmer aufhörende Bewegen auf der Suche nach Ruhe“ angesehen. Aus unverständlichen Gründen wird aber auch hier die Unmöglichkeit einer linearen Anlage der Dichtung behauptet.367 364 Vgl. Anmerkung 9. JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Hrsg. von Hugo MOSER u.a. Bd. 83, Heft 4. Berlin u.a. 1964, S. 469. 366 Ebd., S. 470. 367 HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen Realisierung. In: „Die klugen Sinne pflegend“. Psychoanalytische und kulturkritische Beiträge. Hrsg. von Jutta GUTWINSKI-JEGGLE und Johann Michael ROTMANN. Tübingen 1993, S. 385. In der Vertonung, so Haesler, werde ab dem 16. Lied diese „Struktur des zyklischen Umkreisens“ zugunsten einer „lineare[n] Entwicklung“ verlassen (ebd., S. 391). 365 63 Hans-Udo Kreuels will einen ganz schlüssigen „dramaturgischen Aufbau“ in Müllers Anordnung der Gedichte erkennen368, und macht sich deshalb ausführliche Gedanken darüber, ob Schuberts Zusammenstellung der Lieder immer so sinnfällig sei wie die des Dichters. In Müllers Anordnung sei durch das gesamte Werk hindurch „ein Prinzip der Gruppierung von je vier Liedern zu erkennen“, wobei das jeweils auf diese Vierergruppe folgende Lied eine „Form von Erneuerung“ oder „Aufhellung“ sei, die in einen „Hoffnungsschimmer“ münde oder „auf eine reine Vision reduziert“ erscheine. Dies seien „Der Lindenbaum“ (Nr. 5, S. 173 f.), „Rückblick“ (Nr. 9, S. 176 f.), „Im Dorfe“ (Nr. 13, S. 179), „Das Wirtshaus“ (Nr. 17, S. 181) und „Frühlingstraum“ (Nr. 21, S. 183 f.).369 Kreuels scheint eine dringende Notwendigkeit zu verspüren, der „Winterreise“ eine detaillierte Gliederung entnehmen zu können. Ganz anderer Ansicht hingegen ist Thrasybulos Georgiades, der behauptet, die Gedichte würden sich „lose“ aneinanderreihen, wodurch die „Änderung der Reihenfolge durch W. Müller und dann auch durch Schubert möglich“ gewesen sei.370 Es erscheint sinnvoll, einen Mittelweg zwischen diesen relativ extremen Positionen anzunehmen. Dass Müller die Reihenfolge seiner Gedichte nicht egal gewesen sein kann, beweist allein die Tatsache, dass er für die Druckfassung des kompletten Zyklus eine für ihn finale Reihenfolge festlegte (er hätte die später geschriebenen Gedichte ja auch einfach anfügen können). Stattdessen ordnet er die Gedichte in der Reihenfolge an, in der sie seiner Meinung nach am sinnfälligsten die Entwicklung des Geschehens, genau genommen die psychische Entwicklung des Protagonisten – und so verstehe ich hier übrigens auch den Begriff ‚Linearität“: im Sinne einer Entwicklung –, wiedergeben können. Natürlich lassen sich auf dem Weg des Wanderers auch reale Stationen ausmachen, wie etwa das Dorf und verschiedene Landschaften wie Schluchten oder Flussläufe. Allerdings ist hier erstens keine wirkliche Chronologie vorhanden, und zweitens liegt der Fokus wie gesagt auf der inneren Entwicklung des Wanderers. Diese Entwicklung verläuft natürlich nicht ohne Brüche. Manchmal hat man den Eindruck, als bewege sich der Wanderer gleichsam im Zickzack, z.B. wenn er in einem Gedicht wie „Rast“ bohrenden Schmerz empfindet (vgl. Nr. 19, S. 182, Z. 15-16), sich in den „Nebensonnen“ den Tod wünscht (vgl. Z. 9-10) und dann plötzlich, im „Frühlingstraum“, Sehnsucht danach empfindet, seine Geliebte wieder zurück zu 368 KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert), S. 100. Ebd., S. 101. 370 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik. 3., durchgesehene Auflage. Göttingen 1992, S. 359. Ähnlich sieht dies Stoffels, der meint, der Gedichtzyklus entbehre „einer deutlichen Linearität und Planmäßigkeit“ (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 182). 369 64 bekommen (vgl. Z. 23-24). Viele Gedichte tragen sogar selbst Ambivalenzen (z.B. von Hoffnung und Verzweiflung) in sich (ein Beispiel wäre „Letzte Hoffnung“; Nr. 12, S. 178 f.). Insofern wäre es auch denkbar, einzelne Gedichte auszutauschen; ihre Abfolge ist nicht so starr, als dass hier nur eine mögliche Version vorstellbar wäre. Es findet keine von Gedicht zu Gedicht fortschreitende Handlung statt; vielmehr haben wir es mit „Momentaufnahmen“ einer inneren Entwicklung zu tun. Was allerdings durchaus vorhanden ist, sind größere thematische Einheiten, denen jeweils mehrere Gedichte zugehören. Hier muss zwar beachtet werden, dass manche Gedichte zu verschiedenen Einheiten passen könnten, weil sie mehrere Aspekte thematisieren (z.B. Todessehnsucht und das Gedenken an die Geliebte, wie „Die Nebensonnen“), aber folgende Grobeinteilung wäre durchaus möglich: Die Gedichte 1 bis 9 könnte man mit den Begriffen „Abschied und Erinnerung“ überschreiben: Der Wanderer verlässt das Haus seines Mädchens und begibt sich auf die Wanderschaft, wobei er sich noch häufig an die Geliebte erinnert, nach Andenken an sie sucht und um sie trauert. Das Lied „Die Post“ (Nr. 6, S. 174) war in der UraniaFassung noch nicht enthalten gewesen; Müller schreibt es erst später und schiebt es noch nachträglich in diesen Block ein, da er es für thematisch passend hält. Der Wanderer ist in diesem Teil also noch stark in der Vergangenheit verwurzelt. Eine nächste, recht große Einheit bilden die Gedichte 10 bis 20. Sie thematisieren Schmerz, Desillusionierung und Todessehnsucht, wobei die Erinnerung an die Geliebte in den Hintergrund tritt und das Leiden des Wanderers zunehmend diffuser wird, es wird zu einer „Trauer an sich“ – der anfängliche Liebeskummer ist nicht mehr das eigentliche Problem. Einen Grund für seine Todessehnsucht gibt der Wanderer jedoch nicht an, d.h. er bezieht sich kaum mehr auf vergangene Ereignisse, sondern lebt hauptsächlich noch in seiner tristen Gegenwart. Einzig in „Die Nebensonnen“ wird die Geliebte noch indirekt erwähnt (vgl. Z. 7). Zwei Gruppen von je zwei Liedern bilden den Abschluss des Zyklus: In „Frühlingstraum“ erinnert sich der Protagonist noch ein letztes Mal seines Mädchens, wird sich aber seiner realen Situation, nämlich seiner Einsamkeit, wieder schmerzlich bewusst, bevor diese dann im 22. Gedicht im Zentrum steht (vgl. Nr. 22, S. 184). Totaler Nihilismus prägt die beiden letzten Gedichte, „Mut!“ und „Der Leiermann“ (Nr. 24, S. 185 f.). Die Linearität, die die „Winterreise“ beherrscht, ist also eindeutig zu erkennen: Vom Abschied und der Trauer um die Geliebte führt den Wanderer sein Weg in die Todessehnsucht und über einen letzten wehmütigen Rückblick, der ihm nur seine Einsamkeit noch einmal deutlich vor Augen führt, in den totalen Nihilismus. 65 Zusammenfassend kann man sagen, dass die „Winterreise“ das zyklische Merkmal der Linearität erfüllt. Denn es wird zwar keine Handlung im Sinne von streng aufeinander folgenden Ereignissen beschrieben, aber die Gedichte gehören dennoch in bestimmten thematischen Einheiten zusammen, die den psychischen Entwicklungsphasen entsprechen, die der Wanderer im Zyklus durchläuft. Innerhalb dieser Phasen können einzelne Gedichte aber auch ausgetauscht werden. Eine Entwicklung macht der Wanderer nun natürlich auch in der Schubertschen Fassung der „Winterreise“ durch, weswegen auch in der kompositorischen Konzeption Linearität zu finden ist (hierauf wird jedoch weiter unten noch eingegangen). 5. 3. 2 Kohärenz 5. 3. 2. 1 Die formale Anlage der Gedichte Die Texte der „Winterreise“ sind fast durchweg in der Volksliedstrophe verfasst. So besitzen die meisten Gedichte zwei bis fünf vierzeilige Strophen, die Verse bestehen aus drei- bis vierhebigen Jamben oder Trochäen und sind meist durch Kreuzreime (Reimschema abab) oder halbe Kreuzreime (Reimschema xaxa) verbunden. Nur vier der Gedichte weichen von der vierzeiligen Strophenform ab und verwenden den Paarreim (nämlich „Die Post“, „Im Dorfe“, „Täuschung“ [Nr. 15, S. 180] und „Die Nebensonnen“).371 Alle Texte besitzen überdies ein und denselben Sprecher, nämlich den Wanderer. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage, inwieweit die „Winterreise“ zyklische Merkmale aufweist, kann diese ähnliche formale Anlage der Gedichte als verbindendes Element festgehalten werden, das auf einen Zusammenhang der Gedichte, also auf Kohärenz, hindeutet. Was an dieser Stelle betont werden soll, ist die Tatsache, dass allgemein zwischen der sehr schlichten Form der meisten Gedichte und ihren, wie sich zeigen wird, z.T. drastischen (z.B. völligen Nihilismus transportierenden) Aussagen eine erhebliche Diskrepanz besteht. Wenn auf tiefer gehende Form- und Sprachanalysen der Texte in dieser Arbeit verzichtet wird, so geschieht dies einerseits aus Gründen der notwendigen Beschränkung und andererseits mit Verweis auf die sehr ausführliche Arbeit Christiane Wittkops, die hier beinah keine Fragen mehr offen gelassen hat.372 371 Die einzelnen Strophen von „Gute Nacht“ (Nr. 1, S. 170 f.) bestehen aus jeweils zweimal vier Versen, die in sich kreuzgereimt sind. Insofern kann dies nicht als Abweichung von der sonstigen vierzeiligen Strophenform gewertet werden. 372 Vgl. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz. 66 5. 3. 2. 2 Kohärenzstiftende Motive Ein sehr wesentliches kohärenzstiftendes Merkmal innerhalb der „Winterreise“ besteht darin, dass ihre Texte von Motiven durchzogen sind, die ständig wiederkehren – wobei sie natürlich immer wieder variiert und in neue Zusammenhänge gestellt werden –, und so den Zusammenhang der Einzeltexte gewährleisten. Dieser Problemkomplex ist schon verschiedentlich untersucht worden, u.a. in der eben schon zitierten Arbeit von Christiane Wittkop. Die Autorin betrachtet hier bestimmte Motive, die, wie sie sagt, die „polyphone Struktur“ der „Winterreise“ konstituieren würden.373 Wittkop erkennt innerhalb des Werkes drei große Motivstränge, nämlich die „Bewegungsmotive“374 (Wanderschaft in Verbindung mit dem Winter375, Wasser, Wind), die „Motive des körperlich-seelischen Bereichs“376 (Tränen, Augen, Herz) und die „existenziellen Motive“377 (Täuschung, Desillusionierung, Todessehnsucht), die sich wie einzelne gleichberechtigte Stimmen in einem musikalischen Satz als geschlossene Linien durch das Zyklusganze ziehen. Zu den existentiellen Motiven wäre noch zu sagen, dass sie als „innerpsychische Phänomene“ natürlich nicht wörtlich im Text genannt werden, sondern dass für sie verschiedene Bilder (u.a. Tiermotive) stehen.378 Sie sind ständig präsent und hängen insofern eng zusammen, als der Wanderer immer wieder Täuschungen erliegt, daraufhin Desillusionierung erlebt und sich aufgrund dieser Tatsache seiner Todessehnsucht hingibt.379 Sie stehen also für eine „immer wiederkehrende Grunderfahrung“.380 Wittkop knüpft übrigens mit ihrer Arbeit an die Abhandlungen von Alan Cottrell381 und Ludwig Stoffels382 an, die wie sie durch bestimmte Motive erzeugte Verbindungen zwischen den Gedichten der „Winterreise“ festgestellt haben. Wittkop möchte jedoch hier eine „Alternative“ bieten und „andere Gewichtungen vornehmen“383. Genau das möchte auch ich in dieser Arbeit ein weiteres Mal versuchen, indem ich durch das Aufzeigen und Untersuchen anderer, ganz spezieller Motive eine neue Perspektive der motivischen Verknüpfung eröffne. Über die von Wittkop benannten Motive hinaus sind nämlich noch weitere Motive in der „Winterreise“ feststellbar, die 373 Ebd., S. 62. Ebd., S. 64 ff. 375 Dieses Motiv stellt das motivisch-thematische Zentrum des Zyklus dar; auf seine Bedeutung und seinen Zusammenhang zur Melancholie wird weiter unten eingegangen. 376 Ebd., S. 85 ff. 377 Ebd., S. 111 ff. 378 Ebd., S. 111. 379 Vgl. ebd., S. 111 f. 380 Ebd., S. 52. 381 Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, insb. S. 35-68. 382 Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, insb. S. 103-112. 383 WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 52. 374 67 ich als „Melancholie-Motive“ bezeichnen möchte (und von denen sich einige mit Wittkops Motiven überschneiden, wobei sie diese aber nicht als Melancholie-Motive erkennt). Gemeint sind solche Motive, die aus der Tradition des Melancholiediskurses als typische Charakteristika dieses Phänomens bzw. der von ihm betroffenen Personen bekannt sind. Allerdings kommen im Lauf der Jahrhunderte ab und zu neue Zuschreibungen von Eigenschaften dazu, während andere wegfallen. Hier sollen deshalb nur solche Eigenschaften bzw. Motive näher beleuchtet werden, die in den Melancholie-Diskursen seit der Antike fast durchgehend erscheinen oder um die Entstehungszeit der „Winterreise“ neu hinzukommen (dies betrifft vor allem die Desillusionierung und – eingeschränkt – den Nihilismus). Harald Bost, dessen Abhandlung „Der Weltschmerzler“ oben schon zitiert wurde und der sich eingehend mit der Melancholie-Tradition bzw. insbesondere mit der Literatur des Weltschmerzes befasst, stellt aus der von ihm untersuchten Sekundärliteratur einen „Katalog von Eigenschaften“ speziell des Weltschmerzlers zusammen384 (hierzu ist allerdings zu bemerken, dass mit diesem „Katalog“ eigentlich eher eine Entwicklung beschrieben wird, als dass nur Eigenschaften aufgeführt würden). Als „conditio sine qua non“ bezeichnet Harald Bost den „inneren Selbstwiderspruch“ des Weltschmerzlers. Dieser werde vom betreffenden Subjekt als „Spannungsverhältnis von Überspanntheit und Einschränkung“ erlebt. So seien auch die wechselnden Stimmungen des Weltschmerzlers zwischen „Begeisterung und Niedergeschlagenheit“ zu erklären. Durch seinen inneren Widerspruch seien überdies die Sehnsucht und Langeweile sowie die Angst, die Verzweiflung und der Dämmerzustand seiner Seele bedingt, die den Weltschmerzler plagen würden. Er halte seine Situation für schicksalsgegeben, weswegen er keine Energie aufbringen könne, etwas daran zu ändern. Im Gegenteil: Er entwickle Todessehnsucht und gebe sich ganz dem Gefühl hin, das Leben sei wertlos. Mit dem Gefühl der „süßen Melancholie“ versuche er sich selbst aufzuwerten; dies führe aber zu „Narzißmus und Rollenspiel“, was ihn zu einem Außenseiter mache, der sich genau der bürgerlichen Moral entgegengesetzt verhalte. Diesen Katalog ergänzt Bost noch durch weitere, aus der von ihm betrachteten Literatur gewonnene Erkenntnisse. So erlebe der Weltschmerzler die Einschränkung, die den Gegenpol zu seinem Enthusiasmus und seiner „Liebhaberei fürs Absolute“ bilde385, meist in Form einer Verlusterfahrung, die ihm die Endlichkeit des Glücks und die Bedingtheit des menschlichen Daseins überhaupt vor Augen führe.386 Der Schmerz, den 384 BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 100 f. Ebd., S. 118. 386 Vgl. ebd., S. 138. 385 68 er hierdurch erfahren müsse, sei für ihn eine Art „Daseinsgarant“387; er habe das Gefühl, das Leid adele ihn.388 Weltschmerz sei zudem letztlich gleichbedeutend mit Nihilismus. Gott existiere für den Weltschmerzler nicht; die Welt sei für ihn nur chaotisch.389 Als „wesentliche Motive des Weltschmerzes“ bezeichnet Bost den inneren Widerspruch des Betroffenen, seine „Unruhe“, seine „Daseinsmonotonie“, das „Tantalusmotiv“, die „Identität von Leben und Leiden“ sowie das „Bild der Reise“.390 Er weist jedoch auch darauf hin, dass es eine zweite Phase des Weltschmerzes gebe, deren Helden bereits von Anfang an vom Leben enttäuscht seien.391 Viele der bei Bost aufgeführten Motive lassen sich auch in der „Winterreise“ finden, während andere nicht vorkommen. Ein „innerer Selbstwiderspruch“, ein Hin- und Hergerissensein zwischen Enthusiasmus und Niedergeschlagenheit etwa zeichnet den Wanderer keineswegs aus. Er hat die Verlusterfahrung vielmehr schon hinter sich und ist dementsprechend bereits zur Einsicht gelangt, dass Leben Leiden bedeute (insofern wäre er nach Bosts Überlegungen quasi ein Weltschmerz-Held der zweiten Generation). Sein Schmerz, sein Leiden an der Welt als ein für den Weltschmerzler bzw. den Melancholiker allgemein typisches Motiv soll jedoch im folgenden gründlicher untersucht werden (das Herz als der Ort, an dem dieses Gefühl wahrgenommen wird und das ja auch Wittkop eingehend betrachtet392, wird ebenfalls ausführlicher behandelt werden). Weitere den Wanderer auszeichnende Melancholie-Motive, die bei Bost, aber auch in der traditionellen Charakterisierung des Melancholikers auftauchen, und die hier herausgearbeitet werden sollen, weil sie Kohärenz innerhalb des Zyklus stiften, sind seine Unruhe (in Verbindung mit seiner Orientierungslosigkeit), seine Einsamkeit, seine Einbildungskraft, seine Desillusionierung, seine Todessehnsucht und sein Nihilismus (dieser Komplex entspricht etwa dem, was Wittkop die „existentiellen Motive“ der „Winterreise“ nennt). Das Bild der Reise, das Bost als so zentral bezeichnet, wird weiter unten als motivisch-thematisches Zentrum der „Winterreise“ noch eingehend beleuchtet. Untersucht werden sollen im folgenden also Charakteristika des Wanderers in der „Winterreise“, die zugleich Charakteristika des Melancholikers allgemein und somit Melancholie-Motive sind, die zwischen den Texten des Zyklus inneren Zusammenhang stiften.393 Hinzuzufügen wäre noch, dass es sich bei den Melancholie387 Ebd., S. 267. Vgl. ebd., S. 269. 389 Vgl. ebd., S. 148. 390 Ebd., S. 221. 391 Vgl. ebd., S. 280. 392 Auch Cottrell beschäftigt sich mit dem Motiv und erkennt seine kohärenzstiftende Qualität (vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 54 f.). 393 Weitere kleinere Merkmale, die Bost in der Weltschmerz-Literatur erkennt (hierunter fallen auch Strategien der poetischen Darstellung, z.B. die Spiegelung der Seele des Helden in der Naturlandschaft), 388 69 Motiven um relativ abstrakte Motive handelt, die sich nicht so offensichtlich im Text finden lassen wie etwa das handfeste Motiv der „Blauen Blume“ in romantischen Dichtungen o.ä. Vielmehr liegen sie auf einer tieferen Ebene des Textes und müssen aus den Äußerungen bzw. dem Verhalten des Wanderers erschlossen werden. 5. 3. 2. 2. 1 Traurigkeit und Schmerz Als für den Melancholiker fast selbstverständliches Merkmal ist natürlich seine Traurigkeit, seine Niedergeschlagenheit anzusehen. Dies stellt vielleicht, wie schon angedeutet wurde, auch eine der ersten Assoziationen dar, die heute noch allgemein mit dem Wort „Melancholie“ verknüpft sind. Der Schmerz, der den Melancholiker quält, bestimmt seine ganze Persönlichkeit, er empfindet genau die „Identität von Leben und Leiden“, die Bost als so weltschmerztypisch bezeichnet. Der Wanderer in der „Winterreise“ hat dafür ja scheinbar auch einen äußerst plausiblen Grund: Seine Geliebte hat sich einem anderen zugewandt; er muss sie verlassen (vgl. Nr. 2, S. 171, Z. 11-12). Diese Tatsache entspricht der Verlusterfahrung, die Bost als das niederschmetternde Ereignis annimmt, das die Entwicklung des Weltschmerzlers bis hin zur totalen Hoffnungslosigkeit auslöse (und zugleich derjenigen Erfahrung, die laut Freud und Kristeva Melancholie begründen). Doch was in der „Winterreise“ auffällt, ist die Tatsache, dass der Wanderer im Verlauf der Handlung fast gänzlich damit aufhört, über diese Verlusterfahrung als konkreten Grund für seine Trauer zu reflektieren. Es wird deshalb relativ schnell ersichtlich, dass sein Liebeskummer der Auslöser für seinen Schmerz war.394 Seine schmerzvollen Reflexionen lassen sich recht gut durch eine Wendung beschreiben, mit der Roland Lambrecht die Melancholie charakterisiert. Er bezeichnet diese nämlich ganz grundsätzlich als ein Phänomen des „Zwischen-Seins“: als ein „Zwischen Krankheit und Sünde“ (dieser Aspekt wurde oben ausführlich behandelt), ein „Zwischen Anderswann und Anderswo“ und ein „Zwischen Nicht-mehr und Nochnicht“.395 Indem Lambrecht die Melancholie als Phänomen „zwischen Anderswo und Anderswann“ beschreibt, bezieht er sich auf die immerwährende Suche des Melancholikers nach Glück, das dieser eben anderswo und anderswann vermutet, und werden mehr am Rande erwähnt; solche Merkmale, die typisch für die Weltschmerz-Literatur sind, in der „Winterreise“ nicht vorkommen, werden ignoriert. 394 Die Geliebte erfüllt hierbei genau die Funktion, die Bost bei vielen Frauenfiguren der WeltschmerzLiteratur feststellt. Denn diese fungieren häufig als „Katalysatoren, die, selbst mehr oder weniger unbeschadet,“ beim weltschmerzlerischen Helden „eine seelische Entwicklung auslösen“. Am Ende dieser Entwicklung stehen dann zumeist „seelische Verarmung oder Tod“ (BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 276). 395 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 13. 70 so niemals erreicht. In dieser Weise lässt sich Lambrecht zufolge die Melancholie besonders seit dem 18. Jahrhundert charakterisieren.396 Das Schicksal des Wanderers in der „Winterreise“ kann hier als prototypisch gelten. Er sieht sein Glück zunächst in der Vergangenheit, nämlich in der Zeit seiner verflossenen, glücklichen Liebe. Im Gedicht „Erstarrung“ (Nr. 4, S. 172 f.) sucht er auch nach diesem zerronnenen Glück: Er erinnert sich an Spaziergänge, die er mit seiner Geliebten „durch die Flur“ (Z. 4) gemacht hat und sucht in der jetzt verschneiten Winterlandschaft verzweifelt nach Andenken an damals, die die Möglichkeit des Vergessens ausschließen würden („Wenn meine Schmerzen schweigen, / Wer sagt mir dann von ihr?“; Z. 15-16). Doch die Blumen und das Gras, die in der verlorenen Idylle noch vorhanden waren, sind jetzt verwelkt.397 Das „Anderswann“, dem der Wanderer nachtrauert, ist also die Zeit seiner glücklichen Liebe, das „Anderswo“ die Sommerlandschaft, wahrscheinlich auch die Stadt, in der seine Geliebte wohnt (in „Rückblick“ z.B. klingt dies recht deutlich an; vgl. Z. 9-14). Doch je mehr der Wanderer resigniert, desto mehr verlagert sich seine Vorstellung davon, wo sein Glück zu vermuten sei: Es erscheint ihm bald nur noch im „Anderswo“ und „Anderswann“ des Todes erreichbar zu sein. An dieser Stelle besteht also eine Überschneidung mit dem Motiv der Todessehnsucht, das weiter unten gesondert untersucht wird. Auf der zeitlichen Ebene befindet sich der Melancholiker Lambrecht zufolge wie gesagt stets in einem Zustand „zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht“. Dabei ist dieses Zwischen-Sein natürlich zunächst bestimmend für die gesamte Menschheit: Wir alle sind „dazwischen“, nämlich im Hinblick auf unsere eigene Lebensgeschichte (wir befinden uns nicht mehr im Mutterleib und sind noch nicht tot), auf die Heilsgeschichte (besonders Juden und Christen sehen sich als Fremdlinge in dieser Welt, weil sie nicht mehr im ersten und noch nicht im neuen Paradies Gottes leben), und auf die Weltgeschichte.398 Letzterem Aspekt entspricht das oben schon angesprochene dreiphasige, nicht religiös orientierte Geschichtsmodell, das „das abendländische Denken beherrscht“, und dem zufolge wir uns in einer Zwischen-Zeit zwischen einem verlorenen und einem zukünftigen goldenen Zeitalter befinden.399 Die Melancholiker sind laut Lambrecht nun aber diejenigen Menschen, die nicht mehr daran glauben, dass sie jemals dieses Ziel erreichen werden. Dies ist ihrer Meinung nach erst nachfolgenden 396 Vgl. ebd., S. 177. Das Motiv der entblätterten Rose oder verwelkten Blume ist für Weltschmerz-Dichtungen überaus typisch (vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 205 f.). 398 Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 177 f. 399 Ebd., S. 179. 397 71 Generationen vergönnt, aber niemals ihnen. Sie selber haben nur immer das Gefühl, im Kreis zu laufen.400 Bei der Betrachtung ihres persönlichen Lebens sind sie immer von dem Empfinden bestimmt, durch eine falsche Entscheidung die Chance auf Glück ein für allemal verpasst zu haben, weswegen sie glauben, ihr Leben sei gescheitert.401 Lambrecht sieht den daraus resultierenden Wunsch des Melancholikers, sein Leben noch einmal rückgängig machen zu können – was natürlich nicht mehr geht –, sehr markant auf sprachlicher Ebene ausgedrückt, nämlich in Modus und Tempus des Konjunktiv-Plusquamperfekt.402 Hier überdauere die ungenutzte Chance „im sprachlichen Bewußtsein als das ‚Nicht-mehr-sein-Können’ eines uneingelösten, bleibenden Wunsches“.403 Interessant ist, dass diese Form des Irrealis auch in einem Gedicht der „Winterreise“ auftaucht, nämlich in „Die Wetterfahne“. Hier ist genau dieser rückwirkende und damit unerfüllbare Wunsch erkennbar, sich anders verhalten zu haben, d.h. in diesem Fall, klüger gewesen zu sein: Er hätt es eher bemerken sollen, Des Hauses aufgestecktes Schild, So hätt er nimmer suchen wollen Im Haus ein treues Frauenbild (Z. 5-8).404 Der Zustand „zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht“ ist für die seelische Verfassung des Wanderers in der „Winterreise“ außerordentlich bestimmend und greift auch mit dem Gedanken des „Anderswo und Anderswann“ ineinander: Der Protagonist ist „nicht mehr“ glücklich und vermutet deshalb sein Glück im „Anderswann“ und „Anderswo“ der Vergangenheit.405 Später möchte er sterben, was „noch nicht“ möglich ist, und nun glaubt er, das Glück sei im „Anderswann“ und „Anderswo“ des Todes zu finden. In seinen Reflexionen wechseln sich also stets sehnsuchtsvolles Erinnern an sein verlorenes Glück und der Wunsch nach in der Zukunft liegender Erlösung ab. Beide Gedanken werden im Verlauf der „Winterreise“ so oft thematisiert, dass es fast zu weit führen würde, alle Gedichte zu betrachten, in denen dies geschieht. Vielmehr soll ein 400 Vgl. ebd., S. 180 f. Vgl. ebd., S. 195 ff. 402 Vgl. ebd., S. 199 ff. 403 Ebd., S. 205. 404 Hervorhebungen von mir. 405 In Kapitel 1 wurde erläutert, dass seit der Antike das gute Gedächtnis des Melancholikers bzw. seine Fähigkeit zur Erinnerung eines seiner hervorstechendsten Merkmale darstellt. Das ständige Erinnern ist, zumindest im ersten Teil des Zyklus, auch bestimmend für die seelische Verfassung des Wanderers, wobei diese Erinnerungen – nämlich die Erinnerungen an sein verflossenes Glück – hier nicht als Hinweis auf eine geniale Veranlagung anzusehen sind, sondern ihn im Gegenteil noch melancholischer machen. Hier trifft demnach die Aussage Mattenklotts zu, dass die Schwermut immer „ein Phänomen des Gedächtnisses“ sei, „das zäh dem vergebens Ersehnten, Vereitelten, Mißlungenen die Treue hält“ (MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 11). 401 72 einzelnes Gedicht exemplarisch erwähnt werden, in dem beide Ideen zum Tragen kommen: das Gedicht „Die Nebensonnen“. Hier ist es, wie so oft im Zyklus, die Natur, in der der Wanderer eine Spiegelung seiner verzweifelten Situation erkennt.406 Er erblickt am Himmel eine physikalische Erscheinung, die ihn an die Augen seiner Geliebten erinnern407: Nebensonnen. Diese gehören zu den sogenannten „Halo-Erscheinungen“, die sich als „farbenprächtige atmosphär. Lichterscheinung[en]“ beschreiben lassen, welche „durch Brechung oder Spiegelung, seltener durch Beugung der Lichtstrahlen an Eiskristallen in der Atmosphäre“ entstehen. Diese Halo-Erscheinungen können die Form von Ringen oder Streifen besitzen; Nebensonnen im Besonderen erscheinen als „leuchtende Flecken mit einem nach außen gerichteten leuchtenden Schweif beiderseits der Sonne“408, so dass der Eindruck entsteht, als stünden nicht eine, sondern drei Sonnen am Himmel. So außergewöhnlich ein solches Naturschauspiel aber auch sein mag: Für den Wanderer hat die Himmelserscheinung nichts Ästhetisches oder wenigstens Beeindruckendes. Er fühlt sich dadurch nur an den Verlust seiner Liebe erinnert, was ihn dazu bringt, sich verzweifelt den Untergang der echten Sonne, d.h. den Tod, zu wünschen: „Ging´ nur die dritt erst hinterdrein! / Im Dunkel wird mir wohler sein.“ (Z. 9-10). Durch die Wunschform „Ging´“ (Z. 9) wird aber wiederum deutlich, dass diese Sehnsucht des Wanderers noch nicht keine Erfüllung finden wird. Das „Sehnsucht/Hoffnung-Mißverhältnis“ ist nach Lambrecht ebenfalls kennzeichnend für den Melancholiker.409 Denn dieser ist natürlich traurig und resigniert, doch das ist, wie Lambrecht argumentiert, „nur die eine Seite der Medaille“. Auf der anderen Seite trage der Melancholiker trotz allem immer noch eine Sehnsucht in sich, z.B. eine Sehnsucht nach Erlösung von der Melancholie mit der Hilfe Gottes oder auch nach einer „innerweltlichen Überwindung“ derselben. Und dennoch ist diese Hoffnung nicht stärker als der Zweifel an ihrer Erfüllung. Dieses „Wechselspiel von unaufgegebener 406 Für die Lyrik der Romantik ist die Verbindung „zwischen Naturvorgang und Seelenregung“ typisch (JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 466). Georgiades zufolge besteht in diesen fortwährenden Spiegelungen des Ichs in der Natur oder anderen Erscheinungen das „Thema“ der „Winterreise“, das „verschieden variiert“ werde (GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 359). Die Bezeichnung „Thema“ scheint hier jedoch unglücklich; es ist richtig, dass sich diese Spiegelungen durch den ganzen Zyklus ziehen, Thema der „Winterreise“ ist aber eher die Wanderschaft. 407 Laut Bost ist es auch sehr charakteristisch für die Weltschmerz-Literatur, dass hier die Natur den Seelenzustand des Helden widerspiegelt. Auch kommt es oft vor, dass die Geliebte und die Natur verschmelzen – allerdings eher in der Beschreibung idyllischer Naturbilder (vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 137). 408 BROCKHAUS. Die Enzyklopädie in 24 Bänden: Art. „Halo“. 20., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Leipzig und Mannheim 1997, Bd. 9, S. 409. Feils Erklärung, das Phänomen der Nebensonnen komme durch die Spiegelung der Sonne „auf und unter der Tränenflüssigkeit vor dem Auge“ zustande (FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Stuttgart 1975. 2., bibliographisch ergänzte Auflage 1996, S. 147), weist demnach auf ziemliche Unkenntnis hin. 409 Vgl. hierzu: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 14. 73 Sehnsucht und schwankender Hoffnung“410 lässt sich in den schmerzvollen Reflexionen des Wanderers in der „Winterreise“ ebenfalls feststellen, besonders in den Gedichten „Rückblick“, „Letzte Hoffnung“ und „Frühlingstraum“. „Rückblick“ thematisiert in der letzten Strophe die Sehnsucht des Wanderers, wieder in die Stadt und damit zu seiner Geliebten zurückkehren zu dürfen (vgl. Z. 17-20). Wie unmöglich die Einlösung dieses Wunsches ist, zeigt sich daran, dass mit „Der greise Kopf“ (vgl. Nr. 10, S. 177) als nächstem Gedicht wieder totale Resignation und Todessehnsucht im Mittelpunkt stehen; von der Geliebten wird überhaupt in den folgenden Gedichten (bis zu den „Nebensonnen“) nicht mehr die Rede sein. Ein Fünkchen Zuversicht scheint in „Letzte Hoffnung“ aufzublitzen; zumindest wird hier ausgesagt, dass der Wanderer überhaupt noch Hoffnung besitzt („meine Hoffnung“; Z. 6). Doch dann nimmt er das schlichte Naturereignis eines zu Boden fallenden Blattes, mit dem er sich selbst identifiziert, als eindeutige Bestätigung seiner ausweglosen Situation (vgl. Z. 9-12). Die Hoffnung, sein Leben könnte sich doch noch einmal zum Besseren wenden, ist für ihn „gestorben“. Dennoch entfacht der „Frühlingstraum“ diese Hoffnung noch ein letztes Mal. Der glückliche Traum, der mehrmals durch erschrockenes Erwachen unterbrochen wird, lässt im Wanderer eine hoffnungsvolle, scheinbar schon längst beantwortete Frage aufkommen: „Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm?“ (Z. 24). Wie genau er eigentlich weiß, dass diese Frage mit „Nie wieder“ zu beantworten ist, zeigt sich im nächsten Gedicht. Hier besinnt er sich wieder darauf, dass Einsamkeit jetzt sein Dasein bestimmt (vgl. Z. 8). Insgesamt lässt sich also sagen, dass im Verlauf der „Winterreise“ im Wanderer zwar immer wieder Hoffnung und Sehnsucht nach einer positiven Wendung seines Schicksals aufkeimen, dass seine Verzweiflung jedoch jeweils überwiegt und die Hoffnung somit immer wieder im Keim erstickt wird. Ein letzter Aspekt, der in diesem Abschnitt untersucht werden soll, ist das Motiv des Herzens, da dieses als der Ort vorgeführt wird, wo die Schmerzen des Wanderers offenbar lokalisiert sind. Das Herz wird traditionell als „personale Mitte des Menschen“, als „Zentrum personaler Wesensentfaltung“ und damit auch aller Gefühlsregungen angesehen, und zwar im Gefolge „der alten abendländischen Tradition einer ‚Philosophia cordis’“.411 Seine Ursprünge hat dieses Denken laut Schmidt-Degenhard bei Augustinus, im Mittelalter tauche es im Begriff der „acedia“ (= Herzensträgheit) wieder auf, und es ziehe sich über die deutsche Mystik (Hildegard 410 Ebd. SCHMIDT-DEGENHARD, Michael: Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. In: Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur I: Melancholie in Literatur und Kunst, S. 169. 411 74 von Bingen etc.) durch bis in die Moderne (so erscheine es etwa bei Kierkegaard wieder). Hegel verwendet den Begriff „Herz“ in diesem Sinne, wenn er in seiner „Phänomenologie des Geistes“ vom „Gesetz des Herzens“ spricht, das dem „Wahnsinn des Eigendünkels“ gegenüberstehe.412 Und auch der Arzt Johann Christian August Heinroth (1773-1843) setzt die Begriffe „Herz“ und „Gemüt“ gleich. Über das Gemüt schreibt er: Ist denn dieser Ausdruck zu provinziell, oder zu vag und abstract, oder überhaupt unnatürlich und erkünstelt, daß man ihn nicht mehr für gleichbedeutend mit dem bildlichen Worte: Herz, gelten lassen mag? Also Kummer und Gram, wie Freude und Hoffnung, sie sollen nicht mehr ihren Sitz im Gemüth haben? Wo denn sonst?413 An anderer Stelle bezeichnet er „das sichtbare und leibliche Herz“ als „Träger des unsichtbaren Gemüths“.414 Folglich ist für ihn die Melancholie „die Krankheit des Gemütes, des Herzens“. Insgesamt lässt sich festhalten, dass „Herz und Schwermut [...] einen gemeinsamen Bedeutungshintergrund“ haben, also „wesensverwandt“ sind.415 Diese Vorstellung greift auch die Literatur auf: Das Herz-Motiv erscheint z.B. in der Lyrik um 1800 (bei Friedrich Matthisson, Ludwig Tieck oder Clemens Brentano), wobei das „kranke Herz“ hier immer für melancholische Verzweiflung steht.416 Aber in der Weltschmerz-Literatur ist das Motiv ebenso beliebt. Es steht auch hier, wie gesagt, für das Gemüt des Menschen, und besonders bei Werther bildet es den Gegenpol zu Vernunft und Verstand.417 In der „Winterreise“ hat das Herz ebenfalls genau diese Bedeutung, nämlich „der Ort zu sein, an dem alle seelischen Auseinadersetzungen stattfinden und die einander widerstreitenden Gefühle wechseln“.418 Das Herz-Motiv erscheint zum ersten mal im zweiten Gedicht. Durch den Vergleich der vom Wind gebeutelten Fahne auf dem Dach 412 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. Hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Wolfgang BONSIEPEN und Reinhard HEEDE. Düsseldorf 1980, S. 202-207. 413 HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Zwey Theile. Leipzig 1818. Zweyte Abtheilung, S. 333. Vgl. auch: ebd., Erste Abtheilung, S. 6. 414 HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Anthropologie. Zum Behuf academischer Vorträge, und zum Privatstudium. Nebst einem Anhange erläuternder und beweisführender Aufsätze. Leipzig 1822, S. 74. 415 SCHMIDT-DEGENHARD, Michael: Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, S. 169. Erst Wilhelm Griesinger (1817-1868) bricht mit der „Philosophia cordis“ in Verbindung mit der Melancholie, indem er die Krankheit rational erklärt, wodurch sie ihren rätselhaften, manchmal dämonisch empfundenen Charakter verliert (vgl. ebd., S. 174). 416 NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 46 ff. 417 Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 165. 418 WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 96. 75 des Hauses seiner Geliebten mit den Schmerzen des Herzens (vgl. Z. 9-10) wird deutlich, dass das Herz hier für die verletzten Gefühle des Menschen steht.419 Den Zustand des gefrorenen Herzens, von dem der Sprecher in „Erstarrung“ erzählt („Mein Herz ist wie erfroren, / Kalt starrt ihr Bild darin“; Z. 17-18), ist dieser sogar zu ertragen bereit: Nur indem er sich an seine Trauer klammert, kann er auch die Erinnerung an seine Geliebte wach halten, und das möchte er um jeden Preis. Dies erinnert stark an die Lust am Verlust, die Julia Kristeva dem Melancholiker bescheinigt, d.h. an den Wunsch, durch die Traurigkeit die Erinnerung an die Verlusterfahrung zu bewahren. Das Herz scheint jedenfalls in diesem Gedicht für die Erinnerung des Wanderers zu stehen. In „Auf dem Flusse“ (Nr. 8, S. 175 f.) vergleicht der Held wiederum sein Herz mit einer Naturerscheinung, dem Fluss. Er empfindet sein Herz – auch hier scheinen damit die Gefühle gemeint zu sein – als ebenso erstarrt wie die Eisschicht auf dem Fluss. Doch es ist nicht völlig erfroren: Unter seiner „Rinde“ schwillt es „reißend“ (Z. 20). Seine Gefühle, sein seelischer Schmerz sind also nur unterdrückt. Diese kommen im 19. Gedicht an die Oberfläche. Der Wanderer unterbricht seine Reise und spürt in der Stille, ohne die Ablenkung durch die Wanderung, wie verletzt er ist (vgl. Z. 13-16). In „Frühlingstraum“ träumt der Wanderer von besseren, vergangenen Zeiten, erwacht aber zweimal: Beim ersten Mal wird sein „Auge“ wach (Z. 6), nachdem er wieder eingeschlafen ist und weitergeträumt hat, sein „Herze“ (Z. 18). Damit könnte gemeint sein, dass er nun wirklich wach ist, und nicht wie beim ersten Mal nur kurz hochgeschreckt ist und wieder einnicken wird. In der letzten Strophe, in der er noch einmal über den Traum nachdenkt, wobei ihm das Herz noch „so warm“ schlägt, (Z. 22), ist offenbar tatsächlich einmal das Organ gemeint. In „Die Post“ verhält es sich ähnlich: Zumindest in der ersten Strophe klopft dem Wanderer sein Herz „bis zum Halse“, als er das Posthorn von der Stadt her vernimmt (vgl. Z. 1-3). In den drei restlichen Strophen hält er Zwiesprache mit seinem Herzen; hier meint der Begriff „Herz“ wohl wieder eher das Gefühlszentrum. Die Tatsache, dass in der „Winterreise“ häufig „das ‚Ich’ vom Herzen des Sprechenden geschieden“ ist, erscheint sehr bemerkenswert. Es wird zum „Ansprechpartner“ des Wanderers.420 Dies spiegelt laut Wetzel dessen „absolut gewordene Einsamkeit“.421 Im 14. Gedicht, „Der stürmische Morgen“, findet wieder eine Spiegelung des Herzens in der Natur, nämlich in dem vom Sturm zerrissenen Himmel, statt. Und auch hier steht es für das aufgewühlte Innere des Wanderers; es ist „nichts als der Winter, / Der Winter kalt und 419 Dass an dieser Stelle der Plural steht, deutet Wittkop zufolge darauf hin, dass der Wanderer hier nur „in exemplarischer Weise Zeugnis gibt“ von einem überindividuellen Erlebnis (ebd., S. 97). 420 WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 161. 421 Ebd., S. 162. 76 wild!“ (Nr. 14, S. 179, Z. 11-12). In „Mut!“ will der Protagonist sein Herz mit seinem Gesang übertönen, wiederum mit dem Ziel, seine Gefühle zu unterdrücken (vgl. Z. 3-4). Das Motiv des Herzens erscheint also, wie gezeigt werden konnte, ausgesprochen oft im Verlauf der „Winterreise“. Dabei ist entweder das tatsächliche Organ gemeint – was aber eher selten vorkommt –, oder der Sitz der Gefühle, sozusagen die Seele des Wanderers. Interessant ist, dass häufig Parallelen zwischen dem Herzen und Naturerscheinungen gezogen werden. Der Wanderer spricht nie explizit aus, wie es ihm geht, sondern gebraucht fast durchgehend Bilder, um seine Gemütszustände zu beschreiben. Diese beim Namen zu nennen, ist ihm offenbar unmöglich. 5. 3. 2. 2. 2 Orientierungslosigkeit und Unruhe Der Melancholiker wird häufig als Umherirrender in einem Labyrinth beschrieben, so etwa bei Pseudo-Aristoteles: Dieser bringt ein Homer-Zitat, um Bellerophontes dementsprechend zu charakterisieren.422 Jean Starobinski verwendet ebenfalls das Bild des Labyrinths als Modell für die melancholische Bewusstseinsstruktur; es verbinde den Zustand des Eingesperrtseins mit dem Zwang zu ewiger Wanderschaft: „Une prison où l´on erre, une réclusion vagabonde: c´est le labyrinthe.“423 Auch der Protagonist der „Winterreise“ scheint unruhig in einem Labyrinth umherzuirren. Das Ziel, das er sucht, ist Ruhe – und zwar die Ruhe des Todes: „Und ich wandre sonder Maßen / Ohne Ruh, und suche Ruh“ (Nr. 16, S. 180, Z. 11-12). Deshalb interessieren ihn auch die Wegweiser nicht, die „auf die Städte zu“ weisen (Z. 10). Er möchte nur sterben. Doch da dieses Ziel so weit entfernt und durch Wanderschaft natürlich auch nicht zu erreichen ist, bewegt sich der Protagonist extrem orientierungslos. Er irrt nur durch die Landschaft, wird mehr getrieben, als dass er selbst bestimmen würde, wohin er geht. Er ist tatsächlich zu ewiger Wanderschaft verdammt und dabei gleichzeitig eingeschlossen: im Diesseits, dem er nicht zu entfliehen vermag. „Das Wandern-Müssen entspringt keiner besonderen inneren Befindlichkeit, sondern erscheint als Menschenlos schlechthin.“424 Die innere Unruhe, von der er bestimmt wird, ist übrigens wiederum typisch für das Verhalten des Weltschmerzlers – Bost weist darauf hin, dass sie z.B. charakteristisch für 422 Vgl. ARISTOTELES: Problemata physica, S. 250. STAROBINSKI, Jean: L´encre de la mélancolie. In: La Nouvelle Revue Française, 11. Jahrgang, 2. Vierteljahresband 1963 (Nr. 123). Paris 1963, S. 416. Die Labyrinth-Metapher ist laut Wagner-Egelhaaf auch eine gern gebrauchte christliche Allegorie, da sie geeignet sei, der Perspektive des in der sündhaften Welt umherirrenden Menschen die Sichtweise des Erlösten gegenüberzustellen, der dieses „Labyrinth“ wie von einem Turm aus überblicke (in manchen Labyrinthen seien nämlich Türme zu finden; vgl. WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 212). 424 JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 468. 423 77 Werthers ganzes Leben sei425 –, weswegen er die Unruhe auch zu den „wesentlichen Motiven des ‚Weltschmerzes’“ rechnet.426 5. 3. 2. 2. 3 Einsamkeit und Menschenverachtung Dass Melancholikern traditionell ein Hang zur Einsamkeit zugeschrieben wird, zeigt sich z.B. darin, dass die mittelalterliche „acedia“ speziell als Krankheit der in Isolation von der Gesellschaft lebenden Mönche aufgefasst wird. Im 18. Jahrhundert weist Diderot in seinem oben schon zitierten Artikel zur Melancholie auf die „misanthropie“ und die „penchant décidé pour la solitude“ des Melancholikers hin.427 Dass diese eigenbrötlerische Art und Misanthropie – die übrigens auch die Ärzte der Zeit als Melancholie-Symptome erkennen428 –, auch einer der Hauptvorwürfe ist, der den Melancholikern von Seiten der Aufklärer gemacht wird, wurde bereits ausgeführt. Laut Bost ist die Isolation des Weltschmerzlers zugleich dessen freiwillige Entscheidung – da sie ihn zu etwas Besonderem mache429 – und Leidensgrund (d.h. ab und zu wünsche er sich doch Gesellschaft).430 Einsamkeit und Menschenflucht zeichnen den Wanderer in der „Winterreise“ in besonderer Weise aus. Er flieht in „Gute Nacht“ bei „Dunkelheit“ aus der Stadt (Z. 12) – vermutlich, um nicht gesehen zu werden –, und macht sich auf seinen einsamen Weg. Dabei fühlt er sich so fremd, so wenig den Menschen zugehörig, wie zu dem Zeitpunkt, als er in der Stadt ankam: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus.“ (Z. 1-2). Im gleichen Gedicht bezeichnet er den „Mondenschatten“ als einen Gefährten (Z. 13) – die Natur ersetzt ihm also menschliche Gesellschaft. Wetzel weist allerdings darauf hin, dass die Natur sich dem Wanderer verschließe: Sie befinde sich nicht im „Einklang[...]“ mit ihm, um ihn in seiner Einsamkeit zu trösten – wie es in der romantischen Dichtung der Fall sei –, sondern sei vielmehr „stumm[...]“. Hierdurch werde „das Äußerste an Einsamkeit“ vermittelt.431 „Übereinstimmung ist höchstens in der Negation der Empfindungen möglich, etwa wenn der Wanderer im gefrorenen Bach das Bild seines abgestorbenen Herzens erkennt, [...]“.432 Auf seiner Wanderung vermeidet es der Protagonist so gut er kann, Menschen zu begegnen. Lediglich in „Rast“ erzählt er, dass er „In eines Köhlers engem Haus“ 425 Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 262. Ebd., S. 221. 427 DIDEROT, Denis: Mélancolie, S. 308. 428 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 26. 429 Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 275. 430 Vgl. ebd., S. 272. Vgl. hierzu auch die Bemerkung Loquais: „Das Leid des Künstlers wird verstärkt durch seine Einsamkeit“ (LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 134). 431 WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 160. 432 Ebd., S. 160 f. 426 78 Unterschlupf gefunden habe (Z. 9-10). Auch spricht er im ersten Gedicht seine Geliebte an, wobei er mit ihr allerdings nicht direkt kommuniziert – aus dem Text wird ersichtlich, dass sie schläft (vgl. Z. 24-32). Doch ansonsten redet er während des gesamten Zyklus nur zu seinem Herzen (in „Die Post“, „Auf dem Flusse“ und „Rast“), zu seinen Tränen (in „Gefrorene Tränen“ [Nr. 3, S. 172]), zu Tieren (nämlich zur „Krähe“ [Nr. 11, S. 178] und zu den Hunden in „Im Dorfe“) und Dingen (zum Schnee in „Wasserflut“, zum Fluss in „Auf dem Flusse“, zum Friedhof und zu seinem Wanderstab in „Das Wirtshaus“ und zu den „Nebensonnen“) oder zu sich selbst (nämlich in „Rückblick“; vgl. Z. 16). Ein einziges Mal spricht er auch ein „Ihr“ an, nämlich in „Frühlingstraum“ (Z. 11), womit er vermutlich den Leser meint. Und ganz am Ende richtet er seine rätselhaften Fragen an den Leiermann (die später noch gründlicher untersucht werden sollen): Wunderlicher Alter, Soll ich mit dir gehn? Willst du meinen Liedern Deine Leier drehn? (Z. 17-20). Doch ansonsten spiegelt sich in seinem Mangel an Kommunikation auch seine soziale Isolation wider. Der Wanderer sagt im ersten Gedicht, er suche „des Wildes Tritt“ auf seinem Weg (Z. 16). Diese Wendung steht laut Schmid Noerr „für einen abgelegenen, aber noch gangbaren Pfad“; warum der Wanderer ihn wähle und nicht auf der Straße gehen wolle, bleibe verborgen.433 In „Der Wegweiser“ wird hingegen ganz explizit dargelegt, wie krampfhaft der Wanderer versucht, niemandem zu begegnen. Er sucht sich lieber „versteckte Stege“ (Z. 3), die vermutlich recht unwirtlich sind, als „andren Wandrer[n]“ über den Weg zu laufen (Z. 2). Besonders interessant ist hier, dass der Protagonist selbst nicht zu wissen scheint, warum er sich so verhält; jedenfalls ist die erste Hälfte des Gedichts in Frageform formuliert. Nur die Feststellung, dass es kein schlechtes Gewissen sein könne, das ihn zu diesem Verhalten, das er übrigens selbst als „törichtes Verlangen“ bezeichnet (Z. 7), treibe, ist keine Frage: „Habe ja doch nichts begangen, / Daß ich Menschen solle scheun, –“ (Z. 5-6). In diesem Zusammenhang muss der These Schmid Noerrs widersprochen werden, der behauptet, man könne spekulieren, ob der Protagonist eine Schuld auf sich geladen habe und deshalb die Menschen meide.434 Dies kann aufgrund der eben zitierten Feststellung des Wanderers gar nicht zur Debatte 433 434 SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 387. Vgl. ebd., S. 387 f. 79 stehen. Vielmehr stellt der Hang zur Einsamkeit und auch zur Misanthropie einen typisch melancholischen Charakterzug dar. Ein Gedicht, die Nummer 22, ist sogar mit „Einsamkeit“ überschrieben. Was hier thematisiert wird, erscheint sehr signifikant: Der Wanderer beschreibt, in was für einer schönen und fröhlichen Umgebung er sich bewegt („Ach, daß die Luft so ruhig! / Ach, daß die Welt so licht!“; Z. 9-10); doch gerade diese Idylle ist ihm unerträglich: „Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht“ (Z. 11-12). Das Betrachten der Fröhlichkeit und der schönen, friedlichen Natur um ihn herum lässt ihm seine eigene Situation noch verzweifelter erscheinen. Er zieht „Durch helles, frohes Leben / Einsam und ohne Gruß“ (Z. 7-8); folglich begegnet er also doch ab und zu Menschen – und zwar Menschen, die im Gegensatz zu ihm fröhlich sind. Doch niemand scheint Interesse an seinem Schicksal zu zeigen. All diese Tatsachen führen dazu, dass die „Winterreise“ laut Cecilia Baumann heute oft als „allegory of modern man´s loneliness“435 interpretiert wird. Die Frage wäre allerdings, ob hier wirklich nur die Einsamkeit des modernen Menschen gemeint ist. Ich behaupte, dass die in der „Winterreise“ zum Ausdruck gebrachte Einsamkeit ein bereits uraltes melancholisches Charakteristikum darstellt und deshalb auch allgemeiner, auf alle Zeiten anwendbar, verstanden werden sollte. 5. 3. 2. 2. 4 Einbildungskraft Wie in Kapitel 1 ausgeführt, ist die Fähigkeit zur Imagination ein Merkmal, das dem Melancholiker seit der Antike zugeschrieben wird. Auch Werther z.B. zeichnet sich dadurch aus. Allerdings schwindet bei letzterem diese schöpferische Kraft durch seine unglückliche Liebe.436 Der Wanderer in der „Winterreise“ besitzt diese Fähigkeit ebenfalls, wobei sie hier von Anfang an kaum als Zeichen von Genialität und schöpferischer Phantasie dargestellt wird. Vielmehr steigert sie sich an manchen Stellen sogar ins Wahnhafte. Auch ist bei ihm häufig deutlich zu spüren, wie sehr er darunter leidet, dass sich seine Vorstellung und die Realität so oft widersprechen. Zum einen zeigt sich die Einbildungskraft des Wanderers in der schon erwähnten Tatsache, dass ihn den gesamten Zyklus über Natur- oder andere äußere Erscheinungen zu Vergleichen mit sich und seiner Situation anregen. Im zweiten Gedicht ist es die Wetterfahne, die entsprechende Gedanken auslöst (vgl. Z. 9-10). Hier zeigt sich auch bereits das Wahnhafte in der Psyche des Wanderers, ja er benennt es sogar selbst: Die Wahrnehmung, von der Fahne verhöhnt zu werden, 435 436 BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 65. Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 202 f. 80 schreibt er seinem „Wahne“ zu (Z. 3). In „Wasserflut“ (Nr. 7, S. 175) stellt der Wanderer sich eine Art Kontaktaufnahme mit seiner Geliebten vor, indem er phantasiert, seine in den Schnee fallenden Tränen könnten in das „Bächlein“ (Z. 12) und somit bis in die Stadt vor das Haus seiner Liebsten gelangen. In „Auf dem Flusse“ sieht er sein Herz im Bach gespiegelt (vgl. Z. 17-18), in „Der stürmische Morgen“ am Himmel (vgl. Z. 9-10) – beide Stellen wurden bereits erwähnt. Die Krähe, die dem Wanderer in dem gleichnamigen Gedicht auf seiner Wanderschaft folgt, imaginiert dieser als gierigen Raubvogel, der auf seinen Tod wartet: „Meinst wohl, bald als Beute hier / Meinen Leib zu fassen?“ (Z. 7-8). Diese Stelle kann ebenfalls als Beispiel für die manchmal wahnhaften Vorstellungen des Wanderers gelten. Darauf, dass der Protagonist schließlich in den „Nebensonnen“ die Augen seiner Liebsten zu erblicken glaubt (vgl. Z. 7), wurde schon hingewiesen. Doch auch positive Erinnerungen gehören zu seinen Imaginationen: In „Der Lindenbaum“ etwa gedenkt der Wanderer der frohen Stunden, die er hier zugebracht hat (vgl. Z. 3-8). Dass das Gedicht aus der Erinnerungsperspektive geschildert wird, wird eigentlich erst an dessen Ende deutlich: „Nun bin ich manche Stunde / Entfernt von jenem Ort“ (Z. 25-26).437 Er erinnert sich hierbei auch an die verlockenden Worte, die er im Augenblick des Vorüberwanderns gehört zu haben glaubt. Doch diese erweisen sich durch den Konjunktiv „Als riefen sie mir zu:“ (Z. 14) „als die illusionäre Projektion seines eigenen Wunsches“438, dem er übrigens nicht nachgibt. Dafür, dass es sich dabei um eine Einbildung gehandelt haben muss, spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass das Rauschen der Blätter angesprochen wird (vgl. Z. 13), das aber im Winter nicht stattfinden kann, da die Zweige hier ja nicht belaubt sind.439 Ähnlich angenehme Erinnerungen werden in „Erstarrung“ thematisiert. Auch hier blickt der Wanderer zurück auf glückliche Zeiten (vgl. Z. 3-4). In diesem Gedicht wird besonders deutlich, wie sehr der Wanderer unter der Diskrepanz zwischen glücklicher Erinnerung und Realität leidet: Verzweifelt, „heiße[...] Tränen“ weinend (Z. 7), sucht er nach Andenken an sein Glück. Auch in „Rückblick“ erinnert sich der Protagonist an positive Erlebnisse, nämlich an seine viel versprechende Ankunft in der Stadt, die ihn dann so herbe enttäuscht und sogar vertrieben hat (vgl. Z. 5-16), wodurch er sich sehr verletzt fühlt. In „Frühlingstraum“ wechseln sich idyllisches Träumen und ernüchternde Wachzustände ab, wobei es wiederum der Einbildungskraft des Wanderers zuzuschreiben ist, dass er 437 Vgl. hierzu auch: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 136. WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 156. 439 Diese Tatsache übersieht Wittkop, wenn sie behauptet, das Rauschen der im Winter unbelaubten Zweige wirke unheimlich und könne deshalb eine Todesassoziation nahe legen (vgl. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 136). 438 81 sich, nachdem er endgültig aufgewacht und sich seiner verzweifelten Lage wieder bewusst geworden ist, noch weiter einem Wachtraum hingibt: Die Augen schließ ich wieder, Noch schlägt das Herz so warm. Wann grünt ihr Blätter am Fenster? Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm? (Z. 21-24). In „Der greise Kopf“ erliegt der Wanderer scheinbar der Illusion, über Nacht ergraut, d.h. ein Greis geworden zu sein (vgl. Z. 1-4). Dieser Text ist natürlich extrem ironisch440 – der Wanderer behauptet sich über die Täuschung zu freuen, da sie ihn dem Tode näher bringe –, doch vor allem führt sie wiederum die große Einbildungskraft des Protagonisten vor Augen, der diese Sinnestäuschung sogleich in seinem Sinne umzuwerten vermag. Im 16. Gedicht sieht der Wanderer, sozusagen vor seinem „inneren Auge“, einen Wegweiser stehen, der ihn in Richtung Tod schickt (vgl. Z. 13-16). Einen Friedhof als „Wirtshaus“ zu bezeichnen, so wie es der Wanderer im gleichnamigen Gedicht tut, setzt wiederum Phantasie, und zwar eine recht zynische Phantasie, voraus. Der Wanderer ist so lebensmüde, dass er sich den Tod als regelrechte Labung vorstellt (vgl. Z. 7-8). Zugleich könnte man die Tatsache, dass er einen realen Friedhof erblickt und darin ein Wirtshaus sieht, als Illusion verstehen. Zu dieser Gruppe von Imaginationen gehört auch das „Irrlicht“ (Nr. 18, S. 181 f.). Irrlichter sind nämlich meteorologisch nachgewiesene, wenn auch bislang ungeklärte Lichterscheinungen441; der Wanderer erblickt also offenbar wirklich ein solches Licht. Die Illusion, es wolle ihn auf einen bestimmten Weg führen (vgl. Z. 1-2), bekommt er jedoch erst mit Hilfe seiner Einbildungskraft. Die gleiche Art von Illusion wird in „Täuschung“ thematisiert: Wiederum bildet sich der Wanderer ein, ein Irrlicht wolle ihn führen, wobei er sich hier aber sogar der Tatsache bewusst ist, dass er dadurch vom richtigen Weg abkommt; zudem stellt er sich auch noch vor, es weise ihm „ein helles, warmes Haus, / Und eine liebe Seele drin –“ (Z. 8-9), obwohl er ganz genau weiß, dass er keinen Grund hat, auf so etwas auch nur zu hoffen. 440 Diese Art von scharfer Ironie stellt ein häufiger verwendetes Gestaltungsmittel im Zyklus dar (es sei hier auch noch einmal an das Zitat Mayrhofers erinnert, der der Ansicht ist, „die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit“, habe Schubert zugesagt; vgl. Anmerkung 296). 441 Man versteht darunter „kleine vom Boden aufsteigende, meist schnell wieder erlöschende, manchmal aber auch mehrere Sekunden lang stehende, mit schwacher bläulicher oder gelblich-rötlicher Flamme brennende Lichterscheinungen, die sich [...] in stillen Nächten in sumpfigen und moorigen Gegenden zeigen“ (RANKE: Art. „Irrlicht“. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns BÄCHTOLD-STÄUBLI. Bd. IV. Berlin und Leipzig 1931/1932, Sp. 779). Im Volksglauben gelten sie als unruhig umherschweifende Seelen Verstorbener (vgl. ebd., Sp. 782). Deshalb werden sie als Vorzeichen des Todes angesehen: Wer ihnen folgt, geht in die Irre und damit in den Tod (vgl. Wittkop, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 126). 82 5. 3. 2. 2. 5 Desillusionierung Wie oben erläutert wurde, ist besonders die Weltschmerz-Melancholie zu einem sehr wesentlichen Teil durch Desillusionierung gekennzeichnet. Die Desillusionierung in dieser Zeit bezieht sich einerseits auf die politische Situation in Deutschland, andererseits aber auch auf die Veränderung des Weltbildes, die in dieser Epoche durch die zunehmende Säkularisation stärker denn je begünstigt wird. Der in der Restaurationszeit sehr weit verbreitete Weltschmerz ist auch, wie ebenfalls oben ausgeführt, der weltanschauliche Hintergrund, vor dem man die „Winterreise“ verstehen muss. Dieser äußert sich im Werk natürlich zunächst in der darin transportierten Melancholie. Doch es gibt durchaus auch Ansätze, die nicht nur melancholische Resignation darin erkennen wollen, sondern im Gegenteil scharfe Kritik an der Politik. So argumentiert etwa Hans-Udo Kreuels, der die politische Komponente an der „Winterreise“ hervorhebt und in diesem Zusammenhang ihre „zuweilen schonungslos spöttische bis letztlich despressiv-resignative Ironie“442 betont. Er ist der Ansicht, dass Müller in der „Winterreise“ „mittels getarnter Anklage“ Kritik an der Restaurationspolitik seines Zeitalters übe. Kreuels bringt auch Beispiele für solche politischen Botschaften, die er in der „Winterreise“ zu entdecken glaubt: Im Gedicht „Einsamkeit“ werde „das Vakuum fehlender Kunstverantwortung in der reaktionären Metternichzeit schmerzlich apostrophiert“; in „Mut!“ propagiere Müller „den Trotz als pervertierende Gegenkraft zum konstruktiven Gemeinschaftssinn [...]“443; „Der Leiermann“ schließlich sei überhaupt ein „Sinnbild des Zeitalters der verlorenen Illusionen“.444 Schuberts Hintergrund bei der Vertonung der „Winterreise“ sei übrigens eher eine „weltanschauliche[...], vorwiegend ethische[...] Sicht“, wobei man ihr aber das „politische Ausdrucksbedürfnis“, das allerdings bei Müller deutlicher hervortrete, nicht absprechen dürfe.445 Auch Reinhold Brinkmann befasst sich in seiner kürzlich erschienen Studie „Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die ‚heil´ge Kunst’“446 mit dem politischen Aspekt der „Winterreise“. Er vertritt die Meinung, dass der Zyklus „eine der extremsten künstlerischen Formulierungen“ der „zerstörten Welterfahrung“ des Weltschmerzes sei und deshalb „eine entschieden gesellschaftskritische Dimension“ besitze.447 Dass Schubert diese Intention Müllers erkannt und auch in der Vertonung 442 KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert), S. 97. Kreuels setzt diese Ironie allerdings fälschlicherweise mit der „romantischen Ironie“ gleich. 443 Ebd., S. 101. 444 Ebd., S. 102. 445 Ebd., S. 98. 446 BRINKMANN, Reinhold: Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die „heil´ge Kunst“. Zur Landschaft von Schuberts Winterreise. In: Archiv für Musikwissenschaft. 62. Jahrgang, Heft 2, 2005. Stuttgart 2005, S. 75-97. 447 Ebd., S. 79. 83 ausgedrückt habe, versucht Brinkmann anhand des schon oben zitierten Gedichts aus Schuberts Feder, „Klage an das Volk“, zu belegen, das ein „politisches Lamento“ darstelle und in dem die Kunst als „Statthalterin für bessere, sprich: für freiheitliche Zeiten“ vorgeführt werde.448 Gernot Gad bescheinigt der „Winterreise“ ebenfalls eine „oppositionelle Tendenz“449, die sich z.B. in „Der stürmische Morgen“ zwischen den Zeilen herauslesen lasse.450 Abgesehen davon, ob solche versteckten politischen Aussagen wirklich in der „Winterreise“ zu finden sind, ist die Erfahrung der Desillusionierung, die der Wanderer machen muss, aber ganz offensichtlich im Werk erkennbar. Sie äußert sich bei ihm auf verschiedenen Ebenen. Zum einen ist es seine Geliebte, die ihn durch ihre Untreue desillusioniert hat. Sie, so heißt es im ersten Gedicht, „sprach von Liebe, / Die Mutter gar von Eh´ –“ (Z. 5-6), aber nun ist wohl eine bessere Partie aufgetaucht. Dies führt dazu, dass der Protagonist sich desillusioniert sieht, was die Liebe ganz allgemein betrifft: „Die Liebe liebt das Wandern – / Gott hat sie so gemacht – / Von einem zu dem andern – “ (Z. 21-23). Diese Aussage ist bereits auf verschiedene Arten interpretiert worden: Laut Schmid Noerr akzeptiert der Wanderer damit den Verlust der Geliebten451, Dürr liest darin den „trotzigen Vorsatz“, genauso zu handeln wie das Mädchen es getan hat.452 Es ist jedoch viel nahe liegender, hierin die nüchterne Bilanz eines enttäuschten Liebenden zu sehen: Der Wanderer glaubt nicht mehr an die treue Liebe, er bringt mit ironischem Unterton die Tatsache auf den Punkt, dass viele Menschen wechselnde Liebesbeziehungen der ewigen Treue vorziehen. Auffällig ist, dass der Wanderer hierfür Gott die Schuld zuweist, der die Liebe „so gemacht“ habe. In „Rückblick“ lässt der Held seine Desillusionierung durch die Geliebte noch einmal Revue passieren: „Wie anders hast du mich empfangen, / Du Stadt der Unbeständigkeit!“ [...] „Und ach, zwei Mädchenaugen glühten! – / Da war´s geschehn um dich, Gesell!“ (Z. 9-10 + 15-16); nun aber ist der „Gesell“ regelrecht auf der Flucht, nachdem er in Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben wurde. Doch er rappelt sich gleichsam noch einmal auf, lässt in „Letzte Hoffnung“ ein Blatt an einem Baum sein Orakel sein: „Spielt der Wind mit meinem Blatte, / Zittr´ ich, was ich zittern kann“ (Z. 7-8). Doch das Blatt fällt herab, der Orakelspruch ist für den Wanderer eindeutig: Desillusioniert muss er erkennen, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gibt. Das Dorf, in das er nachts gerät, gibt ihm wieder Anlass, sich seiner Desillusionierung bewusst zu 448 Ebd., S. 85. Genau dies sei die Botschaft des Liedes „Der Leiermann“, wenn auch ironisch gebrochen durch metrische Diskrepanzen zwischen Klavier- und Singstimme (vgl. ebd., S. 91 ff.). 449 GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 122. 450 Vgl. ebd., S. 130 ff. 451 Vgl. SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 389. 452 DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 142. 84 werden: Die Träume vom Glück, die allen „Schläfern“ (Z. 12) in dem Dorf gemein sind (Z. 3-4), hat er längst aufgegeben. Er ist „zu Ende mit allen Träumen –“ (Z. 11), insofern gibt es auch nichts mehr, was ihn mit seiner Umwelt verbinden würde.453 Die Desillusionierung, die in „Irrlicht“ durchscheint, wirkt dagegen wesentlich weniger gegenständlich. Das Irrlicht hat den Wanderer „In die tiefsten Felsengründe“454 gelockt (Z. 1), was dieser nun als Metapher für die menschliche Existenz umdeutet: Bin gewohnt das irre Gehen, ´s führt ja jeder Weg zum Ziel: Unsre Freuden, unsre Wehen, Alles eines Irrlichts Spiel! (Z. 5-8). Mit dieser Aussage spricht der Wanderer dem menschlichen Leben jedes höhere Ziel ab. Bis zu ihrem Tod – denn das ist das einzige Ziel, das er am Ende jeder Existenz sieht – werden die Menschen in seinen Augen im Leben nur „an der Nase herumgeführt“, jeder scheinbare Lebenssinn ist vorgegaukelt, eben „eines Irrlichts Spiel“. Insgesamt enthält das Gedicht schon deutliche Anklänge an den Nihilismus, der später noch deutlicher aufscheinen wird. In „Täuschung“ bezeichnet der Wanderer die Illusion, es gebe auf dieser Welt einen Menschen, dem etwas an ihm liege („eine liebe Seele“; Z. 9), als „Gewinn“ (Z. 10). Vermutlich kann er seine Desillusionierung nicht immer ertragen und muss sich somit manchmal Illusionen hingeben. Die Desillusionierung im Gedicht „Das Wirtshaus“ besteht darin, dass der Wanderer hier eigentlich beschließt, „ins kühle Wirtshaus“ einzukehren (Z. 8), also zu sterben, dann aber erkennen muss, wie weit er noch vom Tod entfernt ist (es sind „in diesem Hause die Kammern all´ besetzt“; Z. 9-19). Seine Sehnsucht nach dem Tod äußert er auch in „Die Nebensonnen“: Hier wünscht er sich den Untergang der Sonne (vgl. Z. 9-10). Durch diesen Wunsch wird laut Wittkop nicht nur Todessehnsucht zum Ausdruck gebracht, sondern sogar der Wunsch nach einer „Götterferne oder Weltennacht“. Ihrer Meinung nach ist hier bereits „der höchste Grad von Illusionslosigkeit“ erreicht, da der Protagonist die Transzendenz und damit den Lebenssinn verloren habe.455 Im „Frühlingstraum“ werden dennoch ein letztes Mal Illusionen beschworen, die sich allerdings mit Desillusionierung abwechseln: Der Protagonist träumt „von bunten 453 Auffällig ist hier wieder die Ironie, mit der die Gesellschaft charakterisiert wird. Hierfür spricht nicht nur die Wahl des Verbs „schnarchen“ – das Schubert in „schlafen“ abändern wird (vgl. SCHOCHOW, Maximilian / SCHOCHOW, Lilly [Hrsg.]: Die Winterreise. In: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter, S. 406) –, sondern auch der Tonfall, in dem der Wanderer die aus seiner Sicht völlig aussichtslosen Glückshoffnungen der Menschen beschreibt („Je nun, sie haben ihr Teil genossen“; Z. 6). 454 Der Abgrund als Motiv erscheint in vielen Weltschmerz-Dichtungen (vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 333 ff.). Oft ist es eine Idylle, die sich durch den Verlust der Liebe für den Weltschmerzler in diesen Abgrund verwandelt (vgl. ebd., S. 330 ff.). 455 WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 137. 85 Blumen“ (Z. 1), also von Naturidylle, und auch wieder von seiner verflossenen Liebe, der „schönen Maid“ (Z. 14). Dazwischen jedoch erwacht er immer wieder, wobei er sich jeweils schmerzlich seiner Realität, nämlich seiner Einsamkeit im kalten Winter, bewusst wird. Die desillusionierende Erkenntnis, dass „kein Gott auf Erden“ sei, steht am Ende des Gedichts „Mut!“ (Z. 11). Dies ist nicht zuletzt interessant im Hinblick darauf, dass noch im ersten Gedicht von einem „Gott“ gesprochen worden war (Z. 22). 5. 4. 2. 2. 6 Todessehnsucht Die Todessehnsucht bzw. Selbstmordneigung des Melancholikers wird diesem in praktisch jeder Phase des Diskurses zugeschrieben. Die moderne Psychoanalyse beschreibt z.B., wie gesagt, die „Suizidalität“ als ein wesentliches MelancholieSymptom.456 Sengles Hinweis, dass gerade in der Restaurationszeit, der Entstehungszeit der „Winterreise“, ein frappierender Anstieg der Selbstmordrate in der deutschen Bevölkerung habe verzeichnet werden müssen, wurde ebenfalls schon zitiert.457 Und in der Literatur resultiert Bosts Theorie zufolge die Todesneigung der Weltschmerzler der ersten Phase aus dem Wunsch, dem Einerlei ihres Daseins zu entfliehen458 (bei den Weltschmerzlern der zweiten Generation erwachse der Wunsch zu sterben aus der Wahrnehmung der Welt als Schmerz bzw. dem Verlangen, diesen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen459). Dass der Wanderer in der „Winterreise“ auffällig oft über den Tod reflektiert oder ihn sich sogar wünscht, wurde nun schon öfter erwähnt. Klaus Günther Just beschreibt den Weg des Wanderers als „Stationen auf einem todesnahen Wanderwege“; deshalb sei die „Winterreise“, sowohl direkt wie indirekt, „als Passion strukturiert“.460 Zum ersten Mal angedeutet wird die Todessehnsucht im „Lindenbaum“, jenem Gedicht, das vielleicht auf den ersten Blick Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der Wanderer hier mit dem Gedanken an den Selbstmord spielt, zu dem ihn angeblich der Baum verführen will (darauf, dass 456 SCHMITT, Wolfram: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie, S. 14. Vgl. SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 5. 458 Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 129. 459 Vgl. ebd., S. 285 f. 460 JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 466. Just führt hierfür zwar keine detaillierten Argumente ins Feld, doch Roswitha Schieb, die seiner Ansicht ist, versucht die Behauptung durch Textstellen zu belegen (SCHIEB, Roswitha: „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“. Möglichkeiten und Grenzen romantischen Sprechens. In: Wilhelm Müller. Eine Lebensreise, S. 57-69). Ihrer Meinung nach wird in der „Winterreise“ durch Anspielungen auf die „Ölbergszene“ (ebd., S. 64) oder das Motiv der „krähenden Hähne“ (ebd., S. 65) ein Bezug zu Christus hergestellt, wobei der Wanderer aber, der als Künstlerfigur aufzufassen sei, nicht wie Christus von seinem Leid erlöst werde. Er stelle also eine „profane[...] Ecce-Homo-Figur“ dar: „Das Pathos dieser Figur soll gerade darin bestehen, Unerlöstheit und Ziellosigkeit auf sich zu nehmen, zu durchleiden und in heroischer Weise auszuhalten“ (ebd., S. 64). 457 86 es sich hierbei um eine Projektion des Wanderers handelt, wurde oben hingewiesen). Allerdings ist er offenbar stark genug, der Verlockung zu widerstehen. Er schließt die Augen, denn „He seeks to remain unaffected by the mysterious force of the tree“.461 Dass im Gedicht „Das Irrlicht“ der Tod gemeint ist, wenn vom „Ziel“ der menschlichen Irrwege die Rede ist (Z. 6), wurde ebenfalls bereits deutlich. Hervorzuheben wäre noch, dass auch in der letzten Strophe das Sterben thematisiert wird. Jedoch klingen diese Worte weniger nach Todessehnsucht: Durch des Bergstroms trockne Rinnen Wind ich ruhig mich hinab – Jeder Strom wird´s Meer gewinnen, Jedes Leiden auch ein Grab (Z. 9-12). Bei flüchtigem Hinsehen handelt es sich hierbei um eine schlichte Feststellung, die in der ruhigen Gewissheit des Todes ausgesprochen wird. Doch genau genommen wird an dieser Stelle ein Paradoxon formuliert: Ein ausgetrockneter Fluss wird das Meer natürlich nicht erreichen; somit ist auch das Erlangen der Todesruhe noch weit entfernt. In „Die Krähe“ hört sich die Bemerkung „Nun, es wird nicht weit mehr gehn / An dem Wanderstabe.“ (Z. 9-10) ebenfalls eher sachlich an. Der Wanderer reflektiert ganz einfach über das Sterben. Er begegnet der „vorgeblich tödliche[n] Bedrohung“ durch die Krähe mit „ungeahnten Fatalismus“.462 Seine darauf folgende Aufforderung an das Tier „Krähe, laß mich endlich sehn / Treue bis zum Grabe!“ (Z. 11-12) lässt wiederum die Art von beißender, aus tiefer Verzweiflung resultierender Ironie erkennbar werden, die schon in „Der greise Kopf“ aufgetaucht war.463 In diesem letztgenannten Gedicht wird die Todessehnsucht viel deutlicher und dringlicher thematisiert: „Wie weit noch bis zur Bahre!“, klagt der Wanderer verzweifelt (Z. 8). Ebenso unmissverständlich, wenn auch metaphorisch ausgedrückt, wird die Todessehnsucht in „Der Wegweiser“ und „Das Wirtshaus“ ausgesprochen. Im ersten dieser beiden Gedichte spricht der Wanderer von einem „Weiser“ (Z. 13), der „Unverrückt vor meinem Blick“ stehe (Z. 14). Hieraus wird ersichtlich, wie ununterbrochen der Todeswunsch seine Gedanken beherrscht. Der Friedhof, auf den der Protagonist in „Das Wirtshaus“ gelangt (vgl. Z. 1-2), und zu dem ihn vielleicht der Wegweiser aus dem vorigen Gedicht geführt hat, ist natürlich besonders dazu angetan, 461 COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 41. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 119. 463 Die Krähe kann im Volksglauben den Tod des Menschen voraussehen. Fliegt eine Krähe „krächzend überm Haupt“, so gilt dies als Todessymbol (PEUCKERT: Art. „Krähe“. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns BÄCHTOLD-STÄUBLI. Band V. Berlin und Leipzig 1932/33, Sp. 362). Laut Cottrell ist die Krähe „the personification of the thoughts of meaninglessness and of death“ (COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 51). 462 87 seine Todessehnsucht weiter zu schüren; das „kühle Wirtshaus“ verlockt ihn (Z. 7-8). Interessant ist, dass dies das einzige Gedicht im ganzen Zyklus ist, in dem der Wanderer für seine Todessehnsucht den Ansatz einer Begründung liefert: „Bin matt zum Niedersinken, bin tödlich schwer verletzt.“ (Z. 11-12), erklärt er. Er ist also müde, ermattet, natürlich nicht nur von der Wanderung, sondern in Bezug auf das Leben insgesamt, doch konkreter äußert er sich nicht. Auch den Grund seiner Verletzung gibt er nicht an. Die Wahrscheinlichkeit, dass er damit seinen Liebeskummer, also die Verletzung, die das Mädchen ihm zugefügt hat, meint, ist gering. Wie schon erläutert, wird dieses Erlebnis im Verlauf des Zyklus immer seltener erwähnt; die Trauer des Wanderers über seinen Verlust verwandelt sich in Melancholie. Schmid Noerr stellt die provokative These auf, dass der Wanderer in der „Winterreise“ nicht nur selbst sterben, sondern auch „seine Geliebte, die Liebe selbst, zu Grabe tragen“ wolle. Dies zeige sich darin, dass er im ersten Gedicht den Gruß „Gute Nacht“ ans Tor schreibe (Z. 29-30): Er wolle sie so auf Dauer der Nacht überantworten. Er spricht die Schlafende an, die ihn, gleich einer Toten, nicht hört, er verschließt sacht die Türe, gleich dem Deckel eines Sarges, er setzt darüber schließlich eine Inschrift, gleich der auf einem Grabstein, die davon zeugt, daß er der Toten gedacht hat. Noch jenes Bild der „irren Hunde“ wird so im nachhinein plausibel. Denn wahrhaft irre, scheinbar zwecklos und ohne Ende, können Hunde am Grab ihres Herrn heulen.464 Dieser Ansatz kommt einer Überinterpretation gleich. Schmid Noerr liefert nämlich keinerlei Begründung dafür, warum der Wanderer sein Mädchen „zu Grabe tragen“ wolle. Der verlassene Held hegt vielmehr offenbar gar keinen Groll gegen seine Geliebte, was eigentlich erstaunlich ist, da sie ihn ja enttäuscht hat. Auch verzichtet Schmid Noerr leider darauf, den restlichen Zyklus in seine Überlegungen einzubeziehen. Wenn man dies tut, erkennt man nämlich, dass im Werk immer nur vom Wanderer und seiner Todessehnsucht die Rede ist und er seines Mädchens allenfalls in schmerzvoller Erinnerung gedenkt, wobei keine Andeutung auf einen auf sie bezogenen Todeswunsch auftaucht. Der Fokus des Zyklus liegt einzig auf dem Innenleben, der psychischen Entwicklung des Protagonisten. 5. 3. 2. 2. 7 Nihilismus Ein letztes Motiv der „Winterreise“, das hier untersucht werden soll, und das als besonders weltschmerztypisch angesehen werden kann, ist das Motiv des Nihilismus. Wie oben erklärt, hat der Nihilismus allgemein seine Ursache im immer weniger 464 SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 391. 88 christlich orientierten Weltbild des Menschen, der sich stattdessen zunehmend wissenschaftlich ausrichtet und in diesem Zuge die Existenz Gottes nicht mehr anerkennt. Melancholie bzw. Weltschmerz und Nihilismus gehören demnach untrennbar zusammen. „Angst, Verzweiflung, Langeweile, Melancholie aus der Einsicht in die Sinnlosigkeit und das ewige Einerlei der Existenz sind gleichbedeutend mit der Einsicht in eine Weltordnung ohne Gott, d.h. in die Absurdität und das Chaos der Welt“.465 Melancholie bzw. Weltschmerz zeichnen auch den Wanderer im Verlauf seiner „Winterreise“ in zunehmendem Maße aus. Damit ist folglich auch verbunden, dass das Gefühl, ein sinnloses Dasein zu führen, immer stärker in ihm wächst. Der Wanderer wird während seiner Reise zum Nihilisten. Die Desillusionierung, die in „Das Irrlicht“ zutage tritt, kann man z.B. bereits als Nihilismus lesen: Die Aussage „Unsre Freuden, unsre Wehen, / Alles eines Irrlichts Spiel!“ (Z. 7-8) bedeutet nichts anderes, als dass dem Leben jeglicher Sinn abgesprochen wird. Der Wanderer glaubt nicht daran, dass ein Gott existiert, der einen Plan für diese Welt oder gar für den einzelnen Menschen hätte; für ihn ist das ganze Leben nur Täuschung, Vortäuschen eines tatsächlichen Lebenssinns. Deshalb wünscht er sich, wie gesagt, in „Die Nebensonnen“ den Untergang der Sonne („Ging´ nur die dritt erst hinterdrein! / Im Dunkel wird mir wohler sein“; Z. 9-10), also den Weltuntergang.466 Doch dieser Wunsch wird in der ganzen „Winterreise“ nicht erfüllt. Dorschel weist deshalb darauf hin, dass in der „Winterreise“ selbst diejenigen „Instanzen“ zurückgewiesen würden, die von der Romantik eigentlich zur Kompensation „der Wunden, welche die Aufklärung geschlagen hatte“, aufgerufen worden seien (gemeint sind solche Instanzen wie der Tod oder Träume).467 Der Tod besitzt hier also nicht nur keine Erlöserfunktion – er tritt nicht einmal ein. Die Andeutung der Leugnung Gottes, die in „Das Irrlicht“ bereits angeklungen war, wird in „Mut!“ noch einmal ganz deutlich ausgesprochen: „Will kein Gott auf Erden sein, / Sind wir selber Götter!“ (Z. 11-12). Interessant ist, dass der Wanderer in der Pluralform spricht – dies könnte eine Anspielung auf die weite Verbreitung des Nihilismus zur Entstehungszeit der „Winterreise“ darstellen. Er kann und will nicht an die Existenz Gottes glauben, doch um diese Sinnlehre ertragen zu können, muss er sie verdrängen: „Wenn mein Herz im Busen spricht, / Sing ich hell und munter“ (Z. 3-4), 465 BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 148. Es soll an dieser Stelle Zencks abstraktere Interpretation der „drei Sonnen“ erwähnt werden, der darin die „auch sozialontologisch zu verstehenden Kategorien von Glaube, Liebe und Hoffnung“ sieht (ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“. In: Archiv für Musikwissenschaft. Hrsg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. 44. Jahrgang 1987. Stuttgart 1987, S. 160). 467 DORSCHEL, Andreas: Wilhelm Müllers „Die Winterreise“ und die Erlösungsversprechen der Romantik. In: The German Quarterly. From Goethe to Thomas Mann and Beyond. Hrsg. von Reinhold GRIMM. Bd. 66, Nr. 4, Herbst 1993. Cherry Hill, New York, USA 1993, S. 470. 466 89 „Klagen ist für Toren“ (Z. 8). Cottrell betont, wie modern diese in „Mut!“ behandelten Gedanken sind.468 Inwiefern diese Entwicklung des Protagonisten hin zu einem kompletten Verlust von Sinn, Hoffnung und Transzendenz, der sich im Laufe der „Winterreise“ immer stärker abzeichnet, im letzten Gedicht, „Der Leiermann“, kulminiert oder vielleicht wieder eine Wendung erfährt, wird weiter unten noch untersucht. Günter Hartung469 sieht übrigens im Nihilismus und Atheismus der „Winterreise“ auch eine Ausprägung des Weltschmerzes470; er behauptet jedoch wie Emil Staiger (s.o.), Wilhelm Müller habe die „Winterreise“ nicht aus dem persönlichen Erleben dieses Lebensgefühls heraus geschaffen, sondern nur dessen „zeittypische Bedeutung“ wahrgenommen und ihn künstlerisch verarbeitet471 (die im Kapitel über Wilhelm Müller angeführten Argumente dürften dies jedoch widerlegen). Müller sei in dieser Hinsicht aber stark von den nihilistischen und atheistischen Tendenzen im Werk Lord Byrons beeinflusst worden.472 Insgesamt lässt sich sagen, dass die einzelnen Gedichte der „Winterreise“ durch verschiedene, den Wanderer charakterisierende und teilweise untereinander zusammenhängende Motive verknüpft sind, die sich klar auf den Melancholie-Diskurs beziehen. Durch dieses Mittel wird Kohärenz zwischen den Texten hergestellt. Die Kohärenz als ein wesentliches zyklisches Merkmal ist somit auf motivischer Ebene gegeben. 468 Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 63. Es soll hier auch auf die etwas kühne These Schiebs verwiesen warden, die den Wanderer, den Leiermann und die Krähe – letztere sieht sie einander durch das ihnen gemeinsame Adjektiv „wunderlich“ zugeordnet – als „weltliche[...] Trinität“ bezeichnet, die quasi anstelle des als nicht existent erkannten Gottes „unerkannt auf der Erde vagabundiert“ (SCHIEB, Roswitha: „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 69). Leider werden für diese Behauptung, abgesehen von dem Hinweis auf das gleiche Adjektiv „wunderlich“, keine Begründungen geliefert. 469 HARTUNG, Günter: Wilhelm Müller und das deutsche Volkslied. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. 23. Jahrgang, Heft 5, 1977. Berlin 1977, S. 46-85. 470 Vgl. ebd., S. 78. 471 Ebd., S. 74. 472 Vgl. ebd., S. 78. Vgl. auch GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 123 ff. Gad verweist auf ein mit „Good Night“ betiteltes Gedicht Byrons, auf das Müller sich mit seinem Gedicht „Gute Nacht“ bezogen habe (vgl. ebd., 129 f.). Vor allem jedoch habe die „atheistische, amoralische Tendenz mancher Stücke“ Byrons Müller geprägt (ebd., S. 127). Gad bemerkt außerdem, dass auch Gryphius Müllers Werke entscheidend beeinflusst habe. So finde sich z.B. die Wendung „Gute Nacht“ in vielen von Gryphius´ Werken (vgl. ebd., S. 125), was sich jeweils als „der letzte Gruß des Sterbenden oder Weltflüchtigen“ darstelle (ebd., S. 126); Müllers Gedicht „Gute Nacht“ weise mehrere Anklänge auch an andere Gryphius-Gedichte auf. Bei Gryphius wie auch in der „Winterreise“ würden zudem „Welt und Leben von der Nachtseite“ betrachtet. Der „religiöse Skeptizismus“ Müllers lasse sich aber dennoch eher auf Byron zurückführen (ebd., S. 127). 90 5. 3. 3 Mittelpunktsbezogenheit: Thematisches Zentrum Wanderschaft Wie oben ausgeführt, besteht ein wichtiges Merkmal des Kreises darin, dass er einen Mittelpunkt besitzt, zu dem alle auf der Kreislinie liegenden Punkte den gleichen Abstand besitzen, sich also auf ihn beziehen. Im Falle des Gedichtzyklus würde dies dem Vorhandensein eines motivisch-thematischen Zentrums entsprechen, das in allen Gedichten vorherrscht und diese so miteinander verbindet. Man wird schwerlich bezweifeln können, dass die „Winterreise“ ein solches Zentrum besitzt: Das Motiv der Wanderschaft erfüllt diese Funktion, da es in beinahe jedem Gedicht thematisiert wird.473 Nun stellt das Wandern einerseits ein typisch romantisches und deshalb in dieser Epoche oft verwendetes Motiv dar: Roland Lambrecht führt aus, dass man den Wanderer, und zwar speziell den Wanderer, der ziellos auf der Suche nach Glück und Erfüllung umherirrt und doch nichts von beidem findet, als „Zentralgestalt romantischer Kunstproduktion“ bezeichnen könne.474 Auch laut Hans Joachim Kreutzer entspricht das Wander-Thema einem „Epochensignum“ der Romantik.475 Doch das Wandermotiv ist in der „Winterreise“ sogar noch mehr als „nur“ ein romantisches Motiv. Man kann nämlich auch auf dieser Ebene wieder eine Verbindung zur Melancholie-Thematik herstellen, ist doch das Reisen bzw. Wandern, wie oben erläutert, ein traditionelles Melancholie-Symptom, und zwar schon seit der Antike. Ein Melancholie-Heilmittel, als das es ja zu manchen Zeiten auch gilt, ist das Reisen hier hingegen kaum. Der Wanderer in der „Winterreise“ bricht nicht auf, um Linderung seines Schmerzes oder Zerstreuung im Reisen zu finden. Im Gegenteil: Er muss aufbrechen („Ich kann zu meiner Reisen / Nicht wählen mit der Zeit“; Nr. 1, Z. 9-10), man hat ihn ja aus dem Haus der Geliebten hinausgetrieben. Und je länger er dann unterwegs ist, desto mehr verschlimmert sich seine Melancholie, da er nirgends ankommt, sondern immer fremd bleibt (dies klingt sogar bereits in den ersten beiden Zeilen des Werks an: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh´ ich wieder aus“; Z. 12). Das Wandermotiv wird aber in der „Winterreise“ nicht nur im Sinne eines Melancholie-Symptoms durchgeführt, sondern es wird sogar regelrecht pervertiert. Der Protagonist bricht nämlich nicht nur in den Winter auf, sondern auch noch in die Nacht. Er wird damit, so Bosse und Neumeyer, „gleich doppelt in die Zeit der Melancholie 473 Vgl. hierzu z.B. auch: WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 62. Wittkop bezeichnet das Motiv der Wanderschaft in Verbindung mit dem Motiv des Winters als das „zentrale Thema“ des Zyklus. 474 LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 96. 475 KREUTZER, Hans Joachim: Produktive Symbiosen, S. 160. 91 entlassen“.476 Dies widerspricht natürlich völlig der Intention der populären Wanderlieder, die in dieser Zeit auch entstehen, und die eine positive Grundstimmung des Aufbruchs besitzen. Wilhelm Müllers Zyklus bzw. speziell das erste Gedicht „Gute Nacht“ stellt somit den „Antitypus aller bisherigen Aufbruchslieder“ dar.477 5. 3. 4 Geschlossenheit Die Frage, ob die „Winterreise“ Geschlossenheit besitzt, d.h. ob ihr Anfang und ihr Ende miteinander verknüpft sind oder sogar ineinander fallen, ist auf der Textebene ziemlich eindeutig zu beantworten, eröffnet aber zugleich verschiedene Möglichkeiten zu abstrakteren Deutungen. Ich behaupte, dass Anfang und Ende der „Winterreise“ insofern miteinander verknüpft sind, als sich an das Ende immer wieder der Anfang anschließen, sie also immer wieder von vorne beginnen könnte. Das bedeutet, dass man das Werk gemäß der obigen Definition nicht nur als Kreis, sondern eben auch als Kreislauf auffassen kann. Grundlage für diese Behauptung sind die Fragen, die der Wanderer im letzten Gedicht an den Leiermann richtet: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ (Z. 17-20). Man könnte hinter dieser Frage nämlich den Entschluss des Wanderers vermuten, mit dem Singen seiner Lieder nun wieder von vorne zu beginnen, wenn auch diesmal sozusagen mit Begleitung durch den Leiermann. Auch Bosse und Neumeyer sind dieser Auffassung. Sie meinen, die „Winterreise“ sei insofern zyklisch, als es im ganzen Werk darum gehe, einen nie endenden Schmerz, ein Gefühl des Mangels, in unterschiedlichen Situationen immer wieder auszusprechen.478 Aus diesem Grund bezeichnen sie den Text des Werkes auch als „anfangslose, also endlose Leidrede der Melancholie“479. Bosse und Neumeyer weisen übrigens an dieser Stelle auch auf die oben skizzierten Beobachtungen Sigmund Freuds hin, der ja dem Melancholiker eine ausgeprägte Mitteilsamkeit attestiert. Genau dieses Bedürfnis, sich ständig mitteilen zu 476 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 124. Es ist bemerkenswert, wie schon im Entwurf der Kulisse für die „Winterreise“ auf den Melancholie-Diskurs Bezug genommen wird, nämlich einerseits durch die dem Melancholiker traditionell zugeordnete Jahreszeit des Winters, sowie andererseits durch die mit der Melancholie in Verbindung gebrachte Farbe Schwarz, die der Dunkelheit der Nacht entspricht. 477 Ebd., S. 124. 478 Vgl. ebd., S. 157. Vgl. auch: SMEED, J.W.: ‚Strange old man’. Thoughts on the closing lines of Winterreise. In: German Life & Letters. A quarterly Review. Hrsg. von G. P. G. BUTLER u.a. Bd. 45, 1992. Oxford u. Cambridge 1992, S. 109-113. Hier heißt es: „Indeed, the point made in ‚Der Leiermann’ is that he must endlessly repeat and relive his suffering in song“ (ebd., S. 109). 479 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 131. 92 wollen, werde auch in der „Winterreise“ realisiert: Der Wanderer wolle seine Verzweiflung ständig wiederholen.480 Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass der Melancholiker in der Tradition doch eher als einsamer und deshalb verschwiegener Menschentyp gelte. Wagner-Egelhaaf etwa argumentiert in diesem Sinn.481 Allerdings ist zu beachten, dass dieses Charakteristikum der Verschwiegenheit nicht in allen Phasen der Geschichte der Melancholie auftaucht; in der Empfindsamkeit etwa wird die Melancholie zu einem der beliebtesten Motive der Literatur und somit, wie bereits ausgeführt, zu etwas „Besprochenem“. Die Mitteilsamkeit des melancholischen Subjekts kommt hier also sehr deutlich zum Tragen. Was in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden muss, ist die Tatsache, dass der Wanderer in der „Winterreise“ ja keine Dialoge mit anderen Menschen führt, sondern entweder mit sich selbst, mit Tieren oder mit der Natur spricht (s.o.). Man könnte also sagen, dass er mitteilsam und verschwiegen zugleich ist: Er möchte seine Klagen fortwährend zum Ausdruck bringen, aber er hat dabei nie ein menschliches Gegenüber. Dem endlosen Klagen des Wanderers entspricht nun auch das endlose Drehen der Leier durch den Leiermann. Bosse und Neumeyer stellen die These auf, dass Wanderer und Leiermann einerseits identisch seien: Der Leiermann sei „die fixierte Figur“ des Elends des Wanderers.482 Andererseits würden die Fragen, die der Wanderer an den Leiermann richte, aus seiner Erkenntnis erwachsen, dass ihm die Töne fehlen (so wie dem Leiermann die Worte fehlen).483 Durch den angedeuteten Zusammenschluss der beiden würden sie einander vervollständigen; „der fahrende Sänger“ werde „re-komponiert“. Und so stelle das Schlussgedicht „nichts Geringeres in Aussicht, als daß die Lieder neu anheben und die während der Winterreise gesungenen Lieder nun als ‚Winterreise’ gesungen werden. Wenn wir demnach überhaupt von einer Zyklik bei Müller sprechen können, dann handelt es sich um einen Liederzyklus, der wie die endlose Rede der melancholischen Poesie verlangt, am Ende abermals anzufangen“.484 Was man hierbei 480 Vgl. ebd. Vgl. WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 206. 482 BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 158. Die Affinität zwischen Wanderer und Leiermann hebt auch Smeed hervor, indem er darauf hinweist, dass beide im Zyklus als „unreasonable eccentrics“ dargestellt würden: Ersterer habe z.B. „foolish dreams“ (in „Frühlingstraum“) oder isoliere sich selbst, was völlig irrational sei (in „Der Wegweiser“), der Leiermann drehe seine Leier ohne jede Aussicht auf Erfolg oder Anerkennung (SMEED, J.W.: ‚Strange old man’, S. 111). Deswegen werde letzterer auch als „wunderlicher Alter“ angesprochen (vgl. ebd., S. 112). 483 Vgl. BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 157. 484 Ebd., S. 158. Wie oben schon angesprochen, behaupten Bosse und Neumeyer, Müller habe mit der „Winterreise“ „ein Konkurrenzunternehmen zu Goethes Winterwanderschaften“ (ebd., S. 140) – gemeint ist die „Harzreise im Winter“, wobei auch noch weitere Bezüge zu anderen Werken Goethes angedeutet werden – starten wollen: Bei Goethe gehe es auch um einen melancholischen Wanderer, wodurch zwischen beiden Werken „ein enger thematischer Bezug“ bestehe (ebd., S. 142). So seien z.B. beide 481 93 allerdings beachten muss, ist die Tatsache, dass der Wanderer im Lauf des Zyklus ja eine Entwicklung durchgemacht hat: Wenn er seine Lieder nun von vorne beginnt, dann tut er dies also in einem veränderten Bewusstseinszustand. Die Idee Joachim Müllers, dass das Thema eines Zyklus eine Spirale durchschreite und das „thematische Apriori“ so „am Ende [...] auf einer höheren Stufe zu sich selbst zurück“ komme485, scheint in der „Winterreise“ also durchaus zutreffend zu sein. Ähnlich sieht dies Ludwig Stoffels, für den die „Winterreise“ aus drei Teilen besteht, an deren Beginn jeweils ein „Aufbruchimpuls“ nach vorangegangenem „Rastmotiv“ steht.486 Der „Leiermann“, der „wichtige thematische Stränge“ verknüpfe487, sei als letzter Aufbruch zu verstehen, durch den sich der Kreis schließe.488 Das Schlussgedicht schlage somit den Bogen zum Beginn. „Die Hauptachse der Wanderung [...] durchläuft einen dreifach sich zusammenziehenden Spiralgang489, dessen erstes und letztes Gedicht [...] einen rahmenbildenden Kreis schließen.“ Auch nach Stoffels Meinung werden am Schluss „Winterreise und Lieder wesensidentisch“.490 Was bei Bosse und Neumeyer auch anklingt, ist die Idee, den „Leiermann“ als poetologisches Gedicht zu verstehen, indem es auf das Künstlertum des Wanderers bzw. des Leiermanns bezogen wird. In Anlehnung an Loquais Erkenntnisse (vgl. das Kapitel zur Melancholie in der romantischen Literatur) könnte man diesen Gedanken noch weiter ausführen. Man könnte Wanderer und Leiermann ganz konkret als romantische, melancholische und deshalb isolierte bzw. sich selbst isolierende Künstler verstehen: Sie werden von der Gesellschaft nicht verstanden, ja man will sie noch nicht einmal hören, aber dennoch lassen sie nicht von ihrer Kunst ab. Aus diesem Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit des Künstlers erklärt Loquai auch dessen Neigung zur Heimatlosigkeit bzw. zum Wandern: Er wolle durch die Welt reisen, um dem ständigen Gefühl des Nicht-gebraucht-Werdens zu entkommen.491 Wandererfiguren von Schmerzen und Menschenhass – also wesentlichen Melancholie-Symptomen – bestimmt. Während jedoch Goethe seine Winterreise als Heilmittel gegen Melancholie betrachte, liefere Müller den Gegenentwurf: Bei ihm verursache diese Reise, wie gesagt, die „endlose Leidrede der Melancholie“ (ebd., S. 131). Dies sei zugleich einer der wesentlichen Unterschiede zu Goethe: Bei letzterem werde der Melancholiker aus der „Geschichte der dichterischen Rede“, welche die „Harzreise“ erzähle (ebd., S. 156), ausgeschlossen. Vor allem jedoch beinhalte Goethes Werk, anders als Müllers Zyklus, eine Rückkehr an ein Ziel (vgl. ebd., S. 148). 485 MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik S. 8 486 STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 117. 487 Ebd., S. 118. 488 Vgl. ebd., S. 120. 489 Hier bezieht sich Stoffels auf Joachim Müller. 490 STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 119. 491 Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 116 ff. Von einer Utopie, wie sie laut Loquai in vielen romantischen Künstlergeschichten aufscheint, ist hier allerdings nicht mehr viel zu spüren. 94 Dorschel geht hier noch einen Schritt weiter: Er sieht im letzten Gedicht auch das Schicksal des zwar selbstbestimmten, aber von der Gesellschaft nicht gebrauchten und deshalb ausgeschlossenen Künstlers vorgeführt. Allerdings kommt in seinen Augen noch im Gedicht „Mut!“, nämlich durch die Zeilen „Will kein Gott auf Erden sein, / Sind wir selber Götter“ (S. 11-12) das Selbstverständnis des romantischen Künstlers zum Ausdruck, der sich als göttliche Gestalt betrachte.492 Da diese Sichtweise im letzten Gedicht negiert werde, sieht Dorschel darin „eine Destruktion der romantischen Kunstreligion“.493 Die Dichtung als das Medium, in dem Müller sich ja auch selbst ausspreche, werde hier also einerseits hinterfragt, andererseits aber als letzte Möglichkeit stehen gelassen, „den unversöhnten Zustand der Welt“ überhaupt noch ausdrücken zu können. Die Dichtung wird „zum Gegenstand einer wahrhaft verzweifelten Hoffnung“.494 Ähnlicher Meinung ist in dieser Frage Roswitha Schieb, die im „Leiermann“ auch die „Grenzen und Möglichkeiten lyrischen Sprechens“ vorgeführt sieht495, die aber in Wilhelm Müller einen Dichter erkennt, der den romantischen Ausdruck noch immer hüte und „in heroischer Weise zu bearbeiten“ versuche, obwohl er seine „Kraftlosigkeit“ erkannt habe und darum trauere.496 Nicht zuzustimmen ist dem Ansatz im Schubert Handbuch, in dem am Ende der „Winterreise“ einfach ein „Nichts“, ein „Stillstand“ oder eine „Leere“ angenommen wird497 (wobei hier ein musikalisches Argument, nämlich der Quintklang am Ende von „Der Leiermann“, mit einbezogen wird498). Es wird hier sogar die Frage offen gelassen, ob das Ende der „Winterreise“ vielleicht positiv zu interpretieren sei.499 Dies wäre aber höchstens dann denkbar, wenn man die Verbindung mit dem Leiermann, die sowohl diesen als auch den Wanderer um das jeweils fehlende Ausdrucksmedium – die Worte bzw. die Töne – ergänzt, als Chance im Sinne einer gegenseitigen Vervollkommnung verstehen würde. Doch ob dies angesichts der grotesken Stimmung des letzten Gedichts eine akzeptable Deutung ist, ist fraglich. Noch einen anderen Ansatz zum Verständnis des Schlusses der „Winterreise“, der aber ebenso wenig zufrieden stellend ist, bringt Walther Dürr. Er bezeichnet hier nämlich den Leiermann als „Todesboten“, der den Wanderer zwar nicht erlöse, seinem Weg 492 DORSCHEL, Andreas: Wilhelm Müllers „Die Winterreise“ und die Erlösungsversprechen der Romantik, S. 471 f. 493 Ebd., S. 473. 494 Ebd., S. 473. 495 SCHIEB, Roswitha: „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 68. 496 Ebd., S. 69. 497 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 240. 498 Vgl. ebd., S. 256. 499 Vgl. ebd. Da auch diese Überlegung durch den erwähnten Quintklang begründet wird, soll hierauf im Zusammenhang mit der Betrachtung der Komposition noch einmal zurückgekommen werden. 95 aber durch den diesseitigen Tod ein deutliches Ende setze.500 Diese Ansicht steht in ziemlich deutlichem Gegensatz zu der Meinung Bosses und Neumeyers, die ein Ankommen des Protagonisten, ob im diesseitigen Tod oder in einem Jenseits, für ausgeschlossen halten. Vom Tod des Wanderers wird ja im Text auch keineswegs explizit gesprochen. Der zyklischen Anlage der „Winterreise“ entspricht diese Annahme Bosses und Neumeyers auch eher als die Überzeugung, dass der Wanderer am Schluss an ein wie auch immer geartetes Ziel gelange. Die Deutung des Leiermanns als Todessymbol wäre allenfalls dann denkbar, wenn man die Deutung auf eine noch abstraktere Ebene bringen würde. Man könnte z.B. den Wanderer als „pars pro toto“ für die gesamte Menschheit („als Erdensohn in seinem abgründigen Leiden an der Welt schlechthin“501) verstehen (hierfür spräche auch wiederum die Pluralform in „Mut!“: „wir“; Z. 12), die ein sinnloses, auf kein Ziel hingerichtetes Dasein führt und hierbei ständig von Schmerz, Leid und Melancholie begleitet wird. Den Tod könnte man dann ebenfalls als ständigen Begleiter der Menschheit verstehen, der nicht in ein Jenseits der christlichen Hoffnung führt, sondern ins Nichts. Dies entspräche dann genau der nihilistischen Haltung, die auch speziell in den Gedichten „Die Nebensonnen“ und „Mut!“ transportiert wird. 5. 4 Die zyklischen Merkmale der Komposition Da gezeigt werden konnte, dass der Text der „Winterreise“ hinsichtlich mehrerer Merkmale zyklisch strukturiert ist, stellt sich nun natürlich die Frage, inwieweit eine solche zyklische Anlage auch auf musikalischer Ebene nachgewiesen werden kann. Es wird von der These ausgegangen, dass Schubert seine Vertonung des Werks ebenso streng zyklisch konzipiert wie der Dichter es mit seinen Texten getan hatte. Hierfür wird die Komposition nun im folgenden auf die gleichen Kriterien hin überprüft wie die Dichtung. Natürlich muss beachtet werden, dass der Komponist anfangs nur die ersten 12 Lieder des Zyklus vertont hatte und diese dann erst später um die Stücke 13-24 erweiterte. Stoffels behauptet deshalb, dass der erste Teil in sich fester gefügt sei, während der zweite Teil nur eine Fortsetzung desselben darstelle, der tonale, motivische und andere Anklänge an die Lieder 1-12 enthalte; der Gesamtzyklus aller 24 Lieder sei insgesamt aber lockerer konzipiert als der erste Teil.502 Hierbei ignoriert Stoffels jedoch die 500 DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 150. Auch Dürr lässt übrigens offen, ob man das Ende der „Winterreise“ evtl. positiv interpretieren könnte (vgl. ebd., S. 150). 501 JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 466. 502 Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 185. 96 Transposition des Liedes „Einsamkeit“ (Nr. 12, S. 155 ff.) von d-Moll nach h-Moll, die von Schuberts eigener Hand stammt und mit ziemlicher Sicherheit von dem Bestreben motiviert war, den ersten und zweiten Teil stärker zu verbinden, was wiederum für den von mir behaupteten strengen zyklischen Zusammenhalt des gesamten Liederzyklus spricht (darauf wird aber weiter unten noch genauer eingegangen).503 5. 4. 1 Linearität Auch bei der Untersuchung des Liederzyklus auf das Kriterium der Linearität hin könnte man, wie oben schon angedeutet, zunächst in Zweifel geraten, ob dieses angesichts der unterschiedlichen Reihenfolge der Gedichte bzw. Lieder überhaupt erfüllt sein kann. Und tatsächlich haben wir es im Falle der Komposition zwar auch mit einer linearen Anlage zu tun – denn auch hier wird eine Entwicklung des Protagonisten erkennbar –, aber es kann wohl nicht bestritten werden, dass Franz Schubert offenbar Modifikationen gegenüber seiner dichterischen Vorlage vornimmt. Die Behauptung Dürrs, Schubert habe die Struktur der Dichtung verändert und somit das Werk „umgeschaffen“, wurde oben bereits angesprochen und soll nun noch einmal ausführlicher untersucht werden. Dürr weist darauf hin, dass Schubert sich wohl an Müllers Ordnung zunächst einfach deshalb nicht gehalten habe, weil er die kompositorische Einheit seiner ersten 12 Lieder nicht habe zerstören wollen.504 Doch hierbei sei es ihm offenbar nicht nur um musikalische (z.B. tonartliche), sondern auch um inhaltliche Verbindungen zwischen den Liedern gegangen: Die Lieder seien „derart in sich strukturiert, daß jede Einfügung das Konzept verunklaren“ müsse. Der Weg des Wanderers führe „von außen nach innen, von der realen Welt in eine ideale“. Dabei scheine am Ende des ersten Teils noch eine romantische Utopie „rosige[r] Unendlichkeit“ auf505: Das Lied „Einsamkeit“ lasse die Möglichkeit offen, doch noch einen „Weg in das Jenseits und in das Reich der Utopie“ zu finden.506 Am Ende des zweiten Teils, der zuerst mit dem ersten parallel laufe, indem er ihn durch die Wiederaufnahme einzelner Aspekte gleichsam kommentiere, mit den letzten fünf Liedern dann aber über ihn hinaus führe, sei davon 503 Der Grund, weshalb ich mich bei diesem Kapitel v.a. auf die Studien Elmar Buddes (BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen) und Arnold Feils (FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise) berufe und Stoffels ausführliches Kapitel zur zyklischen Anlage von Schuberts „Winterreise“ (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 178-201) nur gelegentlich zitiere, liegt schlicht darin, dass Letzterer meiner Meinung nach übertreibt, indem er versucht, jedes noch so kleine Detail in ein starres Schema zu pressen (die unzähligen Grafiken und Tabellen, die seine Arbeit durchziehen, sprechen hier wohl für sich). Die beiden anderen, wesentlich lockerer gehaltenen Abhandlungen scheinen der Wahrheit deshalb um einiges näher zu kommen. 504 Vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 269. 505 Ebd., S. 270. 506 Ebd., S. 276. 97 jedoch nichts mehr zu spüren: „der Weg nach innen führt ans Ende“.507 Im Lied „Der Leiermann“ (Nr. 24, S. 189 ff.) sei der Wanderer in der Einsamkeit des irdischen Todes angekommen, jegliche Hoffnung auf ein besseres Jenseits werde negiert.508 Interessant ist Dürrs Bemerkung, der Weg des Wanderers sei – eigentlich wieder ganz im Sinne Joachim Müllers – wie eine „Spirale“ beschaffen: Man blicke im zweiten Teil des Zyklus „aus gleichsam erhöhtem Stand zurück“, da der Wanderer im ersten Teil die Einsamkeit erfahren habe.509 Dürrs Ausführungen mögen durchaus zutreffend sein. Die Tatsache, dass Müllers Gedichten keine detailgenau nachvollziehbare Handlung zugrunde liegt, macht kleinere Veränderungen in Bezug auf die Darstellung der Entwicklung des Protagonisten durchaus möglich. Doch es bleibt die Frage, worin die fundamentalen Umdeutungen der Dichtung, die Dürr behauptet, bestehen sollen. Die Entwicklung des Wanderers von einem unglücklich Liebenden bis hin zu einem Menschen, der jeglichen Sinn und jedes Transzendenzgefühl verloren hat, wurde bereits auf der Textebene sichtbar. Schubert mag die Struktur leicht abgeändert haben (der Hinweis auf die neue Perspektive im zweiten Teil des Liederzyklus ist zum Beispiel eine kluge Beobachtung Dürrs). Aber ganz grundsätzlich wird in beiden Fällen immer noch die gleiche Entwicklung beschrieben. Den Wert der Gedichte oder die Leistung Müllers abzuqualifizieren, wie Dürr es tut, indem er behauptet, Schubert habe mit seinem Liederzyklus etwas Neues geschaffen, beschreibe den Weg des Wanderers „deutlicher“510, und habe sich dabei überhaupt nicht um die Intention des Dichters gekümmert511, erscheint deshalb unangebracht.512 Es ist in dieser Frage also eher Fischer-Dieskau zuzustimmen, der der Überzeugung ist, Schubert habe „jeden selbstherrlichen Eingriff in die Gedichtaussagen“ unterlassen.513 507 Ebd., S. 270. Vgl. ebd., S. 277. 509 Ders.: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 147. 510 Ders.: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 277. 511 Vgl. ebd., S. 270. 512 Budde ist in dieser Hinsicht Dürrs Meinung und verkennt auch wie dieser den Wert der Texte, wenn er etwa ausführt, Schubert habe die „offene und in jeder Hinsicht ziellose poetische Disposition des Müllerschen Gedichtzyklus [...] auf geradezu radikale, die poetische Vorlage weit hinter sich lassende Weise in Musik verwandelt“ (BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 67 f.). In eine ähnliche Richtung geht der Aufsatz Hans Brandenburgs von 1958 mit dem merkwürdigen Untertitel „Eine Ehrenrettung für Wilhelm Müller“ (BRANDENBURG, Hans: Die „Winterreise“ als Dichtung. Eine Ehrenrettung für Wilhelm Müller. In: Aurora/Eichendorff Almanach. Hrsg. von Karl SCHODROK. Würzburg 1958, S. 57-62), der dann jedoch keineswegs als „Ehrenrettung“ ausfällt, sondern im Gegenteil den Wert der Dichtung extrem relativiert, indem z.B. behauptet wird, die „Winterreise“ sei „erst durch Schubert zum ewigen Immortellenkranz der Liedkunst geworden“ (ebd., S. 58), und ihr Text enthalte „auch Konventionelles und Triviales“ (ebd., S. 60). 513 FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 330. 508 98 Noch radikaler erscheinen hier sogar die Ausführungen Günther Baums, der in zwei Aufsätzen von 1950 und 1967514 die Meinung vertritt, dass Müllers Reihenfolge der Gedichte „dem Ganzen erst den Charakter eines echten Zyklus mit einer ungebrochen durchlaufenden Entwicklung“ des Wanderers hin zu einem völlig vereinsamten und lebensmüden Menschen gebe (Baum erkennt hierin das „Symptom drohender Schizophrenie“, was als Deutung der seelischen Verfassung des Wanderers wohl unzureichend ist). Schuberts Anordnung der Lieder wirke im Gegensatz dazu wahllos – es scheine bei ihm nur um das „Grundthema einer enttäuschten Liebe“ zu gehen.515 Dieser Sichtweise kann auch nicht uneingeschränkt zugestimmt werden: Die von Baum beschriebene Entwicklung des Wanderers kann vielmehr, leicht modifiziert, auch bei Schubert nachvollzogen werden. Die Einheit des Ganzen wird durch seine Anordnung nicht zerstört.516 Auch wertet Baum leider Müllers Dichtung wiederum ab, indem er die Frage offen lässt, ob dem Autor die tiefe Tragik seiner Texte überhaupt selbst bewusst gewesen sei.517 Dies ist wohl durchaus zu bejahen. Gegen seine Überlegungen, dass Müllers Reihenfolge die eigentlich maßgebliche für den Zyklus sei, wendet Baum zwar selbst ein, dass Schubert zwischen „Der Lindenbaum“ (Nr. 5, S. 128 ff.) und „Wasserflut“ (Nr. 6, S. 134 f.) eine musikalische Verbindung geschaffen habe, die durch den Einschub des Liedes „Die Post“ (Nr. 13, S. 158 ff.), die ja bei Müller zwischen den beiden erstgenannten Gedichten steht, zerstört würde.518 Doch er vertritt in seinem Aufsatz von 1967 dennoch die Ansicht, dass nichts dagegen spreche, Schuberts Lieder – abgesehen von der Platzierung der „Nebensonnen“ (Nr. 23, S. 187 f.) – einfach in Müllers Reihenfolge aufzuführen.519 Baums Ausführungen verdienen insofern Lob, als er dem Gedichtzyklus seinen gebührenden künstlerischen Eigenwert zuerkennt. Allerdings kommt er hierdurch leider zu unzutreffenden Schlüssen in Bezug auf den Liederzyklus, indem er erstens die auch hier deutlich werdende Entwicklung übersieht und zweitens noch weitere musikalische Verbindungen zwischen den Liedern unterschlägt, die durch nachträgliche Umstellungen verunklart werden würden. Auf diese wird weiter unten noch eingegangen. 514 BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“. In: Zeitschrift für Musik. 111. Jahrgang, Heft 12, 1950. Regensburg 1950, S. 643 f. / Ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen. In: Neue Zeitschrift für Musik. Hrsg. von Ernst THOMAS und Otto TOMEK. 128. Jahrgang, Heft 1, 1967. Mainz 1967, S. 78-80. Im zweiten dieser beiden Aufsätze bringt Baum keine wesentlich neuen Gedanken gegenüber seiner ersten Arbeit, abgesehen von verschiedenen wenig fruchtbaren Spekulationen darüber, ob Schubert die Reihenfolge der Lieder absichtlich, aus Nachlässigkeit oder aus rein praktischen Gründen nicht an Müllers Vorgabe angepasst habe (vgl. Ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen, S. 78). 515 Ders.: Das Problem der „Winterreise“, S. 643. 516 Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 35. 517 Vgl. BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“, S. 643. 518 Vgl. ebd., S. 644. 519 Vgl. ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen, S. 80. 99 Festzuhalten bleibt, dass auf der Ebene der Komposition ebenso Linearität gegeben ist wie im Falle der Dichtung, da hier wie dort die Entwicklung des Wanderers im Mittelpunkt steht. 5. 4. 2 Kohärenz 5. 4. 2. 1 Die formale Anlage der Lieder Wendet man sich der formalen Anlage der Lieder zu, so kann man auf dieser Ebene einen deutlichen Zusammenhang derselben feststellen. Hier dominiert nämlich die relativ einfache Form des variierten Strophenliedes. Auf den Ebenen der Harmonik, Rhythmik und Melodik hingegen sind die Lieder oft recht komplex. Es besteht also eine „Diskrepanz zwischen einfacher äußerer Form und sehr komplexer Faktur auf anderen Ebenen“, wodurch „ein Gefühl von Unstimmigkeit“ entsteht520. Diese Unstimmigkeit unterstreicht, auch wenn sie dem Hörer vielleicht gar nicht so unbedingt zu Bewusstsein gelangt, die bedrückende Stimmung des Werkes521, und kann auch als Symbol für die Fremdheit des Wanderers verstanden werden.522 Manchmal kommt es allerdings auch vor, dass ein Lied oder eine Strophe auf allen Ebenen einfach gestaltet ist. Dies deutet dann zumeist auf eine Illusion hin.523 Ein Beispiel hierfür wäre das Lied „Täuschung“ (Nr. 19, S. 176 f.), das ja eine Illusion thematisiert und eben auch musikalisch weniger anspruchsvoll ist als andere Lieder. Grundsätzlich kann man jedoch sagen, dass das variierte Strophenlied die dominierende Form ist, die die meisten Lieder „Winterreise“ bestimmt. 5. 4. 2. 2 Bezüge zwischen den Liedern Dass Schubert die Lieder der „Winterreise“ als zusammengehörig versteht und wohl auch verstanden wissen will, lässt sich u.a. daran erkennen, dass er verschiedene Gruppen von Liedern einander jeweils tonartlich zuordnet, was zuweilen auch inhaltlich begründet zu sein scheint. Wie oben bereits erläutert, wurden die Tonarten einiger Lieder gegenüber den Fassungen in den Autographen verändert; in meinen Ausführungen gehe ich jedoch von den ursprünglich von Schubert gewählten bzw. nachweislich von ihm selbst abgeänderten Tonarten aus. Ein tonartlicher Zusammenhang besteht zunächst ohne Zweifel zwischen den ersten vier Liedern: „Gute Nacht“ steht in d-Moll, „Die Wetterfahne“ (Nr. 2, S. 115 ff.) in a520 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 154. Vgl. ebd. 522 Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. Bd. 38 der Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. Hrsg. von Constantin FLOROS. Hamburg 1991, S. 164. 523 Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 154 521 100 Moll; „Gefrorene Tränen“ (Nr. 3, S. 118 f.) besitzt die Tonart f-Moll, „Erstarrung“ (Nr. 4, S. 120 ff.) ist in c-Moll notiert. Dies entspricht jeweils einem Quint- bzw. Quartverhältnis. Budde rechnet auch noch das fünfte Lied zu dieser ersten Gruppe, da die Folge c-Moll („Erstarrung“) – E-Dur („Der Lindenbaum“) „ihre Vorbilder“ habe, von denen Beethovens drittes Klavierkonzert in c-Moll op. 37 das gewichtigste sei, da hier zwischen dem ersten und zweiten Satz die gleiche Tonartenfolge bestehe.524 Die Lieder sieben bis 10 sind „im Terzzirkel angeordnet“525: „Auf dem Flusse“ (Nr. 7, S. 136 ff., e-Moll), „Rückblick“ (Nr. 8, S. 140 ff., g-Moll), „Irrlicht“ (Nr. 9, S. 145 f., hMoll) und „Rast“ (Nr. 10, S. 147 ff., d-Moll) gehören demnach ebenfalls zusammen. Zwischen dem letzten dieser Lieder und dem folgenden, „Frühlingstraum“ (Nr. 11, S. 150 ff.), das in A-Dur steht, lässt sich wiederum eine subdominantische Beziehung erkennen. Auch die Lieder „Die Post“, „Der greise Kopf“ (Nr. 14, S. 162 f.), „Die Krähe“ (Nr. 15, S. 164 ff.) und „Letzte Hoffnung“ (Nr. 16, S. 167 f.) sind miteinander verbunden, da sie in der Tonartenordnung Es-Dur – c-Moll – c-Moll – Es-Dur stehen, wobei Es-Dur und c-Moll Paralleltonarten sind. Auf inhaltlicher Ebene werden hierdurch zwei Lieder der Todessehnsucht zwei Liedern, in denen Hoffnung anklingt bzw. zumindest thematisiert wird, gegenübergestellt. Das D-Dur bzw. d-Moll und das A-Dur von „Im Dorfe“ (Nr. 17, S. 169 ff.), „Der stürmische Morgen“ (Nr. 18, S. 174 f.) und „Täuschung“ scheinen ebenfalls einander zugeordnet zu sein.526 Mit Hilfe dieser Methode möchte Schubert offenbar zeigen, dass die Lieder der „Winterreise“ aufeinander bezogen sind, dass sie also nicht für sich stehen könnten, sondern dass der Zyklus eine Einheit bilden soll. Es muss allerdings erwähnt werden, dass sich die Wissenschaftler bei der Einteilung nicht unbedingt einig sind. Dies hat dann v.a. damit zu tun, dass einige von ihnen von den Tonarten in den Autographen ausgehen (wie Elmar Budde), andere von denen im Erstdruck (wie etwa Walther Dürr). Dies führt natürlich teilweise auch zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Gruppenbildung. Dürr sieht z.B. aus den gleichen Gründen wie Budde die ersten vier Lieder als zusammengehörig an. Dann jedoch fasst er die Lieder fünf bis sieben zu einer zweiten Gruppe zusammen (da er eben bei „Wasserflut“ von der Tonart der Druckfassung, e-Moll, ausgeht und somit die drei Lieder durch ihre E-Tonarten verbunden sieht.527 Seine Analysen nun im einzelnen weiter nachzuvollziehen, erscheint wenig sinnvoll, da seine Ergebnisse, wie gesagt, auf 524 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 76. Ebd., S. 77. 526 Vgl. ebd., S. 77 f. 527 Vgl. DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 143 f. 525 101 der völlig anderen Voraussetzung beruhen, dass nicht unbedingt die Originaltonarten zugrunde zu legen seien. Für Budde ist dies hingegen sehr wichtig: Er ist sich z.B. sicher, dass die Transpositionen der Lieder „Mut“ (Nr. 22, S. 184 ff.) und „Der Leiermann“ nicht von Schubert selbst herrühren.528 „Mut“ steht bei Schubert in a-Moll, und es folgt auf „Das Wirtshaus“ (Nr. 21, S. 182 f.), das in F-Dur komponiert wurde. F-Dur und a-Moll sind „unmittelbar verwandte Tonarten“529, weswegen man darauf schließen kann, dass die beiden Lieder als zusammengehörig verstanden werden sollen: „’Muth!’ entspringt gleichsam aus dem vorhergehenden Trauergesang“.530 An dieses Lied schließen sich „Die Nebensonnen“ an, die in A-Dur stehen. Auch diese beiden Lieder sind also einander zugeordnet, wobei „Mut“ die „Nachtseite“, „Die Nebensonnen“ die „Tagseite“ repräsentieren.531 Das letzte Stück, „Der Leiermann“, erscheint mit seinem h-Moll völlig abgesondert von dieser Gruppe. Die im Erstdruck vorgenommene und bis heute beibehaltene Transposition des Liedes nach a-Moll, das vermutlich nicht von Schubert intendiert war, kann zu der irrigen Annahme verleiten, „Der Leiermann“ sei dem Lied „Die Nebensonnen“ zugeordnet. In Wahrheit wollte Schubert es aber zum 12. Lied, „Einsamkeit“, in Beziehung setzen, das ebenfalls in h-Moll steht.532 Der Grund hierfür wird weiter unten erläutert. Tonartendisposition ist jedoch nicht das einzige Mittel, das Schubert zur Kohärenzstiftung zwischen den Liedern anwendet. Er bedient sich zu diesem Zweck auch der Variation musikalischer Gestalten oder Figuren, die in verschiedenen Liedern auftauchen. Stoffels erkennt gerade im ersten Teil des Zyklus so viele derartige Bezüge, dass er von einer „Zitathäufung“ spricht.533 Sichtbar wird dies z.B. an den Liedern „Erstarrung“ und „Der Lindenbaum“. Budde weist darauf hin, dass Vor-, Zwischen- und Nachspiel von „Erstarrung“ „auf einer unruhig umherirrenden Baßlinie“ basieren.534 Diese Linie erklingt nun auch in den Spitzentönen des Vorspiels, der Zwischenspiele und des Nachspiels des folgenden Liedes, wenn auch diesmal in Dur. Dies interpretiert Budde dahingehend, dass sich „das vergebliche Suchen im Schnee“ in „Erstarrung“ in „Der Lindenbaum“ „in die scheinbar 528 Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 73. Ebd., S. 73 f. 530 Ebd., S. 74. 531 Ebd. 532 Vgl. ebd. Ganz anders sieht das Dürr: Er meint, die Frage, ob Schubert die Transposition des Liedes „Der Leiermann“ selbst vorgenommen habe, sei „nicht zu entscheiden“; a-Moll passe sogar besser zum Charakter des Liedes als h-Moll (DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 150). 533 STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 188. 534 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 79. 529 102 bessere Welt des Traums“ verwandle, so dass der Traum quasi eine „Metamorphose der Wirklichkeit“ darstelle. Diese Metamorphose wird durch die musikalische Variation repräsentiert.535 Die im „Lindenbaum“ vorkommenden Achteltriolen sind wiederum in „Wasserflut“ zu hören.536 Budde zeigt noch einen ähnlichen Zusammenhang zwischen den Liedern „Rast“ und „Frühlingstraum“ auf537, Georgiades erkennt außerdem eine „fast völlig Identität des rhythmischen Anfangsduktus“ der Lieder „Wasserflut“ und „Irrlicht“.538 Es wären noch zahlreiche weitere Beispiele zu nennen – natürlich auch für derartige Beziehungen zwischen Liedern der ersten und zweiten Abteilung539 –, was jedoch den Rahmen sprengen würde. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass Schubert diese Kompositionsweise offenbar auch als kohärenzstiftende Methode einsetzt, um die Einheit der Lieder zu unterstreichen. Arnold Feil erkennt überdies noch zwei weitere Merkmale des Zyklus, die unter den Liedern Verbindungen „Empfindungshafte“. 540 herstellen würden: das „Rezitativische“ und das Und tatsächlich tauchen rezitativische Passagen – die eigentlich für die damalige Liedästhetik, auf die später noch eingegangen wird, ein äußerst ungewöhnliches Mittel darstellen – häufig in der „Winterreise“ auf. Feil nennt als Beispiele „Die Wetterfahne“ (T. 11 ff.: „Da dacht´ ich schon in meinem Wahne ...“ sowie T. 30 ff.: „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“) und die Passage „Ei Tränen, meine Tränen, und seid ihr gar so lau ...“ aus „Gefrorne Tränen“ (T. 21 ff.). Mit dem „Empfindungshaften“ meint Feil die ebenfalls oft sich ereignenden Ausbrüche in der Musik, die entweder ganze Lieder oder nur einzelne Passagen bestimmen können. Kohärenz zwischen den Liedern besteht auf musikalischer Ebene aber natürlich auch durch deren oft ähnliche rhythmische Anlage, was im folgenden Kapitel zur Mittelpunktsbezogenheit erläutert werden wird. 5. 4. 3 Mittelpunktsbezogenheit Mittelpunktsbezogenzeit lässt sich in der „Winterreise“ auf musikalischer Ebene durchaus auch feststellen. 535 Ebd., S. 80. Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 369. 537 Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 79 ff. 538 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 366. 539 Fischer-Dieskau weist z.B. auf die Ähnlichkeit einer melodischen Phrase aus „Der Wegweiser“ (Nr. 20, S. 178 ff.), nämlich „Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehn“ (T. 5-7), mit der Stelle „der Weg gehüllt in Schnee“ aus „Gute Nacht“ (T. 28 f.) hin (vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 339). 540 Vgl. hierzu: FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 109. 536 103 Denn so, wie sich in der Dichtung die Wanderschaft als das zentrale Thema erwies, so könnte man die Realisierung dieses Motivs auch im Rhythmus der Musik wieder erkennen.541 Feil stellt z.B. eine „gehende Bewegung“ als „Grundstimmung“ und somit auch als musikalisch realisierte „Grundbewegung“ in der „Winterreise“ fest.542 Stoffels widerspricht Feil zwar in dieser Hinsicht – er ist der Meinung, dass man zwischen verschiedenen Tempi bzw. Bewegungsformen differenzieren müsse543 –, doch diese Differenzierungen nimmt Feil eigentlich selbst vor. So vertritt er etwa die Meinung, die Lieder im 2/4-Takt würden zumeist an die im ersten Lied anklingende „gehende Bewegung“ anknüpfen, während die 3/-4-Takt-Lieder eher den Eindruck des Stehenbleibens erwecken würden. Hierbei beschäftigt er sich aber auch eingehend mit in diese Grobeinteilung nicht so leicht einzuordnenden Sonderfällen. Bezüglich des Liedes „Das Irrlicht“, das im 3/8-Takt steht, lässt er etwa die Frage offen, ob es gehenden Charakter habe.544 Von den beiden 6/8-Takt-Liedern „Die Wetterfahne“ und „Im Dorfe“ attestiert er ersterem eher statischen Charakter545, im zweiten erkennt er durchaus eine – wenn auch in Klavier- bzw. Singstimme gegenläufige – Bewegung.546 Zudem unterscheidet er zwischen dem Bewegungscharakter der ersten Hälfte der Lieder und dem der zweiten Hälfte: In den Liedern 1-12 sei die Bewegung noch aus eigener Kraft angestoßen worden, im zweiten Teil jedoch, also ab „Die Post“, sei diese Kraft „gebrochen“, die Bewegung resultiere aus einer Art innerem Zwang, unaufhaltsam bis zum Ende weiter zu wandern.547 Gegen diese Behauptungen kann auch tatsächlich nichts eingewendet werden: Dass z.B. „Gute Nacht“ eindeutig gehenden Charakter hat, was v.a. durch die gleichmäßig durchlaufenden Achtel bewirkt wird, haben schon mehrere Wissenschaftler festgestellt. 541 Budde führt aus, dass das Motiv des Wanderns als Metapher für die menschliche Existenz, das Wilhelm Müller in der „Winterreise“ verarbeitet, Schubert in seinem Schaffen häufiger beschäftigt habe. Er habe eine Vielzahl von Gedichten vertont, die das Wandermotiv zum Inhalt hätten (u.a. „Wanderers Nachtlied“ von Goethe oder „Der Wanderer“ von Georg Philipp Schmidt). Dies liegt jedoch laut Budde nicht nur in der Beliebtheit dieses Motivs in der Epoche der Romantik begründet, der Schubert habe Rechnung tragen wollen. „Schubert hat vielmehr in seiner Musik die romantische Wanderer-Thematik in eine unverwechselbare musikalische Chiffre verwandelt, in der die sprachliche Begrifflichkeit der romantischen Lyrik in einem nicht mehr zeitgebundenen Sinne aufgehoben ist“ (BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 67). Schmid Noerr sieht die historischen Gegebenheiten als Grund für diese Vorliebe: Die Ohnmacht der bürgerlichen Schicht in politischen Fragen liege „dem literarischen Topos des Wanderers zugrunde, der, die Utopie der Versöhnung in Natur und Liebe vor Augen, der Beschränktheit seiner Welt zu entfliehen sucht“ (SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 369). 542 FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 102. Vg. hierzu die Tempobezeichnung, die dem ersten Lied im Autograph zugeordnet ist: „Mäßig, in gehender Bewegung“ (SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89, S. 110). 543 Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 183 f. 544 Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 118. 545 Vgl. ebd., S. 109. 546 Vgl. ebd., S. 37. 547 Ebd., S. 126. 104 Georgiades erkennt im „Habitus des Klavierparts“ dieses Liedes die „Vorstellung eines einem Zwang unterworfenen, niederziehenden Gehens, das nie durch freien Entschluß aufhören kann“.548 Auch Budde hört in der rhythmischen Anlage von „Gute Nacht“ „die Vorstellung des Immer-Gleichen, einer in sich rotierenden Bewegung ohne Anfang und Ende“.549 Die Pentatonik, die im Durteil von „Gute Nacht“ verwendet wird, klingt laut Georgiades wie „ein schwereloses, traumhaftes, nicht hörbares Gehen“.550 Doch trotz seiner gleichförmigen Bewegung ist dieses erste Lied, wie oben schon einmal ausgeführt, kein Aufbruchslied, sondern es ist geprägt von „schmerzliche[r] Erinnerung und Resignation“.551 Dies wird unter anderem daran erkennbar, dass es unmöglich ist, auf seinen Rhythmus tatsächlich zu wandern: Hierfür sind die Achtel zu schnell, die Viertel zu langsam.552 Auch „Gefrorne Tränen“ steht im 2/4-Takt und ist von durchlaufenden Vierteln und Achteln geprägt; es ist zwar langsamer als „Gute Nacht“, aber ebenso wie dieses von einem gehenden Charakter bestimmt. Gleiches gilt für „Auf dem Flusse“. In „Rückblick“ geht der Wanderer nicht nur, er scheint sich richtiggehend „gejagt“ zu fühlen. Dieser Effekt wird durch den versetzten Rhythmus in der rechten und linken Klavierhand erzeugt.553 Auch auf „Rast“, ebenfalls ein Lied im 2/4-Takt, ist die Einteilung zutreffend (was eigentlich paradox ist: Schließlich geht der Wanderer in diesem Lied gerade nicht, sondern er ruht sich aus; dass das Lied dennoch eine Bewegung realisiert, spricht für die innere Unruhe des Protagonisten). In „Einsamkeit“, „Die Krähe“ und „Der Wegweiser“ herrscht ebenfalls eine gehende Bewegung vor (auch wenn die beiden Letzteren recht langsam sind), ebenso in „Mut“. Feil rechnet auch das im 6/8-Takt stehende Lied „Täuschung“ zu dieser Gruppe, da es „die Assoziation des Hinterherlaufens“ hervorrufe. Was das Lied „Die Post“ angeht, so wirft Georgiades die Frage auf, ob der Rhythmus der Begleitung, „die repetierende Begleitungsformel“, auch aus dem Achtelrhythmus von „Gute Nacht“ abgeleitet sei.554 Die Lieder „Der Lindenbaum“, „Wasserflut“, „Der greise Kopf“, „Letzte Hoffnung“ und „Die Nebensonnen“, die allesamt im 3/4-Takt stehen, sind jeweils entweder so langsam oder rhythmisch so gebrochen, dass die gehende Bewegung hier jeweils zum 548 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 363. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 90. 550 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 364 f. 551 DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 142. 552 Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 103. 553 Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 365. Das Lied steht zwar im 3/4-Takt und müsste deshalb der obigen Einteilung zufolge der gehenden Bewegung der 2/4-Takt-Lieder entgegenstehen, doch Feil weist darauf hin, dass man seine Verse ebenso in einem 2/4-Takt fassen könne (vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 45). 554 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 364. 549 105 Stillstand zu kommen scheint. Auch „Der Leiermann“ ist wohl hierzu zu zählen: Das Lied steht ebenfalls im 3/4-Takt, und die Monotonie der Musik hat etwas eindeutig Statisches.555 Nur drei Lieder stehen im 4/4-Takt: „Erstarrung“, „Der stürmische Morgen“ und „Das Wirtshaus“. „Erstarrung“ ist von der gleichen leidenschaftlichen, ungebrochenen Bewegung geprägt wie die 2/4-Takt-Lieder556, bzgl. der beiden letztgenannten Lieder wirft Feil die Frage auf, ob es sich hier vielleicht in Wahrheit gar nicht um 4/4-, sondern „um verkappte Zweiertakte“ handeln könne.557 „Frühlingstraum“ ist Feil zufolge das einzige Lied im Zyklus, in dem „keinerlei Bewegungsvorstellung Anteil“ habe.558 Seine Behauptung, die „Winterreise“ sei von einer „gehenden Bewegung“ bestimmt, erweist sich also bei der Überprüfung seiner Argumente als plausibel. Elmar Budde erkennt über diese rhythmische Besonderheit der „Winterreise“ hinaus übrigens auch noch einen „tonalen Schwerpunkt“ im Zyklus, nämlich die Tonarten dMoll und h-Moll, in denen je drei Lieder angesiedelt sind. Moll-Tonarten seien überhaupt vorherrschend, auf ihnen beruhe die „Grundfarbe“ der „Winterreise“559 – eine Tatsache, die so evident ist, dass sie nicht weiter begründet werden muss. 5. 4. 4 Geschlossenheit Man kann, wie oben bereits erläutert, davon ausgehen, dass Schubert die ersten 12 Lieder der „Winterreise“, wie sie Wilhelm Müller zuerst in „Urania“ veröffentlicht hatte, bei der Vertonung als in sich geschlossenen Zyklus konzipiert.560 Dafür spricht, dass das erste Lied, „Gute Nacht“ und das letzte Lied der ersten Abteilung, „Einsamkeit“, anfangs noch in der gleichen Tonart, nämlich in d-Moll, stehen. Als er die zweiten 12 Gedichte vertont, komponiert er das nun an letzter Stelle stehende Lied, „Der Leiermann“, in h-Moll und transponiert darüber hinaus das Lied „Einsamkeit“ von d-Moll auch nach h-Moll. Er zerbricht also die tonale Geschlossenheit, die die Erstfassung der „Winterreise“ beherrscht hatte. Dafür setzt er das 12. und das 24. Lied zueinander in Beziehung – durch die Tonarten, aber auch durch den Beginn der Lieder (beide beginnen mit der Quinte h-fis). Dass „Der Leiermann“ in einer von d-Moll, der 555 Nicht zuzustimmen ist übrigens Ludwig Stoffels, der behauptet, „Die Nebensonnen“ und „Der Leiermann“ stünden außerhalb der zyklischen Konzeption, da sie keine Bezüge mehr auf die vorhergehenden Lieder enthalten würden; er betrachtet aus diesem Grund das Ende der „Winterreise“ als „offenen“ Schluss (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 198). Wie gezeigt werden konnte, stehen beide Lieder jedoch gerade in rhythmischer Hinsicht sehr deutlich zum Rest des Zyklus in Beziehung. 556 Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 110. 557 Vgl. ebd., S. 103. 558 Ebd., S. 124. 559 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 70. 560 Ich beziehe mich im folgenden v.a. auf: ebd., S. 71 ff. 106 Tonart von „Gute Nacht“, so weit entfernten Tonart steht, könnte zunächst irritieren. Es wurde ja schließlich gezeigt, dass auf der textlichen Ebene Anfang und Ende ineinander fallen. Erkennt etwa Schubert Müllers Intention nicht oder setzt sich darüber hinweg? Das ist vermutlich nicht der Fall. Wahrscheinlich will Schubert das erste und das letzte Lied bewusst nicht in der gleichen Tonart komponieren, um den Eindruck zu vermeiden, er habe ein „harmonisierendes Zusammenschließen“ von Anfang und Schluss gemeint.561 Dies ist offenbar nicht seine Absicht. Vielmehr scheint es, als habe Schubert durch die weite Entfernung der Tonarten d-Moll und h-Moll die Ziellosigkeit der Wanderung, für die jede Rückkehr unmöglich ist, auch in der „tonale[n] Richtungslosigkeit“ des Zyklus ausdrücken wollen.562 In diesem Zusammenhang kann nun auch der These widersprochen werden, die offene Quint als Schlussklang von „Der Leiermann“ könne auf ein positiv zu verstehendes Ende des ganzen Zyklus hindeuten.563 Dittrich selbst betont nämlich, dass sich Schubert in der Verwendung von Schlussakkorden in Quint- oder Terzlage auch an seinem Vorbild Johann Rudolf Zumsteeg orientiert haben könnte, der dieses musikalische Mittel „fast immer in Verbindung mit Trauer oder verwandten Affekten“ benutzte.564 Doch vor allem wären in diesem Fall die Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit der Wanderung, die offenbar sowohl Müller als auch Schubert zum Ausdruck bringen wollen, nicht gegeben. Dass Anfang und Ende des Zyklus dennoch in einer deutlichen Beziehung zueinander stehen, d.h. dass eine Geschlossenheit des Werks trotzdem vorliegt, verdeutlicht folgende Beobachtung: Budde weist darauf hin, dass die ersten drei Noten, mit denen der Zyklus beginnt, nämlich f´´, e´´ und d´´, eine Figur darstellen, die eigentlich nicht den Charakter eines Beginns besitzt, sondern eher wie eine Schlussfigur anmutet. Daraus folgert er, dass man gleich zu Beginn sehen könne, dass der Anfang des Zyklus „auf kein Ziel hin gerichtet“ sei. Im Anfang liege vielmehr bereits das Ende beschlossen, bzw. die Antwort auf die Fragen des Wanderers an den Leiermann im letzten Lied sei quasi der Anfang des Zyklus.565 Diese Beziehung könne Schubert natürlich nicht von Anfang an geplant haben, da er bei der Komposition der ersten 12 561 Ebd., S. 73. Wenn man davon ausgeht, dass „Der Leiermann“ in a-Moll zu stehen habe – wie Dürr das tut –, könnte dies zu der irrigen Annahme verleiten, Schubert habe „Gute Nacht“ und „Der Leiermann“ durch das Quintverhältnis der Tonarten d-Moll und a-Moll in einen harmonischen Zusammenhang bringen wollen. 562 Ebd., S. 72. 563 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256 (Dittrich verweist hierbei auf: MCKAY, Elizabeth Norman: Schubert´s Winterreise reconsidered. In: The Music Review. Bd. 38, 1977. Cambridge 1977, S. 98 ff.). 564 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256 (mit Verweis auf: MAIER, Gunter: Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert. Göppingen 1971, S. 85.). 565 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 94. 107 Lieder von der zweiten Abteilung der Gedichte ja noch gar nichts gewusst habe. Doch Budde geht davon aus, dass es eine erste Fassung von „Gute Nacht“ gegeben haben müsse, die Schubert bei der Vertonung der zweiten 12 Gedichte verworfen habe, und dass er die zweite Version des ersten Liedes dann bewusst auf das letzte Lied hin ausgerichtet habe. Budde stützt diese Annahme auf die Tatsache, dass das Lied „Gute Nacht“ im Manuskript des ersten Teils die einzige Reinschrift darstellt.566 All diese Argumente sprechen dafür, dass die „Winterreise“ einen Zyklus in ziemlich strengem Sinne darstellt. Schuberts Zyklen sind offenbar grundsätzlich nicht durch solche relativ einfachen Mittel wie die gleiche Tonart von erstem und letztem Lied „kompositorisch geschlossen“, sondern „münden ins Offene, ins Ungewisse“.567 Doch insofern, als die „Winterreise“ kein Ende hat, ist sie „ein endloser Zirkel, eine Wanderung ohne Beginn und Ziel, ohne Hoffnung und Aussicht auf Entkommen“.568 Dieses ständige, sinnlose Rotieren ist übrigens sogar in einzelnen Liedern verwirklicht. Feil weist darauf hin, dass oft die Nachspiele die Vorspiele wiederholen, „als ob nichts geschehen, die Komposition und also auch der Wanderer nicht vom Fleck gekommen sei“.569 Hierdurch beschreibt auch die Musik eine Kreisbewegung. Ein Beispiel hierfür wäre das Lied „Rast“: Hier entspricht das Nachspiel (T. 61-67) genau dem Vorspiel (T. 1-6), wodurch der Eindruck eines Rundgesangs entsteht, der weder Anfang noch Ende besitzt. Gleiches gilt auch für „Gute Nacht“. 5. 5 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ – Die Melancholie in der Komposition Mit seiner Liedvertonung setzt sich Schubert eindeutig über die zu seiner Zeit an ein Lied gestellten Hörerwartungen hinweg. Denn „Spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts wird das deutschsprachige Lied durchweg im Sinne des Einfachen, des Natürlichen und schließlich des Volkstümlichen musikalisch und ästhetisch definiert“.570 So wird etwa in Kochs „Musikalischem Lexikon“ deutlich, dass Schuberts 566 Vgl. ebd., S. 94 f. Ebd., S. 21. 568 Ebd., S. 95. Vgl. dagegen: ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“. Zenck ist der Ansicht, dass sich Ziel- und Richtungslosigkeit und zyklische Anlage der „Winterreise“ ausschließen würden (vgl. ebd., S. 144). Er bezeichnet das Werk sogar als „anti-zyklisch“ (ebd., S. 145). Hierfür spreche u.a. die „nicht zentrierte[...] Disposition der Tonarten“ (ebd., S. 145). Schubert habe die „Winterreise“ vielleicht anfangs zyklisch anlegen wollen, diesen Plan dann jedoch aufgegeben (vgl. ebd., S. 147), um die zunehmende „Fremderfahrung“ (ebd., S. 141) des Wanderers darzustellen. Abgesehen davon, dass Zenck nicht zu der Frage Stellung nimmt, warum man den Zyklus dann überhaupt noch als solchen bezeichnen könne, übersieht er, dass zwischen Richtungslosigkeit und zirkelartigem Rotieren (und damit zyklischer Anlage) kein Widerspruch bestehen muss (vgl. Buddes Argumentation). Auch die durchaus klar strukturierte Tonartendisposition der Lieder erkennt Zenck nicht. 569 FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 101. 570 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 13 567 108 Zeitgenossen unter dem Begriff „Lied“ ganz selbstverständlich das normale Strophenlied verstehen, das „von jedem Menschen, der gesunde und nicht ganz unbiegsame Gesangsorgane besitzt, ohne Rücksicht auf künstliche Ausbildung derselben, vorgetragen“ werden können sollte.571 Ein weiter Tonumfang sei also z.B. zu vermeiden; die „in dem Texte enthaltene[...] Empfindung“, solle durch einfache musikalische Mittel wiedergegeben werden.572 Diese Forderung nach Einfachheit ist nicht zuletzt sozial motiviert: Man ist der Ansicht, dass sich für das Lied „noch jede Volksklasse, noch jedes Individuum derselben“ begeistern könne.573 Auch Sulzer fordert vom Komponisten, dass dieser „eine sehr einfache und kurze Melodie“ zur Textvertonung zu ersinnen habe, da hierdurch am ehesten eine „Rührung“ des Rezipienten erreicht werden könne, auf die es einzig ankomme.574 Er empfiehlt ebenfalls, den Ambitus möglichst gering zu halten: „Darum ist das Beste, daß man in dem Bezirk einer Sexte, höchstens der Oktave bleibe“.575 Ähnlich wird auch in der Schillingschen „Encyclopädie“ argumentiert; hier wird aber vor allem darauf bestanden, dass ein Lied sich auf die „Darstellung nur eines Gefühls“ zu konzentrieren habe, „welches die Seele sanft bewegt“.576 Und obwohl Schuberts Lieder ja gerade in dieser Hinsicht nachweislich den Forderungen der Theoretiker nicht entsprechen – oft ist ein Lied von den verschiedensten Gefühlen geprägt, man denke nur an den „Frühlingstraum“ –, wird im gleichen Artikel Schubert als einziger Komponist bezeichnet, der in der Liedkomposition „wahre Meisterwerke“ geliefert habe.577 Indem der Komponist sich über all diese formalen Vorgaben hinwegsetzt, kommt er natürlich in der Gattung Lied zu ganz neuen, differenzierten Ausdruckformen, v.a. was die Darstellung „komplexe[r] Seelenzustände und innerseelische[r] Entwicklungen“ angeht.578 Entsprechend setzt er auch die im Text der „Winterreise“ transportierte Melancholie musikalisch um. Dabei findet Staiger es bemerkenswert, dass Schuberts Lieder, obwohl sie so düsteren Inhalts sind, dennoch „wie Fülle des reinsten Wohllauts 571 KOCH, Heinrich Christoph: Art. „Lied“. In: Musikalisches Lexikon welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält. Hildesheim 1964 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1802), Sp. 901. 572 Ebd., Sp. 902. 573 Ebd., Sp. 903. 574 SULZER, Johann Georg: Art. „Lied“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Bd. 3. Hildesheim u.a. 1994 (2., unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793), S. 277. 575 Ebd., S. 278. 576 SCHILLING, Gustav (Hrsg.): Art. „Lied“. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst. 7 Bde., Stuttgart 1835-1842. Bd. 4, 1837, S. 383. 577 Ebd., S. 386. 578 HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen Realisierung, S. 381. 109 wirken“.579 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ So habe Schubert „völlig über den leidenden Menschen gesiegt“.580 Dazu muss allerdings bemerkt werden, dass die Zeitgenossen Schuberts sich in seine Art der Liedvertonung offenbar erst einhören müssen. Das in der Einleitung erwähnte Zitat Josef von Spauns, aus dem hervorgeht, dass ihm und seinen Freunden die „Winterreise“ nicht gerade auf Anhieb gefallen habe, spricht hier für sich. Auch die Äußerung Mayrhofers, der die Töne des Zyklus als „schneidend[...]“ bezeichnet, ist ein Beleg dafür, wie radikal Schubert die Liedästhetik in seiner Zeit revolutioniert. Die Frage, wie es Schubert gelungen sei, die Melancholie der Gedichte musikalisch umzusetzen, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Grundsätzlich ist dies wohl v.a. eine Sache des Gefühls: Die Vertonung „passt“ ganz einfach von der Stimmung her zum Inhalt des Textes. Und dennoch kann man an einigen äußeren Merkmalen etwas konkreter festmachen, welche Strategien Schubert anwendet, um diesen Eindruck entstehen zu lassen. Zunächst sind es natürlich manchmal ganz klar erkennbare Inhalte, die in der Musik ausgedrückt werden: So erinnert z.B. die Tonwiederholung in „Der Wegweiser“ an eine Totenglocke (T. 57 ff.)581, die punktierten Wechselnoten in „Gute Nacht“ (z.B. T. 9) muten an wie schmerzvolle Seufzer582, die Staccato-Akkorde in „Gefrorne Tränen“ bilden die Tropfen ab, die zu Boden fallen, in „Im Dorfe“ finden sich Anklänge an Hundegebell und Kettengerassel, in „Die Krähe“ das „Geflatter“ der 16tel-Triolen583 usw. Allerdings sollte man sich davor hüten, Schuberts Vertonung als bloße Tonmalerei zu begreifen.584 Laut Fischer-Dieskau vermeidet Schubert diese sogar bewusst.585 Es ist 579 STAIGER, Emil: Wilhelm Müller – Schubert: Winterreise, S. 198. Ebd., S. 199. 581 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 166. 582 Vgl. SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 384. 583 DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 147. 584 So verfährt z.B. Lowen Marshall (vgl. LOWEN MARSHALL, Howard: Symbolism in Schubert´s Winterreise. In: Studies in Romanticism. Hrsg. von W.H. STEVENSON. Bd. 12, Nummer 3, 1973. Boston, Massacusetts, USA 1973, S. 607-632): Er sieht in der „Winterreise“ in vollkommener Weise „the principle of stile rappresentativo“ (also einer Stilart des Rezitativs des 17. Jahrhunderts) verwirklicht (ebd., S. 607). Er versucht, die symbolische Bedeutung der Wortvertonung in Schuberts Komposition herauszuarbeiten – um zu zeigen, dass es sich hierbei um mehr als eine bloße Begleitung handle (vgl. ebd., S. 607 f.) –, beschreibt dabei aber eigentlich bis auf einige Ausnahmen nur reine Tonmalerei (das gilt etwa für den Hinweis auf das Vorspiel von „Die Wetterfahne“, das in seiner Wildheit das Flattern derselben abbilde; vgl. ebd., S. 610). Die absteigende Linie in den Takten 8 und 10 von „Gefrorne Tränen“, die auf das Wort „fallen“ erklingt, bezeichnet er sogar explizit als „carry-over from the old Renaissance practice of text painting“ (ebd., S. 610). Immerhin betont Lowen Marshall, dass Schubert solche kompositorischen Strategien meist unbewusst und ungeplant anwende, und der symbolische Gehalt erst vom Rezipienten in das Werk hineininterpretiert werden müsse (vgl. ebd., S. 608). Andererseits behauptet er, Schuberts Vertonung reiche weit über den Gehalt der Dichtung hinaus; erst durch Schubert bekomme das Werk die symbolische Bedeutung einer Reise des Menschen durch das Leben. Müllers Zyklus hingegen sei nicht mehr als die Geschichte eines enttäuschten Liebenden – was natürlich viel zu kurz gegriffen ist (vgl. ebd., S. 630). 585 Vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 338. 580 110 zu beachten, dass, wie Georgiades es formuliert, in der Musik „das Gedicht gleichsam getilgt und als musikalische Struktur neu geschaffen“ wird; „die Musik erhält Verbindlichkeit dadurch, daß das Wesentliche nur als Musik realisiert wird.“586 Die Musik dient also nicht zur Illustration des Textes, sondern es ist „die Musik, die in der begriffslosen Vieldeutigkeit ihrer Stimmung und Form durch einen Text bestimmt und eingegrenzt wird“.587 Dies zeigt sich z.B. in einem Lied wie „Erstarrung“, in dem die hektisch wirkenden Achtel-Triolen, die sich auf die verzweifelte Suche im Schnee beziehen, auch dann noch erklingen, als der Text etwas eigentlich Statisches beschreibt, nämlich das erstarrte Herz des Wanderers.588 In „Der Lindenbaum“, um noch ein anderes Beispiel zu nennen, realisiert die Klavierbegleitung wohl zunächst das „Rauschen“ der Blätter des Baumes; doch in der fünften Strophe kann man das immer heftiger werdende „Rauschen“ auch als „Gemütsaufwallung“ interpretieren. Andererseits erinnert die Triolenbewegung des Vorspiels auch an „Volksliedinstrument[e]“ wie die Zither oder das Hackbrett; insofern ist es „kein bloßes Stimmungsbild, sondern es fängt darüber hinaus und vor allem Reales, den Vorgang der Volkslied-Hervorbringung ein“.589 Insgesamt lässt sich festhalten, dass Schubert für alle seine Lieder jeweils eine individuelle Lösung der Vertonung findet: Es gibt natürlich zuweilen ansatzweise tonmalerische Passagen, doch oft wird auch nur die Grundstimmung eines Gedichtes (die ebenso eine Naturstimmung sein kann), eine Idee, der Anklang an eine Gattung (wie die des Volksliedes in „Der Lindenbaum“) oder eine Botschaft, die „zwischen den Zeilen“ des Textes steht, musikalisch umgesetzt. Was die musikalische Entwicklung der „Winterreise“ allgemein betrifft, so ließe sich die Beobachtung vorausschicken, dass die Musik, entsprechend der stetig wachsenden Desillusionierung des Wanderers, zunehmend „karger“ wird, was schließlich in der Monotonie des „Leiermanns“ kulminiert: Baum stellt fest, dass „die großen melodischen Bögen“ der ersten Lieder immer stärker eingeengt werden „ins Melismatisch-Deklamatorische“. Der Charakter der Klavierbegleitung nimmt an Härte zu; die Dynamik zeichnet sich insgesamt anfangs noch durch „gleitende[...] Übergänge“ aus, bleibt aber später immer länger auf der gleichen Stufe stehen oder wechselt extrem schroff (wie z.B. in „Mut“).590 Laut Haesler möchte Schubert mit dem letzten Lied, „Der Leiermann“, in völlig illusionsloser Weise die Sinnlosigkeit und Verzweiflung des 586 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 34. SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 375. 588 Vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 333. 589 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 368. 590 BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“, S. 644. 587 111 menschlichen Daseins vorführen, zugleich aber als einzig möglichen Ausweg aus dieser Verzweiflung das Anerkennen der Realität des Todes als Teil des menschlichen Lebens vorschlagen. Die Vertonung dieses Liedes wirke somit auf den Hörer zugleich „erschütternd[...]“ und „tröstend“.591 Im folgenden soll nun noch etwas detaillierter untersucht werden, wie Schubert die Gemütsverfassung des melancholischen Wanderers auch in der Musik greifbar werden lässt; hierzu wird die Komposition unter verschiedenen Gesichtspunkten – tonartlicher, melodischer, harmonischer Art etc. – beleuchtet.592 5. 5. 1 Tonartencharakteristik Obwohl Schubert, wie eben ausgeführt wurde, bei der Vertonung seiner Lieder zu sehr individuellen Lösungen greift, lehnt er sich zuweilen natürlich trotzdem noch an traditionelle Kompositionsweisen an. So werden etwa zur Zeit Schuberts den verschiedenen Tonarten jeweils ganz bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, d.h. sie werden mit eindeutig bestimmbaren Affekten in Verbindung gebracht.593 Dies hängt damit zusammen, dass man Tasteninstrumente damals noch nicht in der Weise stimmt wie heute: Die so genannte „gleichschwebend temperierte Stimmung“ ist noch nicht allgemein üblich. Aufgrund dessen klingen damals Tonarten mit vielen Vorzeichen auf Tasteninstrumenten normalerweise noch unsauberer als solche mit wenigen Vorzeichen (da bei ersteren nicht so viele reine Intervalle auf den Hauptstufen der Tonleiter stehen). Für Streichinstrumente bevorzugt man Kreuztonarten, da man sie hier am besten intonieren kann. Auf der Trompete hingegen klingt z.B. die Tonart D-Dur am klarsten, weswegen man für Trompetenstücke, die besonders festlich klingen sollen, gern diese Tonart wählt. Diese eigentlich rein technisch bedingten klanglichen Besonderheiten der einzelnen Tonarten werden Ausdruckswerten gleichgesetzt. nun aber, wie gesagt, auch mit spezifischen 594 Ein entsprechendes System findet sich z.B. bei Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), der in seiner Fragment gebliebenen und später von seinem Sohn Ludwig 591 HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen Realisierung, S. 396. 592 Viele zur Beantwortung dieser Fragestellung wertvolle Beobachtungen liegen durch die Analysen der Schubert-Lieder von Marie-Agnes Dittrich vor, weswegen ich mich im folgenden stark auf sie beziehe (v.a. auf ihren Beitrag im Schubert Handbuch: DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 142-267, aber auch auf ihre Monographie: Dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern). 593 Vgl. hierzu: dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 164. 594 Vgl. hierzu auch den Hinweis Sulzers, „daß die Tonarten, welche die reinesten Intervale haben, und überhaupt die harten Tonarten, zu vergnügten, die weichen aber, und die, deren Intervalle weniger rein sind, zu zärtlichen und traurigen Empfindungen sich am besten schicken“ (SULZER, Johann Georg: Art. „Lied“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste, S. 278). 112 herausgegebenen Schrift „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst“595 einen Abschnitt der „Charakteristik der Töne“ widmet. Auch in der bereits zitierten „Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften“ von Gustav Schilling sind Artikel zu allen Tonarten enthalten, in denen deren Charaktere erläutert werden (wobei hier auch häufig Schubart zitiert wird). Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schubert diese Tradition, den Tonarten bestimmte Affekte zuzuschreiben, kennt und sich auch daran orientiert596: Er setzt z.B. das erste Lied, „Gute Nacht“, in d-Moll – in die Tonart, die laut Schubart für „schwermüthige Weiblichkeit“ steht, „die Spleen und Dünste brütet“.597 Mit den Vokabeln „schwermüthig“ und vor allem „Spleen“ wird hier offensichtlich an den MelancholieDiskurs angeknüpft; um die melancholische Stimmung des ersten Liedes zu transportieren, erscheint die Tonart d-Moll also überaus geeignet. Auch dass Schubert das Lied „Gefrorne Tränen“ in f-Moll komponiert, jener Tonart, die Schubart zufolge „tiefe Schwermuth, Leichenklage, Jammergeächz, und grabverlangende Sehnsucht“ ausdrückt598, wird wohl kein Zufall sein. Die Resignation und Schicksalsergebenheit, die in „Irrlicht“, „Einsamkeit“ und „Der Leiermann“ thematisiert werden, finden ihren Ausdruck in ihrer gemeinsamen Tonart h-Moll, dem „Ton der Geduld, der stillen Erwartung seines Schicksals, und der Ergebung in die göttliche Fügung. Darum ist seine Klage so sanft, ohne jemals in beleidigendes Murren, oder Wimmern auszubrechen“.599 Budde zufolge ist die Tonart h-Moll in vielen Werken Schuberts aber auch „die Tonart der Einsamkeit, der Verlassenheit und schließlich der Verzweiflung und Todessehnsucht“.600 „Wasserflut“ steht in fis-Moll – laut Schubart „Ein finsterer Ton“601; „Das Wirtshaus“, in dem es um die Hoffnung auf ewige Ruhe geht, steht in der 595 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Hrsg. von Fritz und Margrit KAISER. Hildesheim u.a. 1990 (2. Nachdruck der Ausgabe Wien 1806). 596 Laut Dürr tut Schubert dies allerdings nicht bewusst, also aufgrund theoretischer Erwägungen, sondern eher intuitiv. Deshalb könne die Wahl einer bestimmten Tonart auch „durch andere, wichtigere, praktische oder ästhetische Gründe aufgehoben werden [...]. Ein ‚praktischer’ Grund kann z.B. die Anpassung an eine bestimmte Stimmlage sein – Transposition –, ein ästhetischer die überraschende ‚Rückung’“ (DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 266). 597 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 377. Bei Schilling wird das Bedeutungsspektrum der Tonart sogar noch ein wenig erweitert: „Doch auch Schwermuth überhaupt, tiefe Trauer und Bangigkeit, die aber noch nicht verzagt, sondern emsig hascht nach einem Trost, [...], liegen in ihrem Bereich“ (SCHILLING, Gustav [Hrsg.]: Art. „D-Moll“. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, Bd. 2, S. 433). 598 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 378. 599 Ebd., S. 379 f. 600 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 72. Schubert scheint in mehreren Fällen einzelnen Tonarten andere oder zusätzliche Bedeutungen zuzuweisen. So wechseln z.B. in „Frühlingstraum“ (S. 150 ff.) ADur- mit a-Moll-Teilen ab, was laut Dürr bei Schubert „nicht selten den Gegensatz von Utopie und Wirklichkeit“ wiedergibt (DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 146). 601 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 379. 113 entsprechenden Tonart F-Dur.602 Und so ließe sich die Aufzählung noch weiter fortführen. Manchmal verwendet Schubert Tonartencharakteristik aber auch innerhalb der Lieder. Ein Beispiel ist das Lied „Die Post“, das im fröhlichen „Feldton“ Es-Dur steht603, in dem aber nach den beiden Generalpausen in T. 26 bzw. 71 jeweils in es-Moll – der Tonart „der schwärzesten Schwermuth, der düstersten Seelenverfassung“604 – neu angesetzt wird (wobei natürlich danach immer recht schnell in noch weiter entfernte Tonarten moduliert wird). Dieser Wechsel der Tonart geht im ersten Fall auch mit der traurigen Einsicht des Wanderers „Die Post bringt keinen Brief für dich“ (T. 28 ff.) einher.605 Ein anderes von vielen weiteren Beispielen liefert das Lied „Der Wegweiser“, in dem die Haupttonart g-Moll in den Takten 15 und 16 verlassen wird und eine Ausweichung nach f-Moll stattfindet – in eben jene Tonart der „grabverlangende[n] Sehnsucht“ (s.o.).606 Teilweise werden durch Tonarten aber auch nicht nur Affekte, sondern ganz bestimmte Inhalte ausgedrückt.607 In „Der Lindenbaum“ etwa schwankt die Harmonik in der fünften Strophe stets zwischen C-Dur und H-Dur hin und her, wodurch laut Dittrich das „Windgeräusch“ im Baum dargestellt wird608; darüber hinaus erscheint es jedoch auch bedeutsam, dass es gerade diese beiden Tonarten sind (das „rein[e]“ C-Dur, das unter anderem für „Einfalt“ oder „Naivetät“, man könnte vielleicht auch sagen: für Idylle, steht609, und H-Dur, die Tonart der „wilde[n] Leidenschaften“ und „Verzweiflung“610), die hier miteinander abwechseln. Georgiades hat überdies festgestellt, dass in vielen Liedern Tonwiederholungen als Todessymbol erscheinen, wobei es sich hierbei häufig um den Ton fis handelt (den Schubart, wie schon gesagt, als „finsteren Ton“ bezeichnet (s.o.).611 Auch hier ließen noch zahlreiche weitere Beispiele anführen. Was man bei derartigen Untersuchungen jedoch im Blick haben sollte, ist die Tatsache, dass es Akkordverbindungen oder melodische Figuren gibt, die ihren eigenen Symbolwert besitzen, der eben nicht von einer spezifischen Tonart abhängt (so wirkt eine Terzrückung nach oben beispielsweise grundsätzlich aufhellend). Und man muss 602 Georgiades behauptet allerdings, dass diese F-Tonart einen für das Dur ungewöhnlichen Charakter habe. Sie spiegele „das Abgeklärte, Nicht-Affektvolle, Ruhige, Großatmige, Friedliche, auch das Ergeben-Weihevolle“ (GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 379). 603 SCHILLING, Gustav (Hrsg.): Art. „Es-Dur“. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, Bd. 2., S. 625. 604 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 378. 605 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 170. 606 Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 87 ff. 607 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 165. 608 Ebd. 609 SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 377. 610 Ebd., S. 378 f. 611 Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 283. 114 natürlich auch die bereits erwähnte Tatsache berücksichtigen, dass Lieder in dieser Zeit oft nachträglich transponiert werden, um sie für die Interpreten sangbarer zu machen – eine allzu starke Festlegung auf bestimmte Tonarten scheint also zumindest nicht immer vorzuliegen.612 Beachtet man solche Tatsachen nicht, steht man in der Gefahr, denen schon manche Wissenschaftler bei der Interpretation von Schubert-Liedern erlegen sind: Man könnte versucht sein, den von ihm verwendeten Tonarten immer ein und denselben bestimmten Ausdruckswert zuzuschreiben. Ein besonderes Kuriosum stellt hierbei die Behauptung dar, F-Dur oder f-Moll stünden grundsätzlich immer für Franz (Schubert).613 5. 5. 2 Rhythmik Auf der Ebene der Rhythmik bedient sich Schubert oft traditioneller kompositorischer Mittel, um die melancholische Wirkung der „Winterreise“ musikalisch auszudrücken. Häufig verwendet er zu diesem Zweck Tanzrhythmen, z.B. den der Pavane614, wie in „Das Wirtshaus“, oder auch den des Totentanzes.615 Georgiades erkennt übrigens Entsprechungen zwischen diesem letztgenannten Lied und dem „Kyrie“ aus dem gregorianischen Requiem. Beide Stücke würden nicht nur „dieselbe melodische Substanz verwenden“, sondern seien auch identisch in der „Gesamtanlage“ und in den „musikalischen Gebärden“.616 Georgiades lässt die Frage offen, ob Schubert das Lied bewusst in Analogie zum Kyrie gesetzt habe oder ob dies unbewusst, etwa aufgrund von Kindheitserinnerungen, geschehen sei.617 Die Lieder „Wasserflut“, „Irrlicht“ und „Die Nebensonnen“ sind im langsamen Sarabandenrhythmus komponiert, wodurch Resignation ausgedrückt wird. Andererseits erinnern gerade „Die Nebensonnen“ sowie „Das Wirtshaus“ durch die Dichte ihrer 612 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 165. Vgl. BODENDORFF, Werner: Art. „Tonartencharakteristik“. In: Schubert-Lexikon, S. 467. 614 Hierbei handelt es sich um einen „feierlich-gravitätisch[en]“ Schreittanz (DAHLHAUS, Carl / EGGEBRECHT, Hans Heinrich [Hrsg.]: Art. „Pavane“. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon in vier Bänden und einem Ergänzungsband. Zürich u.a. 2001, Bd. 3, S. 282). 615 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155. 616 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 381. Die Behauptung, der Wanderer beobachte in diesem Lied einen Leichenzug – was so weit geht, dass der dritte Schlag des fünften Taktes als Abstellen des Sarges interpretiert wird (vgl. ebd., S. 379) – stellt mit Sicherheit eine Überinterpretation dar; es steht schlicht nicht im Text. Zudem wäre dies genau die Art von Tonmalerei, die die meisten Wissenschaftler in der „Winterreise“ als erfolgreich vermieden betrachten. 617 Vgl. ebd., S. 383. An Georgiades´ Beobachtung knüpft Ludwig Haesler an (vgl. HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen Realisierung, S. 392 f.), indem er behauptet, nicht nur „Das Wirtshaus“, sondern auch die vier es umgebenden Lieder seien „aus dem gleichen musikalischen Kernpartikel“ gebildet, „das aus der Anfangstonreihe des Kyrie“ stamme (ebd., S. 393). Dadurch bestehe zwischen diesen Liedern nicht nur ein psychologischer, sondern v.a. auch ein musikalischer Zusammenhang, der eine Umstellung der Schubertschen Reihenfolge unmöglich mache. 613 115 akkordischen Sätze auch an Choräle.618 Den „schlicht[en]“ Gesang der „Nebensonnen“ betrachtet Georgiades als „Inbegriff der Trauer, das Unabänderliche konstatierend“.619 „Einsamkeit“ steht in einem „trauermarschartigen Rhythmus“;620 gleiches gilt laut Georgiades speziell für das Nachspiel von „Irrlicht“.621 Der Chaconne-Bass in „Auf dem Flusse“ erweckt „den Eindruck des Immer-Gleichen, des Starren, des Entwicklungslosen“.622 Die oben besprochene fortlaufende Motorik, die in „Erstarrung“ und in verschiedenen anderen Liedern der „Winterreise“ auftaucht, erzeugt hingegen ein Gefühl der Ruhelosigkeit.623 Auch die rhythmisch gegenläufigen Akzente in „Der Lindenbaum“ (T. 29 ff.) bewirken den Eindruck von Unruhe, der sogar in den Durstrophen noch anhält.624 Einen ähnlichen Effekt hat die Verkürzung der Notenwerte in der vierten Strophe von „Auf dem Flusse“, in der die 16tel zu Triolen und die Achtel zu 32teln werden.625 5. 5. 3 Harmonik Schuberts Zeitgenossen bringen dem Lied nicht nur in Bezug auf die Form, sondern auch in Bezug auf die Harmonik gewisse Hörerwartungen entgegen: Ebenso wie im Fall der Melodik ist man hier relativ einfache Mittel gewohnt. Rückungen in entfernte Tonarten oder plötzliche Wechsel zwischen Dur und Moll sind eher die Seltenheit. Schubert setzt sich jedoch häufig auch über diese Konventionen hinweg.626 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern integriert er auch solche harmonischen Verfahren in seine Lieder, die diese „nur bei größeren Gesängen dramatischen Gehalts“ verwendet hatten.627 So weicht er etwa an manchen Stellen in den subdominantischen Bereich aus, wenn es darum geht, „Ausnahmezustände[...]“ – Angst, Traurigkeit oder Tod – zum Ausdruck zu bringen628; in der liedhaften Periode ist dies hingegen ein eher unübliches Verfahren. Ein Beispiel für die Anwendung dieses harmonischen Mittels ist das Lied „Die Post“629: Es steht in Es-Dur, doch wenn quasi von der Beschreibung der äußeren Realität in das Innere des Wanderers „hineingeblendet“ wird („mein Herz“, T. 15), ist eine 618 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 387. 620 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 247. 621 Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 367. 622 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 85. 623 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155. 624 Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 156. 625 Vgl. ebd., S. 157 f. 626 Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158. 627 Dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 15. 628 Ebd., S. 169. 629 Vgl. hierzu: dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 247 f. 619 116 Ausweichung nach Des-Dur, das im Quintenzirkel weiter unten liegt, feststellbar. Die Traurigkeit des Wanderers, die im Text eigentlich nicht explizit besprochen wird, scheint also durch die Harmonik ausgedrückt zu werden. Später findet sogar noch eine weitere Modulation in das noch tiefer liegende Ges-Dur statt, dem in Schillings „Encyclopädie“ gar kein eigener Artikel gewidmet ist. Dittrich ist der Auffassung, dass durch diese ungewöhnliche Tonart angedeutet werde, dass das „persönliche Erleben des Erzählers gleichsam weit außerhalb des Üblichen“ liege.630 Es kommt in der „Winterreise“ häufig vor, dass „ein scheinbar positiver Text von der Harmonik negativ interpretiert“ wird.631 Auch den durchaus üblichen so genannten „Neapolitaner“, einen Moll-SubdominantDreiklang mit kleiner Sexte anstatt Quinte, der schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts gebraucht wird, um Leiden zu signalisieren, verfremdet Schubert ein wenig, indem er ihn z.B. als verselbständigten Akkord einsetzt.632 Zu finden ist er u.a. im Vorspiel von „Die Krähe“. Grundsätzlich scheint er sich bei Schubert häufig in Verbindung mit Tod, Trauer und Einsamkeit zu finden.633 In „Der Lindenbaum“ taucht er in T. 53 und 54 auf, und weist somit auch hier auf eine innere Verfassung des Wanderers hin, die im Text gar nicht benannt wird.634 In den gleichen Zusammenhang gehören übrigens auch die Plagalschlüsse anstelle von authentischen Kadenzen, die bei Schubert häufig auf „Einsamkeit, Trauer oder Tod“ hinweisen635; zu finden sind derartige Schlüsse etwa in „Letzte Hoffnung“ (T. 46 f.) oder „Die Krähe“ (T. 42 f.). Anderer Mittel wie z.B. dem der Terzrückung, die, wenn sie im Quintenzirkel nach oben gerichtet ist, eine aufhellende, wenn sie sich in weiter unten liegende Tonarten bewegt, eine verdunkelnde Wirkung besitzt, bedient sich Schubert oft ganz im Sinne der Tradition.636 In „Der Wegweiser“ etwa erklingt eine solche Rückung von D-Dur nach bMoll.637 In „Die Nebensonnen“ findet ab Takt 20 ebenfalls eine Abwärtsbewegung in der Harmonik statt, was Georgiades mit einem „musikalischen ‚Nennen’ der Trauer“ gleichsetzt.638 Manchmal aber modifiziert Schubert auch die Verwendung dieses harmonischen Mittels: Die aufwärts gerichtete Rückung von A-Dur nach Cis-Dur, die in 630 Ebd., S. 248. Ebd., S. 256. 632 Vgl. ebd., S. 162. 633 Vgl. ebd., S. 166. 634 Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 106. 635 Dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 162. 636 Vgl. ebd., S. 159 f. 637 Vgl. ebd., S. 252. Im Charakter von b-Moll schwingt außerdem Schubart zufolge die „Vorbereitung zum Selbstmord“ mit (SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 378). 638 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 389. 631 117 „Die Nebensonnen“ auftaucht, erklingt zu den Worten „im Dunkeln wird mir wohler sein“ (T. 27 ff.), was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. In diesem Fall soll aber offenbar angedeutet werden, dass die „Gesamtaussage des Liedes“, „die Wendung zum Tod“, akzeptiert wird.639 „Der Wegweiser“ enthält in den Takten 57 ff. das harmonische Modell einer Zirkelmodulation, der so genannten „Teufelsmühle“: Über einer chromatisch aufsteigenden Basslinie erfährt der in T. 57 eingeführte verminderte Septimakkord mehrere Umkehrungen, wodurch sich jeweils „neue tonale Richtungen“ eröffnen.640 Seidel, der die Stelle ausführlich analysiert hat641, weist darauf hin, dass dieses Modell auch bei Beethoven, Mozart und anderen Komponisten vorzufinden sei und bereits „eine wenigstens hundertjährige Geschichte hinter sich“ habe.642 Laut Budde stellt dieser Klang die „harmonische Zielrichtung“ in Frage, womit die Harmonik auch dem Inhalt entspricht: „So wie der Wegweiser, den der Wanderer erblickt, ins Nichts führt, so bewegt sich die Harmonik in einem ziellosen Labyrinth, aus dem es kein Zurück mehr gibt“.643 In „Der Leiermann“ wie auch in einigen anderen Liedern Schuberts wird Feil zufolge „die Tonalität als Grundlage ignoriert“, wodurch das „Ende der abendländischen Musik“ markiert werde: Es sei ein Signal dafür, dass ein „neues Zeitalter der Musik“ begonnen habe.644 5. 5. 4 Melodik Auch die zu seiner Zeit üblichen Gepflogenheiten im Bereich der Melodik verändert Schubert in seinen Liedern – was natürlich jeweils einem ganz bestimmten Zweck dient. Die Bedeutung von Tonwiederholungen, die bei ihm übrigens nicht nur in rezitativischen, sondern auch in melodiösen Liedteilen Verwendung finden, wurde 639 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 89. 641 Vgl. SEIDEL, Elmar: Ein chromatisches Harmonisierungs-Modell in Schuberts Winterreise. In: Archiv für Musikwissenschaft. Hrsg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. 26. Jahrgang, 1969. Wiesbaden 1969, S. 285-296. 642 Ebd., S. 291. Vgl. dagegen: ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“. Zenck bestreitet Seidels Behauptungen, indem er entgegenhält, dass der „Zirkel“ der Modulation sich bei Schubert nicht schließe (vgl. ebd., S. 155 f.); der Komponist wolle das Harmonisierungsmodell also offenbar nicht in der traditionellen Weise verwenden, sondern bewusst davon abweichen (vgl. ebd., S. 158). Zenck spricht deshalb von der „a-topische[n] Topik der Harmonik“ dieser Stelle (ebd., S. 156). 643 BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 90. Da an dieser Stelle die Kontroverse von Seidel und Zenck nicht ausführlicher diskutiert werden kann, sei hier nur noch darauf verwiesen, dass Zenck, obwohl er die Verwendung der „Teufelsmühle“ bestreitet, zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt wie Budde: Zenck zufolge entsprechen die sich niemals auflösenden Dominantseptakkorde dieser Passage dem Wegweiser, der den Wanderer in die Irre führt (vgl. ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 158). 644 FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 149. 640 118 bereits betont. „Der Wegweiser“ beispielsweise ist beinahe durchgehend von solchen Tonwiederholungen geprägt. Die sehr einfache Melodie von „Täuschung“ deutet auf die Selbsttäuschung des Wanderers hin.645 Die auch hier vorkommenden Tonwiederholungen sind überdies ein Hinweis darauf, dass hinter dem scheinbar fröhlichen Charakter des Liedes in Wahrheit eine ganz andere Stimmung steckt.646 Im Gegensatz dazu kommen bei Schubert auch oft unsangliche, d.h. große Intervalle vor, die, wie oben erläutert, im Lied ungebräuchlich sind. Sie „können Negatives oder Unstimmigkeit andeuten“: Ein Beispiel sind die Sprünge fis´-d´´ bzw. e´-d´´ in den Takten 8 und 9 in „Im Dorfe“.647 Auch auf Schuberts Verwendung rezitativischer Passagen (die zu seiner Zeit eigentlich eher in größeren dramatischen Formen Verwendung finden) wurde oben schon hingewiesen. Sie dienen dazu, einen gesteigerten Affekt anzuzeigen. Außer den bereits aufgeführten Beispielen wäre hier noch der „Frühlingstraum“ zu nennen, in dem sehr melodiöse Teile (z.B. Takt 5-14) jeweils mit eher deklamatorischen Passagen (z.B. Takt 15-26) abwechseln. In „Die Nebensonnen“ hat die Singstimme während des gesamten Liedes den Charakter eines Rezitativs. Sehr dramatisch wirkt auch die rezitativähnliche Stelle in „Die Krähe“, bei der der Wanderer den Vogel anspricht (T. 16 ff.). FischerDieskau bemerkt ‚entgegendulde[...]’“: dazu, „So dass exakt der Wanderer komponiert sich Schubert hier die „dem Wahnsinn Psychologie des Melancholikers, daß er hier den Sänger aus der Melodie heraustreten und rezitativähnlich fragen läßt: ‚Krähe, wunderliches Tier, willst mich nicht verlassen?’“648 Leider erklärt Fischer-Dieskau nicht, was genau er unter der „Psychologie des Melancholikers“ versteht. Chromatik erscheint bei Schubert – ganz im Sinne der Tradition – dann, wenn Ausnahmezustände, z.B. „Schrecken oder Resignation“, markiert werden sollen.649 Ein Beispiel hierfür wäre das Lied „Der greise Kopf“, in dem auf die Worte „daß mir´s vor meiner Jugend graut“ eine chromatische Linie nach oben geführt wird (T. 20 ff.). Manchmal kann durch chromatische Wendungen, die eher subtile harmonische Spannungen erzeugen, auch etwas ausgedrückt werden, was im Text nicht so explizit gesagt wird650: Als ein Beispiel kann hier wiederum das schon erwähnte Schwanken zwischen C-Dur und H-Dur in „Der Lindenbaum“ dienen. 645 Vgl. LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 624. Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 251. 647 Ebd., S. 156. 648 FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 338. 649 DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 96. 650 Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 160. 646 119 Durch die Abwärtsführung von Melodielinien wird der Eindruck von Resignation erweckt651; dies gilt gleich für die ersten Töne des Zyklus in „Gute Nacht“. Die letzten beiden Töne des Werks, g-fis, bilden eine abwärts gerichtete kleine Sekunde – eine Figur, die Budde zufolge sogar bereits in der Barockmusik für „Trauer und Leid“ steht.652 Eine Reduktion der Stimmenzahl – evtl. bis zum Unisono oder Oktavunisono – kann Leblosigkeit, oder, wie im Falle von „Der Wegweiser“, „Ausweglosigkeit“ ausdrücken (wobei hier auch Chromatik und Tonwiederholungen verwendet werden, wodurch „gleich drei semantische Bedeutungen anklingen: Schrecken, Trauer“ und der „Todesgedanke[...]“).653 „Der stürmische Morgen“ beginnt mit Unisono-Führung; Lowen Marshall erklärt sich dies so, dass volle Harmonien die „inward coldness“ nicht so eindrücklich darstellen könnten.654 Interessant ist die Beziehung von Melodieführung und Klavierbegleitung in „Im Dorfe“: Georgiades weist darauf hin, dass die Begleitung hier „weder als reine Spielbegleitung anzusehen ist, noch mit dem Gesang verschmilzt“.655 Dies entspricht auch der Situation des Wanderers: Er ist von der Gesellschaft (im Lied stehen hierfür das „Gebell“ und „Kettengeklirr“ in der Klavierstimme) völlig isoliert.656 In „Die Krähe“ steht die Triolenbewegung im Klavierpart (die das kreisende Fliegen oder, wie oben schon erwähnt, das Flattern des Vogels musikalisch umsetzt) der gehenden 2/4-Bewegung des Wanderers gegenüber; dies könnte man auf abstrakterer Ebene auch dahingehend deuten, dass im Wanderer ein innerer Kampf stattfindet zwischen dem Wunsch zu sterben und seinem Zwang, weiterwandern zu müssen.657 Die offenen Quinten im Klavierpart von „Der Leiermann“ interpretiert Lowen Marshall als Symbol für das frustrierende Leben des Wanderers, die Monotonie dieser Begleitung als seine „pathological fixation“ auf die Sinnlosigkeit seines Daseins.658 5. 5. 5 Tongeschlechter Schubert verwendet die Tongeschlechter oft, ganz der Tradition seit dem 16. Jahrhundert folgend, als Ausdruck von Freude (Dur) bzw. Trauer (Moll).659 In der 651 Vgl. ebd., S. 157. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 94. 653 DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 252. 654 LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 623. 655 GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 360. 656 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 250. 657 Vgl. HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen Realisierung, S. 390 f. 658 LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 629. 659 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158. 652 120 „Winterreise“ wirken die Lieder oder Passagen in Dur jedoch meist nicht unbedingt fröhlich, da sie häufig harmonisch, formal oder metrisch instabil sind. Dittrich sieht darin einen Grund für die „bedrückende[...] Wirkung“ der „Winterreise“.660 Die Durstrophe von „Gute Nacht“ kann hierfür als Beispiel dienen: Sie erscheint harmonisch weit weniger stabil als die Strophen in Moll.661 Moll scheint in der „Winterreise“ grundsätzlich dann aufzutauchen, wenn ein Bezug auf die gegenwärtige Realität des Wanderers vorliegt.662 Dies gilt z.B. für „Gefrorne Tränen“. Dittrich behauptet außerdem, dass das Dur sich in den ersten acht Liedern wie das Moll auf die Gegenwart beziehe, von da an aber auch in Verbindung mit den Illusionen und Selbsttäuschungen oder der Todessehnsucht des Wanderers erklinge (da von diesem Zeitpunkt an die Vergangenheit auch nicht mehr Gegenstand seiner Reflexionen sei). Wenn das Dur die Welt um den Protagonisten herum beschreibe, gehe dies fast immer mit einem negativen Textinhalt einher (z.B. in „Die Wetterfahne“, in der die gefühlskalten Eltern des Mädchens thematisiert werden; T. 30 ff.).663 Neu ist an der Behandlung der Tongeschlechter bei Schubert auch, dass er manchmal recht abrupt zwischen ihnen hin- und herwechselt, etwa zum Zweck der Strophenvariation.664 Ein Beispiel ist der „Frühlingstraum“, in dem Dur- und Moll-Teile übergangslos abwechseln. Manchmal setzt er sie auch, wie schon angedeutet, genau umgekehrt gegenüber ihrer traditionellen Verwendung ein, z.B. durch die Vertonung eines eigentlich negativen Textes in Dur und vice versa. Gerade das Vorkommen eines Durklanges an einer Stelle, wo eigentlich Moll stehen sollte, mutet häufig wie ein Verdrängungsversuch an. „Letzte Hoffnung“ etwa steht in Es-Dur, was aber nur selten erklingt; erst ausgerechnet am Schluss, bei den Worten „wein auf meiner Hoffnung Grab“ (T. 35 ff.), wird das Es-Dur richtig deutlich.665 Ein ähnlicher Fall liegt in „Im Dorfe“ vor: Hier wird die Passage „Ich bin zu Ende mit allen Träumen“ (T. 35 ff.) einmal in Moll, bei der Wiederholung in Dur harmonisiert, wodurch sich ausdrücken könnte, dass „der Wanderer seine 660 Dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 149. Vgl. ebd., S. 154. Schmid Noerr wertet die „ätherische Musik“ dieser Stelle als „Symbol reiner Versöhnung bei vollem Eingedenken des Leidens“ (SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 392). Diese versöhnliche Stimmung werde jedoch durch die letzten zuerst in Dur, dann in Moll erklingenden Worte wieder relativiert: Der Wanderer äußere einen leise nagenden Zweifel. Im Nachspiel schließlich würden diese Zweifel „objektiviert“: Es werde in diesen letzten Moll-Takten nicht mehr die Wahrnehmung des Subjekts dargestellt (ebd., S. 394), sondern der Blick werde nun „mit nüchterner Trauer“ von außen auf das Schicksal des Protagonisten gerichtet (ebd., S. 395). 662 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 148. 663 Vgl. ebd., S. 163. 664 Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158. 665 Vgl. ebd., S. 167. 661 121 Desillusionierung positiv bewerten möchte“.666 Ebenfalls wie eine Selbsttäuschung wirkt das Dur in „Mut“, das jedoch bei der Wiederholung der dritten Strophe (T. 49 ff.) „wie ein Versprecher“ doch nach g-Moll führt.667 Eine vergleichbare Wirkung hat das Zurückfallen der Harmonik in die Molltonart in „Gute Nacht“ (T. 98 ff.). Die tatsächliche Empfindung des Wanderers kommt auch hier durch dieses Mittel zum Vorschein.668 Zusammenfassung und Ausblick Das Hauptanliegen dieser Arbeit bestand darin, die „Winterreise“ von Wilhelm Müller und Franz Schubert in den Melancholie-Diskurs einzuordnen, ihre zyklische Struktur zu untersuchen und auch den Zusammenhang zwischen dieser Struktur und der im Werk vermittelten Melancholie aufzuzeigen. Es wurde deutlich, dass über Melancholie schon seit der Antike in den unterschiedlichsten Disziplinen ein reger Diskurs stattfindet, was auch bedeutet, dass das Phänomen im Lauf der Geschichte sehr verschiedene Bedeutungen besitzt, die oft auch nebeneinander bestehen bleiben. Während es in der Antike als Krankheit oder, bei richtiger Zusammensetzung der Körpersäfte, als geniale Veranlagung verstanden wird, gehört es im Mittelalter zu den Sieben Todsünden. Diese ambivalente Sichtweise auf die Melancholie charakterisiert auch ihre ganze weitere Geschichte. So wird sie z.B. im 18. Jahrhundert von der Medizin als Form des Wahnsinns und von den Aufklärern als religiöse Schwärmerei abgestempelt, während sie in der Philosophie und in der Kunst – in Anlehnung an die Auffassung der Antike und auch der Renaissance – eine deutliche Aufwertung erfährt. In der Restaurationszeit, in die auch die Entstehung der „Winterreise“ fällt, äußert sich die Melancholie in Form des Weltschmerzes, der u.a. politische, wirtschaftliche und weltanschauliche Ursachen hat. Wie gezeigt werden konnte, sind Wilhelm Müller und Franz Schubert wie viele andere Intellektuelle ihrer Zeit ganz offenbar auch von diesem Weltschmerz betroffen, was zunächst einmal eine Erklärung für die Entstehung des Werks liefert (denn vor allem in Müllers Leben lassen sich keine „äußeren Gründe“ dafür finden, warum er eine so melancholische Dichtung hätte schaffen sollen). Zugleich trägt die Erkenntnis, dass der Weltschmerz den sozialhistorischen Hintergrund der „Winterreise“ darstellt, aber auch Wesentliches zu deren Verständnis selbst bei. So lassen sich etwa in den Gedichten Motive feststellen, die man als „typisch 666 Ebd., S. 250. Ebd., S. 253. 668 Vgl. ebd., S. 159. 667 122 weltschmerzlerisch“ bezeichnen könnte; zugleich zeichnen sich durch sie das Verhalten und die Gemütsverfassung des Protagonisten aus (seine Desillusionierung und sein Nihilismus sind unter anderem dazu zu zählen). Und auch im ganz Kleinen bestimmt der Weltschmerz die poetische Gestaltung des Zyklus: Das unscheinbare Motiv der verwelkten Blume z.B. wird, wie Harald Bost gezeigt hat, in der Weltschmerz-Literatur häufig verwendet und taucht eben auch in der „Winterreise“ auf. Das Motiv der Todessehnsucht, die der Wanderer schon von einem frühen Zeitpunkt seiner Reise an und bis zu deren Ende verspürt, stellt ebenfalls ein weltschmerzlerisches Motiv dar – man könnte auch sagen: typisch spätromantisches Motiv, denn die Spätromantik ist die eigentliche künstlerische Epoche, in der die „Winterreise“ entsteht –, weil derartige Empfindungen aufgrund der historischen Bedingungen der Entstehungszeit des Werkes verbreitet sind und deshalb auch vielfach künstlerisch verarbeitet werden. Andererseits konnte dargelegt werden, dass die Todesneigung den Melancholiker bereits seit der Antike auszeichnet. Und so sind noch mehrere Motive in der „Winterreise“ enthalten, die eben nicht nur weltschmerztypisch sind, sondern durch die auch der Bezug des Werks zum uralten Melancholie-Diskurs deutlich wird (so wie die Traurigkeit oder die Einbildungskraft des Wanderers und andere mehr). Wenn von der „Melancholie“ dieses Zyklus die Rede ist, so bezeichnet das Wort hier also mehr als nur eine „traurige Stimmung“. Die Melancholie äußert sich in der „Winterreise“ vielmehr auf mindestens drei Ebenen: Sie ist der Grund für ihre Entstehung, sie bestimmt ihre künstlerische Gestaltung und sie durchdringt ihren ganzen Inhalt. Als in der Epoche des Weltschmerzes entstandenes und somit von spätromantischer (aber eben zugleich auch von „zeitloser“) Melancholie beherrschtes Werk lässt sich dieses eindeutig in den Melancholie-Diskurs einreihen. Diese Melancholie lässt sich natürlich auch in der Musik wieder finden und aufzeigen. Schubert verwendet bestimmte kompositorische Mittel – manche davon sind traditioneller Art, manche neu, manche traditionell, aber ungewöhnlich im Lied –, um die melancholische Stimmung der Texte auch in der Vertonung zum Ausdruck zu bringen. Hierzu gehören Tonartencharakteristik, die Verwendung alter feierlicher Tanzrhythmen, harmonische Besonderheiten wie der Neapolitanische Sextakkord, der bei Schubert häufig mit dem Todesgedanken verbunden ist, und viele weitere. Was für Text und Musik der „Winterreise“ ebenfalls nachgewiesen werden konnte, ist deren zyklische Anlage. Es wurden vier zyklische Merkmale aufgestellt (Linearität, Kohärenz, Mittelpunktsbezogenheit und Geschlossenheit), die auf beiden Ebenen erfüllt sind. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen der Melancholie (also dem Inhalt) und der Zyklik (also der Struktur) des Werks deutliche Zusammenhänge bestehen. So wirken 123 z.B. die oben genannten Melancholie-Motive kohärenzstiftend im Zyklus, und das motivisch-thematische Zentrum, auf das sich alle Gedichte beziehen, ist die Wanderschaft (die wiederum ein typisches Melancholie-Symptom darstellt). Die „gehende Bewegung“, die für die Komposition bestimmend ist, entspricht wiederum diesem Motiv der Wanderschaft im Text. Die Geschlossenheit des Zyklus schließlich, die auf textlicher Ebene als Möglichkeit der ständigen Wiederholung der Gedichte identifiziert und auch auf musikalischer Ebene nachgewiesen werden konnte, entspricht einem Charakteristikum des Melancholikers, das Sigmund Freud diesem zuschreibt: seiner Angewohnheit, seine Klagen ständige aufs Neue wiederholen zu wollen. Die vielleicht faszinierendste Erkenntnis aus meinen Untersuchungen war für mich die Tatsache, dass die Melancholie ein so allgegenwärtiges, in eigentlich allen Epochen präsentes und auch immer wieder neu diskutiertes und interpretiertes Phänomen darstellt. Man versteht darunter zwar in der Antike etwas anderes als etwa in der Restaurationszeit, und in der Restaurationszeit wiederum etwas anderes als heute, aber manche Bedeutungen der Melancholie bleiben über fast alle Zeiten hinweg erhalten. Die Gründe für die Melancholie sind zu jeder Zeit andere, und auch in Zukunft werden sich diese Gründe immer wieder verlagern. Aber es wird sie immer geben. Sie ist ein allgemeinmenschliches Phänomen. Meiner Überzeugung nach liegt es auch genau hierin begründet, dass sich kein ernsthafter Leser bzw. Hörer der „Winterreise“ deren bedrückender Wirkung zu entziehen vermag. Das Werk mag die spätromantische Melancholie des Weltschmerzes im speziellen enthalten – und in diese Epoche der Restaurationszeit mit ihren Nöten und Problemen kann sich heutzutage wohl niemand mehr wirklich hineinfühlen. Aber dadurch, dass sie auch durch „zeitlose“ Anklänge an den Melancholie-Diskurs geprägt ist, empfindet man sie als immer noch aktuell und fühlt sich davon auch immer noch tief bewegt und angesprochen. Auf der anderen Seite scheint es mir aber auch so zu sein, dass manche Ursachen des damals verbreiteten Weltschmerzes selbst unsere heutige Gesellschaft noch umtreiben; über wirtschaftliche Probleme im Kleinen wie im Großen etwa wird überall geklagt, und auch der Metaphysikverlust jener Zeit scheint sich bis ins 21. Jahrhundert hinein eher noch vertieft als entspannt zu haben. Vielleicht sind Müller und Schubert und ihre Zeit gar nicht so weit von uns entfernt, wie wir zunächst denken? Für die extrem große Faszination, die der Zyklus auch heute immer noch auf alle Rezipienten ausübt, spricht jedenfalls nicht zuletzt, dass er nach wie vor seinen festen Platz in Konzertprogrammen hat. Zudem regt er noch immer zur künstlerischen Auseinandersetzung an: So existieren z.B. eine Neuvertonung der Gedichte von Reiner 124 Bredemeyer von 1984 und eine Bearbeitung des Werks für Tenor und Orchester von Hans Zender (1993). Es wäre überaus interessant gewesen, neben Schuberts Vertonung auch diese zeitgenössischen musikalischen Umsetzungen des Müllerschen Gedichtzyklus zu untersuchen. Spielt die Melancholie hier ebenfalls eine so tragende Rolle? Und wenn ja, in welcher Weise kommt sie dann in diesen modernen Fassungen des Zyklus zum Tragen? Die Erforschung dieser Fragen hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, könnte aber in eigenen Untersuchungen durchaus aufschlussreich sein. 125 Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur: • MÜLLER, Wilhelm: Die Winterreise. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von Maria-Verena LEISTNER. Band I: Gedichte I. Berlin 1994, S. 170186. 2. Notenausgabe: • SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie IV: Lieder. Bd. 4, Teil a. Vorgelegt von Walther DÜRR. Kassel u.a. 1979, S. 110-191. 3. Quellen: • MAYRHOFER, Johann: Erinnerungen an Franz Schubert. In: Über Schubert. 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Stuttgart 1987, S. 141-160 136 Wahrheitsgemäße Erklärung Ich erkläre hiermit, dass ich • die eingereichte Magisterarbeit selbständig und ohne unerlaubte Hilfsmittel angefertigt habe, • außer den im Schrifttumsverzeichnis angegebenen Quellen und Hilfsmitteln keine weiteren benutzt und alle Stellen, die aus dem Schrifttum ganz oder annährend entnommen sind, als solche kenntlich gemacht und einzeln nach ihrer Herkunft unter Bezeichnung der Ausgabe (Auflage und Jahr des Erscheinens), des Bandes und der Seite des benützten Werkes in der Magisterarbeit nachgewiesen habe, • alle Stellen und Personen, welche mich bei der Vorbereitung und Anfertigung der Magisterarbeit unterstützten, genannt habe, • die Magisterarbeit noch keiner anderen Stelle zur Prüfung vorgelegt habe und dass dieselbe noch nicht anderen Zwecken – auch nicht teilweise – gedient hat. Erlangen, den .................................. .................................................... (Unterschrift) 137 Lebenslauf der Verfasserin Julia Hartel, geb. Ganzleben Geboren am 13. März 1982 in Pegnitz, verheiratet Werdegang: 1988 - 1992 Volksschule Graserschule Bayreuth 1992 - 2001 Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium Bayreuth (musisches Gymnasium) Abitur im Mai 2001 (Note: 1, 5) Leistungskurse: Deutsch, Musik Auszeichnung des Historischen Vereins von Oberfranken für die Facharbeit zum Thema „Der Bayreuther Madrigalchor und sein Leiter Hans Schmidt-Mannheim“ WS 2001/02 bis WS 2003/04 Studium der Fächer Deutsche Philologie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Regensburg Seit SS 2004 Studium der Fächer Neuere deutsche Literaturgeschichte, Musikwissenschaft und Germanistische Linguistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Praktische Tätigkeiten: Praktika am Theater Regensburg sowie bei der Mittelbayerischen Zeitung Regensburg (Kulturredaktion) Seit Juli 2002 Freie Mitarbeit für die Kulturredaktionen der Mittelbayerischen Zeitung und der Erlanger Nachrichten Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Latein Privates Engagement: Diverse Konzertauftritte als Musikerin (Violoncello und Klavier) (sowohl solistisch als auch im Ensemble) 2001 – 2004 Mitglied des Universitätsorchesters Regensburg Seit 2003 Redaktionsmitglied in der bundesweiten Jugendzeitschrift „Youngsta“