Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung

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Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer
Lehrbuch der systemischen
Therapie und Beratung
10. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
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© 2007; 1996 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-45659-0
Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
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Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
Arist von Schlippe
Jochen Schweitzer
Lehrbuch
der systemischen Therapie
und Beratung
Mit 20 Abbildungen
10. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
© 2007; 1996 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-45659-0
Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung
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ISBN 978-3-525-45659-0
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Inhalt
Vorwort (Helm Stierlin)
11
Vorwort der Autoren
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I. Geschichte und Überblick
17
1. Von der Familientherapie zur systemischen
Therapie und Beratung
1.1. Einige Geschichten zur Familientherapie
1.2. Modelle im Überblick
1.3. Das Mailänder Modell und die Folgen
1.4. Lösungen statt Probleme:
Lösungsorientierte Kurztherapie
1.5. Kooperation statt Intervention:
Das Reflektierende Team
1.6. Interaktion als Konversation:
Die Narrative Denkrichtung
1.7. Ursprungsordnung und Demut:
Der Ansatz Bert Hellingers
17
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42
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II. Theorie
2. Vom Suchen, (Er)finden und Nutzen
theoretischer Grundlagen
2.1. Das Wörtchen »systemisch« —
Ein projektiver Test?
2.2. Eine kurze Geschichte systemtheoretischer Wellen
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Inhalt
2.3. Was »ist« ein System?
2.4. Kybernetik 1. Ordnung: Teil und Ganzes,
Grenzen, Regeln
2.5. Von der Homöostase zu Fluktuation,
Chaos und Synergetik
2.6. Wie Leben sich selbst erzeugt:
Die Theorie autopoietischer Systeme
2.7. Nichts als Kommunikation:
Die Theorie sozialer Systeme
2.8. Rückbesinnung auf die Person:
Die personzentrierte Systemtheorie
2.9. Eine gemeinsam erschaffene Welt:
Der soziale Konstruktionismus
2.10. Das Ende der großen Entwürfe:
Postmoderne Philosophien
3. Kernfragen systemischer Theorie
3.1. Realität: Was ist wirklich?
3.2. Kausalität: Was verursacht was?
3.3. Sprache und Rekursivität:
Wie erzeugen wir soziale Wirklichkeiten?
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102
4. Ein systemisches Verständnis von »Problemen«
102
4.1. Problemdeterminierte Systeme
102
4.2. Was ist ein Problem?
105
4.3. Wie werden Probleme erzeugt?
108
4.4. Können Probleme nützlich sein?
4.5. Wie chronifiziert man ein Problem? - Eine Anleitung 110
114
4.6. Formen von Klinischen Systemen
III. Praxis: Zwischen Wissenschaft, Handwerk und Kunst
116
5. Haltungen, Grundannahmen, Zielsetzungen
5.1. Den Möglichkeitsraum vergrößern
5.2. Hypothesenbildung
5.3. Zirkularität
5.4. Von der Allparteilichkeit zur Neutralität
5.5. Von der Neutralität zur Neugier
5.6. Irreverenz: Respektlosigkeit gegenüber Ideen,
Respekt gegenüber Menschen
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Inhalt
7
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5.7. Therapie als Verstörung und Anregung
5.8. Ressourcenorientierung — Lösungsorientierung . . . . 124
125
5.9. Kundenorientierung
6.
7.
8.
9.
Erste Zugänge: Hypothesen
6.1. Erste Hypothesen entwickeln
6.2. Informationsquellen:
Anmeldebögen, Telefonate, Akten
6.3. Repräsentationsformen für Systeminformationen:
Genogramm, Systemzeichnung, Organigramm
6.4. Hypothesen über den Zuweisungskontext
127
127
Systemisches Fragen
7.1. Zirkuläres Fragen:
Zur Form systemischer Gesprächsführung
7.2 Frageformen, die Unterschiede verdeutlichen
7.3. Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktionen:
Inhaltsbereiche systemischer Gesprächsführung . . .
7.4. Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
7.5. Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
7.6. Problem- und Lösungs-Szenarien
7.7. Anfangs- und Abschlußfragen
7.8. Stilistische Aspekte
137
Familienskulptur und andere metaphorische Techniken . .
8.1. Die Arbeit mit der Familienskulptur
8.2. Das Familienbrett und andere symbolische
Darstellungen
8.3. Videokonsultation
8.4. Die Externalisierung des Problems
8.5. Metaphern, analoge Geschichten, Witze,
Cartoons
Kommentare
9.1. Anerkennung, Kompliment, wertschätzende
Konnotation
9.2. Umdeutung — Reframing
9.3. Splitting: Das Team oder der Therapeut
ist sich uneinig
10. Schlußinterventionen
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8
Inhalt
10.1. Grundsätze für die Entwicklung von
Schlußinterventionen
10.2. Mögliche Inhalte von Schlußinterventionen
10.3. Handlungsvorschläge
10.4. Rituale
10.5. Ordeals
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11. Die Arbeit mit dem Reflektierenden Team
11.1. Einen Kontext für Veränderung gestalten
11.2. Das Spiel mit der Reflektierenden Position
199
199
203
12. Der äußere Rahmen: Kontrakte, Ziele, Verläufe
12.1. Wie oft, wie lange?
Sitzungsabstände und Gesamtdauer
12.2. Einmal ist keinmal? Single Session Therapy
12.3. Wen wann einladen?
Teilnehmerzusammensetzungen
12.4. Wozu »wozu« fragen? Zielklärung
12.5. Einige »typische« Verläufe
12.6. Wann und wie aufhören? Der Abschluß
205
IV. Vielfalt der Praxisfelder
216
13. Settings
13.1. Familientherapie ohne Familie:
Die systemische Einzeltherapie
13.2. Der Blick zurück:
Familienrekonstruktion in der Gruppe
13.3. Am liebsten live: Die systemische Fallsupervision .
13.4. Opium für das Volk?
Teamsupervision und Organisationsberatung
13.5. Wenn Chefs Rat suchen:
Coaching von Führungskräften
13.6. Do it yourself: Das Auftragskarussell als
Mittel der Selbstsupervision
13.7. Mit größeren Systemen arbeiten:
Die Familie-Helfer-Konferenz
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14. Anwendungsbereiche
14.1. Familienmedizin
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Inhalt
14.2. Psychiatrie
14.3. Soziale Arbeit
14.4. Schule
14.5. Management
14.6. Politik
V. Kritische Einschätzung systemischer Beratung
15. Viel Feind, viel Ehr?
Auseinandersetzungen um die systemische Therapie
15.1. Gender-Sensitivity: Wie frauenfeindlich ist
die systemische Therapie?
15.2. Systemische Familientherapie
als konservative Sozialtechnologie?
15.3. Alles Erfindung, alles beliebig?
15.4. Entsolidarisierung und fehlende Ethik?
15.5. Fast-Food-Therapy:
Muß gute Therapie kurz sein?
16. Was nützt systemische Therapie?
Zum Stand der Evaluationsforschung
16.1. Überblick
16 .2 . Ergebnisse aus Sekundäranalysen
16.3. Evaluationsstudien diesseits und jenseits des
Kontrollgruppenzwangs
16.4. Zur Wirksamkeit anderer systemischer Settings
16.5. Zur Zukunft der Evaluationsforschung
16.6. Was noch erforscht wird:
Nicht-evaluative systemische Forschung
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VI. Schluß: Glauben Sie keinem Lehrbuch!
(Allenfalls unserem)
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VII. Literatur
295
VIII. Register
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Bildnachweis
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Für Rita und Margret
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Vorwort
Dieses Lehrbuch dürfte in seiner Art einmalig sein. Denn zwar häufen
sich die Texte, die sowohl in die Familien- und Paartherapie als auch
in die systemische Theorie und Praxis einführen, doch findet sich darunter, soweit mir bekannt, weder im deutsch- noch im fremdsprachigen Schrifttum ein Werk, das sich mit dem vorliegenden vergleichen
ließe.
Um verständlicher zu machen, auf welch schwieriges und anspruchsvolles Projekt sich die beiden Autoren eingelassen haben,
möchte ich die Entwicklung der systemischen Therapie mit den Anfängen der Psychoanalyse vergleichen, die nun schon bald hundert Jahre
zurückliegen. Diese verstand sich damals als eine neue Wissenschaft
vom Seelenleben, obschon oder weil sie sich weitgehend auf Begriffe
und Modelle stützte, die zu jener Zeit die Naturwissenschaften, allen
voran Physik und Chemie, anlieferten oder nahelegten. Man denke an
Ausdrücke wie Widerstand, Verdrängung, Besetzung, Reaktionsbildung und Sublimierung. Das aus solchen Begriffen geknüpfte Theoriegeflecht machte es möglich, einen neuen Erkenntnis- und Handlungsbereich zu erschließen oder vielleicht richtiger: zu konstruieren. Damit
eröffnete sich ein neues Verständnis von seelischen Prozessen und von
Psychotherapie, es eröffneten sich neue Perspektiven, ja, es bahnte
sich, in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Veränderungen, ein allgemeiner Bewußtseinswandel oder, wie es der Dichter W. H. AUDEN
ausdrückte, ein Wandel des geistigen Klimas der westlichen Welt an.
Die frühen Psychoanalytiker, die diese Entwicklung anstießen, waren
zumeist schöpferische Außenseiter. An den Universitäten fanden oder
suchten sie keinen Platz, und sie setzten sich über die Grenzen hinweg,
die den wissenschaftlichen Disziplinen gezogen waren.
Vieles davon dürfte auch auf die systemische Theorie, Therapie und
Beratung zutreffen, wie diese sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt
haben. Auch sie gediehen weitgehend außerhalb etablierter akademi-
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Vorwort
scher Strukturen, auch sie sind überwiegend das Werk schöpferischer
Außenseiter, auch sie schöpfen aus unterschiedlichen Wissens-, Erfahrungs- und Tätigkeitsbereichen, auch sie eröffneten neue Perspektiven,
und auch sie zeigen sich, wie ich meine, als Bewirkende wie auch als
Betroffene eines geistigen Klimawandels.
Aber es finden sich auch Unterschiede: Der systemische Ansatz läßt
sich im Unterschied zu dem der Psychoanalyse nicht auf eine überragende Gründerpersönlichkeit zurückführen, die eine Bewegung hervorbrachte. Er entwickelte sich an vielen Orten und in vielen Köpfen fast
gleichzeitig oder in rascher Folge, und es kennzeichnen ihn vielfältige
Prozesse der wechselseitigen Befruchtung und der gegenseitigen
Durchdringung und Abgrenzung, Prozesse, die nachzuvollziehen und
zu beschreiben zukünftigen Historikern noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten dürfte. Und systemische Theorie und Praxis nähren sich am
Ende unseres Jahrhunderts von Modellen und Denkweisen, die uns
inzwischen der postmoderne wissenschaftliche und philosophische
Zeitgeist beschert hat, so etwa die Modelle der nach dem Zweiten Weltkrieg erblühenden Systemwissenschaften wie Kybernetik, Informationstheorie, Kommunikationstheorie, Spieltheorie, allgemeine Systemtheorie, Chaostheorie etc. und so auch die Denkweise des radikalen
Konstruktivismus. Und sie tun dies zu einer Zeit, da die elektronische
Revolution die Bewohner unseres Planeten immer mehr miteinander
vernetzt und zugleich einer ständig ansteigenden Informationsschwemme aussetzt.
Diese Andeutungen sollen an dieser Stelle genügen, um die Aufgabe
zu verdeutlichen, die sich ARIST VON SCHLIPPE und JOCHEN SCHWEITZER mit diesem Buch gestellt haben: Aus der Fülle der rapide anwachsenden und sich aus unterschiedlichsten Quellen und Theorien speisenden Informationen mußten sie auswählen, was dem heutigen
Wissensstand entspricht, mußten sie die Spreu vom Weizen trennen,
das heißt nur das jeweils Wesentliche übernehmen und dies in verständlicher Sprache darstellen, mußten sie um Zusammenschau, um Integration, aber auch um faire Berichterstattung bemüht sein und durften sie
doch die Unterschiede oder gar Konflikte zwischen den theoretischen
Positionen und Behandlungsansätzen nicht vertuschen. Und ich kann
sie nur bewundern und dazu beglückwünschen, wie elegant sie dieses
Projekt bewältigt haben — auch wenn ich selbst an der einen oder anderen Stelle etwas andere Akzente gesetzt hätte. Daß ihnen das so eindrucksvoll gelang, ist sicher nicht nur ihrem weiten Erkenntnishorizont, ihrem Blick für das Wesentliche und ihrer Fähigkeit zur
verständlichen Darstellung komplexer Zusammenhänge, sondern wohl
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Vorwort
auch der Tatsache zu danken, daß sie beide Vollblutkliniker sind, vor
deren kritischem Blick letztlich nur Bestand hat, was auch für die Praxis relevant ist.
Und dennoch: ungeachtet all meiner guten Wünsche, die dieses
Lehrbuch bei seiner Geburt begleiten, beschleicht mich doch die Frage,
ob damit nicht auch eine Phase der schöpferischen Anarchie zu Ende
geht, die mitzuerleben und wohl auch mitzugestalten nicht zuletzt
unserem Heidelberger Team vergönnt war. Bedeutet dies, daß jetzt eine
langweiligere Zeit des Ordnens, des Kategorisierens, des Verdeutlichens, des Lehr- und Lernbarmachens, der Verschulung der systemischen Therapie und Beratung eingesetzt hat, die kommen mußte, aber
auch zu etwas Wehmut, wenn nicht Besorgnis Anlaß gibt?
Immerhin: Auch darin zeigt sich mir das Besondere dieses Buches,
daß sich dessen Autoren nicht unbedingt als routinierte Lehrbuchschreiber ausweisen und daß, wie es mir bei der Lektüre des Buches
schien, ihre Freude am lockeren Darstellen oder, wenn man so will, ihr
schriftstellerischer Spieltrieb der ernsten Lehrbuchbeflissenheit gleichsam immer wieder einen Streich spielt, was, wie ich meine, dem Buch
nur guttut.
Helm Stierlin
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Vorwort der Autoren
Systemische Therapie und Beratung haben ihre Adoleszenz hinter sich
gebracht, sie sind »erwachsen« geworden: Jahre eines schnellen
Wachstums, einer stürmisch-kreativ-chaotischen Entwicklung, des
Spottes über »veraltete« Paradigmen und der Individuation gegen
diese, der Gruppenstreitigkeiten zwischen rivalisierenden Schulen liegen hinter ihnen.
Heute steigt mit zunehmender Zahl an Veröffentlichungen das
Bedürfnis nach einem integrierenden Überblick. Systemtherapeutisches Wissen ist in unzähligen Publikationen in Zeitschriften, Büchern
und Heften verstreut. Es wird Zeit für ein Lehrbuch, das die Erkenntnisfortschritte mehrerer Dekaden und verschiedener systemtherapeutischer Schulen zusammenträgt, das die Vielfalt bewährter systemischer
Praktiken in anschaulicher Form darstellt, die Breite der Anwendbarkeit systemischer Konzepte aufzeigt und das sich schließlich auch der
Kritik an der systemischen Arbeit widmet.
Es ist unser Anliegen, mit diesem Buch solch ein Lehrbuch vorzulegen. Es ist bewußt breit angelegt und eignet sich damit sowohl für denjenigen, der sich in dem Bereich einen Überblick verschaffen will, als
auch für den, der sich gründlich einarbeiten möchte. Gleichzeitig kann
es als Handbuch genutzt werden, das heißt die einzelnen Teile beziehungsweise Kapitel sind unabhängig voneinander lesbar. So ist es möglich, sich nur mit dem theoretischen Teil zu befassen oder auch diesen
zu überspringen und nur den Praxisteil zu konkreter Anleitung zu nutzen.
Bei der Gestaltung des Buches haben wir uns von der Überlegung
leiten lassen, daß systemische Therapie und Beratung sich mittlerweile
sowohl über die Familie, als auch über die Therapie hinaus entwickelt
haben und in andere Beratungskontexte vorgedrungen sind. Nach wie
vor werden sie schwerpunktmäßig in den helfenden Berufen rezipiert.
Doch werden systemische Denk- und Praxismodelle zunehmend in
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Vorwort der Autoren
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anderen Dienstleistungsbereichen wie Unternehmen, Sozialmanagement, Verwaltung und Politik genutzt. Deshalb muß ein Einführungsbuch neben Grundlagen und Methodik auch die Arbeit mit Einzelnen,
Gruppen, Teams und Organisationen zumindest ansatzweise mit
beschreiben.
Der gewählte Buchtitel soll verdeutlichen, daß wir zwischen systemischer Therapie und systemischer Beratung keine grundsätzlichen
theoretischen oder methodischen Unterschiede sehen. Unterschiede
ergeben sich eher aus den Handlungsfeldern. Medizin, Psychotherapie,
Sozialarbeit, Management und Politik weisen wichtige differente
»Eigen-Logiken« auf, auf die sich im systemischen Rahmen tätige Personen sinnvollerweise einstellen sollten. Daher haben wir versucht,
spezifische Überlegungen zu unterschiedlichen Bereichen in das Buch
mit einzuarbeiten.
Wir haben uns entschieden, schulenübergreifend den »Stand der
Kunst« darzustellen und dabei zugleich nicht darauf zu verzichten,
Streitpunkte (auch zwischen uns), Widersprüche und Unterschiede
deutlich zu machen. Wir konzentrierten uns schwerpunktmäßig auf
Modelle, die etwa seit Beginn der 80er Jahre diskutiert werden. Eine
Begrenzung ist notwendig, auch wenn eine Reihe klassischer Konzepte
so nicht die Würdigung erfahren, die ihnen zukommt und die wir ihnen
gegenüber auch selbst empfinden, etwa das Delegationskonzept von
BOSZORMENYI-NAGY und STIERLIN oder die Ansätze von SATIR und
MINUCHIN. Daher sei hier explizit auf zusammenfassende Darstellungen verwiesen etwa bei VON SCHLIPPE 1984, KRIz 1985, STIERLIN
1994.
Wir Autoren sind seit langem miteinander befreundet und gleichzeitig Lehrtherapeuten an zwei konkurrierenden Weiterbildungsinstituten.
Wir arbeiten an verschiedenen Fakultäten verschiedener Universitäten.
Unsere Entwicklungen sind von unterschiedlichen »Schulen« systemischer Therapie geprägt und haben uns doch einen ähnlichen Weg von
wachstumsorientierten und strukturellen Modellen zu systemisch-konstruktivistischen Ansätzen geführt, wobei wir uns die Vorliebe für eine
erlebnisintensive, handlungsorientierte und spielerische therapeutische
Methodik bewahrt haben. In dieser Konstellation sehen wir die Chance,
daß dieses Buch einen Beitrag dazu leistet, daß systemische Therapie
und Beratung sich weniger in Schulen und Richtungen verzetteln, sondern daß die Beiträge sowohl verschiedener Ausbildungsinstitute als
auch verschiedener Modelle zu einem modernen systemischen Rahmenkonzept gewürdigt werden.
Wir haben lange überlegt, wie wir mit der männlichen und weibli-
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Vorwort der Autoren
chen Form der Bezeichnung von Personen beiderlei Geschlechts umgehen wollen. Eine durchgehend doppelte Benennung beeinträchtigt
unseres Erachtens die Lesbarkeit, ebenso eine durchgehend männliche
oder weibliche Form. Wir haben uns entschieden, mit allen Formen zu
experimentieren, um durch dieses Stilmittel die Sensibilität für die
Thematik im Bewußtsein zu halten. Es sind natürlich immer beide
Geschlechter gemeint, auch da, wo wir nur eine Form verwendet
haben.
Ein jedes Buch hat viele »Mütter« und viele »Väter«. Wir danken
neben den vielen, von denen wir gelernt haben, besonders unseren Kolleginnen und Kollegen vom Heidelberger Institut für Systemische Forschung und vom Weinheimer Institut für Familientherapie für zahllose
Anregungen und Diskussionen, die sich in diesem Buch niedergeschlagen haben. Explizit danken wir JÜRGEN KRIZ für seine freundschaftliche Unterstützung sowie REINHARD Voss und KAI HAMBORG für
wichtige Hinweise zu den Bereichen Schule und Management/Organisationsberatung. Ganz besonders zu Dank verpflichtet sind wir
MATTHIAS OcHs für seine kenntnisreichen Anregungen und hilfreiche
Kritik.
Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer
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I. Geschichte und Überblick
1. Von der Familientherapie zur systemischen
Therapie und Beratung
Die systemische Therapie entstand nicht von heute auf morgen. Ihre
Wurzeln reichen weit in die Psychotherapiegeschichte hinein. In den
50er Jahren begannen erste Pioniere, das gewohnte Feld der Einzeloder Gruppentherapie zu verlassen und mit Familien zu arbeiten. Die
Familientherapie entstand, und ihre Konzepte gewannen immer mehr
Anhänger. Je mehr die Familientherapie sich ein anerkanntes Terrain
eroberte, desto mehr wurde die Orientierung an der Familie als
Behandlungseinheit hinterfragt. Schließlich ist sie nur eine Form, in der
Menschen sich sozial organisieren. Die Bedeutung einer systemischen
Perspektive als einer bestimmten Weise, die Welt wahrzunehmen,
rückte in der Vordergrund: »Von der Familientherapie zur systemischen
Perspektive« (REITER et al. 1988). Familientherapie und systemische
Therapie beanspruchen bis heute, mehr zu sein, als nur eine weitere
Therapieform. Systemtherapeutische Techniken ergeben sich aus der
Frage, wie in sozialen Systemen Menschen gemeinsam ihre Wirklichkeit erzeugen, welche Prämissen ihrem Denken und Erleben zugrunde
liegen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Prämissen zu hinterfragen und zu »verstören«. Je mehr diese Aspekte in den Vordergrund traten, um so weniger wichtig wurde die Frage, mit welchem sozialen
(Teil-)System man gerade arbeitete oder ob wirklich immer die ganze
Familie anwesend sein müsse. Zunehmend weniger wird daher von
»Familientherapie« gesprochen, zunehmend mehr von »systemischer
Therapie«, beziehungsweise außerhalb des engeren Psychotherapiefeldes von »systemischer Beratung«. Dieser Entwicklungsgang soll im
folgenden nachgezeichnet werden.
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Geschichte und Überblick
1.1. Einige Geschichten zur Familientherapie
Die Liste möglicher Vorläufer der Familientherapie ist lang. Erste
Ansätze familienorientierter Arbeit finden sich bereits in der Sozialarbeit des letzten Jahrhunderts. Bereits 1890 kritisierte die amerikanische
Sozialarbeiterin ZILPA SMITH ihre Kollegen: »Die meisten von euch
behandeln arme oder kranke Einzelpersonen, ohne ihre Familienbeziehungen zu sehen. Wir behandeln die Familie als Ganzes, meist mit dem
Ziel, sie zu erhalten, manchmal aber auch, um bei der Auflösung zu helfen« (BRODERICK U. SCHRADER 1981, S. 6, übers.von uns). Auch in
Psychologie und Psychotherapie sind einige Namen zu nennen, die den
Weg für eine systemorientierte Sichtweise bereiteten: z. B. KURT
LEWtN mit seiner Feldtheorie (»Der Lebensraum einer Person als
Feld«) oder JACOB MORENO, der Begründer des Psychodramas, der den
Menschen und sein soziales Netz als unauflösliche Einheit betrachtete.
Als Vorläufer kann man auch ALFRED ADLER ansehen. Seine Theorie
ist im wesentlichen eine Theorie der sozialen Determinierung menschlichen Verhaltens.
Doch ist es wichtig, an dieser Stelle eine Unterscheidung zu treffen
zwischen einer familienbezogenen Sichtweise von Problemen und der
Entwicklung explizit systemischer Interventionsformen. Das wissenschaftliche Interesse ging noch für lange Zeit in die Richtung der
Suche nach Ursachen beziehungsweise der einen Ursache psychischer Störungen. Diesem Muster folgten lange auch die frühen Familienstudien etwa ab den 40er Jahren. Das Interesse daran stieg sprunghaft an, zunächst über die Entdeckung der »schizophrenogenen« oder
allgemeiner der »pathogenen« Mutter. In ausgesprochen maskulinistischer Tendenz wurde beispielsweise über das »gestörte sexuelle
Leben der Mütter« gesprochen, die den Eindruck von »erotisch nicht
ausgereiften Frauen« machten — und offensichtlich über erotisch ausgereifte Männer verfügten, deren Sexualleben völlig ungestört verlief.
Wie die Männer das anstellten, entzog sich der Beobachtung, es
wurde ja nach einer innerhalb einer Person liegenden Ursache
gesucht. Familienbefunde in dieser Zeit wurden in Form linearer Verursachungsketten dargestellt — etwa über die Unterscheidung verschiedener »maternaler Mißbrauchsmodi«. Dennoch soll diese Periode nicht abqualifiziert werden. Sie zeigt, wie schwierig es war und
ist, sich aus vorgegebenen Denkschemata zu lösen. Sie macht deutlich, wie sehr die Prämissen, auf denen unser Denken beruht, die
Kategorien, die wir vor unserer Wahrnehmung bereits entwickelt
haben, diese in einer Weise beeinflussen, daß wir nur wenige Jahr-
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Von der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung
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zehnte später kopfschüttelnd vielleicht sogar das bestaunen, was wir
selbst geschrieben haben.
In dieser Zeit wurden auch die ersten Versuche gemacht, den Rahmen des durch die Psychoanalyse vorgegebenen Settings zu verlassen.
Es kam zu verschiedenen, zunächst vereinzelten Versuchen, die Familie mit einzubeziehen, wobei eine Familientherapie im heutigen Sinne
wohl noch nicht durchgeführt wurde, sondern eher gruppentherapeutische Techniken auf Schizophrene und deren Eltern übertragen wurden,
etwa in Form gemeinsamer Gruppenpsychotherapie mit Müttern und
Töchtern oder Therapiegruppen für Patienteneltern und anderes
(SCHINDLER war hier ein Vorreiter, S. HOSEMANN et al. 1993). All diese
Versuche ermöglichten den Perspektivenwandel, der für die damaligen
Theoretiker und Praktiker so dramatisch war, daß sie ihn als »Paradigmawechsel« erlebten und beschrieben. Als ein erster Meilenstein
erschien 1945 das Buch von RICHARDSON: »Patients have Families«,
und es scheint, als sei dies zu dem Zeitpunkt tatsächlich eine sensationelle Entdeckung gewesen.
Anders als bei FREUD kann bei der systemischen (Familien-)Therapie nicht von einem genialen Begründer gesprochen werden, auf den
sich alle Theoriebildung aufbaute. Es sind eher eine ganze Reihe herausragender Persönlichkeiten hier zu nennen, und es dürfte nicht zu
entscheiden sein, wer »der oder die erste« war, der/die mit Familien
begann zu arbeiten.
Die Geschichte, die VIRGINIA SATIR (oft als »Mutter der Familientherapie« bezeichnet) gern erzählte, wenn sie von der Entstehung der Familientherapie spricht,
spiegelt sicher stellvertretend die Erfahrungen vieler ihrer Kollegen wider: Ihr war
1951 eine 26jährige Schizophrene überwiesen worden, die bereits von mehreren
Therapeuten erfolglos behandelt worden war. Nach sechs Monaten, in der Therapie hatten sich Fortschritte gezeigt, rief plötzlich die Mutter dieser Frau an und
drohte SATIR mit einer Klage wegen »Entfremdung von Zuneigung«. SATIR: »Aus
irgendeinem Grund hörte ich an diesem Tag zwei Botschaften in der Stimme der
Mutter: eine verbale Drohung und eine nonverbale Bitte. Ich entschied mich auf
die Bitte einzugehen und die Drohung zu ignorieren. Ich lud sie ein, zu mir zu
kommen. Zu dieser Zeit war das eine äußerst ungewöhnliche Sache, die ich tat.
Gleichwohl nahm sie meine Einladung an« (zit. nach JÜRGENS U. SALM 1984,
S. 404). Im ersten gemeinsamen Kontakt, so SATIR, sei ihr aufgefallen, daß die
Patientin sich wieder so verhielt wie in den ersten Tagen zu Beginn der Therapie,
und SATIR erarbeitete mit beiden ein neues Gleichgewicht. Die Frage nach dem
Vater führte dann zum nächsten Schritt bei der Ausweitung des Settings. Der
Kommentar SATIRS mag die Stimmung in der Fachwelt gut widerspiegeln:
»Damals wurden Väter nicht wirklich als ein Teil des Gefühlslebens einer Familie
angesehen, deshalb dachten Therapeuten gewöhnlich gar nicht an sie.« Als der
Vater kam, erlebte SATIR einen neuen Schock: »Sowohl die Mutter als auch die
Tochter waren da, wo wir angefangen hatten.« Hatte sie zu Beginn auf die intra-
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Geschichte und Überblick
psychischen Aspekte der Tochter geachtet, im nächsten Schritt an der Kommunikation zwischen Mutter und Tochter wichtige Aspekte der später formulierten Kommunikationstheorie wahrgenommen, so entdeckte sie nun Strukturaspekte des
Systems, der Triade: Allianzen, Koalitionen, Einbeziehung eines Dritten in einen
verdeckten Konflikt und so weiter. Nach einiger Zeit zog sie noch den »perfekten
Bruder« der Patientin hinzu und erarbeitete mit der ganzen Familie ein Gleichgewicht, das erlaubte, die Therapie erfolgreich zu beenden.
In den 50er und 60er Jahren waren es vor allem drei Institute, die
durch Forschungsarbeiten zur Schizophrenie die Entwicklung vorantrieben. An der Yale-Universität arbeitete ein Team um THEODORE
LIDZ, in Washington, am National Institute for Mental Health
(NIMH), forschten LYMAN WYNNE und Mitarbeiter (z. B.WYNNE U.
SINGER 1965). In Palo Alto schließlich entstand das »Mental Research
Institute«, kurz MRI (s. hierzu BODIN 1981). Es wurde 1959 von DON
JACKSON, JULES RISKIN und VIRGINIA SATIR gegründet, später arbeiteten unter anderem JAY HALEY, PAUL WATZLAWICK, JOHN WEAKLAND,
RICHARD FISCH dort (die frühen Arbeiten des MRI sind bei BATESON
et al. 1969 zusammengefaßt). Dieses Institut erregte besondere Aufmerksamkeit durch Studien zur Schizophrenie im sozialen Kontext,
speziell durch die Double-bind-Theorie (»Doppelbindungstheorie« —
siehe Kasten).
Es muß eine sehr aufregende Zeit gewesen sein. Einerseits standen
die Vorreiter einer anderen Art, Probleme zu sehen, unter großem
Druck ihrer Standeskollegen, für die oft noch die strikten Abstinenzregeln der klassischen Psychoanalyse galten, andererseits eröffneten sich
unter familientherapeutischer Perspektive neue und interessante Möglichkeiten, die Probleme von Menschen zu verstehen. SATIR berichtet
über diese Zeit: »Diese frühe Periode war aufregend für diejenigen von
uns, die mit Familien zu arbeiten begonnen hatten, denn wir bewegten
uns auf völlig neuem Gebiet. Es war ängstigend, sich über die Grenzen
des Erlaubten hinauszuwagen, denn wir setzten theoretisch und manchmal buchstäblich unser berufliches Ansehen aufs Spiel« (JÜRGENS u.
SALM 1984, S. 405).
Es können an dieser Stelle nicht alle Pioniere und Gründer familientherapeutischer Schulen vorgestellt werden. Es handelt sich um ein sehr
weitmaschig vernetztes Feld von Personen, Orten und Institutionen. Zu
nennen sind hier neben den bereits erwähnten noch NATHAN ACKERMANN in New York (nach seinem Namen ist eines der bedeutendsten
systemischen Ausbildungsinstitute in Amerika benannt), CARL WHITAKER, JOHN BOWLBY, MURRAY BOWEN, RONALD LAING und DAVID
COOPER, ROBIN SKYNNER und viele andere (vgl. STIERLIN 1994). IVAN
BOSZORMENYI-NAGY legte mit der Entwicklung der Mehrgeneratio-
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Von der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung
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Was ist Double-bind?
Zunächst ist eine Grundbedingung das Bestehen einer engen Beziehung, die
für einzelne oder alle Beteiligten eine hohe Bedeutung hat (z. B. für das Kind
in einer Familie, aber auch in anderen Kontexten, z. B. Psychotherapie,
materielle Abhängigkeit, Krankheit usw.). Gleichzeitig ist dieser Kontext
durch eine gewisse Anspannung gekennzeichnet, wie sie eine »Straferwartung« mit sich bringt: ein Lernkontext, der eher auf der Vermeidung von
Strafe aufbaut als auf dem Streben nach Belohnung. In dieser angespannten
Situation sieht sich eine Person einer paradoxen Aussage oder auch einer
paradoxen Aufforderung ausgesetzt. Paradox deshalb, weil sie zwei unvereinbare Signale enthält — etwa die mit zusammengekniffenen Lippen gemachte Aussage: »Natürlich liebe ich dich, das weißt du doch!« Auf welcher
Seite der Botschaft man dann auch reagiert, man hat eine Bestrafung zu
erwarten. Paradoxe Handlungsaufforderungen beziehen sich auf Verhalten,
das nicht ausgeführt werden kann, da es nur spontan entstehen kann: »Ich
möchte, daß du auf mich zugehst und mir zeigst, daß du mich liebst!« oder:
»Was soll ich denn jetzt mit dem Blumenstrauß, jetzt hast du ihn mir doch
nur mitgebracht, weil ich gestern gesagt habe, daß du mir nie Blumen mitbringst! Du sollst sie mir freiwillig, von dir aus mitbringen!«
Zu dieser Kommunikation müssen noch drei Aspekte hinzutreten:
— das Verbot über die Situation zu sprechen (die Metakommunikation ist
tabuisiert),
— das Verbot, die Situation zu verlassen,
— eine Allgegenwart dieser Kommunikationsform, die eine habituelle
Erwartung eines »paradoxen Universums« erzeugt.
Unter diesen Bedingungen ist, so die Autoren, ein Kontext gegeben, in dem
das Auftreten schizophrener Kommunikation wahrscheinlich ist (nach
BATESON et al. 1969, WATZLAWICK et al. 1969). Die Double-bind-Theorie
hatte für die Entwicklung der Familientherapie eine große Bedeutung, auch
wenn sie bis heute umstritten und nicht empirisch bewiesen und wohl auch
nicht beweisbar ist (OLsoN 1972). Eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit der Theorie findet sich in CRONEN et al. 1982.
nenperspektive von Vermächtnis und Verdienst die Grundlage für die
Entwicklung des frühen Heidelberger Modells. In der Philadelphia
Child Guidance Clinic entwickelte SALVADOR MINUCHIN mit der
strukturellen Familientherapie ein Konzept, das in den 70er und den
beginnenden 80er Jahren sehr beliebt war.
Besonderes Aufsehen erregte Mitte der 70er Jahre das Team um MARA
SELVINI PALAZZOLI aus Mailand. Das Mailänder Modell ist für praktisch alle Konzepte systemischer Therapie von unschätzbarer Bedeutung geworden. Daher wird es in den nächsten Abschnitten dieses
Kapitels ausführlicher vorgestellt.
In Deutschland lehnten sich die frühen Konzepte eng an die Psychoanalyse an, so etwa das familientherapeutische Modell HORST EBER-
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Geschichte und Überblick
HARD RICHTERS in Gießen (1963, 1972). RICHTER gründete 1971 die
»Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie«
(REITER 1988), aus ihr ging die »Deutsche Arbeitsgemeinschaft für
Familientherapie« (DAF) hervor, die bis heute als familientherapeutischer Verband aktiv ist. Die Arbeitsgruppe um ECKHARD SPERLING in
Göttingen zählt ebenfalls zu den psychoanalytisch ausgerichteten Pionieren (SPERLING 1983, MASSING et al. 1982), das Konzept der »Beziehungsanalyse« von THEA BAURIEDL (z. B. 1980) ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen. Auch das Heidelberger Modell
der Arbeitsgruppe um HELM STIERLIN entstand anfangs in der Tradition psychoanalytischen Denkens. Im Lauf seiner Weiterentwicklung
wurden zunehmend Anregungen des Mailänder Modells, später auch
lösungsorientierter und narrativer Ansätze integriert, so daß es heute in
Theorie und Methodik als explizit systemisches Konzept anzusehen ist,
das vor allem im Umgang mit »harten« Krankheiten und »rigiden«
Systemen sowie in der engen Theorie-Technik-Verbindung seine besondere Stärke hat (StmoN 1988a, WEBER U. STIERLIN 1989, RÜCKEREMBDEN-JONASCH U. EBBECKE-NOHLEN 1992, STIERLIN 1994, KETZER 1994, SCHWEITZER U. SCHUMACHER 1995).
Im deutschen Sprachraum ebenfalls weit verbreitet ist das Konzept
des Instituts für Familientherapie Weinheim, ursprünglich 1975 von
MARIA BOSCH gegründet. Von der Humanistischen Psychologie und
dem Ansatz VIRGINIA SATIRS ausgehend stellt das »Weinheimer Modell« gegenwärtig einen Versuch dar, die Vielfalt systemischer Perspektiven, speziell den Mailänder Ansatz, die Selbstorganisationstheorie und
das Reflektierende Team zu integrieren (voN SCHLIPPE U. KRIZ 1987,
MOLTER U. VON SCHLIPPE 1991, TRÖSCHER-HÜFNER 1991, besonders
auch das Buch zur systemischen Paartherapie von LENZ et al. 1995).
Erwähnt werden soll hier noch das Konzept der Hamburger Arbeitsgruppe um KURT LUDEWIG, der 1992 unter expliziter Bezugnahme auf
die Theorie MATURANAS einen Entwurf einer »allgemeinen systemischen Therapie« vorstellte. In der Schweiz sind die Arbeiten des »Instituts für Ehe und Familie« und der aus ihm hervorgegangenen Arbeitsgruppen bedeutsam, z. B. von JOSEF DUSS-VON WERDT et al. (1995) zur
Scheidungsmediation und z. B. von ROSMARIE WELTER-ENDERLIN
(1992) zur Paartherapie; (zur Arbeit des »Meilener Instituts« s. a. WELTER-ENDERLIN U. HILDENBRAND 1996). JüRG WILLI und Mitarbeiter
entwickelten an der Grenzlinie zur Psychoanalyse Konzepte unter
anderem für die Paartherapie (1976, 1991a) und für die psychosomatische Konsiliartätigkeit (1991b). Ebenfalls in der Schweiz lehrt GOTTLIEB GUNTERN, der ausgehend vom Ansatz MINUCHINS eine komplexe
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Von der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung
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»Ökoanthropologie« formulierte (z. B.1992). Mit einem provokanten
Artikel über den »Paradigmawechsel« löste er 1981 eine heftige
Debatte zwischen Familientherapie und anderen Therapieformen
aus. In Österreich hat die Arbeitsgruppe um LUDWIG REITER (z. B. REITER et al. 1988) u. a. das Konzept des »Reflektierenden Teams«
(S. 199-204) weiterentwickelt und sich zugleich um die empirische
Überprüfung systemischer Therapie bemüht (s. a. REITER et al. 1993).
Die Aufzählung bleibt notwendigerweise subjektiv, Vollständigkeit
dürfte an dieser Stelle unmöglich sein. Eine interessante Rückschau auf
die letzten 20 Jahre deutschsprachiger Familientherapie mit Interviews
einer ganzen Reihe der hier erwähnten Personen findet sich bei HOSEMANN et al. 1993.
1.2. Modelle im Überblick
Die systemische Therapie gibt es nicht. Vielmehr ist darunter ein breiter Oberbegriff zu verstehen, der so etwas ist wie eine Klammer um
eine Vielzahl von Modellen, die durchaus auch in sich sehr heterogen
sein können (LIEB 1995). Bei aller Vorsicht, die solch einem Vorhaben
zukommt, soll an dieser Stelle versucht werden, die verschiedenen
Modelle und Konzepte systemischer Therapie in einem Schema
zusammengefaßt darzustellen (S. 24). Wir sind uns dessen bewußt, daß
wir damit weder allen Modellen gerecht werden können, noch daß die
dargestellten durch die grobe Systematisierung in Konzepte »klassischer« Orientierung, »Kybernetik 2. Ordnung« und »narrative Ansätze« angemessen erfaßt werden. Gerade bei den letzten beiden Kategorien dürften die Überschneidungen sehr groß sein. Dennoch hoffen
wir, daß die Systematik ein wenig zur Entwirrung beiträgt.
Jedes der erwähnten Modelle hat zur Entwicklung moderner systemischer Therapie und Beratung einen spezifischen Beitrag geleistet;
systemisches Arbeiten bezieht sich mehr oder weniger deutlich auf
diese Konzepte. Dies hat damit zu tun, daß es ja nicht die reinen Konzepte sind, die sich »fortpflanzen«, sondern daß therapeutische Kompetenz in der jeweils ganz persönlichen Auseinandersetzung jedes
Therapeuten mit einer Vielzahl von verschiedenen Lehrern und Lehrerinnen erworben wird (vgl. ORLINSKY 1994), die als Modelle, sei es
über eine begeisterte Übernahme oder empörte Abgrenzung, systemische Praxis beeinflußten.
Das große Verdienst der strukturellen Familientherapie MINUCHIN s
liegt darin, daß in diesem Konzept die Bedeutung von Grenzen und
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Geschichte und Überblick
Systemtherapeutische Modelle im Überblick
Name
Quelle
Systembegriff
Zentrale Methoden
Struktur, Grenzen
Hierarchien
Herausfordern der
Grenzen
Stabilisilierung der
Subsysteme
Psychoanalyse
Unsichtbare
Bindungen über
Generationen
Klärung der
»Konten« und der
Vermächtnisse
Humanistische
Psychologie
Selbstwert
und Kommunikation
Skulptur, Reframing
Kybernetik
Familie als kybernetischer Regelkreis
Paradoxie, Ordeals,
Hausaufgaben
Kybernetik
Das Familienspiel
Zirkularität, Hypothetisieren, Neutralität, Paradox
II. »KYBERNETIK 2. ORDNUNG«
Systemisch-konstrukKonstruktitivistische Therapie
vismus
(z. B. BoscoLo et al.
Familienspiele als
Sprachspiele
Zirkuläre Fragen,
Hypothetische
Fragen
Menschen
konstruieren
multiple Realitäten
Reflecting
Team,
Kooperation
Soziale Konstruktion
sozialer Realitäten
durch Sprache
Multiple Dialoge,
Kreation kooperativer Kontexte, Reflektierendes Team
Systeme bestehen
aus Geschichten,
Menschen sind
Erzähler
Externalisierung,
Suche nach
Ausnahmen
»Aus der Sprache
gibt es kein
Entrinnen«
Solution Talk,
»Wunderfrage«,
Hausaufgaben
I. KLASSISCHE MODELLE
Strukturelle
StrukturaFamilientherapie
lismus
(z. B. MINUCHIN 1977)
MehrgenerationenModell
(z. B. BOSZORMENYINAGY u. SPARE 1981;
STIERLIN 1978)
Erlebnisorientierte
Familientherapie
(z. B. SATIR 1990,
WHITAKER
1991)
Strategische
Familientherapie
(z. B. HALEY 1977)
Systemisch-kybernetische Familientherapie
(SELVINI PALAZZOLI
et al. 1977)
1988, STIERLIN 1988a)
Reflecting Team
(z. B. ANDERSEN 1990)
Konstruktivismus
III. NARRATIVE ANSÄTZE
Therapie: konstruktive Sozialer
und hilfreiche Dialoge
Konstruk(z. B. ANDERSON u.
GOOLISHIAN 1990, 1992)
tionismus
Therapie als
Dekonstruktion
(z. B. WHITE 1992)
Postmoderne
Philosophie
(z. B. DERRIDA,
Lösungsorientierte
Kurz-Therapie
(z. B. DE SHAZER 1989)
SprachPhilosophie
FOUCAULT)
(DERRIDA,
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Von der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung
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Strukturen thematisiert wurde. Bis heute bleibt es eine hilfreiche Frage
in der Arbeit mit Familien, auf welche Weise das Elternsubsystem und
das der Kinder miteinander in Beziehung sind und ob die Grenzen in
der Familie klar oder diffus sind. Die mutige und klare, oft konfrontative Art MINUCHINS hat viele ermutigt, in der Therapie Wagnisse einzugehen und eine deutliche Sprache zu sprechen. MINUCHIN und seine
Arbeitsgruppe gehören darüber hinaus bis heute zu denjenigen, die ihre
Arbeit systematisch empirischer Überprüfung unterzogen (vgl.
APONTE U. VANDEUSEN 1981) und die Konzepte für die Arbeit mit
Randschichtfamilien entwickelten (MiNucHIN et al. 1967).
Das Mehrgenerationenkonzept, das BOSZORMENYI-NAGY formulierte und das zum Konzept von Delegation und bezogener Individuation von STIERLIN (z. B. 1975) weiterentwickelt wurde, führte die Perspektive in die systemische Therapie ein, über das aktuelle Geschehen
hinaus danach zu suchen, wie Verhalten, Erleben oder auch Symptome
Sinn ergeben, wenn man Vermächtnisse aus früheren Generationen
berücksichtigt und die Frage stellt, inwieweit diese erfüllt wurden
beziehungsweise erfüllbar waren.
Eine generationenübergreifende Perspektive wurde auch in den familientherapeutischen Konzepten eingenommen, die wir in Tabelle 1 unter
dem Begriff »erlebnisorientiert« zusammengefaßt haben. Es ist das
große Verdienst von SATIR, gerade in einer Phase, in der der Blick auf
das Individuum und auf die therapeutische Beziehung eher vernachlässigt wurde, darauf verwiesen zu haben, daß der Selbstwert einer Person
für eine stimmige Kommunikation unerläßlich ist, und daß somit eine
vertrauensvolle therapeutische Beziehung einen wesentlichen Bestandteil des Veränderungsprozesses darstellt (vgl. die Untersuchungen von
GREEN U. HERGET 1991). Ihre Fähigkeit, schnell einen herzlichen und
liebevollen Kontakt aufzubauen, bleibt bis heute bewundernswert. Die
dem erlebnisorientierten Ansatz zugeschriebene Methode der Familienskulptur ist bis heute Standardmethode in der systemischen Arbeit.
WHITAKER, der ebenfalls dieser Orientierung zugerechnet werden kann,
betonte die Bedeutung des kreativen Spiels. In seiner sehr unorthodoxen Art zu arbeiten ist er bis heute ein Vorbild, wie man die von Theorien gesteckten Grenzen kreativ und erfolgreich überschreitet.
Aus der strategischen Familientherapie, die sich mit dem Namen
JAY HALEYS verbindet, bezieht die systemische Therapie bis heute eine
besondere Sensibilität für die verschiedenen Positionen, in die man als
Therapeut geraten kann. Auch wenn es gegenwärtig für weniger wichtig gehalten wird, daß der Therapeut »up« bleibt im Sinne von Macht
und Überlegenheit, so geht es doch bis heute darum, wie es für Thera-
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Vandenhoeck & Ruprecht
Über die Familientherapie hinaus hat sich systemisches Denken
weite Arbeitsfelder erschlossen, von der Einzel- und Paartherapie
über die Supervision bis zur Organisationsentwicklung, in
der Medizin und Sozialarbeit wie im Management und Politikberatung.
Das Buch entwickelt, jederzeit praxisbezogen, die theoretischen
Konzepte, die hinter systemischem Denken stehen, macht
eingehend vertraut mit den Techniken und Anwendungsmöglichkeiten und veranschaulicht sie an zahlreichen Fallbeispielen.
Aktuelle Kontroversen werden aufgegriffen, in der Kritik der
systemischen Therapie werden auch künftige Entwicklungslinien
und innovative Anwendungsfelder deutlich.
Die Autoren
Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe, lehrte
viele Jahre Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück
und hat seit 2005 den Lehrstuhl für Führung und Dynamik von
Familienunternehmen an der Wirtschaftsfakultät der Universität
Witten/Herdecke inne. Er ist Psychologischer Psychotherapeut
und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Institut für
Familientherapie Weinheim.
Prof. Dr. rer. soc. Jochen Schweitzer, Diplom-Psychologe, ist
Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie am
Universitätsklinikum Heidelberg und leitet dort die Sektion
Medizinische Organisationspsychologie. Er ist Psychologischer
Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichentherapeut und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Helm Stierlin Institut.
ISBN 978-3-525-45659-0
9 783525 456590
www.v-r.de