Es gibt keine muslimische Gemeinschaft

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Es gibt keine muslimische Gemeinschaft
Der kleine
23
— Dienstag, 13. Januar 2015
Wände
Dem Künstler ganz
nah: das Tanzstück
«Giacometti» in den
Vidmarhallen. 25
Wolken
Ein neues Messgerät
an der Raumstation
ISS erfasst die Partikel
in der Atmosphäre. 27
Wörter
Die Lyrikerin Andrea
Maria Keller setzt
neue semantische
Energien frei. 28
Wunder
Jürg Wisbach zeigt als
«Judas» die innere
Zerrissenheit eines
Verräters. 25
Der kleine
Es gibt keine muslimische Gemeinschaft
In Frankreich wird darüber debattiert, worin die eigentliche Bedrohung liegt: in der Präsenz der Muslime?
Oder eher in der Islamfeindschaft? Um diese Frage ging es schon vor dem Anschlag auf «Charlie Hebdo».
Olivier Roy
Die Emotion, die Frankreich nach der
Bluttat an «Charlie Hebdo» ergriffen hat,
ist mehr als Schockreaktion oder Solidaritätsbekundung: Sie ist eine gesellschaftliche Tatsache. Denn dieser terroristische
Akt ist seinerseits mehr als ein Verbrechen: Es ist ein politisches Ereignis. Nicht,
weil es das mörderischste Attentat seit
1961 in Frankreich ist oder weil es auf die
Meinungs- und Pressefreiheit zielt (Attentate hat es gegeben und wird es weiterhin
geben, unter welcher Flagge auch immer,
und die Meinungsfreiheit hat Bedrohungen anderer Art erlebt und wird sie weiter erleben). Sondern weil es eine intellektuelle Debatte in eine quasi existenzielle Frage verwandelt: aus der nach der islamistischen Gewalt wird die nach dem
Platz der Muslime in Frankreich. Es ist
eine existenzielle Frage, weil sie den Zusammenhalt der französischen Gesellschaft betrifft. Diesen kann man entweder bedroht sehen durch die Präsenz der
Muslime (das ist die Mehrheitsmeinung)
oder im Gegenteil durch eine Islamfeindschaft, die angefacht wird vom Terrorismus einer kleinen Gruppe (das ist die Meinung der Antirassisten; sie sehen die
grösste Gefahr für das friedliche Zusammenleben in der zunehmenden Ausgrenzung der französischen Muslime).
Es geht also – jenseits der Sicherheitsdimension, die beherrschbar ist (nein,
dies ist nicht der französische 11. September, ein bisschen Haltung und Zurückhaltung, bitte!) – ganz generell um
die Präsenz der Muslime in Frankreich.
Darum ging es schon lange vor dem Attentat gegen «Charlie Hebdo», aber in
unterschiedlicher Ausprägung je nach
politischer Lokalisierung: Da waren die
Populisten mit ihrer Anti-Einwanderungs-Obsession; da war die konservative Rechte mit ihren Ängsten ums
Abendland, ein rein christliches Abendland; und da waren die Laizisten mit ihrer Religionsphobie, ein ursprünglich
linker Affekt, der sich aber in einen alles
fressenden identitären Diskurs verwandelt hat, den der Front National übernommen hat.
Welcher Islam ist gemeint?
Inzwischen ist die Sorge über den Islam
und die Muslime diffuser geworden, weniger klar politisch zuzuordnen; sie hat
sich aus den ideologischen Lagern herausentwickelt und eignet sich weder zur
Moralisierung noch für Schuldzuweisungen. Den Front National ins Visier zu
nehmen, hilft auch nicht; die Themen,
die er entwickelt hat, sind zu allgemeinen Anliegen geworden, und das
kleine billige Spiel, wer verantwortlich
ist, hat keinen Sinn mehr. Jetzt haben
wir es mit der Islamfeindlichkeit des
Durchschnittsfranzosen zu tun – der übrigens gleichzeitig immer auch einen guten muslimischen Kumpel hat.
Vereinfacht gesagt dominieren zwei
Diskurse den öffentlichen Raum. Der beherrschende hält den Terrorismus für
den radikalen Ausdruck eines «wahren»
Islam, der sich zurückführen lässt auf
die Ablehnung des Anderen, die Herrschaft der Norm (Scharia) und den Jihad.
Danach trüge jeder Muslim, auch der
moderate, eine koranische Software in
seinem Unbewussten, die ihn unassimilierbar macht – ausser natürlich er proklamiert lautstark seine öffentliche Bekehrung zu einem ganz unwahrscheinlichen Islam, liberal, feministisch und
Französische Muslime erwarten in einer umfunktionierten Pariser Feuerwache das Freitagsgebet. Archivbild: Thibault Camus (Keystone)
homofreundlich, möglichst noch am
Fernsehen, vorangepeitscht von einem
hartnäckigen und unbeugsamen Journalisten . . . Diese Forderung nach «Unterwerfung» ist heute notorisch («Warum
verurteilt ihr Muslime nicht den Terrorismus?»). Es passt dazu, dass Michel
Houellebecq in seinem neuen Roman
die umgekehrte Unterwerfung ausmalt.
Den zweiten Diskurs, minoritär, mit
Schwierigkeiten, gehört zu werden,
möchte ich «Islam-progressiv» nennen.
Er wird getragen von mehr oder weniger
gläubigen Muslimen und von der ganzen
antirassistischen Bewegung. Not in my
name, sagt er: Der Islam der Terroristen
ist nicht «mein» Islam, und er hat mit
dem Islam als solchem und überhaupt
gar nichts zu tun, dieser Religion des
Friedens und der Toleranz. Dieser Diskurs sieht die eigentliche Bedrohung
der französischen Gesellschaft in Islamfeindschaft und Ausgrenzung und erklärt damit – ohne sie zu entschuldigen
– die Radikalisierung junger Muslime.
Im Chor des grossen Gesangs der nationalen Einheit singen die Antirassisten
mit, fügen ihm aber eine Note hinzu:
Stigmatisiert die Muslime nicht!
Die Gegenüberstellung beider Diskurse führt in eine Sackgasse. Um dort
herauszukommen, muss man ein paar
Fakten beachten, hartnäckige Fakten,
die man gern übersieht. Sie zeigen, dass
die jungen Radikalen weder die Avantgarde noch das Sprachrohr einer frustrierten muslimischen Bevölkerung
sind, und vor allem: dass es so etwas wie
eine «muslimische Gemeinschaft» in
Frankreich nicht gibt.
Junge Radikale, auch wenn sie sich
auf eine musulmanische Politerzählung
stützen (die Ummah der Frühzeit), haben ganz bewusst mit dem Islam ihrer
Eltern gebrochen und auch mit der Kultur der muslimischen Länder. Sie erfinden den Islam als Gegenkultur zum Westen. Sie leben an der Peripherie der muslimischen Welt (eben im Westen: Belgien
etwa stellt hundertmal mehr Kämpfer für
den IS als Ägypten, auf die jeweilige muslimische Bevölkerung bezogen), sie bewegen sich in einer westlichen Kultur der
Kommunikation, Inszenierung und Gewalt, sie stehen für einen Generationsbruch (die Eltern rufen heute die Polizei,
wenn ihre Kinder nach Syrien aufbrechen), sie nehmen nicht am religiösen
Leben ihrer Gemeinde statt, sie radikalisieren sich über das Internet, suchen den
weltweiten Jihad und interessieren sich
nicht für die konkreten Kämpfe in der
muslimischen Welt (Palästina).
Kurz, sie arbeiten nicht an der Islamisierung der Gesellschaft, sondern agieren das Fantasma eines ungesunden Heroismus aus («Ich habe den Propheten
gerächt», rief einer der Mörder von
«Charlie Hebdo»). Der hohe Anteil an
Konvertiten (22 Prozent der Freiwilligen
für den IS, schätzt die französische Polizei) zeigt, dass die Radikalisierung ein
Randsegment der Jugend insgesamt betrifft und nicht das Herz der muslimischen Bevölkerung.
Auf der anderen Seite zeigen die Fakten, dass die französischen Muslime bes-
Olivier Roy
Der französische Politologe
Olivier Roy gilt als einer der
besten Kenner des politischen
Islam. Er ist Forschungsdirektor am nationalen Forschungszentrum CNRS in
Paris und lehrt am Institut
d’Etudes Politiques sowie am
European University Institute in Florenz. (klb)
ser integriert sind, als man meint. Die
jüngsten «islamistischen» Attentate haben jeweils mindestens ein muslimisches
Opfer unter den Ordnungskräften gefordert: Imad Ibn Ziaten, französischer Soldat, getötet von Mohamed Merah in Toulouse 2012; oder der Polizist Ahmed Merabet, getötet, als er versuchte, das Mordkommando von «Charlie Hebdo» aufzuhalten. Aber anstatt sie exemplarisch zu
nennen, werden sie zu Ausnahmen gemacht: Der «wahre» Muslim ist Terrorist.
Statistisch ist das falsch: In Frankreich
gibt es mehr Muslime in Armee und Polizei als bei al-Qaida – ganz zu schweigen
von der Verwaltung, den Krankenhäusern, der Justiz oder dem Bildungswesen.
Widersprüchliche Forderung
Wenn die These von der Radikalisierung
der Muslime durch die Fakten widerlegt
wird, warum bleiben diese Fakten unbeachtet? Warum die Sorge über eine Radikalisierung, die nur den äussersten
Rand betrifft? Weil man die muslimische
Bevölkerung als Gemeinschaft sieht und
ihr überdies vorhält, dies zu verschweigen. Paradox: Man wirft den Muslimen
vor, eine homogene Gruppe zu sein, verlangt aber zugleich von ihr, als solche
Gruppe gegen den Terrorismus aufzutreten. Eine in sich widersprüchliche,
unerfüllbare Forderung: Seid, was ich
von euch verlange, nicht zu sein.
Gewiss, auf lokaler Ebene, in den
Wohnvierteln, kann man so etwas wie
Gemeinschaftsbildung feststellen, aber
nicht auf nationaler Ebene. Die französischen Muslime haben niemals repräsentative Institutionen bilden wollen und
noch weniger eine muslimische Lobby.
Es gibt nicht den Hauch der Anfänge einer muslimischen Partei; die politischen
Akteure muslimischer Herkunft vertei-
len sich auf das ganze politische Spektrum des Landes (die extreme Rechte
eingeschlossen). Es gibt keine «muslimische Stimme» bei Wahlen (zum Bedauern der Sozialisten).
Es gibt auch kein Netz der Koranschulen (es gibt nicht einmal zehn in Frankreich), keine Mobilisierung der Strasse
(Demonstrationen für ein islamisches
Anliegen hatten nie mehr als einige Tausend Teilnehmer), fast keine Grossmoscheen (und wenn, dann fast immer vom
Ausland finanziert), aber eine Fülle kleiner Quartiermoscheen. Wenn es das Bestreben gibt, übergreifende muslimische Institutionen zu bilden, kommt es
von oben, nicht von den Bürgern. Die
vermeintlich repräsentativen Organisationen, vom Conseil Français du Culte
Musulman bis zur Grande Mosquee de
Paris, werden von französischen und
auswärtigen Regierungen gehätschelt,
haben aber keinerlei lokale Legitimität.
Kurz, die «Gemeinschaft der Muslime»
leidet an einem sehr gallischen Individualismus und bleibt reserviert dem Bonapartismus unserer Eliten gegenüber.
Und das ist eine gute Nachricht.
Und doch hört man nicht auf, von der
berühmten «Gemeinschaft der Muslime» zu sprechen, rechts wie links, sei
es, um ihre Integrationsverweigerung zu
geisseln, sei es, um aus ihr ein Opfer der
Islamfeindschaft zu machen. Beide gegensätzlichen Diskurse gründen auf dasselbe Fantasma. Es gibt keine «Gemeinschaft der Muslime», es gibt eine muslimische Bevölkerung. Diese einfache Tatsache zuzugeben, wäre schon ein gutes
Gegengift gegen die herrschende und
künftige Hysterie.
Aus dem Französischen von Martin Ebel
© «Le Monde»