Infoblatt Konzept Die Sehnsucht nach Harry Potter

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Infoblatt Konzept Die Sehnsucht nach Harry Potter
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H.de Waal/I. Muhr
Konzept
Die Sehnsucht nach Harry Potter
Überblick:
Im Gegensatz zur üblichen Reflexion sehen wir die Faszination Harry Potters
nicht wesentlich in der Fantastik, dem Märchenhaften der Geschichte. Das allein
ist seit Tolkiens "Herr der Ringe" und Bradly-Zimmers " Die Nebel von Avalon"
nichts Besonderes, sondern im Gegenteil, wenn man sich die Produktion an
"Fantasy" ansieht, schon reichlich abgenudelt. Wir sehen die Besonderheit Harry
Potters wesentlich in der Belebung eines bewährten "Genres", nämlich der
Internatserzählung in fantastischer Form als einer Art "Auszeit" von der
Erwachsenenwelt in Kombination mit vielfältigen Formen von Initiation und
Problembewältigung auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Die Fantastik gibt
dazu lediglich das "postmoderne" Gewand ab.
Wir stellen diese Zusammenhänge nicht nur banal fest, um eine plausible
Erklärung für den grandiosen Produkterfolg der Harry-Potter-Literatur zu finden,
sondern
weisen
darüber
hinaus
auf
die
Bedeutung
wichtiger
Realisationsmöglichkeiten kindlicher und jugendlicher, gelegentlich auch
erwachsener Identifikation bei Fragen der Selbstfindung und der Rollensuche in
der Gesellschaft hin.
Die Geschichten um Harry Potter können als metaphorische Schilderung des Heimlebens
verstanden werden: Die Eltern sind nicht (mehr) da; in die Pflegefamilie - die in Fällen
kleinfamiliärer Grenzen in der Regel immer zuerst im weiteren Verwandtenkreis gesucht wird
- passt das Kind auch nicht, es wird dort zum andauernden Störfall, den die Pflegefamilie
schlussendlich ebenso wenig verkraftet wie das Kind selbst; somit steht einer Heimkarriere
nichts mehr im Weg, im Gegenteil, sie ist unvermeidlich.
Die Zauberei dient der würdigen Erklärung des Weges ins Heim (Internat). Denn Harry Potter
ist anders, das ist offensichtlich.
Aber nicht weil er asozial oder verhaltensgestört ist, eckt er an, sondern er gehört einer
anderen, geheimnisvollen und mächtigen Spezies an, die eine gesonderte Ausbildung und
Unterbringung rechtfertigt und sogar benötigt: Harry Potter ist Zauberer und zwar von Geburt
an, ein Geheimnis, das seine unbekannten Eltern ihm mit auf den Lebensweg gegeben
haben.
Dieses Erklärungsmodell konterkariert ein übliches Erklärungsmodell abweichenden
Verhaltens: Harry Potters "Anderssein" ist angeboren und offenbar auch genetisch bedingt,
aber es stellt sich als eine Auszeichnung heraus, nicht als Makel.
Seine Eltern haben nicht versagt, sondern sie sind bei einer - bislang noch nicht bekannten,
aber - äußerst wichtigen Mission, und zwar für die Allgemeinheit, vielleicht sogar für die
Menschheit, abhanden gekommen.
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Hier wird das zweite übliche Erkärungsmodell abweichenden kindlichen Verhaltens anders
konnotiert. Die Eltern Harry Potters sind nicht schuld an seiner Verwaistheit, sie sind
abwesend, weil sie im Dienst einer höheren Sache gestanden haben, die über das Aufziehen
eines Kindes gestellt werden musste. Bereits Sigmund Freud hat in seinem Aufsatz "Der
Familienroman des Neurotikers" auf die varianten Möglichkeiten kindlicher Fantasie
hingewiesen, sich missglückt empfundene Elternschaft positiv zu erklären.
Im Falle sozialpädagogischen Arbeitens verhält sich die Ausgangssituation nicht viel anders:
Die Eltern fallen - aus welchem Grund auch immer - für das Wahrnehmen ihrer Elternpflichten
aus (das meint heutzutage meist nicht mehr die physische Unmöglichkeit der Übernahme der
Obsorge), oft ist es nur ein Teilausfall (z.B die Unmöglichkeit, den Kindern/Jugendlichen
soziale Werte durch entsprechende erzieherische Handlungen zu vermitteln bei einer
grundsätzlichen guten Bindung zwischen Eltern und Kindern). Dieser Ausfall an elterlicher
Kompetenz macht es notwendig, sich für das Erreichen bestimmter Ziele nach alternativen
erzieherischen Möglichkeiten umzusehen. Oft kann in solchen Fällen auf Verwandte
zurückgegriffen werden, doch manchmal passt dieser Rahmen eben nicht mit den
Möglichkeiten und Bedürfnissen des Kindes zusammen oder es gibt ihn einfach nicht: dann
überlegt die zuständige Sozialarbeiterin, welche sozialpädagogische Einrichtung für solch ein
Kind einen passenden Rahmen mit der passenden Struktur abgeben könnte. Und gerade mit
der würdigen Erklärung des Weges in eine Einrichtung haben Eltern und Sozialarbeiter ihre
liebe Not, da wünschte sich wohl manche Fachkraft die Erklärung, die Harry Potter
zugeschrieben wurde!
Nehmen wir nun die Geschichte Harry Potters als Vorbild einer positiv konnotierten,
erfolgreichen „Heimkarriere/Internatskarriere“, so finden wir folgende Vergleichsansätze:
Hier im Heim (im Internat) erlebt das Kind erstmals eine positive Konnotierung seines
Andersseins und diese positive Konnotierung des Auffälligseins ist das Genie dieses Buches.
In Hogwarts macht Harry die Entdeckung, dass
1. er nicht der einzige Andere ist, dass es also eine Gruppe gibt, der er zugehörig sein kann
und die er nicht ständig durch sein So-Sein stört. Dies ist eine Erfahrung, die auch Kinder
und Jugendliche, die in eine sozialpädagogische Einrichtung kommen, als erstes sehr
erleichtert machen, nämlich, dass sie in einer Gruppe nicht immer zwangsläufig
Außenseiter sind, sondern Teil einer Gemeinschaft.
Aber Harry verschwindet auch nicht in dieser grauen Masse der Anderen, sondern erhält
sich
hier seine Besonderheit und Individualität durch seine Herkunft. Im Pool der
Anderen wird die Verschiedenheit und Individualität der Anderen immer wieder konturiert.
Auch hier drängt sich der Analogieschluss zum Kind, das in einer Einrichtung
untergebracht ist, auf: Kinder bleiben neben ihrer temporären Zugehörigkeit zum System
Heim/Internat auch die Individuen, die sie kraft ihrer Herkunft sind mit all ihren wichtigen
Bindungsund
Bezugspersonen,
ihren
liebenswerten
Besonderheiten
und
problematischen Verhaltensweisen. Also nicht: Heimkind/Internatszögling, sondern: Anton,
der gut singen kann, in der Schule schwach ist, sich sehr für seine Freunde einsetzt und
mit dem Einhalten allgemein üblicher sozialer Regeln seine Schwierigkeiten hat.
2. es etwas gibt, was für ihn passt. Harrys Schicksal ist also nicht darin besiegelt, auf
Lebenszeit einer zu bleiben, der nirgends dazugehört, nicht passt und stört, sondern es
gibt tatsächlich einen Lebensraum, der seiner Person und allem, was ihn ausmacht,
gerechter werden kann als der Platz, auf dem er sich durch die Lebensumstände bedingt
befindet. Auch diese Erfahrung machen wir in der Arbeit mit auffälligen Kindern und
Jugendlichen immer wieder, nämlich dass es in der Arbeit mit ihnen - neben anderem
auch - darum geht, einen Rahmen zu finden, der dem Kind/Jugendlichen besser
entspricht.
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Etwa kann im speziellen Fall ein Schulwechsel und damit bedingt der Wechsel des sozialen
Milieus oder einer veränderten Lehrerin-Kind Beziehung einem Kind deutliche Erleichterung
verschaffen.
Wenn wir die Geschichten rund um den Zauberer und seine Erlebnisse psychologisch im
Sinne des Erwachsenwerdens betrachten, so sind die Abenteuer und Ängste, die Harry
Potter immer wieder durchlebt, ebenso wie die Fragen nach der eigenen Herkunft und nach
dem persönlichen Bestehen in der zukünftigen Welt Fragen und Phänomene, die jedes Kind und somit jeden Menschen - betreffen. Das macht unserer Ansicht nach ebenso einen Teil
der Attraktivität der Bücher nicht nur für Kinder aus.
Die beschriebene Schule in Hogwarts ist ein Ort, in der Bindung im Sinne einer tragfähigen
und zeitüberdauernden Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern keine Rolle spielt.
Die Erwachsenen zeichnen sich nicht durch persönliche Nähe oder zugewandte Gewogenheit
aus, sondern halten zu den Schülern grundsätzlich Distanz (auch wenn sie ihnen gewogen
sind). In der modernen Sozialpädagogik setzen SozialpädagogInnen nicht mehr auf Bindung
zwischen ihnen und den Kindern, denn sie wissen, dass die meisten der untergebrachten
Kinder schon früher Bindungserfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen gemacht
haben und diese Bindungen bleiben auch besetzt (welche professionelle Erzieherin mit einer
40-Stunden-Woche könnte auch einem Kind das Bindungsangebot einer Mutter in seinem
ganzen Bedeutungsgehalt machen, ohne es nicht von vorneherein wissentlich enttäuschen
zu wollen?)
Die Schule von Hogwarts zeichnet sich durch eine klare Ordnung und ein klares Regelwerk
aus, die den Aufenthalt des einzelnen Schülers bei weitem überdauern und für Beständigkeit
garantieren.
Professor McGonagall begrüßt die Schulneuankömmlinge (Bd. 1 , S. 127) in der
Großen Eingangshalle wie folgt : „.........Die vier Häuser heißen Gryffindor, Hufflepuff,
Ravenclaw und Slytherin. Jedes Haus hat seine eigene, ehrenvolle Geschichte und
jedes hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Während eurer Zeit in
Hogwarts holt ihr mit euren großen Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn ihr
die Regeln verletzt, werden eurem Haus Punkte abgezogen...........“
Wenn wir uns das Procedere der Aufnahme, aber auch die Beschreibungen vom
Zusammenleben und der damit verbundenen Regeln ansehen, so drängt sich der
Analogieschluss
des
Lebensraumes,
den
Hogwarts
seinen
„Anderen“,
den
ZauberschülerInnen, anbietet, zu den Bedingungen, die Bruno Bettelheim in seiner
Orthogenic School in Chicago seinen kleinen psychiatrischen PatientInnen schuf, auf.
Zuerst ist da einmal die klare Trennung von Innen und Außen, Türen gehen auf und
schließen sich wieder. Es muss eine Barriere überwunden werden, um in den Bereich des
Anderen, Neuen vorzudringen. Diese Barriere vermittelt Sicherheit und Beschütztwerden,
besagt aber auch wortlos und deutlich, dass es ein Draußen gibt.
In Hogwarts ist es das dicke Eichentor des Schlosses, an das Hagrid dreimal klopfen muss,
damit sich die Türe öffnet, die sogleich den Weg freimacht in die riesige Eingangshalle, den
Ort für strukturierende Zeremonien und wichtige Eröffnungen.
Auch in der Orthogenic School gibt es eine schwere Tür, die die Lebenswelt der kleinen
PatientInnen von der Außenwelt trennt; Bettelheim ist wichtig, dass die Menschen diesen
Bereich selbstbestimmend verlassen können, um nicht im Gefühl des Eingesperrtseins
verharren zu müssen, aber dass umgekehrt dieser Bereich vor den unwillkürlichen Einflüssen
der „Außenwelt“ geschützt wird, also von außen her versperrt ist.
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„Die erste Begegnung mit einem Patienten (...) findet in einem Raum statt, der es uns
erlaubt, dem anderen gegenüber Distanz zu wahren. Dadurch erwarten wir weder
Vertrautheit noch zwingen wir sie dem anderen auf; ........Der Raum regt keine
Vertrautheit zwischen den Menschen an.“
Jedes einzelne Element der Eingangssituation ist im Zusammenhang mit
psychologischen Determinanten genau überlegt und hat Struktur, nichts wird dem
Zufall überlassen.
Der Eintrittssituation wird nicht nur baulich, sondern auch personell Bedeutung gegeben. Ein
Neuankömmling wird nicht durch irgendwen, sondern durch den Leiter oder einen von ihm für
diese Aufgabe vorgesehenen Stellvertreter begrüßt. Darin spiegelt sich die persönliche
Bedeutung jedes Einzelnen wider, der den neuen Lebensraum betritt. Wiederum bleibt nichts
zufällig. In Hogwarts ist es Professor McGonagall, die sich anfänglich um die
Neuankommenden bemüht und ihnen erste Informationen über das Zusammenleben hinter
dem Eichentor gibt, in Chicago begrüßt Bettelheim persönlich die Kinder, die ihm zur
Betreuung (und „Heilung“) überantwortet werden.
Der Tagesablauf ist ebenso wie der Jahresablauf klar geregelt und deklariert und wird
wichtigerweise eingehalten. Klare Regeln sind verhaltensleitend, jeder muss wissen, was
man darf und wie es läuft.
„Ich habe ein paar Mitteilungen zum Schuljahresbeginn: Die Erstklässler sollten
beachten, dass der Wald auf unseren Ländereien für alle Schüler verboten ist. Und
einigen von den älteren Schülern möchte ich nahe legen, sich daran zu
erinnern..............Die Quidditch-Auswahl findet in der zweiten Woche des Schuljahres
statt. Alle, die gerne in den Hausmannschaften spielen wollen, mögen sich an Madam
Hooch wenden.“ (Bd. 1, S.140)
Bruno Bettelheim schreibt in Zusammenhang mit der strukturgebenden Klarheit
seiner Schule: „Von Anfang an muss man sich bemühen, dem Patienten alles zu
zeigen, ihm genau zu erklären, was wo ist und wie er sich am besten zurechtfinden
kann. In der Orthogenic School wird jeder Patient, sobald er halbwegs mit seinem
Zimmer vertraut ist, schon ein paar Stunden nach seiner Ankunft im ganzen Haus
herumgeführt.“ (S. 126)
Wir sehen das Heim/Internat als einen eigenen Topos mit unschätzbaren Vorteilen an
Erlebnis- und Lernmöglichkeiten vor allem im sozialen Bereich, mit dem eigentlich keine
moderne Familie konkurrieren kann:
• Es gibt ein enorm vielfältiges Beziehungsangebot. Gerade für Kinder, die aufgrund
unzureichender Bindungserfahrungen und erlebter Beziehungsabbrüche keine stabilen
Beziehungsmuster erlernen konnten, ist die Gelegenheit zur Auswahl von
BezugspartnerInnen für verschiedene Bedürfnisse enorm wichtig, weil sie auch die
persönliche Distanz des Partners / der Partnerin wählen können.
• viele freie, unbekannte und öffentliche Räume; also Räume, die vor allem nicht
bindungsmäßig und damit emotional energieaufwändig im positiven und negativen Sinn
besetzt sind; Räume, die es zu erforschen gilt; Räume, die von allen, also auch mir
genutzt werden können, ohne für sie emotional verantwortlich zu sein.
• Die freien, nicht besetzten Räume (im eigentlichen und im übertragenen Sinn) werden mit
sicheren, verläßlichen Regeln gekoppelt. Dies schafft für das bedürfnisgerechte Umgehen
damit die notwendigen Voraussetzungen, bietet Freiraum und gleichzeitig sicheren Halt
an.
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Die Institution „Heim/Internat“ kann bei professioneller Gestaltung eine an sich reiche Welt
darstellen, reich an Möglichkeiten und unbekannten Dingen, die dennoch eng umschlossen
ist und eine eigene Kultur hat. Diese Welt lebt von der Auseinandersetzung des Kindes mit
dem Neuen, auch dem Bösen. Hogwarts kommt mit seinen detailgenauen und strukturierten
Beschreibungen der Örtlichkeiten und des Lebensalltages bzw. der Abweichungen vom
bekannten Alltag in dieser anderen Welt der Beschreibung eines professionellen Heimes und
den zwischenmenschlichen Begebenheiten unter seinen Bewohnern recht nahe: aus diesem
Grund halten wir die Bücher von J. Rowling für eine ideale Lektüre für alle Kinder, die
temporär oder kindheitsübergreifend in Heimen/Internaten aufwachsen, selbstverständlich
nicht nur für die Kinder, sondern auch für ErzieherInnen, HeimleiterInnen,
HeimpsychologInnen, denn ihnen allen, so scheint es zumindest, fehlt manchmal ein wirklich
positives und eigenständiges Bild vom Heim/Internat, das sie überzeugt vertreten können und
das nicht bloß defizitorientierte Imitation von Familie (immer kleinere Gruppen, der
aussichtslose Versuch stabiler persönlicher Bindung) darstellt.
Das führt uns zur zweiten Frage, nämlich: Worin besteht die Faszination Harry Potters für
alle, für die "NichtheimbewohnerInnen" und für die Erwachsenen, die von der zur Rede
stehenden Realität Jahre und Lebensstile weit entfernt sind? Warum liest dieses Buch die
ganze Welt?
Wohl, weil wir alle gerne im Heim gewesen wären, auch wenn wir andere Formulierungen wie
das Internat oder Ausgestaltungen wie sie etwa „Die Feuerzangenbowle“ plastisch darstellt,
im Einzelnen vorziehen. Wir alle, auch wir Erwachsenen, hätten - vor allem in den Zeiten der
Ablöse aus den unmittelbaren primären Bindungen - gerne ein Zwischenreich gehabt - und
vermutlich auch nötig gebraucht
- zwischen den engen Bindungen der familiären
Beziehungen, den Einfamilienhäuschen und dem nüchternen Erwachsenenleben.
Legionen von Internatsbüchern, Filmen oder ähnlichen Sujets dieses Übergangs zum
Erwachsenenalter können hier als Beleg angeführt werden („Schloss Einstein“, „Trotzkopf“,
„Evi“-Bücher, "Kampf der Tertia", „Pauker“-Filme etc.). Eine - wenn man will - radikale
Sonderform ist das (Über)Leben ganz ohne Erwachsene: Die "Höhlenkinder" und die
Kultserie "The tribe" sind hier Beispiele derselben Konstruktion in absolut verschiedener
Ausformung. Denn das ist das ungemein Reizvolle dieses Sujets, es taucht verlässlich immer
wieder auf, zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Ausgestaltungen, meist überraschend.
Wer hätte Harry Potter voraussagen können.
Dieses Zwischenreich entspricht offenbar dem Bedürfnis einer bestimmten Altersstufe; dieses
Bedürfnis liegt aber auch bei vielen Erwachsenen brach, wurde nie erfüllt und macht sich als
Sehnsucht bemerkbar.
Harry Potter ist auch eine Initiationsgeschichte: Wir können sagen, das angesprochene
"Zwischenreich" ist der soziale Ort, wo es passiert. "Initiation" hingegen ist das, was passiert,
worin diese "Auszeit" ihr Ziel hat. Derartige Übergangsphasen sind in unserer offenen und
differenzierten Gesellschaft kaum mehr erlebbar.
Bei der Initiation des jungen Menschen geht es unabhängig von Zeit und
Gesellschaftsstruktur immer um zwei Themen, nämlich um die Fragen nach
1. der Ichfindung (Wer bin ich eigentlich?)
2. der persönlichen Rollenfindung in der Gesellschaft
Diese Fragen können nicht reflektorisch erschlossen oder gedanklich überlegt und
beantwortet werden, auch nicht in einer therapeutischen Reflexion, sondern müssen
tatsächlich erlebt und erfahren werden. Der junge Mensch hat im Gegensatz zum älteren kein
"Kompendium" an Erfahrungen, die er reflektieren, neu kombinieren, bewerten und daraus
Erkenntnis gewinnen könnte. Initiation ist ein Vorgang, der erfahren und bestanden werden
muss.
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Die Initiation steht im völligen Gegensatz zu den bisherigen "Prüfungen", v.a. der Schule.
Schulprüfungen - auch wenn sie real und schmerzhaft erlebt werden - haben hypothetische
Erfahrungen zum Gegenstand: die Brücke etwa, die bei der Maturaarbeit falsch berechnet
wurde, stürzt nicht wirklich zusammen, höchstens die Ferienpläne der Familie; üblicherweise
kann die Schul- und Universitätsprüfung wiederholt werden; der Patient stirbt nicht, weil der
Medizinstudent bei der Pathologieprüfung die falsche Krankheit diagnostiziert hat. Die
Schulprüfung erlaubt und ermöglicht Korrektur - Nur fachlich inkorrekte und unmenschliche
Lehrer unterstellen der Schulprüfung das Gewicht der Realität (etwa im "Schüler Gerber").
Initiation dagegen kann nicht wiederholt werden, sie ist einmalig. Das sagt ja auch das Wort,
das erste Mal kann nicht ein zweites Mal erfahren werden, und das macht auch ihr Gewicht
und ihre Ernsthaftigkeit aus. Sie ist eine reale und einmalige Erfahrung. Der konkrete Inhalt
dieser "Prüfung" ist - zum Unterschied zur Schulprüfung - nicht bekannt: niemand kann
beispielsweise wissen, welches Totemtier dem indianischen Initianten tatsächlich erscheinen
wird.
Die Initiation führt aus der "Auszeit" in die "Wirklichkeit" des Erwachsenenlebens. Van
Gennep hat drei Stadien der Initiation beschrieben:
1. Die Trennungsphase (Separation), die Trennung vom bisherigen Familienleben und der
Schritt ins Ungewisse, Neue (das würde der Aufnahme Harry Potters in Hogwarts
entsprechen).
2. Die Übergangsphase, also das Leben und Lernen in dieser Abgesondertheit, eine Zeit der
chaotischen erschütternden und verändernden Schwellenerfahrungen (das würde Harrys
Leben und Lernen in Hogwarts mit all den Kämpfen mit bislang unbekannten Gefahren
entsprechen).
3. Die Eingliederungsphase (Einverleibungsphase), die eigentliche Initiation, das
Wiedereintreten in die Gemeinschaft durch die Bewältigung von realen Aufgaben und das
Bestehen unbekannter Gefahren (dieser Teil steht Harry Potter noch bevor).
Im Initiationsprozess müssen gestellte Aufgaben erledigt und dabei Angst und Gefahren
begegnet und überwunden werden, um einer anderen Gruppe angehören zu können.
Dies ist ein „Kampf“, den alle, die Mitglied werden wollen, zu bestehen haben.
Offenbar gibt es eine starke menschliche Sehnsucht nach Initiation. Gerade die Faszination
einfacher, "stammesähnlicher" Gruppen mit ihren Ritualen von Bewährung und Zugehörigkeit,
mit ihrer klaren Unterscheidung von "außen und "innen" (Gangs, Neonazis, religiöse
fundamentale Gruppen etc.) kann dafür als Beleg gewertet werden. Gleichzeitig zeigen uns
diese Gruppierungen in ihren Ritualen auch das Scheitern der herkömmlichen Initiation. Denn
nicht in die (freie und offene) Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts werden ihre
Mitglieder initiiert, sondern in eine Randexistenz in einer Art „rudimentären Mittelalters“,
indem Mitwirken am öffentlichen Leben meist nur um den Preis des Außenseitertums, oft der
Kriminalität möglich ist.
Vor Nostalgie im Sinne einfacher "stammesähnlicher" Rituale à la van Gennep sei hier
gewarnt:
Die moderne Gesellschaft ist zu variant, zu vielseitig und zu kompliziert, als dass Teilhaben
und Teilnahme mit einfachen Modellen zu beschreiben und verwirklichen wäre. Die
Jugendzeit ist ja nicht deswegen so lang, so kompliziert und so verwickelt, weil hier
ErzieherInnen versagen und man es ohne weiteres anders und leichter machen könnte,
sondern diese Komplexität entspricht komplexer Gesellschaft und der Teilnahme an ihr.
Das heißt, Initiation heute wird in "Portionen" (Schulabschluss, das "erste" Mal,
Berufsbefähigung) erfolgen, an verschiedenen sozialen Orten (Schule, Arbeitsplatz,
verschiedene "Gesellschaften" und Beziehungsstrukturen) und in unterschiedlichster Weise.
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Auch Harry Potter hat nicht eine große Anstrengung zu bewältigen, sondern viele Aufgaben
auf verschiedenste Weise zu erledigen.
Noch nie in der bekannten Sozialisationsgeschichte waren wir gesellschaftlich so lange jung
und noch nie gab es für Initiation so wenig Raum! Das ist für den Erfolg Harry Potters gut,
weil so die Geschichte um ihn länger dauern kann. Aber auch wenn der nächste Band schon
angekündigt ist, weiß der Leser bereits um ein Ende: Denn wenn die Abenteuer Harry Potters
nicht sinnlos gewesen sein sollen, werden sie ihn ins Erwachsenenleben führen, ansonsten
läuft er Gefahr, wie Peter Pan ein ewig Unfertiger zu werden, der die erwachsene
Verantwortung scheut, weil er das Älterwerden fürchtet. Dies steht Harry Potter in den noch
ausständigen der angekündigten 7 Bücher bevor.
Die Gesellschaft - konkret meinen wir diejenigen, die sich für die Erziehung verantwortlich
und befähigt halten und das auch mit einer entsprechenden gesellschaftlichen Position
verbinden - kann von Harry Potter lernen, dass Räume, Gelegenheiten und Menschen
abgestellt werden sollten, die dieses Zwischenreich ermöglichen, damit Initiation auf
vielfältige Weise erfolgen kann.
Das sozialpädagogische Heim kann ein derartiges Zwischenreich zur Verfügung stellen und
hat in diesem Punkt bessere Initiationsmöglichkeiten als eine Familie, hier kann Initiation (und
damit der Schritt ins Erwachsenenleben) gefahrloser als auf der Straße passieren. Auch
wenn wir nicht jeden Jugendlichen ins "Heim" geben können und wollen - das stößt an die
Grenzen von persönlicher Freiheit, familiärer Autonomie und auch von Finanzierbarkeit -, so
kann eine nicht-defizitäre Sichtweise mit all den Chancen a la Hogwarts das Heim für seine
TeilnehmerInnen aufwerten und in seinen Möglichkeiten attraktiver machen und außerdem für
Jugendliche generell ein Modell dafür abgeben, was ein Jugendlicher auf dem Weg ins
selbstbestimmte, sozial eingegeliederte Erwachsenenleben an Gelegenheit, Sicherheit und
Begleitung in diesem Lebensabschnitt bräuchte. Denn dass es damit für alle nicht zum
Besten steht, beweist uns ja gerade die Faszination, mit der die Erwachsenen die Abenteuer
Harry Potters verschlingen, für die es als ein spätes Abbild dessen erscheint, was in der
eigenen Jugend so gar nicht möglich war.
Literaturhinweise:
Bettelheim,B.: Der Weg aus dem Labyrinth
Freud,S.: Familienroman des Neurotikers
Van Gennep: Die Übergangsrituale
Klosinskinski: Pubertätsriten
J-Rowling: Harry-Potter-Bücher
Torberg,F.: Der Schüler Gerber
Kästner, E.: Das fliegende Klassenzimmer
Speyer, W. :Kampf der Tertia
Autoren:
Dr. Helmut de Waal, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe; 4400 Steyr,
Stadtplatz 24
Dr. Irmgard Muhr, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, 4020 Linz,
Eisenbahngasse 8