Teltscher
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1 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Erklärungsmodell für die multifaktorielle Genese psychischer Störungen Seminararbeit im Modul 4b Andreas Teltscher Masterstudiengang „Sozialarbeit in der Psychiatrie“ Dozent: Dr. Michael von Cranach Fachhochschule München Fachbereich 11 Sozialwesen Am Stadtpark 20 81243 München Abgabedatum: 01.10.2006 2 Inhalt 1 Einführung Seite 2 2 Begriffsdefinitionen Seite 3 2.1 Psychische Störung und psychische Gesundheit Seite 3 2.2 Vulnerabilität Seite 4 3 Entstehung einer psychischen Störung Seite 5 3.1 Entwicklung einer Vulnerabilität Seite 5 3.1.1 Genetische Faktoren Seite 6 3.1.2 Geburtskomplikationen Seite 8 3.1.3 Psychodynamische Faktoren Seite 9 3.1.4 Soziale Faktoren Seite 13 3.2 Auslösende Stressoren Seite 16 4 Zusammenfassung und Diskussion Seite 17 5 Literaturverzeichnis Seite 22 6 Erklärung Seite 24 1 Einführung 3 Psychische Störungen zeichnen sich durch unterschiedliche Ausprägungen und Verläufe trotz einheitlicher Diagnose aus. Die eher eindimensionalen biologischen und psychologischen Konzepte können oft nur unzureichend die Genese psychischer Störungen erklären. Zubin und Spring versuchten 1973 durch die Formulierung des Vulnerabilitätsmodelles die Entstehung schizophrener Störungen besser als die bis dahin bekannten Konzepte zu erklären. Dieses Modell geht von einer multifaktoriellen Genese mit unterschiedlichen Verläufen aus. Es kann sich flexibel neuen Befunden anpassen und gilt heute als eines der wichtigsten Erklärungsmodelle für die Entstehung psychischer Störungen. Luc Ciompi griff dieses Modell in den frühen 80er Jahren auf und war maßgeblich für dessen Verbreitung in Europa verantwortlich. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage: „Wie entsteht persönliche Vulnerabilität und welchen Einfluss hat sie auf die Genese psychischer Störungen“? Ziel dieser Arbeit ist es einen Überblick über das Wissen zur Entstehung persönlicher Vulnerabilität und ihren Einfluss auf die Entstehung psychischer Störungen in der Literatur zu geben. Zu Beginn werden die Begriffe „psychische Störung“ und „Vulnerabilität“ definiert. Anschließend wird die Entstehung persönlicher Vulnerabilität, ihre Einflussfaktoren und der Zusammenhang mit der Entstehung psychischer Störungen beschrieben. Zum Abschluss werden die Aussagen dieser Arbeit zusammengefasst und diskutiert. 2. Begriffsdefinition 2.1 Psychische Störung und psychische Gesundheit Um den Begriff psychische Störung korrekt definieren zu können sollte klar sein, was als psychisch gesund gilt. 4 Nach Durchsicht der Literatur fällt es schwer eine brauchbare Definition für psychische Gesundheit zu finden. Krankheit wird deutlich häufiger in den verschiedenen Fachgebieten wie Medizin, Jura oder Soziologie beschrieben. So sieht das Bundessozialgericht Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung als „ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat“. Der Bundesgerichtshof versteht unter Krankheit jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, beseitigt oder gelindert werden kann (aus Marschner 2005, Seite 10). Gesundheit wird in diesen Texten nicht definiert. Selbst Aron Antonowski hat bei der Entwicklung seines salutogenetischen Modells abgelehnt Gesundheit zu definieren, da Gesundheit und Krankheit seiner Ansicht nach ein Kontinuum bilden und es bei der Definition dieser beiden Begriffen nicht um ein absolutes Konzept geht. Definitionen würden aber die Festlegung von Normen verlangen, die dem subjektiven Empfinden des Einzelnen aber eventuell nicht entsprechen (Vgl. Skript Michael Ewers 2006, Seite 5). Speziell „psychische Gesundheit“ wird meines Erachtens am besten durch die WHO definiert: Psychische Gesundheit ist der „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen“ (WHO, Grünbuch 2005, Seite 4). Folglich umfassen psychische Erkrankungen laut WHO psychische Gesundheitsprobleme und – belastungen, Verhaltensstörungen in Verbindung mit Verzweiflung, konkreten psychischen Symptomen und diagnostizierbaren psychischen Störungen wie Schizophrenie und Depression. Diese von der WHO erwähnten diagnostizierbaren psychischen Störungen werden in Europa durch zwei Klassifikationssysteme erbracht. Dem ICD 10 (International Classification of Disesases and Related Health Problems) und dem DSM 4 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Die den Abkürzungen folgenden Ziffern beschreiben die jeweils aktuelle Version. 5 Für Deutschland ist das ICD-10 maßgeblich. Selbst dort wird psychische Störung nicht als exakter Begriff beschrieben. Die Verwendung dieses Begriffes soll einen Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die auf der individuellen und oft auch auf der sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind. Allerdings sollen soziale Abweichungen und soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen, nicht als psychische Störung im Sinne des ICD-10 definiert werden (Vgl. WHO, ICD-10 2000, Seite 22f) Im Sinne der Psychotherapie-Richtlinien und der beschriebenen Ableitung aus der Definition von psychischer Gesundheit der WHO, werden für diese Arbeit „psychische Störungen“ als krankhafte Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen gesehen. 2.2 Vulnerabilität „Vulnerabilität kann als Überempfindlichkeit gegenüber Umwelterfahrungen, Gefährdungen, besonders gegenüber negativen, d.h. uneinheitlichen, zerrissenen, zerfließenden, schiefen usw. zwischenmenschlichen Beziehungen inner- und außerhalb der Familie angesehen werden.“ (Rudolf 2000, Seite 61). Im Lehrbuch für Psychiatrie von Möller, Laux und Deister (1996, Seite 562) wird Vulnerabilität als „Individuell unterschiedliche Verletzbarkeit und Bereitschaft für das Auftreten psychischer Störungen (insbesondere Psychosen)“ definiert. 3 Entstehung einer psychischen Störung 3.1 Die Entwicklung einer Vulnerabilität Lebens- und Krankheitsgeschichte sind eng miteinander verknüpft. Psychische Störungen entwickeln sich nicht wie andere Krankheiten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, sondern in einem Prozess, der von Menschen mit bestimmen Fähigkeiten und Erfahrungen gestaltet wird. 6 Heute geht man davon aus, dass psychische Störungen multifaktoriell bedingt sind. Der biologische Anteil wird allerdings, insbesondere bei schizophrenen Störungen, häufig noch als führend angesehen. Dies hat zur Folge, dass die Behandlung durch Medikamente dominiert. Diese Auffassung macht es aber laut Cullberg (2003, Seite 53) schwierig die Behandlung psychischer Störungen weiter zu differenzieren. Es gebe auch, hauptsächlich außerhalb der akademischen Kreise, die Auffassung, dass es sich beispielsweise bei der Schizophrenie um eine psychisch determinierte Störung handelt. Trotz des Streites welchen Ansichten der Vorrang gebührt, fehlt es an Modellen welche die Komplexität dieser Störungen hinsichtlich der Ursachen und der Behandlung abbilden. Laut Dörner (2002, Seite 172) ist über die Entstehung- und Verlaufsbedingungen schizophrener Störungen viel geforscht worden. Bis heute können aber weder verbindliche Aussagen über den psychosomatischen und psychologischen, noch über biochemische Zusammenhänge gemacht werden. In den folgenden Kapiteln werden die Einflussfaktoren auf die Entwicklung einer individuellen Vulnerabilität beschrieben. 3.1.1 Genetische Faktoren Der Einfluss der Gene auf die Vulnerabilität eines Menschen wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. So schreiben Bosshart, Ebert und Lazarus (2001, Seite 177) lediglich „Heute wissen wir, dass genetische Faktoren nur bedingt eine Rolle spielen. Man geht davon aus, dass die erbliche Disposition eines Kindes nur unter ungünstigen Entwicklungsbedingungen zum Tragen kommt“ (Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 177). Daraus kann geschlossen werden, dass die nach der Geburt feststehende Vulnerabilität eines Menschen durch weitere Faktoren beeinflusst werden muss, damit eine psychische Störung sich entwickeln kann. Laux (1996, Seite 128) hingegen übersetzt sogar das Vulnerabilitätskonzept als „anlagebedingte Verletzlichkeit“ und Möller (1996, Seite 65) schreibt „Heute wird von einer multifak- 7 toriellen Atiopathogenes der Erkrankungen ausgegangen, bei der eine genetisch bedingte Vulnerabilität im Zentrum steht“. Zur Untermauerung dieser Behauptung dienen Familien-, Zwillings und Adoptionsstudien in denen, laut der Autoren, eindeutig genetische Dispositionen belegt werden. So zeigte sich bei Verwandten ersten Grades eine familiäre Häufung affektiver Störungen. Wenn beispielsweise ein Elternteil eine affektive Störung hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ebenfalls eine derartige Störung entwickelt ca. 10%, bei bipolaren Störungen ca. 20 %. Wenn beide Eltern erkrankt sind beträgt die Morbiditätsrate der Kinder sogar 50 bis 60%. Bei ca. der Hälfte der bipolaren Patienten haben die Eltern ebenfalls eine bipolare Störung. (Vgl. Laux 1996, Seite 65). Bei den schizophrenen Störungen zeigt sich ein ähnliches Bild. So liegt die Morbidität für Schizophrenie in den betroffenen Familien deutlich höher als in der Durchschnittsbevölkerung und nimmt mit steigendem Verwandtschaftsgrad zu einem Betroffenen zu. Bei Angehörigen ersten Grades liegt das Risiko eine schizophrene Störung zu entwickeln bei ca. 10%, bei Verwandten zweiten Grades liegt das Risiko bei ca. 5%. Bei Erkrankung beider Elternteile steigt das Risiko ebenfalls eine schizophrene Störung zu entwickeln auf 40%. Am deutlichsten wird der genetische Einfluss aus den Vergleichsdaten von eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Bei eineiigen Zwillingen erkrankt zu ca. 50% das eine Geschwister, wenn das andere erkrankt, zu ca. 15% bei zweieiigen Zwillingen. Die genetische Disposition wird laut Möller als polygene Erbanlage interpretiert. Trotz großer Fortschritte molekulargenetischer Forschung liegen die Details der verantwortlichen Gene noch im Unbekannten. (Vgl. Rudolf 2000, Seite 46 und Möller 1996, Seite 128f) So kommt auch Alanen (2003, Seite 28) zu dem Schluss, dass wahrscheinlich die Empfänglichkeit eine schizophrene Störung zu entwickeln polygenetisch bedingt ist und in den Familien von Patienten variiert und dies sowohl im Hinblick auf die Chromosomen als auch hinsichtlich ihrer Ausprägung. Die jeweilige Wirkung hänge von der Interaktion mit der physischen und psychosozialen Umwelt ab. 8 Verwandte Schizophrener Erkrankungswahrscheinlichkeit in Prozent Eltern 4–5 Kinder eines schizophrenen. Elternteils 12 – 14 Kinder schizophrener Eltern 36 – 46 Geschwister ohne schizophrene Eltern 8 – 10 Geschwister mit einem schizophrenen Eltern- 12 – 17 teil 35 – 45 Geschwister mit schizophrenen Eltern 3,5 Halbgeschwister ohne schizophrene Eltern 1,6 Großeltern 3,5 Enkel Tabelle 1 aus: Rudolf, „Der schizophrene Patient in der ärztlichen Sprechstunde“, Wiesbaden 2000, Seite 45 Werden diese beim ersten Lesen unterschiedlichen Aussagen zur Bedeutung der Genetik auf die Entwicklung einer Vulnerabiliät zusammengefasst, kommt man zu dem Schluss, dass die Genetik grundsätzlich einen Einfluss auf die Entstehung einer persönlichen Vulnerabilität zu haben scheint. Alle Autoren teilen aber die Auffassung, dass die Gene alleine eine psychische Störung nicht auslösen. Es braucht noch weitere Faktoren, die zur Entwicklung einer psychischen Störung führen. 3.1.2 Geburtskomplikationen Schädigungen im Mutterleib können die Vulnerabilität erhöhen. So beschreibt Möller (1996, Seite 129f) Zwillingsuntersuchungen, in denen festgestellt wurde, dass oft der Erkrankte von 9 eineiigen Zwillingen die so genannte „minimal brain dysfunktion“ hat. Man versteht darunter eine Ausreifungsstörung des kindlichen Gehirns, die sich darin zeigt, dass die für bestimmte Fähigkeiten verantwortlichen Hirnzellverbände nicht altersgerecht heranreifen und ihre Verknüpfung untereinander nur unzulässig und lückenhaft zustande kommen. Auch virale Infektionen in der vorgeburtlichen Phase oder auch des Neugeborenen können die persönliche Vulnerabilität beeinflussen (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 177) Alle Autoren sind sich einig, dass die in den letzten beiden Kapiteln beschriebenen biologischen Faktoren nicht allein eine psychische Störung auslösen können. Uneinig sind sie sich über die Gewichtung des Einflusses. Es muss also noch weitere Einflussfaktoren als die Biologischen bei der Genese psychischer Störungen geben. 3.1.3 Psychodynamische Faktoren Frieda Fromm-Reichmann hat in den 50er Jahren beschrieben was sie mit ihren schizophrenen Patienten erlebte. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sie den Begriff der „schizophrenogenen Mutter“. Heute wird dieser Begriff abgelehnt, beschuldigt er doch die Mutter, die Verursacherin der Schizophrenie zu sein, so wie beispielsweise Viren die Verursacher einer Grippe sind. Diese Beschreibung und Beschuldigung der Mutter ist sehr kurzsichtig. Die Rolle des Vaters wird unterbewertet und wertet die Belastung der Mutter ab. Wenn professionelle Helfer diesen Begriff benutzen, kann die Beziehung zwischen Helfer und Mutter so schwer belastet werden, dass Angehörigenarbeit unmöglich wird (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus, Seit 2001, Seite 177). Auch Möller (1996, Seite 130) bewertet den Einfluss der so genannten schizophrenogenen Mutter als unzureichend, da ausreichend empirische Daten fehlen und Dörner (2002, Seite 173) schreibt „Die Ergebnisse aus der Familienforschung sind in letzter Zeit fraglich geworden, zumindest so weit sie parteiisch für den Patienten sind und der Mutter die Schuld zuweisen.“ Trotzdem wurde durch die Entwicklung dieses Begriffes die schizophrene Störung in einen lebens- und erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, statt sie wie die damalige 10 Schulpsychiatrie als einen unaufhaltsamen Prozess eines organisch bedingten, vererbbaren Defektes anzusehen. Mir scheint es wichtig die Belastungen der Betroffenen zu sehen und ernst zu nehmen ohne sich das Recht zu nehmen, Angehörige oder Andere zu verurteilen und Schuld zuzusprechen. Gerade beim Lesen der folgenden Abschnitte ist es wichtig diese Haltung einzunehmen, da sonst schnell ein Schuldiger gefunden ist und weitere Zusammenhänge unentdeckt bleiben. Störungen in den ersten Lebensmonaten Die Kinderpsychoanalytikerin Margret Mahler bringt Psychosen mit Störungen in den ersten Lebensmonaten (symbiotische Phase), in Zusammenhang. Die Bedürfnisse des Kindes wurden nicht erfüllt und dies führte zu großen Spannungen. Die Psychose ist eine Folge dieser unbefriedigten Bedürfnisse in den ersten Lebensmonaten und kann folglich auch nicht wirklich aufgelöst werden. Psychose hat laut der Autorin zu tun mit der nicht gelungenen Grenzziehung zwischen Mutter und Kind (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 178) Double bind Gregory Bateson (1995, Seite 190ff) beschrieb, wie durch ständig wiederkehrende widersprüchliche Botschaften dem Kind gegenüber eine schizophrene Störung gefördert werden kann. Bateson beobachtete häufig in Familien eines schizophrenen Patienten, dass beispielsweise die Mimik des Gegenübers etwas völlig anderes ausdrückte als seine Worte. Wenn keine andere Person zur Verfügung steht die erklärt, Orientierung gibt und entlastet und wenn das Kind keine Möglichkeit hat nachzufragen, bleibt es in Verwirrung und lernt nicht seinen eigenen Wahrnehmungen zu trauen. Diese Kinder können nicht vermeiden ihren Eltern zu missfallen. Was sie auch tun, es ist nie richtig. Kinder, die sich ständig in solchen Beziehungsfallen befinden, reagieren unter Umständen mit schizophrenen Symptomen. Laut Batson umfasst jede Double-Bind-Botschaft eine verbale Ebene und eine widersprüchliche nichtverbale Ebene. Wenn beispielsweise jemand bei der Begrüßung sagt: „Ich freue mich dich zu sehen“, es aber vermeidet den Anderen anzusehen oder die Hand zu geben, dann passen diese Botschaften nicht zusammen. Bateson verfasste die Theorie, dass Kinder, die wiederholt solchen Double-Bind Situationen ausgesetzt sind, eine besondere Lebensstrategie entwickeln, um mit ihrer Umwelt klar zu kommen. Eine Strategie wäre, die inhaltliche Ebene zu ignorie- 11 ren und nur auf die non-verbale Ebene zu achten. Solche Menschen sind misstrauisch gegen das was andere sagen, sie suchen nach Gesten oder Tonfällen, die das Gegenteil des Gesagten „beweisen“. Menschen die verstärkt in dieser Weise auf die Kommunikation anderer reagieren entwickeln leicht die Symptome einer paranoiden schizophrenen Störung. Menschen die einer solchen Kommunikationsstruktur ausgesetzt sind, entwickeln also ebenfalls eine gewisse Vulnerabilität für psychische Störungen. Expressed Emotions Ein heute anerkanntes Konzept zur Beschreibung des familiären Umfeldes eines Menschen mit psychischen Störungen ist das Messen des Expressed Emotions (EE) Indexes. Der EEIndex misst die Intensität der in der Familie gegenüber dem Patienten zum Ausdruck gebrachten negativen Gefühle. Es wird die Intensität des emotionalen Engagements, vor allem von geäußerter Feindseligkeit, Kritik und gefühlsmäßiges Überengagement beobachtet. Familien mit einem niedrigeren EE geben dem Patienten die nötigen Rückzugsmöglichkeiten, tolerieren Verhaltensauffälligkeiten und hören mehr zu. In Familien mit hohem EE hat das betroffene Mitglied weniger Autonomie und Handlungsspielraum, die Mitglieder reagieren eher gereizt, ängstlich und hilflos auf Veränderungen und irritierende Verhaltensweisen. In ca. 50 % der Familien mit einem betroffenen Mitglied wird ein erhöhter EE gemessen. Die Rückfallquote in einer Familie mit hohem EE ist größer. (Vgl. Bosshart/ Ebert/ Lazarus 2001, Seite 178f). Von den psychosozialen Faktoren bei der Genese von schizophrenen Störungen gelten für Möller (1996, Seite 130) die Untersuchen zu den Expressed Emotions als am besten gesichert. Dies gelte aber nur für die Rezidive. Welchen Einfluss die EE auf die Ersterkrankung hat, sei noch zu wenig erforscht. Comer (2001, Seite 397) beschreibt ebenfalls das höher Risiko zur Wiedererkrankung von Patienten, die in eine Familie mit hohem EE entlassen werden. Allerdings weist er darauf hin, dass das höhere Maß an Kritik, ängstlicher Überbesorgtheit oder Feindseligkeit oft vom Verhalten des schizophrenen Verwandten beeinflusst wird. So fühlen sich häufig Angehörige von dem starken sozialen Rückzug ihres Verwandten gestört. Verhaltensweisen der Menschen mit schizophrenen Störungen, wie etwa Ruhelosigkeit, Umherschreiten, seltsame Körperhaltun- 12 gen und Selbstgespräche können so störend sein, dass Feindseligkeiten auftreten, die normalerweise in der Familie nicht auftreten würden. Auch variieren die Expressed Emotions je nach Verfassung des erkrankten Familienmitgliedes. Auch wenn die Untersuchungen laut Möller unzureichend sind, um einen Hinweis auf die Entstehung schizophrener Störungen daraus ableiten zu können und es auch unklar bleibt, ob als Erstes die Expressed Emotions in der Familie auftraten oder sich die EEs aus der Störung eines Familienmitgliedes entwickelt haben, kann doch festgestellt werden, dass High Expressed Emotions die Symptome einer schizophrenen Störung fördern. Ungünstige Entwicklungsmöglichkeiten des Neugeborenen, verwirrende Kommunikationsstrukturen und belastende Emotionen in der Familie haben einen entscheidenden Einfluss auf die persönliche Vulnerabilität eines Menschen. Die biologische Vulnerabilität wird durch diese Faktoren erhöht oder erniedrigt. Neben den biologischen und psychodynamischen Faktoren wird in der Literatur auch ein Einfluss sozialer Faktoren beschrieben. 3.1.4 Soziale Faktoren Die in den letzten Kapiteln beschriebenen Beziehungen spielen sich in Sozialräumen ab. Forschungen der letzten Jahrzehnte zeigten, dass die Diagnose Schizophrenie bei Arbeitern sehr viel häufiger vorkommt als in anderen sozialen Schichten. So wurde in diesen Studien deutlich, dass in betroffenen Familien nur eine kleine Minderheit der Familienmitglieder am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnimmt. Ihr gesellschaftliches Leben spielt sich innerhalb der Familie und der nächsten Nachbarschaft ab. Die Löhne sind niedrig und es bestehen kaum Ersparnisse zur Überbrückung von Krisen. Die Eltern ärgern sich laut diesen Studien häufig über ihre Vorgesetzten und die Repräsentanten der höheren Schichten. Die Kinder übernehmen die feindselige Einstellung der Eltern und werden dann noch durch ihre eigenen Erfahrungen darin bestärkt. Bosshart, Ebert und Lazarus folgern daraus, dass soziale Ohnmacht, die existenzielle Unsicherheit, die soziale Isolation der zum Teil brüchigen, unvollständigen Familien und das generelle Misstrauen nach Außen belastend für das Familienmilieu sind. So schreiben die Auto- 13 ren (2001, Seite 180): „Es ist gut vorstellbar, dass in solchen Sozialräumen die Familie als Schutz- und Entwicklungsraum überfordert sein kann. Vermutlich ist die Entwicklung von Kindern in solchen Sozialräumen eher durch Verlorenheit, existenzielle Verunsicherung, emotionale Instabilität, Reizüberwältigung und Mangelerfahrungen aller Art, Verwirrung und Ohnmacht bestimmt als woanders.“ Wieder wird aber betont, dass auch soziale Verhältnisse allein nicht zu psychischen Störungen führen, da diese auch in anderen sozialen Schichten diagnostiziert werden. Die Häufung in niedrigeren Schichten kann nicht als Ursache sondern nur als ein ungünstiger Rahmen für psychische Gesundheit gesehen werden. Auch Dörner (2002, Seite 174) beschreibt dass ständiges materielles und geistiges Belastetsein, Perspektivlosigkeit und mangelnde Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe, zu ständigem Stress führen. Laut dem Autor haben Arme weniger Möglichkeiten zur Bindung an ihr Leben, an die Zeit, an die Zukunft, an andere Menschen, aber auch an Interessen. Möller bewertet die Sozialraumstudien allerdings anders als die oben genannten und beschreibt die so genannte Drift-Hypothese. Drift Hypothese „Aufgrund weiterer Forschungsergebnisse ist aber eher davon auszugehen, dass Schizophrene im Verlauf einer Erkrankung in die Unterschicht abgleiten (…) Wenn man nicht die aktuelle Schichtzugehörigkeit zugrunde legt, sondern die Schicht der Herkunftsfamilie, so ergibt sich ein der Schichtverteilung entsprechendes Erkrankungsrisiko.“ (Möller 1996, Seite 130) Die Gedanken zur Drift-Hypothese“ stellt auch Dörner (2002, Seite 174f) vor. Er sieht die Schlussfolgerungen dieser Hypothese auf dem Hintergrund des hohen Prozentsatzes von psychisch erkrankten Obdachlosen als erwähnenswert an. Auch verhindere Versagen in Schule, Ausbildung und Beruf das Erreichen eines höheren Status. Labeling Theorie 14 Der Labeling (Etikettierung) Ansatz betont die gesellschaftlichen Einflüsse bei der Entstehtung der Schizophrenie. Vertreter dieses Ansatzes wie Modrow und Szasz glauben, dass viele Symptome der Schizophrenie von der Diagnose selbst hervorgerufen werden. Es wird die Ansicht vertreten, dass Menschen, die von Verhaltensnormen abweichen, das Etikett von „Schizophrenie“ aufgestempelt bekommen. Dieser Stempel kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, die die Ausbildung schizophrener Symptome fördert. Laut der Autoren wird von den Betroffener ein schizophrener Verhaltensstil erwartet und dies bestärkt sie darin einen schizophrenen Verhaltensstil zu zeigen. Sie lernen immer mehr die ihnen zugewiesene Rolle zu akzeptieren und sie überzeugend zu spielen. Die berühmte Rosenhan-Studie von 1973 bestätigt diesen Labeling-Effekt. Als sich acht Menschen ohne erkennbare psychische Störung in verschiedenen psychiatrische Kliniken vorstellten und darüber klagten, dass sie Stimmen hörten und weitere Symptome einer Schizophrenie schilderten wurde sie aufgenommen und als schizophren diagnostiziert. Obwohl die Pseudopatienten nach der Aufnahme alle Symptome aufgaben und sich normal verhielten blieb ihnen das Etikett der Schizophrenie. Während des gesamten Klinikaufenthaltes beeinflusste die Diagnose die Art und Weise wie Pflegepersonal und Ärzte mit ihnen umgingen. Auf und Abgehen auf dem Flur aus Langeweile wurde beispielsweise als Nervosität gedeutet. Das Personal verhielt sich oft überheblich und autoritär. Mit der Zeit entwickelten die Pseudopatienten Gefühle wie Ohnmacht, Depersonalisierung und Langeweile und verhielten sich oft lustlos und apathisch. Diese umstrittene Studie hat dazu geführt, dass selbst Kritiker dieser Studie den negativen Einfluss der Diagnose anerkennen. Manche Theoretiker gehen sogar soweit, dass Schizophrenie zum größten Teil ein Produkt der Gesellschaft ist. Laut dieser Kritiker variieren die Normen und Erwartungen zwischen Gesellschaften. Demzufolge definiert jede Gesellschaft anders, was krankhaft abweichendes Verhalten darstellt. Also müssten Symptome die in westlichen Gesellschaften als schizophren gelten sich in anderen Ländern und Kulturen von schizophrenen Symptomen unterscheiden. Dies wurde allerdings in entsprechenden Forschungsarbeiten nicht bestätigt. Offensichtlich haben die meisten Gesellschaften ein ähnliches Etikett von Schizophrenie. Die beschriebenen Symptome in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften ähneln sehr stark den in westlichen Ländern beschriebenen Symptomen einer schizophrenen Störung. (Vgl. Comer 2001, Seite 380f) 15 3.2 Auslösende Stressoren Psychologische Stressoren Die Stress-Faktoren, die zum Aufflammen der akuten Symptomatik führen sind nicht irgendwelche unspezifischen Belastungen. Jeder vulnerable Mensch hat für ihn spezifisch belastende Situationen, auch wenn diese Situationen für andere objektiv nicht nachvollziehbar sind. Viele Ereignisse verursachen Stress, da sie in der Gefühlswelt des Menschen eine Rolle spielen. Diese Stressoren haben oft eine so große psychologische Bedeutung, da sie unerträglich erscheinende Gefühle auslösen können. Ein solcher individueller Stress kann der übermäßig gefühlsbetonte Umgang in der Familie oder eine Double-Bind-Kommunikation mit dem Betroffenen sein. Stoffliche Stressoren Neben den psychologischen Stressoren können auch Drogen das vulnerable Gleichgewicht des Menschen ins Schwanken bringen. Durch Alkohol und andere Drogen kann ein Prozess in Gang gebracht werden, der mehr und mehr, aber nicht unbedingt schnell außer Kontrolle gerät. Es ist gut vorstellbar laut Bosshard, Ebert und Lazarus (2001, Seite 180), dass die Basisstörung durch den Konsum von Drogen verstärkt wird, auch wenn viele Konsumenten sich durch den Konsum von Drogen eine Erleichterung der Symptomatik erhoffen. Laut Möller (1996, Seite 130f) scheint jede Form von psychosozialer Überstimulation, sei es durch emotionale Anspannung und beruflichen oder sozialen Stress, das Auftreten schizophrener Produktivsymptomatik zu begünstigen. Er zeigt aber auch auf, dass psychosoziale Unterstimulation die Ausprägung eine bleibenden Negativsymptomatik fördert. 16 Laux (1996, Seite 66) schreibt, dass sich kritische Lebensereignisse gehäuft im Vorfeld von depressiven Episoden befinden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass depressive Patienten häufiger von kritischen Ereignissen vor Ausbruch der Erkrankung berichten. Typische Auslöser sind der Verlust von nahen Bezugspersonen, Entwurzelungen, anhaltende Konflikte, aber auch Entlastung und Veränderungen der gewohnten Lebensweise, wie Beginn der Rente oder Wohnortwechsel. Der Zusammenhang zwischen Ereignis und Störung wird von Laux nicht als kausal gesehen, sondern als unspezifische Stressreaktion. Längerandauernder Stress führt zu einem Rückzugssyndrom, einhergehend mit Erschöpfung, „gelernter Hilflosigkeit“ und Selbstaufgabe. Anders als bei Neurosen und Psychosen sehen allerdings Bourne und Ekstrand (2005, Seite 476) Persönlichkeitsstörungen in der Regel nicht mit Stress verknüpft. Die Autoren sehen zwar auch auffällige Reaktionen bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, wenn sie Stress ausgesetzt sind, aber sie sehen diese Stressreaktionen nicht als bezeichnend für diese Störungen. Persönlichkeitsstörungen basieren laut der Autoren auf tief sitzenden Gewohnheiten oder auf persönlichen Charakter. 4 Zusammenfassung und Diskussion Der Zusammenhang zwischen Genetik und der Genese psychischer Störungen wird durch Familien- und Zwillingsstudien belegt. Aber nicht alle eineiige Zwillinge erkranken an der selben Krankheit, es besteht lediglich ein erhöhtes Risiko eines Zwillings ebenfalls zu erkranken. Falls es doch zu einer psychischen Störung bei beiden Zwillingen kommt, sind die Verläufe und Ausprägungen der Erkrankungen meist sehr unterschiedlich. Daraus lässt sich schließen, dass weitere Faktoren auf die Vulnerabilität einen Einfluss haben. Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die bereits im Mutterleib oder während der Geburt geschädigt wurden zur Ausbildung psychischer Störungen neigen. Es lässt sich also feststellen, dass Geburtskomplikationen die Vulnerabilität eines Menschen ebenfalls beeinflussen. Die unbefriedigten existentiellen Bedürfnisse in den ersten Lebensmonaten und die Form der Kommunikation sowie der Umgang mit Emotionen in der Familie, haben starken Einfluss auf die Entwicklung der psychischen Gesundheit eines Menschen. Schädigende Einflüsse dieser 17 Art erhöhen die bestehende individuelle Vulnerabilität und begünstigen somit die Entstehung psychischer Störungen. In niedrigeren sozialen Schichten werden psychische Störungen häufiger diagnostiziert als in Höheren. Bei der Bewertung dieses Sachverhaltes sind sich die Autoren so uneinig wie sonst kaum in der Vulnerabilitätsforschung. Bosshart, Ebert und Lazarus (2001) sind der Auffassung, dass Armut und niedriger sozialer Status krank machen. Möller und Laux (1996) hingegen vertreten die Auffassung, dass psychisch Kranke im Verlauf ihres Lebens einen sozialen Abstieg durchmachen. Dörner (2002) beschreibt beide Thesen und gibt zum Teil beiden Ansichten Recht. Ähnlich unterschiedlich betrachtet wird die so genannte „Labeling Theorie“. Zwar sind sich alle Autoren einig, dass eine psychiatrische Diagnose negative Auswirkungen auf den Betroffenen haben kann, wie Stigmatisierung und Diskriminierung, aber dass die Diagnose diagnosespezifische Symptome selbst hervorrufen kann wird doch an vielen Stellen in der Literatur bezweifelt. Diese Zweifel untermauern Untersuchungen die zeigen, dass vergleichbare Symptome unabhängig von Gesellschaft und Kultur auftreten. Der Mensch hat also nach der Geburt eine bestimmte Vulnerabilität gegenüber psychischen Erkrankungen. Diese Verletzlichkeit wird durch die beschriebenen psychodynamischen Faktoren grundsätzlich erhöht oder erniedrigt, d. h. wenn beispielsweise ein Kind ständig einer Double-Bind Kommunikation oder einer High-Expressed-Emotion in der Familie ausgesetzt war, wird der Betroffene grundsätzlich anfälliger sein eine Störung zu entwickeln als jemand der günstigeren Faktoren ausgesetzt war. Spezifischer Stress spielt bei dem Auftreten einer akuten Symptomatik eine Rolle. Jeder Mensch erlebt Stress individuell. Für Außenstehende ist der Stress oft nicht erkennbar. Wenn jemand unbewusst auf der „Suche“ nach non-verbalen Hinweisen ist, die ihm bestätigen sollen, dass das Gegenüber das Gegenteil von dem meint was es sagt und dann wirklich DoubleBind findet, vielleicht noch in einer emotional heiklen Interaktion, dann kann ein Beobachter nicht den individuellen Stress nachvollziehen, da er eine andere Biographie und damit andere Erfahrungen hat, für den Betroffenen ist es aber ein realer belastender Stress. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell versucht nun die organischen und psychologischen Hypothesen über die Entstehung psychischer Störungen zu integrieren. Unter Anerkennung somatischer Faktoren für die Entstehung und den Verlauf gilt beispielsweise die Schiziophrenie bei 18 den psychischen Störungen nicht als vererbt, sondern laut Dörner (2002) lediglich als Vulnerabilitätsmerkmal. Durch Einwirkungen auf den Interaktionsebenen Körper, Umwelt und soziales Umfeld bilden sich dann die schizophrenen Symptome. Es handelt sich also um keine Entweder-Oder Problematik. Immer geht es um einen somatisch-psychisch-sozialen Zusammenhang. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell wird in der Literatur hauptsächlich für die Erklärung schizophrener und depressiver Störung verwendet. Bourne und Ekstrand (2005) weisen darauf hin, dass Stress und die Symptome einer Persönlichkeitsstörung nicht in direktem Zusammenhang stehen. Diese Meinung kann ich nicht teilen. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell ist in seinem Konzept so breit angelegt, dass damit jede Erkrankung erklärt werden kann, die keinen linearen und vorhersehbaren Verlauf nimmt. So ist das Risiko an Krebs zu erkranken bei eineiigen Zwillingen nicht gleich hoch, nicht jeder Raucher bekommt Asthma oder Lungenkrebs. Überall, ob bei psychischen oder somatischen Erkrankungen, spielen Umwelt- und Sozialeinflüsse eine Rolle. Obwohl das Vulnerabilitäts-Stress-Modell seit fast 35 Jahren Gültigkeit bei der Erklärung zur Entstehung psychischer Störungen hat, ist es auch mit diesem Modell nicht gelungen, die Ursachen für die individuelle Vulnerabilität aufzudecken. Offene Fragen nur mit der Genetik zu beantworten ist meines Erachtens genauso kurzsichtig, wie der Umwelt oder den sozialen Beziehungen zuviel Verantwortung für die Entstehung psychischer Störungen zuzuweisen. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell hat das große Verdienst, anderen Interventionsmethoden als den medizinischen eine Berechtigung zu geben. Die letzten dreißig Jahre haben gezeigt, dass psychologische und soziale Interventionen genauso und oft mehr Wirkung zeigen wie medizinische. In den Zwillingsstudien der letzten Jahrzehnte wird versucht die Vulnerabilität eines Menschen in Prozenten auszudrücken. Ich sehen aber nicht, wie eine Vulnerabilität eines Menschen festgestellt werden kann. Es kann lediglich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgestellt werden, ob ein Kind später an einer psychischen Störung erkranken wird. Dazu ob dieses Kind tatsächlich erhöht vulnerabel ist kann zunächst keine Aussage gemacht werden. Verschiedene Zwillingsstudien brachten auch keine einheitlichen Ergebnisse. 19 Auch heute weiß die Wissenschaft nicht genau wie psychische Störungen entstehen. Es wurde viel über den Gehirnstoffwechsel geforscht, die Genforschung hat in den letzten Jahren viele Fortschritte gemacht und die psychologischen und soziologischen Forschungen zur Entstehung psychischer Störungen haben ähnliche Fortschritte gemacht. Viele neu entwickelte Konzepte, wie die des Double-Bind- oder des Expressed-Emotions leuchten ein, aber können die Entstehung psychischer Störungen nur sehr unzureichend alleine erklären. Psychische Störungen sind multifaktioriell, daran besteht kein Zweifel. Ich bin aber überzeugt, dass viele maßgebliche Faktoren noch unbekannt oder unterschätzt werden. Das Vulnerabilität-Stress-Modell hat es geschafft die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu integrieren. Dadurch ist der professionelle Umgang mit psychischen Störungen effektiver geworden. Es gilt noch mehr Disziplinen, wie beispielsweise Pädagogik und Gesundheitswissenschaften in die Forschung über die Entstehung, Behandlung und Verhütung psychischer Störungen zu integrieren. 20 Literaturverzeichnis: Aderhold V./ Alanen Y. O./ Hess G./ Hohn P., „Psychotherapie der Psychosen“, Gießen: Psychosozial Verlag 2003 Bateson G./ Ruesch, J., „Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychatrie“, Heidelberg: Carl Auer Systeme Verlag 1995 Bosshart M./ Ebert U./ Lazarus H., „Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie“, Bonn: Psychiatrie Verlag 2001 Bourne L./ Ekstrand B., „Einführung in die Psychologie“, Eschborn: Verlag Dietmar Klotz, 4. Auflage 2005 Comer R. J., „Klinische Psychologie“, 2. deutsche Auflage, Heidelber-Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 2001 Dörner K./ Plog U./ Teller Ch./ Wendt F., „Irren ist menschlich“, Bonn: Psychiatrie Verlag Neuausgabe 2002 Ewers M., Skript Vorlesung „public health“ im Master Studiengang „Sozialarbeit in der Psychiatrie“, München 2006 Kissling W./ Pitschel-Walz G., „mit Schizophrenie leben“, Stuttgart: Schattauer GmbH 2003 Marschner Rolf, „Psychisch Kranke im Recht“, Bonn: Psychiatrie-Verlag GmbH, 4. Auflage 2005 Möller H-J./ Laux G./ Deister A., „Psychiatrie“, Stuttgart: Hippokrates Verlag 1996 Rudolf G. A. E., „Der schizophrene Patient in der ärztlichen Sprechstunde“, 4. Auflage, Wiesbaden: Deutscher Universitäts- Verlag, 2000 Weltgesundheitsorganisation, „Grünbuch“, Brüssel: 2005 21 Weltgesundheitsorganisation, „Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), 4. Auflage, Genf: Huber-Verlag 2000 22 Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendet habe. Bad Tölz, den 23.09.2006 Andreas Teltscher