Der Fall - Alpmann Schmidt

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Der Fall - Alpmann Schmidt
Juristische Lehrgänge
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Klausuren für das 2. Examen
D 107 He Aktenauszug
– Anwaltliche Tätigkeit/Polizei- und
Ordnungsrecht
Dr. Jablonski ./. Stadt Marburg
18.07.2016 VRVG Dr. Martin Stuttmann / VPVGH Dirk Schönstädt
Heckberts
und Partner
⎯⎯⎯⎯⎯
RECHTSANWÄLTE
Marburg, 2. Mai 2016
Dr. Herleburg
Vfg.
1. Neue PKH-Sache (Ö-Recht) eintragen.
2. Vermerk: Heute erscheint Herr Dr. Horst Jablonski, Charlottenstraße 45, 35039 Marburg. Herr
Dr. Jablonski ist mir aus zurückliegenden Studientagen entfernt bekannt. Das Leben hat Herrn Dr.
Jablonski übel mitgespielt. Einst war er geachteter wissenschaftlicher Assistent an der hiesigen juristischen Fakultät und auf dem Weg zum Professor für Rechtsphilosophie. Durch eine schwere Erkrankung und persönliche Schicksalsschläge hat er jedoch nach einigen Jahren jeden Halt verloren und
musste seine wissenschaftliche Laufbahn abbrechen. Dies hat er nie verwunden. Seit langem ist er
arbeitslos. Seine Tage fristet er meist in unmittelbarer Bahnhofsumgebung. Er ist Einwohner der Stadt
Marburg; er besitzt Wohnrecht in einem herunter gekommenen Gebäude nahebei (Anschrift s.o.).
Herr Dr. Jablonski hat sich einen langen Bart wachsen lassen, damit ihn niemand erkennt. Er sitzt die
meisten Tage am Gehwegrand der Bismarckstraße und hat einen Hut vor sich aufgestellt, mit dem er
die Passanten und Reisenden stumm um Geldgaben bittet. Um sein Elend wenigstens zeitweise erträglicher zu machen, setzt er einen Teil des erbettelten Geldes auch in Alkohol um. Diesen trinkt er
häufig an Ort und Stelle. Auffällig betrunken ist er nie, ausfällig wird er nach eigenen Angaben ebenfalls nicht, sondern allenfalls deprimiert und noch mehr in sich gekehrt.
Die Stadt Marburg hat wegen Bettelns und Alkoholgenusses im Bahnhofsbereich am 15. April 2016
ein Bußgeld in Höhe von 30 € gegen Herrn Dr. Jablonski verhängt. Es ist auf eine mir bislang nicht
bekannte Gefahrenabwehrverordnung der Stadt gestützt, die das Betteln und den Alkoholgenuss in
der Bahnhofsumgebung verbieten soll. Herr Dr. Jablonski hat gegen das Bußgeld bereits selbst Einspruch eingelegt. Dieses – derzeit noch ergebnislos laufende – Verfahren will er selbst durchführen.
Er hält jedoch die Gefahrenabwehrverordnung insgesamt für rechtswidrig. Auf seine Eingaben hat die
Stadt offenbar ablehnend reagiert; den entsprechenden Schriftverkehr hat der Mandant leider verloren. Er möchte ein für alle Mal gerichtlich abschließend klären lassen, dass er seinen Tagesablauf wie
gewohnt fortsetzen darf. Vom Amtsgericht erhofft er sich wegen der bekannten Überlastung der
Amtsrichter keine tiefer gehenden Erkenntnisse. Eine Anrufung des Hessischen Verwaltungsgerichts-
–2–
D 107 He
hofs in Kassel will Herr Dr. Jablonski nach Möglichkeit vermeiden, da dort eine Vielzahl ehemaliger
Studienkollegen bzw. Mitassistenten im Richteramt tätig ist.
Herr Dr. Jablonski lehnt einen Bezug von Sozialleistungen („Hartz IV“) ab. Er verfügt über kein Vermögen. Die Einkünfte aus dem Betteln sind unregelmäßig und liegen weit unter den Regelsätzen des
Sozialrechts.
3. Vorzulegen Herrn Stationsreferendar Oltrich
mit der Bitte, die erforderlichen Unterlagen bei der Stadt zu besorgen, die Angelegenheit zu begutachten und evtl. zu fertigende Schriftsätze an Behörden oder Gerichte zu entwerfen (Frist: 2 Wochen).
4. WV: 2 Wochen
D 107 He
–3–
Auszug aus dem Verwaltungsvorgang der Stadt Marburg:
Nach § 2 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen und anderen Rechtsvorschriften (Verkündungsgesetz)1, in Verbindung mit § 7 der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) in Verbindung mit § 1 der Verordnung über öffentliche Bekanntmachungen der Gemeinden und Landkreise, in
Verbindung mit § 8 der Hauptsatzung der Stadt Marburg
ist folgende Gefahrenabwehrverordnung der Stadt Marburg vom 21. November 2014 am 23. Dezember 2014 in der Oberhessischen Presse verkündet worden:
GEFAHRENABWEHRVERORDNUNG
zur Begrenzung des Alkoholkonsums und des Bettelns im Hauptbahnhofsbereich
Aufgrund der §§ 71, 74 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG)
erlässt die Stadt Marburg gemäß dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Marburg in der Sitzung vom 21. November 2014 für das Gebiet der Stadt Marburg folgende Gefahrenabwehrverordnung:
§ 1 Geltungsbereich
Diese Gefahrenabwehrverordnung gilt
(1) für das Gebiet des Hauptbahnhofs, begrenzt durch die Bahngleise im Südosten, die Bismarckstraße im Südwesten, die Charlottenstraße im Norden und die Klosterstraße, die Straße Worringer
Platz bzw. Erkrather Straße im Nordosten.
(2) Die genannten Straßen zählen noch zum Geltungsbereich der Gefahrenabwehrverordnung.
(3) Der beigefügte Planausschnitt ist Bestandteil dieser Gefahrenabwehrverordnung [vom Abdruck
wurde abgesehen].
§ 2 Alkoholverbot
(1) Im Geltungsbereich der Gefahrenabwehrverordnung ist es auf den öffentlich zugänglichen Flächen außerhalb konzessionierter Freisitzflächen verboten,
− alkoholische Getränke jeglicher Art zu konsumieren
− alkoholische Getränke jeglicher Art mit sich zu führen, wenn aufgrund der konkreten Umstände die Absicht erkennbar ist, diese im Geltungsbereich der Gefahrenabwehrverordnung
konsumieren zu wollen.
(2) Dieses Verbot gilt in den Nächten von Freitag auf Samstag, Samstag auf Sonntag, Sonntag auf
Montag von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr. Gleiches gilt für die Nacht vor einem gesetzlichen Feiertag.
§ 3 Bettelverbot
Im Geltungsbereich dieser Gefahrenabwehrverordnung ist es auf den öffentlich zugänglichen Flächen
verboten zu betteln.
§ 4 Ausnahmen
Anlässlich besonderer Ereignisse kann die Ordnungsbehörde ganz oder teilweise Ausnahmen von
diesen Verboten zulassen, sofern keine öffentlichen Interessen entgegenstehen.
§ 5 Ordnungswidrigkeiten
(1) Ordnungswidrig handelt, wer
1. entgegen § 2 Abs. 1 erster Spiegelstrich in den in § 1 bezeichneten Bereichen alkoholische
Getränke konsumiert,
2. entgegen § 2 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich in den in § 1 bezeichneten Bereichen alkoholische
Getränke in der erkennbaren Absicht mit sich führt, diese dort zu konsumieren.
3. entgegen § 3 in den in § 1 bezeichneten Bereichen bettelt.
(2) Abs. 1 Nr. 1 und 2 gilt nicht, soweit eine Ausnahme nach § 4 zugelassen worden ist.
(3) Ordnungswidrigkeiten können mit einer Geldbuße geahndet werden.
1
Alle Gesetze in der aktuell geltenden Fassung.
–4–
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§ 6 Inkrafttreten und Außerkrafttreten
Diese Gefahrenabwehrverordnung tritt am Tage nach ihrer Bekanntgabe in Kraft und mit Ablauf des
31. Juli 2018 außer Kraft.
Marburg, den 24. November 2014
Schwartz
Oberbürgermeister
DRUCKSACHE G-14/342
BESCHLUSS-VORLAGE
Dezernat/Amt:
Amt für öffentliche Ordnung
Verantwortlich:
Herr Nerlinger
Tel. Nr.:
4800
Datum:
31.10.2014
Betreff:
Gewaltprävention, Schutz der öffentlichen Ordnung
hier:
Ziele und Maßnahmen - Erlass einer Gefahrenabwehrverordnung zur Begrenzung des Alkoholkonsums und des Bettelns im Bereich des Hauptbahnhofs
Beratungsfolge
Sitzungstermin Öffntl. Nicht Öffntl.
1. Ordnungs- und
Verkehrsausschuss
2. Hauptausschuss
3. Stadtverordnetenversammlung
04.11.2014
X
11.11.2014
21.11.2014
Abstimmung mit städtischen Gesellschaften: nein
Finanzielle Auswirkungen: ja - siehe Anlage 1
Beschluss
X
X
X
Empfehlung
X
X
D 107 He
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Beschlussantrag:
Die Stadtverordnetenversammlung nimmt die in der Drucksache G-14/342 dargestellten Ziele
und Maßnahmen zur Kenntnis und stimmt der als Anlage beigefügten ordnungsbehördlichen
Gefahrenabwehrverordnung zur Begrenzung des Alkoholkonsums und des Bettelns im Bereich
des Hauptbahnhofs zu.
Anlagen:
1. – 4. (…)
I. Lagebild und Zielsetzung
1. Alkohol
Die Körperverletzungsdelikte in der Stadt Marburg haben in den Jahren 2012 und 2013 einen Höchststand erreicht. Wurden im Jahr 2002 noch 3.002 Körperverletzungsdelikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst, stieg die Zahl der Delikte im Jahr 2007 auf 3.974 und im Jahr 2013 auf 4.839
Delikte an. (Auszug aus der PKS 2013 als Anlage 2 – vom Abdruck der Anlagen wurde abgesehen).
Ein örtlicher Schwerpunkt der Körperverletzungsdelikte ist die Gegend um den Hauptbahnhof. Er ist
Treffpunkt vieler Jugendlicher und junger Erwachsener aus der Stadt und dem Umland sowie von
Obdachlosen. Gerade dort stiegen die KV-Delikte im Vergleich zu den anderen Stadtteilen besonders
an. Bei den auffällig gewordenen Personen ist erhöhter Alkoholkonsum zu beobachten, wodurch die
Hemmschwelle hinsichtlich Aggression und Provokation gesenkt wird. Der Alkoholkonsum wurde
nicht nur durch geschickte Marketingstrategien einiger Gastronomiebetriebe (Happy-Hour-Angebote,
Flatrate- und Ampel-Trinken) verstärkt. In erheblichem Maße wird zudem mitgebrachter Alkohol beim
weitverbreiteten „Vorglühen“ konsumiert.
Auch die Zahl der Obdachlosen, die Alkohol an diesen Plätzen zu sich nimmt, ist weiter angestiegen.
Unter Alkoholeinfluss kommt es vielfach zu Prügeleien unter den Obdachlosen um die besten
Schnorr-Plätze, die Zurückzahlung von Schulden oder das Aufteilen von Vorräten.
Von 563 im Jahr 2012 wegen Körperverletzung in der Bahnhofsgegend ermittelten Tatverdächtigen
standen 291 (52%) unter Alkoholeinfluss. Dies ist der bislang höchste festgestellte Wert überhaupt
(vgl. Anlage 3, Ziff. 2 – Tatumstände Alkohol).
Die Polizei hat im Zusammenwirken mit der Stadt (Gewerbeamt, Führerscheinstelle) und dem Verband der Innenstadtwirte bereits zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung des Problems ergriffen
(vgl. Anlage 3 a). Das Wirtschaftsministerium hat im Erlasswege mitgeteilt, dass die Werbung für Koma- und Flatratepartys die Schließung der Gaststätte nach sich ziehen kann.
Das vom Polizeipräsidium Mittelhessen erarbeitete Lagebild ergibt einen kausalen Zusammenhang
zwischen Gewaltdelikten und vorangegangenem Alkoholkonsum. Der Alkoholkonsum findet nicht
nur in der Szene- und Nachtgastronomie statt. Erheblich ist auch der Konsum von mitgebrachtem
(und damit billigem) Alkohol außerhalb gastronomischer Betriebe und konzessionierter Freisitzflächen. In Einzelfällen erreichen Besuchergruppen den Bahnhofsbereich zwar bereits in alkoholisiertem
Zustand (Fußball- und Eishockeyfans, Kegeltouren usw.). In der Regel findet der unkontrollierte Alkoholkonsum jedoch im Bahnhofsbereich statt. Der mitgebrachte Alkohol wird gerade von den jüngeren Besuchern oft im Sturztrunk vor Einlass in die Diskotheken bzw. anderen Lokale geleert.
2. Betteln
Ein weiteres Problem in diesem Bereich ist das Betteln. Aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung
soll es in derselben Gefahrenabwehrverordnung behandelt werden.
Vorwiegend Migranten haben eine in Westeuropa unübliche Bettelform eingeführt, das aggressive
Betteln. Dabei werden Passanten und Reisende aufdringlich angesprochen. Sie werden bedrängt,
durch ostentatives Zurschaustellen von echten oder vorgetäuschten körperlichen Mängeln (Amputationen, Entzündungen usw.), theatralisches Knien, Jammern oder Vorzeigen ruhig gestellter Kinder
und Babys usw. Im Islam mag das Betteln aus religiösen Gründen akzeptabel sein, weil der Bettler
dem Spender die Möglichkeit gibt, mit seiner Gabe den Geboten des Koran zu genügen und sich
Vorteile im Jenseits zu erwerben. Im christlich geprägten Abendland sind solche orientalischblumigen Praktiken seit der frühen Neuzeit jedoch unerwünscht und verstoßen gegen die Grundregeln des Zusammenlebens.
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II. Abhilfe
1. Alkohol
Im Gebiet des Hauptbahnhofs ist jede zweite Gewalttat zur Nachtzeit unter Alkoholeinfluss verübt
(Anlage 3, Ziffer 1.2.1 – Feinanalyse). Damit besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der
unreglementierte Alkoholkonsum innerhalb dieses Bereichs für die Gefahrenlage zumindest mitursächlich ist. Nicht jeder Alkoholkonsum im hier dargestellten örtlichen und zeitlichen Zusammenhang
führt zu Gewalttaten. Die Bereitschaft zu Auseinandersetzungen wird jedoch gefördert. Im Hinblick
auf die zu schützende körperliche Unversehrtheit der Besucherinnen und Besucher der Stadt kommt
es nicht darauf an, ob das Verhalten im konkreten Einzelfall zu einem Schadenseintritt (Körperverletzung) führen wird. Der polizeirechtlich „abstrakten“ Gefahrenlage für das Schutzgut der körperlichen
Unversehrtheit soll mit einem präventiven Verbot begegnet werden.
Zusätzliche Gefahrenlagen bestehen, weil der Polizeivollzugsdienst durch betrunkene Zuschauer bei
Einsätzen behindert wird. Von betrunkenen Personen weggeworfene und zerstörte Glasflaschen können zu Verletzungen der eingesetzten Polizeihunde führen. Schließlich bestehen Verletzungsgefahren durch herumliegende Glasscherben für unbeteiligte Besucher und auch für betrunkene Personen.
Für den Dienstleistungsbetrieb der Stadt Marburg DBM, der die Stadtreinigung durchführt, besteht
frühmorgens ein immenser Reinigungsaufwand.
Nach den vorliegenden Analysen ereignen sich die Delikte zum überwiegenden Teil in den Nächten
von Freitag auf Samstag, Samstag auf Sonntag und Sonntag auf Montag sowie in den Nächten vor
gesetzlichen Feiertagen, jeweils in der Zeitspanne zwischen 22:00 und 06:00 Uhr (vgl. Anlage 3, Ziffer.
1.3 – Tatzeituntersuchung).
Es wird deshalb vorgeschlagen, mit einer Gefahrenabwehrverordnung den Alkoholkonsum außerhalb
konzessionierter Flächen in dem definierten Stadtbereich an einzelnen Wochentagen und zu bestimmten Nachtzeiten zu reglementieren. Dies soll durch die als Anlage 4 beigefügte Gefahrenabwehrverordnung geschehen.
Die Gefahrenabwehrverordnung ist maßvoll. Sie bezieht sich nur auf einen räumlich engen Geltungsbereich. Sie ist außerdem zeitlich auf die gefährlichen Nachtzeiten beschränkt. Nach dem von der
Polizei erarbeiteten Lagebild ist davon auszugehen, dass das unkontrollierte Mitsichführen oder Konsumieren von Alkohol mitursächlich für das Entstehen polizeirechtlicher Störungen in den Nachtstunden am Wochenende sind und damit selbst die Gefahrenschwelle überschreiten. Auch andere
Städte in Deutschland haben ähnliche Verbote erlassen (z.B. Dresden, Bonn).
Ein generelles Verbot für das gesamte Stadtgebiet wird von der Verwaltung nicht vorgeschlagen. Im
Hinblick auf die in dieser Drucksache dargestellte Gefahrenlage soll sich diese Maßnahme auf die
bisher bekannten „Brennpunkte“ erstrecken. Falls sich die Gewaltdelikte in andere Bereiche verlagern
sollten, ist über einen erweiterten Geltungsbereich neu zu entscheiden.
Die Gefahrenabwehrverordnung wird den Kräften vor Ort die Arbeit wesentlich erleichtern. Bislang
müssen sie zum Verhängen von Ordnungsmaßnahmen jedes Mal im Einzelnen eine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung feststellen. Das ist streitgeneigt. Ist das Alkoholtrinken an sich
verboten, kann ohne Weiteres auf der Grundlage der Generalklausel des § 11 des Hessischen Gesetzes
über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) eingegriffen werden.
2. Betteln
Es soll das Betteln im besonders betroffenen Bahnhofsbereich vollständig verboten werden. Es fördert
zusammen mit dem Alkoholgenuss ein allgemeines Klima der Verunsicherung und ruft den Eindruck
eines rechtsfreien Raumes hervor. Dem vollständigen Verbot steht die enge räumliche Begrenzung
auf den Bahnhofsbereich mäßigend gegenüber. Überall anders im Stadtgebiet sind die Bettler weiterhin zugelassen. Sollte sich das Verbot bewähren, wird eine Ausweitung auf das gesamte Stadtgebiet allerdings angestrebt.
Die vorgeschlagenen Regelungen der Gefahrenabwehrverordnung zur Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum und des Bettelns werden unter III. wie folgt erläutert:
D 107 He
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III. Einzelerläuterungen
§ 1 Geltungsbereich
Vom Geltungsbereich umfasst ist das Bahnhofsquartier (vgl. Karte). Dieser eng definierte Bereich ist
Brennpunkt der Gewaltdelikte und Einsatzschwerpunkt der Polizei.
§ 2 Alkoholverbot
Das Alkoholverbot gilt nicht nur auf öffentlichen Wegen und Plätzen, sondern vielmehr in allen öffentlich zugänglichen Bereichen. In Gebäuden, in Gaststätten und auf konzessionierten Freisitzflächen
gilt das Verbot nicht.
Verboten sind der Konsum alkoholischer Getränke und das Mitsichführen alkoholischer Getränke, um
diese im Geltungsbereich der Gefahrenabwehrverordnung zu konsumieren. Im letzteren Falle kommt
es darauf an, ob die mit dem Vollzug vor Ort eingesetzten Vollzugsbeamten je nach Sachlage davon
ausgehen können, dass der mitgeführte Alkohol an Ort und Stelle konsumiert werden soll. Diese im
Einzelfall zu treffenden Entscheidungen müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Ladenöffnungszeiten freigegeben sind und gerade im Bahnhofsbereich umfänglich genutzt werden.
Einkäufe alkoholischer Getränke im Bahnhof, um diese dann anschließend mit nach Hause zu nehmen, sind also weiterhin möglich. Dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot ist mit der Formulierung der zweiten Verbotsvariante genügt.
Die Regelung gilt für die Nächte von Freitag auf Samstag, Samstag auf Sonntag und Sonntag auf
Montag sowie die Nächte vor gesetzlichen Feiertagen, jeweils zwischen 22:00 und 06:00 Uhr. Die anderen Wochentage weisen eine geringere Anzahl von Gewaltdelikten auf. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten soll die Gefahrenabwehrverordnung (zunächst) auf die Wochenenden und auf
Feiertage beschränkt bleiben.
§ 3 Bettelverbot
Die Bettelei, insbesondere das in Westeuropa bislang kaum bekannte aggressive Betteln, stellt ein
ständiges Ärgernis und eine Belästigung der Reisenden und Passanten dar. Jahrhunderte lang war es
strafrechtlich verboten zu betteln (vgl. § 361 RStGB). Erst der Überschwang der Strafrechtsreform 1974
hat diesen Straftatbestand gestrichen. Es gilt, die bewährten Verhaltensregeln wieder einzuführen,
soweit das HSOG dies den Kommunen ermöglicht. Auf diese Weise wird dem in der Bevölkerung vorhandenen Bedürfnis nach Sicherheit genügt. Alkoholkonsum, Gewalttaten und Bettelei gehen eine
unheilvolle Verbindung ein, die das Vertrauen in die Ordnung stiftende Kraft des Staates untergräbt.
Das Betteln stellt teilweise eine verbotene Sondernutzung der Straßenfläche dar, weil es auf Gewinnerzielung gerichtet ist. Das Betteln wird insbesondere von älteren und behinderten Bürgern in der
Mehrzahl als psychischer Zwang empfunden; die Vorbeigehenden werden mit ihrem schlechten Gewissen quasi erpresst. Die Bettelei ist zudem Nährboden für weitere Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, in die das Betteln fließend übergeht. Heute betteln Leute kaum noch, weil sie arm im herkömmlichen Sinne sind. Das soziale Netz verhindert in Deutschland zuverlässig den Eintritt von echter
Armut. Bettler machen sich also regelmäßig des Bettelbetrugs strafbar, weil sie gar nicht in einer echten Notlage sind. Außerdem verstoßen Bettler gegen das Belästigungsverbot des § 118 OWiG.
Zahlreiche Formen der Bettelei gefährden die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Das Verbot lässt
sich allerdings nicht mit hinreichender Klarheit auf das aggressive Betteln begrenzen, weil die Übergänge fließend sind. Die Straßenkunst hebt sich wesentlich vom Betteln ab. Sie bleibt weiterhin erlaubt.
§ 4 Ausnahmen
Mit der Möglichkeit zu Ausnahmeentscheidungen vom Alkoholverbot durch die Ordnungsbehörde
soll besonderen Ereignissen Rechnung getragen werden können, an denen der Vollzug der Gefahrenabwehrverordnung ausgesetzt werden kann (z.B. Weiberfastnacht, Rosenmontag, Endspiel Fußballweltmeisterschaft usw.). Für das Bettelverbot ist eine Ausnahmemöglichkeit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorgesehen.
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§ 5 Ordnungswidrigkeiten
Der Vollzug der Gefahrenabwehrverordnung bzgl. des Alkoholverbots erfolgt vor Ort in der Regel
durch Aufforderung an die Personen, den Konsum einzustellen und die Getränke zu entsorgen oder
herauszugeben. Verwaltungszwang erfolgt, wenn die Getränke nicht freiwillig herausgegeben werden. Das Bettelverbot wird durch entsprechende Verhaltensaufforderungen, nötigenfalls durch Platzverweis oder Ingewahrsamnahme, durchgesetzt. Zusätzlich können Bußgeldverfahren eingeleitet
werden. Die Verwaltung sieht davon ab, für Verstöße gegen die Gefahrenabwehrverordnung einen
besonderen Bußgeldkatalog aufzustellen. Gemäß § 17 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG)
steht ein Bußgeldrahmen von 5 € bis 1.000 € zur Verfügung.
§ 6 Inkrafttreten und Außerkrafttreten
Die Gefahrenabwehrverordnung soll von vornherein zeitlich befristet bis zum 31.07.2018 als Eingriffsgrundlage zur Verfügung gestellt werden. Wissenschaftlich sind die Zusammenhänge zwischen Delinquenz und Alkoholgenuss noch nicht abschließend ermittelt. Das Problem am Bahnhof drängt
aber. Deswegen sollen ungeachtet der verbleibenden Ungewissheiten in einer gut dreijährigen Erprobungsphase Erfahrungen gesammelt und im Anschluss daran ausgewertet werden.
Im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit wäre zwar an eine vom
kommunalen Verordnungsgeber nicht befristete und damit gemäß § 79 S. 3 HSOG dreißig Jahre gültige Regelung zu denken. Die Verwaltung ist jedoch der Ansicht, dass im Hinblick auf die strikte Verbotsnorm und die damit verbundene Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit eine zeitlich
befristete Regelung verhältnismäßig und nach derzeitigem Sachstand zunächst ausreichend ist. Die
Wirkung dieser Maßnahme, sowohl während der kalten als auch der warmen Jahreszeit, soll zunächst
analysiert werden.
Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Ordnungs- und Verkehrsausschusses vom 04.11.2014:
Vorsitzender: Ich erteile dem sachverständigen Einwohner Univ.-Prof. Dr. Galpa das Wort.
Univ.-Prof. Dr. Galpa (Sachverständiger Einwohner): Als Kriminologe an der hiesigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät darf ich die neuesten – inzwischen praktisch nicht mehr umstrittenen – Forschungsergebnisse mitteilen. Welche Wirkungen der Alkohol auf das Verhalten des Einzelnen hat,
hängt von individuellen Gegebenheiten ab. Äußere Umstände, Befindlichkeiten und situative Einflüsse geben den Ausschlag. In der kriminologischen Forschung wird zunehmend die Frage aufgeworfen,
ob überhaupt eine kausale Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Delinquenz besteht. Es ist auch
ein "Scheinzusammenhang" möglich. Denn es kann auch sein, dass sich Alkoholtäter nur leichter
überführen lassen und deswegen in den polizeilichen Kriminalstatistiken überrepräsentiert sind. Der
aktuelle Periodische Sicherheitsbericht des Bundesministeriums für Justiz führt an, dass die Alkoholisierung von Beteiligten bei der Entstehung von Straftaten im Einzelfall zwar eine Rolle spielt. Sie ist
allerdings nur mitursächlich, auslösend, begünstigend oder begleitend. Als einzige Ursache lässt sich
der Alkohol kaum einmal identifizieren (den Vollrausch ausgenommen).
Was die Verwaltung dem Ausschuss vorlegt, belegt allenfalls gewisse allgemeine Plausibilitäten. Ob
sie für den Bahnhofsbereich zutreffen, weiß niemand. Welchen Einfluss die anderen Faktoren auf die
Delinquenz haben, ist nicht ermittelt. Die Erfahrungen einer Großstadt im Süden Hessens im dortigen
Bahnhofsbereich – Sie wissen, welche ich meine – lassen auch keine verlässlichen Schlüsse zu. Zwar ist
nach dem dortigen Alkoholverbot ein statistischer Rückgang der mit Alkohol in Zusammenhang gebrachten Straftaten um 16% zu verzeichnen. Das kann aber ebenso auf die verstärkte Polizeipräsenz
zurückzuführen sein. Statistisch ist auch nicht genau erfasst, welche Zahl von Gewaltdelikten sich in
den von der dortigen Gefahrenabwehrverordnung erfassten Bereichen vor dem Alkoholverbot ereignet hat. Ein massiver Rückgang, der einen Ursachenzusammenhang belegen könnte, ist bei 16% noch
lange nicht anzunehmen.
(Beifall)
Vorsitzender: Wird das Wort noch gewünscht? Das ist nicht der Fall. Dann danke ich Herrn Univ.-Prof.
Dr. Galpa für seine Ausführungen. Kommen wir zur Abstimmung über die Ausschussempfehlung …
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Vermerk für die Bearbeitung:
1. Die dem Rechtsreferendar Oltrich von seiner Ausbilderin gestellten Aufgaben sind zu erfüllen. Begutachtungsdatum ist der 18.05.2016. Der Mandant kann nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten einer Prozessführung nicht aufbringen.
2. Bei der Akteneinsicht in der Stadtverwaltung hat Rechtsreferendar Oltrich das Protokoll der Sitzung
der Stadtverordnetenversammlung vom 21.11.2014 eingesehen und festgestellt, dass die Vorlage
G 14/342 mit überwältigender Mehrheit von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen worden
ist. Der Schriftverkehr mit Herrn Dr. Jablonski konnte nicht eingesehen werden, da sich die Bußgeldakte beim Amtsgericht befindet.
3. Die Gefahrenabwehrverordnung vom 21.11.2014 leidet nicht an formalen Mängeln und ist im Einklang mit allen Verfahrensvorschriften erlassen worden.
4. Wird eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich gehalten, so ist zu unterstellen, dass
diese ordnungsgemäß erfolgt und ohne Ergebnis geblieben ist. Eine solche Vorgehensweise ist in
einer Fußnote kenntlich zu machen.
5. Die Formalien (Ladungen, Zustellungen, Unterschriften, Vollmachten, evtl. nötige Rechtsbehelfsbelehrungen) sind in Ordnung, soweit sich aus dem Sachverhalt nicht etwas anderes ergibt.
6. Nicht abgedruckte Schriftstücke haben den wiedergegebenen Inhalt. Die Ausführungen von Univ.Prof. Dr. Galpa sind inhaltlich zutreffend.
7. Die Stadt Marburg ist eine kreisangehörige Gemeinde mit mehr als 50000 Einwohnern im Landkreis
Marburg-Biedenkopf.
8. Gemäß § 1 des Gesetzes über die Regierungspräsidien und Regierungsbezirke des Landes Hessen
vom 16. September 2011 (GVBl. I S. 420) ist das Regierungspräsidium Behörde der allgemeinen Landesverwaltung und vertritt die Landesregierung in den ihm übertragenen Aufgaben im Bezirk. Nach
§ 2 Abs. 3 Satz 1 dieses Gesetzes umfasst der Regierungsbezirk Gießen die Landkreise Gießen, LahnDill-Kreis, Limburg-Weilburg, Marburg-Biedenkopf und Vogelsbergkreis. Sitz des Regierungspräsidiums ist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 dieses Gesetzes Gießen.
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