Desdemona in Giuseppe Verdis Oper Otello „Das Lied von der

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Desdemona in Giuseppe Verdis Oper Otello „Das Lied von der
Desdemona in Giuseppe Verdis Oper Otello
„Das Lied von der Trauerweide“
Bild 1: Othello und Desdemona
Eingereicht für die Studienrichtung „Masterstudium Gesang“
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
vorgelegt von
Gabrijela Nedok
Wissenschaftlicher Betreuer: Ao. Univ. Prof. Mag. phil. Dr. Phil Ernst Hötzl
Künstlerische Betreuerin: Univ. Prof. Mag. KS Joanna Borowska-Isser
Graz, im Oktober 2014
Abstract
Thema der folgenden künstlerischen Masterarbeit, die an der Universität für Musik und
darstellende Kunst, Studienrichtung: Masterstudium Gesang, geschrieben wurde, ist
Giuseppe Verdis Oper Otello. Das Thema wurde gewählt, da die Rolle der Desdemona
nicht nur vom gesanglichem, sondern auch vom charakterlichen Aspekt und der
Rollengestaltung interessant erscheint.
In der folgenden Masterarbeit wird Shakespeares Othello sowie dessen Umsetzung
durch Giuseppe Verdi und seinen Librettisten Arrigo Boito beleuchtet. Der Schwerpunkt
liegt dabei auf den geschichtlichen Hintergründen, die für den Charakter Othello
relevant sind und die als Quelle der Inspiration für Giovanni Battista Giraldi gelten
können.
Von großer Bedeutung erscheint Verdis Bewunderung für William Shakespeare und vor
allem die Verdienste Giulio Ricordis, der die Zusammenarbeit zwischen Verdi und Boito
in die Wege leitete. Der Vergleich zweier Antipoden der Musikgeschichte, Verdi und
Wagner, ist in Bezug auf Otello wichtig, da Verdi seine Kompositionstechnik in
Richtung Leitmotivik, die von Wagner verwendet wurde, entwickelte, sie aber auf seine
eigene Weise im Otello einsetzte. Den Briefwechsel zwischen Verdi und Boito, der die
Verständlichkeit des Stoffes schildert und im Rahmen der Opernentstehung wichtig ist,
wird auch betrachtet werden. Dadurch bekommt man einen direkten Einblick in den
Entstehungsprozess dieses bedeutenden Stückes der Operngeschichte. Damit die
Zusammenhänge zwischen den Hauptpersonen in der Oper und vor allem der Charakter
der Desdemona verständlich gemacht werden kann, werden auch die Hauptfiguren in
Otello analysiert. Das letzte Kapitel widmet sich dem vierten Akt der Oper, mit
Schwerpunkt auf der Szene der Desdemona, dem Lied von der Trauerweide und des Ave
Marias.
2
Abstract
The subject of this master thesis, written at the University of Music and Performing
Arts, Master’s Programme Voice, is Giuseppe Verdi’s opera Otello. I have chosen this
subject because I consider Desdemona’s role to be very interesting, not only for the
vocal part but also for character development and role realization.
In this master thesis, I will examine Shakespeare’s Othello and its realization by
Giuseppe Verdi and his librettist Arrigo Boito. Most emphasis will be laid on the
historic background which is relevant for the character of Othello and which could have
been a source of inspiration for Giovanni Battista Giraldi.
In this context, Verdi’s admiration of William Shakespeare seems to be of importance,
just like Giulio Ricordi’s efforts for the cooperation of Verdi and Boito. It is also
essential to compare the two antipodes in musical history, Verdi and Wagner, in regard
to Otello, as Verdi developed his compositional technique based on the dramatic
„Leitmotifs“, also used by Wagner, but Verdi applied it in his own way in Otello. The
correspondence between Verdi and Boito, which sheds light on the understanding of the
plot and is crucial to the creation of the opera, will also be part of the work. It gives a
better insight into the developing process of this outstanding piece of history of opera.
In order to give a clear idea of the interrelations of the opera’s central figures and
especially of Desdemona’s character, I will also analyse the main characters in Otello.
The last chapter is dedicated to the fourth act of the opera, with the focus on
Desdemona’s scene, the Willow Song and Ave Maria.
3
Inhaltsverzeichnis
1
Othellos Handlungsursprung ..................................................................................... 5
Giovanni Battista Giraldi ................................................................................... 5
1.2
Othello, der Mohr: die geschichtlichen Hintergründe ....................................... 5
2
1.1
Shakespeares Othello ................................................................................................ 7
2.1
Entstehung der Tragödie .................................................................................... 8
2.2
Aktualität der Tragödie ...................................................................................... 8
3
Cinzios Il capitano moro im Vergleich zu Shakespeares Othello ........................... 10
4
Giuseppe Verdis Shakespeare-Opern ...................................................................... 12
5
Der konspirative „Schokoladenplan“ oder: die „Verschwörung“ .......................... 14
6
Dichter-Komponist Arrigo Boito ............................................................................ 17
7
Verhältnis zwischen Verdi und Wagner ................................................................... 19
Verdi und die Zeit des Risorgimento ............................................................... 20
7.2
Wagners Leitmotivik ........................................................................................ 22
8
7.1
Zusammenarbeit: Komponist und Librettist ........................................................... 25
8.1
9
Der Briefwechsel zwischen Boito und Verdi ................................................... 26
Die Hauptpartien in Verdis Otello ........................................................................... 30
Otello ............................................................................................................... 30
9.2
Die Uraufführung Otellos ................................................................................ 32
9.3
Desdemona in Verdis Otello und die erste Interpretin ..................................... 33
9.4
Jago und sein erster Interpret ........................................................................... 36
10
9.1
Vierter Akt und die Szene der Desdemona .......................................................... 39
10.1
Die Weide als Symbol, Canzone del Salice ed Ave Maria ........................... 40
10.2
Ave Maria: das Gebet der Desdemona ......................................................... 45
11
Zusammenfassung ............................................................................................... 47
12
Literaturverzeichnis ............................................................................................. 50
Primärliteratur: ............................................................................................. 50
12.2
Sekundärliteratur .......................................................................................... 50
12.3
Internetquellen .............................................................................................. 51
13
12.1
Bilderverzeichnis ................................................................................................. 52
4
1 Othellos Handlungsursprung
1.1 Giovanni Battista Giraldi
Giovanni Battista Giraldi (1504 - 1583) war ein italienischer Schriftsteller, Poet,
Dichter, Philosoph und Mediziner. Er wird auch Cinthio (lat.: Geraldus Chintius),
Cynthius, Cinzio, Cinzio Giraldi genannt. Giraldi studierte an der Universität in seiner
Heimatstadt Ferrara, an der er 1525 zunächst zum Professor der Philosophie ernannt
wurde, und einige Jahre später außerdem zum Professor der Medizin. Zwischen den
Jahren 1542 - 1560 war er Sekretär des Herzogs Ercole II. d´Este. Er blieb in dieser
Position bis zum Tod des Herzogs, und verherrlichte diesen in seinem unvollendeten
Epos L`Ercole (1557). Wegen verbalen Auseinandersetzungen mit dem Geheimsekretär
des Herzogs Alfonso II., Giovanni Battista Pigna, entschloss er sich, seine Stelle
aufzugeben und Ferrara zu verlassen. Deswegen ging er nach Mondovì, wo er Professor
für Rhetorik wurde. Im Jahr 1569 ging er in gleicher Eigenschaft nach Pavia.
Letztendlich kehrte er zurück nach Ferrara, wo er am 30. Dezember 1583 verstarb.
Seine Werke waren stark von der katholischen Reformation beeinflusst. Teilweise finden sich in seinen Werken experimentelle Elemente, die für das spätere europäische
Drama, wie beispielsweise für das elisabethanische Theater oder den barocken Stil, wo
psychische Gewalt und Horror in der Funktion des dramatischen Aktes und der Struktur
fungieren, als charakteristisch gelten.
1.2 Othello, der Mohr: die geschichtlichen Hintergründe
Unter der Hecatommithi, oder auch Ecatomiti (De gli Hecatommithi), versteht man eine
Sammlung von Novellen, die ähnliche Thematiken aufgreift wie Giovanni Boccaccios
(1313–1375) Il Decamerone. So ist die Hecatommithi eine Sammlung von 112
moralisierenden Erzählungen. In der siebenten Erzählung der III. Dekade wird die
Geschichte des Mohren Othello beleuchtet.
Zwischen den Jahren 1570 und 1878 war Zypern Teil des Osmanischen Reichs. Im Jahr
1878 bekam Großbritannien als Ergebnis der Zypern-Konvention Zypern als
Protektorat. Das Osmanische Reich übergab den Briten die Insel als Gegenleistung für
die Unterstützung im Russisch-Türkischen Krieg (1877 - 1878). Die neue koloniale
Eroberung regte die Fantasie der gehobenen britischen Gesellschaft an. Das Forschen
5
nach geschichtlichen Spuren und Verbindungen von Großbritannien zu Zypern wurde
zur Lieblingsbeschäftigung der oberen Schicht. Eine der ersten historischen Quellen auf
die man stieß, war die Person Richard Löwenherz, und dessen Abenteuer aus dem Jahr
1191, bei dem er im Verlauf des III. Kreuzritterzugs aufgrund eines Schiffbruchs in
Zypern strandete und das Land daraufhin eroberte. Des Weiteren erinnerte man sich an
die Handelsaktivitäten der Levant Company in den Hafenstädten Zyperns.
Shakespeare stellte den Schauplatz seiner Othello-Tragödie an eine Hafenstadt in
Zypern. Um welche Hafenstadt es sich dabei genau handeln könnte, ist nicht bekannt.
Allerdings könnte es sich um die Stadt Famagusta handeln. Bei dem in vielen Szenen
erwähnten „Castle“ kann es sich eigentlich nur um die Zitadelle in Famagusta handeln.
Shakespeare selbst ist nie auf Zypern gewesen, doch die Gelehrten der Shakespearezeit
hatten
Informationen
über
die
Gegebenheiten
auf
der
Insel.
Auch
die
Verteidigungsversuche der Venezianer gegenüber den Osmanen waren allgemein
bekannt.
Die Geschichte des Mohren von Venedig greift auf Ereignisse des 16. Jahrhunderts
zurück. Cristofalo Moro, der Mann, der von der Serenissima im Jahr 1505 als Statthalter
von Venedig nach Zypern berief, sollte die Insel gegen die Osmanen verteidigen. Im
Jahr 1508 wurde er nach Venedig zurückbeordert. Seine Frau ist entweder auf der
Rückfahrt oder schon vor der Abreise unter mysteriösen Umständen ums Leben
gekommen.
Des Weiteren ist es möglich, dass Cinzio für seine Geschichte auch einige Elemente aus
dem Leben von Francesco da Sessa einfließen ließ, um die Figuren der Geschichte
abgründiger zu gestalten. Dieser war auch Offizier und im venezianischem Dienst auf
Zypern gewesen. Wegen seiner süditalienischen Herkunft nannte man ihn „Il capitano
moro“. Im Jahr 1544 wurde er in Ketten nach Venedig zurückgebracht. In den
Gerichtsakten gibt es Informationen über eine zehnjährige Haftstrafe unter mildernden
Umständen.
Aus beiden Mohren scheint Cinzio die Geschichte über einen Befehlshaber auf Zypern,
der seine Gemahlin aus Eifersucht ermordet, gebildet zu haben. Welcher der beiden
historischen Personen Cinzio als Hauptvorlage diente, ist unklar.
6
2 Shakespeares Othello
Folgendes Kapitel betrachtet Shakespeares Othello. Dabei wird zunächst ein Überblick
über die Figuren gegeben.
William Shakespeare: Othello
Personen:

Der Doge von Venedig

Barbantio, Adeliger und Senator, Desdemonas Vater

Mehrere Senatoren

Gratiano, Barbantios Bruder

Lodovico, Neffe von Barbantio und Gratiano

Othello, Feldherr: Mohr

Cassio, sein Leutnant

Jago, sein Fähnrich

Rodrigo, ein junger adeliger Venezianer, in Desdemona verliebt

Montano, Statthalter von Zypern

Ein Diener des Othello

Herold

Desdemona, Barbantios Tochter und Othellos Frau

Emilia, Jagos Frau

Bianca, Kurtisane, Geliebte Cassios

Offiziere. Edelleute. Boten. Musikanten. Matrosen. Gefolge usw.
Eine Tragödie in 5 Aufzügen.
Szene im ersten Aufzug in Venedig, hiernach in Zypern.
Othello, der Mohr von Venedig entstand um 1604, gedruckt wurde er erstmals 1622.
7
2.1 Entstehung der Tragödie
Die Tragödie wurde vermutlich von 1603 bis 1604 für die King's Men geschrieben und
im November 1604 am Hof Jakob I. uraufgeführt. Sie zählt zu den erfolgreichsten und
präsentesten Stücken des Dramenrepertoires. Ihr Text liegt in zwei sich voneinander
stark unterscheidenden Fassungen vor. Eine davon erschien 1622. Diese wird
„Quartausgabe“ genannt und soll auf der Abschrift des Autormanuskripts basieren. Bei
der Folioausgabe, die ein Jahr darauf (1623) erschien, handelt es sich um eine erweiterte
Fassung des Dramas, bei der der Part des Othellos und der beiden Frauenrollen gegen
Ende gestärkt ist. Als Grund für die Änderungen kann man entweder davon ausgehen,
dass die Vorlage durch Abschreiben verändert worden ist, oder dass die Folioausgabe
eine Bearbeitung des Autors selbst darstellt.
2.2 Aktualität der Tragödie
Es sind mehr als vier Jahrhunderte seit der Entstehung des Dramas Othello vergangen,
das zusammen mit Hamlet, König Lear und Macbeth zu den sogenannten „großen
Tragödien“ William Shakespeares zählt. Das Kernmotiv in Othello ist das der Eifersucht
zwischen Ehepartnern. Aufgrund der großen Zeitspanne, die seit der Entstehung des
Dramas vergangen ist, ist es wichtig, sich zu fragen, inwieweit der Inhalt auch für die
heutige Zeit noch relevant ist. Hat dieses Drama für heutige Leser oder Zuschauer noch
die gleiche Bedeutung? Insofern ist es wichtig, dass man die Thematik durchdenkt und
sich die Frage stellt: Ist Othello ein aktuelles Drama und kann es etwas Wesentliches
über den Menschen aussagen?“ Um das Drama zu interpretieren, muss man sich über
die historischen Ansichtspunkte und die Wahl des Motivs vom Autor im Klaren sein.
In Othello zeigt Shakespeare nicht nur Helden, die ihre Gefühle nicht im Griff haben,
sondern auch in welche Abgründe sich diese begeben, um ihre Ziele zu erreichen. Diese
Tragödie spricht über die menschliche Natur, über kulturelle, rassistische und auch
religiöse Vorurteile. So eröffnet das Leiden der Desdemona die Kluft zwischen dem
Guten und dem Bösen, da ihr Flehen, dass ihr der Himmel helfen soll, nicht erhört wird.
Gott überlässt sie ihrem tragischen Schicksal. Dennoch schließt Shakespeare, wie so oft
in seinen anderen Werken zu erkennen ist, mit dem Gedanken, dass am Schluss das
Böse nicht siegen kann. Es kann nur den menschlichen Lebenslauf schicksalhaft
verändern, wenn man das Böse nicht rechtzeitig erkennt und nicht anfängt, dagegen zu
arbeiten, um es schließlich beseitigen zu können. Das lässt den Schluss zu, dass Othello
8
nicht nur ein individuelles, psychologisches Drama ist, sondern zugleich eine
künstlerische Gestaltung des menschlichen Wesens, seiner Natur und der Bedeutung
seiner Entscheidungen. Es ist nicht leicht, das Wesen des Menschen zu erkennen, da
sein Äußeres oder gute rhetorische Fertigkeiten dazu verleiten können, dass man vom
Schein geblendet wird. Es kann sich um aufgezwungene Normen oder Urteile der
Gesellschaft handeln, die entweder unkritisch aus der Vergangenheit wieder
aufgenommen worden sind, oder es handelt sich um Konstruktionen gewisser Personen,
die gesellschaftliche Macht haben und diese für ihre Zwecke willkürlich missbrauchen.
Menschen, die nicht kritisch genug sind oder nicht über genügend Selbstbewusstsein
verfügen, können Manipulationen zum Opfer fallen, da sie nicht fähig sind, sich zu
wehren. Solche Missetaten zu erkennen ist der erste Schritt, um tragische Folgen für
sich selbst und andere zu verhindern. Aufgrund dieser Thematik, Manipulation, ist das
Stück Othello auch heute immer noch aktuell, da in der Geschichte Othellos nicht nur
die Erfahrungen eines Renaissancemenschen geschildert, sondern auch die Abgründe
der menschlichen Seele beleuchtet werden.
9
3 Cinzios Il capitano moro im Vergleich
zu Shakespeares Othello
Shakespeares Fassung von Othello unterscheidet sich von Cinzios Version in etlichen
Details: Er gab den Personen andere Namen und fügte mache Figuren hinzu. In Cinzios
Novelle sind Othello und Desdemona auf dem gleichen Schiff und das Meer ist auf der
Reise nach Zypern ruhig, während bei Shakespeare der Held mit einem späteren Schiff
reist, und das Schiff in einen heftigen Sturm geraten lässt, was man als Metapher für die
aufregende Ehe von Othello und Desdemona auffassen könnte. Im italienischen
Original ist Jagos Hass auf Othello sehr deutlich geschildert. Jago verliebt sich in
Desdemona. Weil die Angebetete seine Liebe nicht erwidert, erfindet er die Geschichte,
dass Desdemona in Cassio verliebt sei, da er Othello die Liebe zu Desdemona nicht
vergönnt und versucht ihre Ehe mit Hass zu zerstören. Um das zu erreichen, intrigiert er,
und lässt es so wirken, als ob Desdemona in Cassio verliebt sei. Bei Cinzio nimmt Jago
selbst Desdemonas Taschentuch, bei Shakespeare bekommt er es durch die Hilfe seiner
Frau Emilia.
In Hecatommithi beauftragt Othello Jago, Desdemona mit einem Strumpf, gefüllt mit
Sand, umzubringen und den Teil des Hauses, in dem ihre Gemächer liegen, einstürzen
zu lassen, damit ihr Tod wie ein Unglück aussieht. Später bereut Othello diesen Schritt
und beginnt Jago zu hassen. Jago rächt sich, indem er den Mord als Othellos Tat
aufdeckt. Othello wird mit lebenslangem Exil bestraft, aber später von Desdemonas
Verwandten ermordet. Jago wird schließlich in Venedig wegen falschen Schwurs
verurteilt, da Emilia die Wahrheit über den Mord enthüllt hat. Er stirbt im Kerker. Was
die Dramaturgie und die Charakteristika betrifft, hat Shakespeare in die Geschichte
weitere Verstrickungen in die Geschichte eingebaut, wodurch sie spannender wird.
Verdi und sein Librettist Boito thematisierten auch den Zeitraum der Tragödie, wie etwa
folgender Briefauszug von Boito an Verdi veranschaulicht:
„Der Zeitraum (beinahe das Datum) unserer Tragödie ergibt sich von selbst, ohne dass
man auf der Suche danach sich den Kopf zerbrachen müsste. Cinzio Giraldi, der, wie
Sie wissen, Shakespeares Quelle für die Tragödie ist, gibt uns zwei zeitliche
Grenzpunkte, zwischen denen das Datum der Handlung des Othello liegt. Ich reiße eine
Seite aus einer scheußlichen, billigen Ausgaben der ‚Hecatommithi‘ heraus, weil sie
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Ihnen als Beleg dienen kann. Es ist eine Seite aus dem Vorwort. Cinzio Giraldi, der
Dekameron auch in dieser Hinsicht nachahmt, umgibt die Sammlung seiner hundert
Novellen mit einem historischen Rahmen. Er gibt vor, diese Novellen seien in einer
Gruppe von Flüchtlingen nach der Plünderung Roms im Jahre 1527 erzählt worden,
gerade so wie es Boccaccio im Vorwort seiner Novellen tut, wo es diese als Erzählungen
von Flüchtlingen zur Zeit der Pest in Florenz vorstellt. Also 1527. Das ist zwar noch
kein Datum, aber immerhin eine Angabe, die uns hilft. Einen anderen Anhaltspunkt
haben Sie bei der Hand. Wenn Sie meinen Shakespeareband aufschlagen, der in Sant
Agata geblieben ist, und die Novelle von Giraldi suchen, die dort übersetzt ist, so finden
Sie in den ersten Zeilen, dass das grausame Geschehen zwischen Othello und
Desdemona sich kurze Zeit vorher ereignet hat. Demnach ist unser Zeitpunkt von
Giraldi so bestimmt worden: kurz vor 1527. Ich glaube also, nichts Falsches gemacht zu
haben, wenn ich Edel gegenüber als äußerste Grenze das Jahr 1525 bezeichnet habe. Ein
paar Jahre Spielraum zwischen dem Vorgang und dem Bericht darüber halte ich nicht
für zuviel. Meiner Meinung nach dürfte also Edel bei seinen Skizzen nicht über das Jahr
1525 hinausgehen. Aber vor diesem äußersten Datum sollte er einen breiten Spielraum
von Jahren für seine Überlegungen haben. Die Trachten von damals änderten sich
übrigens weniger schnell, als es jetzt der Fall ist. Selbst heute, wo es so viele Menschen
gibt, hält die Mode etwas dreißig Jahre. Der Mantel, nach italienischer Art, den Sie noch
immer tragen, ist ein Beweis dafür, und die hohen Kragen ihrer Hemden sind ein
weiterer Beweis! Dreißig Jahre trennen diese von jenem. Ich habe unserem Edel
geraten, die venezianischen Maler des 15. Jahrhunderts bis über das ganze Viertel des
16. Jahrhunderts zu studieren. Glücklicherweise sind die beiden Repräsentanten dieser
Reihe von Jahren Carpaccio! und Gentile Bellini! Aus ihren Bildern ergeben sich
Kostüme für unsere Personen.“1
1
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
177f, Brief Boito an Verdi 16.05.1886.
11
4 Giuseppe Verdis Shakespeare-Opern
Die drei sogenannten „Shakespeare-Opern“ von Giuseppe Verdi – Macbeth, Othello und
Falstaff – nehmen, was die Stoffe und die musikalische Dramaturgie angeht, innerhalb
des Gesamtwerks eine besondere Stellung ein. Musik spielt in ihnen keine rein
begleitende Rolle mehr, wie das etwa für die italienische Oper des 19. Jahrhunderts
noch üblich ist. Vielmehr wird die „begleitende“ Musik als eigener Interpretationsfaktor
kalkuliert.2
Für Giuseppe Verdi war Shakespeare der wichtigste Dramatiker. Die realistische
Gestaltung der Charaktere und die Idee, dass Shakespeare in der Lage war solche
Charaktere zu „erfinden“ und so auf der Suche nach der Wahrheit war, faszinierte ihn
sehr. Dabei ging es nicht darum, die Wahrheit nachzuahmen, sondern sie neu zu
erschaffen. Aus Verdis intensiver Auseinandersetzung mit Shakespareentstanden die drei
oben angeführten Werke. Er machte sich Gedanken um die Umsetzung und schrieb
Anmerkungen sowie Anweisungen bezüglich des Librettos, Interpretation und
Inszenierung. Seine Shakespeare-Opern waren auf das originale Drama bezogen, und
nicht auf Adaptionen oder dergleichen. Die Gestalten in den Opern sind Spiegel der
Realität und typisiert. Man kann die Möglichkeiten des menschlichen Handelns,
Empfindens und Denkens erkennen. So haben diese Opern alle etwas Zeitloses. Sie
greifen in die menschliche Existenz ein. So wie auch heute diverse Handlungsmuster
und Ideen dominieren, konnte Verdi genau diese auf die Bühne bringen und sie im
musikalischen Drama manifestieren.
Erstmalig kam Verdi über die Lektüre der Texte mit Shakespeares Werken in Kontakt.
Er besaß zwei Ausgaben der gesamten Werke William Shakespeares in der italienischen
Übersetzung. Die im Jahr 1838 erschienene Gesamtausgabe von Carlo Rusconi und die
erst 1882 fertiggestellte Gesamtausgabe von Giulio Caracano.
Die erste Aufführung eines Shakespeare-Dramas erlebte Verdi 1887 in London. Dabei
handelte es sich um eine Inszenierung von Macbeth, welche Verdi Jahre zuvor vertont
hatte, sodass ihn die Inszenierung zu diesem Zeitpunkt besonders interessierte. Er hatte
1847 Macbeth komponiert und 1865 umgearbeitet. In den 1850er Jahren (1850 - 1857)
2
C. Lüderssen, Giuseppe Verdis Shakespeare-Opern: Musik als verborgener Text, Romantischer Verlag,
Bonn 2001, S. 11.
12
begann er mit der Arbeit an einem zweiten Shakespeare-Text. Zu Verdis King Lear
Bearbeitung kursieren viele Legenden. In den Briefen tauchen neben Re Lear auch die
Namen Hamlet und The Tempest auf. Aus diesem Streben wurde schließlich nichts, da
es keinen guten Librettisten gab und Verdi „seinen Hoffmannsthal“ in Boito erst Jahre
später gefunden hat. In einem Brief an den Textdichter Salvatore Cammarano vom 28.
Februar 1850 schildert er die Auseinandersetzung mit dem Stück König Lear
folgendermaßen: „König Lear ist auf den ersten Blick so ungeheuer, so sehr
schicksalsverflochten, dass es unmöglich scheinen könnte, daraus einen Opernstoff zu
machen. Prüft man genau nach, so scheinen mir die Schwierigkeiten sicherlich groß,
aber nicht unüberwindbar. Sie wissen, dass es nicht nötig ist, aus dem Lear ein Drama
in der bisher allgemeinen gebräuchlichen Form zu machen. Man müsste eine neue,
große, von jener Rücksicht unbeschwerte Form finden.“
3
Darüber ranken sich
Legenden, dass Verdi bereits vertonte Passagen des Re Lear ins Feuer geworfen hat. Zu
groß war seine Verzweiflung, dass er dem Stück keine passende Vertonung bieten
könnte. Franz Werfel beschreibt in seiner fiktiven Verdi-Biographie Verdis Zugang zum
genannten Stoff als „romanhaft“ (Er bezeichnet dies als „Roman der Oper.“), was aus
den Briefen Giuseppina Strepponis an ihren Lebensgefährten belegt werden kann. Sie
teilte ihre Befürchtung mit, dass sie in den Schaffensjahren des Otello mit einer
Nichtvollendung rechnete, gleich, wie zuvor bei König Lear. Das zeugt wiederum vom
tiefem Respekt und der Ehrfurcht Verdis vor dem Dramatiker William Shakespeare. Es
geht, etwa aus den Briefen, deutlich hervor, dass Verdi starke innerliche Kämpfe geführt
haben muss. Interessant wäre es, zu wissen, ob er die musikalischen Gedanken in
spätere Werke transferierte. Statt das Lear-Projekt zu beenden, erschuf Verdi die
komplexe und schwierige Partitur Aida (1870 - 1871). Seine selbstkritische Ansicht,
Shakespeare nicht gerecht vertonen zu können, wird 1865, als er Macbeth bearbeitete,
erneut sichtlich. Seine Verzweiflung galt dabei nur sich selbst und nicht Shakespeare. Er
scheute sich sogar Shakespeare beim Namen zu nennen, was an das Verhältnis des
Menschen zum Gott des Alten Testaments erinnert: Er war für ihn der „Papà“, der Vater,
der Urdramatiker, der Urschöpfer, der tiefste Kenner des Menschen und seiner
geheimen Gedanken und Leidenschaften, seiner verborgenen Abgründe.4
3
4
Werfel, Franz: Giuseppe Verdi, Briefe, Berlin, 1926, S. 117.
K. Pahlen, Othello, Wilhelm Goldmann Verlag, 1980, S. 191f.
13
5 Der konspirative „Schokoladenplan“
oder: die „Verschwörung“
Nach der Uraufführung der Oper Aida im Jahre 1871 hat sich Verdi endgültig
entschlossen, sich seinen sehnlichsten Wünschen zu widmen und sein Gut Sant Agata in
der Lombardei auszubauen. Er spürte ein tiefes Bedürfnis, sich mit den einfachen
Dingen des Lebens zu beschäftigen. Der „Bauer“ Verdi arbeitete auf dem Feld und
widmete sich dem ländlichen Leben. Er hielt seine Berufung als Komponist für erfüllt
und arbeitete täglich vom Sonnenaufgang bis zum Abend an seinem Gut und schlug
Angebote seitens seines Verlegers Giulio Ricordi, eine neue Oper zu schreiben, aus.
Verdi war für die Italiener schon längst, in noch größerem Maß als es Richard Wagner
für Deutschland wurde, zum Idol geworden. Im Jahr 1851 brachte ihm Rigoletto
Weltruhm, seine Opern wurden weltweit bekannt und die Melodien über alles geliebt.
Aber für einen Theatermann wie Verdi war der Ruhm nebensächlich. Weder galt er als
eingebildet, noch ist bekannt, dass ihn der Ruhm glücklich gemacht hätte. In seinem
Wesen blieb er der „Bauer“, wie er sich selbst bezeichnete.
Sein Verleger und enger Freund, Giulio Ricordi, kannte ihn genau und sie pflegten
regen Kontakt über viele Jahre. Er war um 27 Jahre jünger als Verdi und kannte die
aktuelle Welt und das Theatergeschäft. Er erbte von seinem Vater, Tito Ricordi, das
Verlagshaus „Casa Ricordi“ und vertiefte das Vertrauensverhältnis, das schon sein Vater
zu Verdi aufgebaut hatte. Da er sehr gebildet, diplomatisch und höchst musikalisch war,
konnte er sich Verdis Zuneigung sichern.
Giulio Riccordi, Giuseppina und der Dirigent Franco Faccio waren sich einig, sie
beschlossen, Verdi dazu zu bewegen, dass er an einer neuen Oper mit dem ShakespeareStück Othello arbeiten solle. Im Frühsommer 1879 verbrachte Verdi zusammen mit
seiner Peppina einige Zeit in Mailand, da er dort das Requiem dirigierte. Aufgrund
seiner Bekanntheit versammelte sich vor dem Hotel, in dem er mit seiner Frau wohnte,
eine Menge an Bewunderern, die ihm zujubelten, sobald er sich am Fenster blicken ließ.
Dabei war auch das gesamte Orchester der Scala, und sogar Arrigo Boito unter der
Menschenmenge.
Einige Tage später war der Dirigent Faccio als auch Giulio Ricordi bei Verdi zum
14
Abendessen im Hotel eingeladen. Der Maestro war fröhlich gestimmt und an seiner
Seite war die Frau, die einst ihre glänzende Gesangskarriere opferte, um sein Leben zu
teilen und seit vielen Jahren seine aufopfernde Gattin war: Giuseppina Strepponi. Der
sonst sehr schnell misstrauisch werdende Verdi ahnte nichts von den Plänen seiner
Freunde, ihn zu bewegen, erneut eine Oper zu schreiben. Um dies zu bewerkstelligen,
gingen seine Freunde, wie folgt, vor: Ricordi lenkte das Gespräch und Faccio assistierte
ihm dabei, weswegen er später auch „Komplize“ genannt wurde. Ricordi warf die Idee
in die Runde, Verdi solle ein neues Werk schreiben und „zufällig“ verknüpfte er das
Gespräch mit dem Thema Shakespeare und Arrigo Boito, den er als „den geborenen
Shakespeare-Bearbeiter“ bezeichnete, falls Verdi an die Vertonung eines ShakespeareDramas denken würde. Ein besonderer Stoff wird dabei auch erwähnt: Othello. Dabei
wird über Rossinis schon 60 Jahre zurückliegende Vertonung geredet, wozu Verdi
meinte, dass Rossinis Otello nicht poetisch und noch weniger „shakespearisch“ sei. Für
alle war auch klar, dass Rossinis Otello wegen dem schlechten Libretto nicht gut war.
Aber die Unterhaltung wurde rein theoretisch geführt: Ricordi erwähnte mit keinem
Wort die Tatsache, dass Boito bereits ein fertiges Szenario für Otello hätte.
In einen Brief von Verdi an Ricordi schilderte er diesem die Entstehung dieses
„Schokoladenplanes“:
„Sie wissen, wie dieser Schokoladenplan entstanden ist. Sie speisten mit mir und
Faccio. Man sprach von „Othello“, man sprach von Boito. Am Tage darauf brachte
Faccio den Boito: drei Tage darauf brachte mit Boito die ‚Skizze‘ zum ‚Othello‘. Ich las
sie und fand sie gut. Ich sagte ihm: Führen sie die Dichtung aus, sie wird immer für
jemand gut sein, für sie, für mich, für einen anderen usw. [...] Kommen Sie jetzt mit
Boito, so muss ich das Opernbuch lesen. Entweder finde ich es dann durchaus gut und
Sie lassen es mir zurück – dann bin ich in gewisser Hinsicht gebunden. Oder aber es
gefällt mir nicht – dann wäre es zu arg, ihm mein Urteil ins Gesicht zu sagen. - Nein,
nein, Sie sind schon zu weit gegangen. Jetzt muss man haltmachen, ehe es
Missverständnisse und Unannehmlichkeiten geben könnte.“5
Es ist beeindruckend, wie Giulio Ricordi und Strepponi auf Zehenspitzen um den
unberechenbaren Komponisten herumschlichen, und genossen die verschleierten
5
Verdi an Ricordi, 4. August 1879, zitiert in: Kunze, Stefan: Der Verfall des Helden, in Csampai, Attila,
Holland Dieter (Hrsg.) Texte, Materialien, Kommentare, Reinbeck bei Hamburg 1981, S. 24.
15
Anspielungen auf den „Schokoladenplan“ oder das mit den kleinen Mohrenfiguren
verzierten Weihnachtsgebäck, das der Verleger Verdi schenkte, und die daraus
erwachsenden Anspielungen und Scherze.
Verdi hielt seine Absicht, Otello zu komponieren lange bedeckt. Im Jahr 1880 bat er in
einem Brief seinen Freund, dem Domenico Morelli, einige Szenen aus Shakespeares
Othello zu malen. Im Jahr 1884 gab er in einem Brief an Boito zu, dass er an Otello
komponiere. Ein genaues Datum für den Entschluss, dass Verdi ernste Vorhaben hat,
Otello zu komponieren, ist leider nicht zu finden.
16
6 Dichter-Komponist Arrigo Boito
Als Sohn einer polnischen Gräfin und eines Miniaturenmalers wurde Arrigo Boito 1842
in Padua geboren. Er studierte Musik in Mailand und Venedig. Er war geradezu
prädestiniert, um eine der faszinierendsten Gestalten der europäischen Kunstszene
seiner Zeit zu werden. Der spätere Librettist Verdis war in den Anfängen seiner
künstlerischen Laufbahn Mitglied der Scapigliatura.
„Scapigliato“ bedeutet im Italienischen „der Entfesselte“ oder auch „der Zügellose“.
Darunter verstand man die italienischen Nachahmer der Pariser revolutionären
Bohêmiens, eine Gruppe von Intellektuellen und Künstler. Als leitendes Werk ihrer
eigenen Philosophie hatten sie sich das 1857 erschienene Les Fleurs du Mal von
Baudelaire auserkoren. Sie pflegten den Wunsch nach Erneuerung und Reinigung des
gesamten Kulturlebens, Revolutionierung der Tradition und dementsprechend war ihr
Ton auch wesentlich aggressiver als der der Pariser „Brüder“. Inbegriff der
Protestbewegung
war
die
bessere
Zukunft
und
sie
nannten
sich
öfters
„Avveniristen“ (von italienisch: „avvenire“, was Zukunft bedeutet).
Boito wird oft als „idealistischer Feuerkopf“ charakterisiert. Fragte man ihn und seine
Gefährten nach den Prinzipien, die in der „modernen“ Oper herrschen sollten, so erfuhr
man von der „Vertiefung“ und „Veredelung“ der Gefühle. Nur „echte“ Dichtung sollte
auf die Bühne gebracht werden, unabhängig davon, ob es sich um ein Drama oder
Musikdrama handele. 6 Das waren keine neuen Forderungen. So hat sich etwa über
Gluck, der die Oper reformierte, ergeben, dass Wagner sogar in der Bestrebung
komponierte, die Oper für die Zukunft zu bereiten.
Boito versuchte sich als Komponist und führte 1868 seine Oper Mefistofele an der
Mailänder Scala auf. Nach jahrelanger Bearbeitung des gesamten Werkes feierte er
einen triumphalen Erfolg und erhielt großen Zuspruch von Menschen, die sich mit
Goethes Werk auskannten. Es gelang ihm, den Stoff psychologisch und dramatisch auf
eine besonders effektive Weise zu konzentrieren. Das war die Gabe, die ihm größeren
Ruhm verschaffte, vor allem in der späteren Zusammenarbeit mit Verdi.
Die erste Begegnung und Zusammenarbeit zwischen Boito und Verdi fand im Jahr 1872
6
K. Pahlen, Othello, Wilhelm Goldmann Verlag, 1980, S. 194.
17
statt, als Boito für Verdi den Text schrieb, der ursprünglich zur Einweihung der
Weltausstellung geplant war. Dieser wurde dann aber erst einige Tage später, am 24.
Mai 1962 im Her Majesty´s Theatre in London aufgeführt. So stellte die Hymne der
Nationen, Kantate Inno delle nazioni, kein wirkliches Band dar.
Obwohl der Kontakt zwischen den beiden abriss, schätzten sie sich gegenseitig sehr.
Nach der zweiten Premiere des Mefistofele erkannte Verdi Boitos Persönlichkeit und
sein Talent als Dramatiker und Musiker. Wiederum hatte Boito eine Entwicklung beim
Maestro festgestellt, die bezeichnend für die Zukunft der Oper wurde: die Entfaltung in
Richtung Musikdrama, die er bei Wagner bewunderte. Da der Kontakt zwischen den
Maestri nicht vorhanden war, konnte der junge Boito nicht ahnen, dass sich der alt
gewordene Verdi noch immer nach einem Libretto sehnte, das nach seinen Maßen
richtig wäre: nach einem Libretto, geboren aus großer Dichtung und geführt in die tiefe
Darstellung menschlicher Konflikte, die einen echten und unverfälschten Pathos
hervorrufen und zugleich schlicht sind; ein Libretto, in dem die Gefühle echt und
verständnisvoll dargestellt werden.
18
7 Verhältnis zwischen Verdi und
Wagner
Im folgenden Kapitel wird auf das Verhältnis von Verdi und Wagner näher eingegangen.
Verdis Verdienste für das Risorgimento waren so beachtlich, dass er sogar für die
Scapigliati unantastbar blieb. In seiner Art revolutionär und auf der anderen Seite in der
Tradition verwurzelt war Verdi nicht immun gegen „Zukunftsmusiker“. Er war nie ein
Feind Wagners, er bewunderte diesen für seine Schaffensfähigkeit. Dennoch wurden
bzw. werden die beiden sich oft als Giganten der Opernwelt, der eine im Süden, der
andere im Norden, gegenübergestellt.
Die beiden Komponisten kann man als musikalische Antipoden bezeichnen, sie
verkörpern zwei unterschiedliche Aspekte der Kunst: Realismus und Romantik,
Humanismus und Mythos. Verdi war ein heimatverbundener Mann des italienischen
Volkes, während man Wagner als einen umherziehenden Heimaltlosen charakterisieren
kann. Während Verdi als Humanist ein Altersheim für verarmte Musiker baute, baute
Wagner als Revolutionär seinem Werk ein Festspielhaus. Dies verdeutlicht die
Differenzen in der Lebensweise der beiden.
Das 19. Jahrhundert selbst war die Epoche der künstlerischen Kontroversen und
Parteibildungen. Patriotisches Gedankengut begann sich durchzusetzen. Konservative
und fortschrittliche Anschauungen und Stilrichtungen existierten konträr nebeneinander.
Dies wird auch an Wagners Veröffentlichungen wie etwa Die Kunst und die Revolution
oder Das Kunstwerk der Zukunft deutlich.
Die Musikologin Anna Amalie Abert schrieb 1972 in ihrem Essay Wagner und Verdi
folgendes: „Wagner besaß in der Einmaligkeit seiner Werke in der Zeit und seiner
Ichbezogenheit entsprechendes starkes Selbstbewusstsein. So geht es in allen seinen
brieflichen Äußerungen denn stets um sich selbst, sein Schaffen und sein unlöslich
damit verbundenes Leben. Er wirkt darin wie ein von seiner Sendung besessener
Dämon, der vampirgleich von dem Menschen Besitz ergreift, der nur in seinem Werk,
aber nirgends im Leben zu Hause ist, er sich seine Heimatstadt alsbald um des Werkes
willen wieder verscherzt und der infolgedessen ständig auf der Suche nach einem Halt,
nach Verständnis, nach Freundschaft und nach einem ‚Asyl‘ ist […] In allen diesen
Persönlichkeit und Schaffensweise betreffenden Charakteristiken war Verdi Wagners
19
Antipode.
Als
handfestem
italienischem
Opernkomponisten
fehlte
ihm
das
Sendungsbewusstsein und als Mensch besaß er eine ausgesprochene Scheu davor, sich
selbst zur Schau zu stellen […] Wo die beiden Antipoden einander jedoch auf dem
Gebiet der Theaterpraxis begegneten, ergeben sich so manche Übereinstimmungen. Hier
besaßen beide tiefgründige Erfahrungen und beide hatten eine unbeugsame Energie, um
sich damit durchzusetzen […] Verdi war für Italien tatsächlich dasselbe, was Wagner für
Deutschland war; der Schöpfer des Musikdramas. Der Unterschied besteht nur darin,
dass er auf Grund der völlig anderen Voraussetzungen die Tradition gleichsam
überhörte, während Wagner sie zerbrach.“7
Was man zum Vergleich der beiden Komponisten sagen kann, ist, dass man in Verdis
Opern
tatsächlich
eine
reichhaltige
Harmonik
findet,
eine
charakteristische
Instrumentation und auch die Idee des Durchkomponierens. Es gibt gewisse Leitmotive,
die an bestimmte Personen oder Situationen gebunden sind und eine nicht zu
verleugnende Nähe zu Wagner aufweisen, aber dennoch erreicht Verdi nicht das Maß an
symphonischer Behandlung des Orchesters wie es bei Wagner der Fall ist. Dies wäre
aber auch im Widerspruch zur Tradition der italienischen Oper. So bleibt Verdi bei
seiner Art der Motivik, die nicht das „durchgezogene“ wird, aber dennoch seine eigene
musikalisch-dramatischen Effekt vorzüglich hervorbringt. Charakteristisch für Verdis
Entwicklung der italienischen Oper ist, dass er diese durch Verbindung mit dem
„Alten“ schafft, also ohne einen Bruch mit der Tradition der Oper.
7.1 Verdi und die Zeit des Risorgimento
Verdi war ein populärer Komponist, noch bevor er bedeutend wurde. Die Chöre in
Nabucco, oder I Lombardi und Ernani, die seinen Ruhm begründeten, wurden von einer
zerrissenen Nation, deren politischer Enthusiasmus sich in der Oper entzündete, als
musikalische Symbole des Risorgimento empfunden. Vor allem der Gefangenenchor Va
pensiero sull´al dorate war für seinen plötzlichen Karriereaufstieg verantwortlich.
Verdi kann als Revolutionär ohne Traditionsbruch bezeichnet werden. Er verwirklichte
eigene Konzepte, wie etwa die Realisierung des Dramas als Oper, vor allem Otello kann
dafür als Beispiel herangezogen werden. Hinzu kam das Glück, dass er nach seinem
7
http://www.deutschlandfunk.de/wagner-oder-verdi-1-2.1184.de.html?dram:article_id=232491,
29.07.2014.
20
Durchbruch viele weitere Aufträge erhielt und er sich zudem als Komponist
weiterentwickelte, sodass er die für die Zukunft der Oper bedeutenden Spätwerke, wie
Otello und Falstaff, schreiben konnte. Zu Beginn seiner Karriere war jedoch nicht
absehbar, dass er mit seinen Werken der italienischen Oper einen Gegensatz zum
Musikdrama Wagners bilden würde.
Der Name „Verdi“ wurde zu einem kulturell-politisch aufgeladenen Kürzel, das den
Komponisten zum politischen Programm machte: V. E. R. D. I. stand für „Vittorio
Emanuele Re D´Italia“ und wurde damit
Symbol für die Einheits- und
Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Gefangenenchor aus Nabucco
wurde zur inoffiziellen Nationalhymne Italiens, und wird auch heute noch so betrachtet.
Widerwillig ließ sich Verdi 1861 in das erste italienische Parlament wählen. Er fühlte
sich verpflichtet, sich für die Einigung und die Befreiung von der österreichbourbonischen Fremdherrschaft einzusetzen. Aber dennoch arbeitete er während seiner
Zeit als Parlamentarier weiter an seiner Musik. Sein Einsatz für Hilfsbedürftige war
immer sehr lobenswert, etwa für die Opfer des Po Geschädigten oder später das Spital
in Villanova d´Arde und Casa die Riposo, welchem er auch seine Tantieme vermachte.
Trotzdem lässt sich in Birgit Pauls Buch Giuseppe Verdi und das Risorgimento von
1996 nachlesen, dass die politisch-moralische Ikone Verdi keineswegs nur
selbstvergessen im Dienst der italienischen Sache stand, sondern dass er auch seine
eigenen
Interessen
verfolgte.
Seine
Neigung
zur
Menschenscheu
und
Zurückgezogenheit nahm im Alter zu, und vielleicht hat Verdi erst mit der zwiespältigen
Zeichnung der Hauptperson seiner letzten Oper Falstaff ein wenig von seiner
ambivalenten, schwierig zu durchschauenden Persönlichkeit preisgegeben, die zwischen
Kindlichkeit und Stolz, Melancholie und Witz, Scheu und Selbstbewusstsein,
Generosität und Sparsamkeit eigentümlich fluktuierte. Am Ende des Falstaff, dieser
hintergründigen Buffa, steht die Einsicht, dass die Welt zum Theater wird und das
Theater zur Welt. Den Abschluss bildet dabei treffend die weltverlachende Fuge: „Alles
ist Spaß auf Erden“.
Auch hier lässt sich ein Vergleich zwischen Verdi und Wagner ziehen: Wagner ist bis in
unsere Zeit ambivalent geblieben. Das totalitäre Vernichtungsregime Adolf Hitlers
bediente sich an Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes und machte es zur politischen
„Propagandamusik“. Seit Könige, Fürsten und der Kaiser im Sommer 1876 zur
21
Eröffnung des Festspielhauses auf den oberfränkischen „Grünen Hügel“ pilgerten, liegt
die Führung der Bayreuther Festspiele in den Händen der Wagner-Dynastie. Diese hat
sich immer wieder mit den politisch Mächtigen verstrickt, so wie Richard Wagner mit
dem Bayernkönig Ludwig II. oder Winifred Wagner mit Adolf Hitler. So bleibt Wagner
immer ein kultur-politisches Reizthema für Deutschland. Verdi hingegen präsentiert sich
am Ende seines Lebens durch seinen Schwanengesang Falstaff als altersweiser Mann.
7.2 Wagners Leitmotivik
Die Leitmotive, die in Verbindung mit bestimmten Personen, Gefühlen und Kontexten
auftreten, sind typisch für Wagner. Sei es durch Wiederholung, Veränderungen, neue
harmonische Beleuchtungen oder Verknüpfungen mit anderen Motiven. Das Leitmotiv
fungiert immer als wichtigster Träger des dramatischen Ausdruckes. Es leitet die
Aufmerksamkeit des Zuhörers und hilft ihm, die innere Handlung besser zu verstehen.
Die Motive sind dann in logischer Weise so aufgestellt, dass sie einem die Handlung
nahe bringen und entweder entwickelt oder verkoppelt sind. Sie ziehen sich durch das
ganze Werk und die Leitmotivik im Orchesterpart und die in der Singstimme sind
voneinander abhängig und so gesehen gleichwertig.
Über die musikdramatischen Unterschiede zwischen Verdi und Wagner äußerte sich
Regisseur Peter Konwitschny 2001 in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung
folgendermaßen: „Wovon spricht denn die Musik? Abgesehen von Otello und Falstaff –
das sind für die Deutschen seit je Meisterwerke -, haben seine Opern eine einfache
Struktur. Da ist eine Melodie, die einfach begleitet wird, meist nicht polyphon, obwohl
er das auch kann. Bei Wagner dagegen hat oft nicht der Sänger die Melodielinie sondern
das Orchester, in das sich die Singstimme einfügt. Bei Verdi ist die Melodie Ausdruck
für alle Probleme und alle Emotionen – Gesang ist das Wichtigste – die Begleitung ist
völlig untergeordnet.“
Während sich Verdi eines Reichtums an musikalischen Mitteln bediente, um das Drama
lebendig zu machen, vereinigte Wagner Musik und Drama mit Hilfe des leitmotivischen
Systems zum „Gesamtkunstwerk“.
Wagners Idee des Gesamtkunstwerks bedeckt die Bereiche Politik, Religion und Kunst.
Man könnte davon ausgehen, dass es ihm um eine Revolution auf allen drei Gebieten
ging. Gleichermaßen kann man diese Intention eines Gesamtkunstwerks auf Verdis
22
Otello übertragen. Verdis Einfluss über die Musik auf Politik und Erhaltung der
italienischen Operntradition ist bedeutend für die Musikgeschichte. Der einzige
Unterschied zwischen Verdi und Wagner in Bezug auf das Gesamtkunstwerk besteht
darin, dass Wagner eine komplette Revolution und Verdi eine revolutionierte Tradition
anstrebte.
Beide Komponisten sind gleichermaßen Vollender der Opernkunst. Beide setzen
musikalische Ausdrucksmittel freier und ungebundener ein, was sich in der Aufgabe der
starren Rezitativ-Arie-Gliederung oder auch im freieren Umgang mit der Harmonik
äußerte, aber dennoch sind die Erscheinungsformen der durchkomponierten Dramen bei
beiden verschieden.
Verdis Musik wirkt mit ihren einprägsamen Melodien oft volksnah, seine Opern
zeichnen realistische Charaktere, deren bewegendes Schicksal aus der jeweiligen
Situation heraus illustriert wird. Wagner dagegen zeigt sich in seinen Opern als
Mythomane, der von Ideen geleitet wird. Meist wählte er mythologische Stoffe, um eine
allgemeingültige Aussagekraft zu erlangen. Verdi war die Idee, dass der Künstler ein
Prophet ist, völlig fremd, es ging ihm um Darstellung konkreter menschlichen Personen,
wie etwa Othello und Desdemona.
Wagner und Verdi brachten die Gattung Oper zu einem neuen Höhepunkt und hatten
darüber hinaus starken Einfluss auf die musikalische Nachwelt. Sie erreichten eine
eigene Intensität mit Hilfe avancierter musikalischer Ausdrucksmittel, verfolgten
konsequent eigene Wege, die sehr unterschiedlich waren, auch wenn sie Kenntnis
voneinander hatten.
1865 hörte Verdi in einem Pariser Konzert die Tannhäuser-Ouvertüre und beschrieb sie
als verrückt: „matto“. Im Jahr 1875 erlebte Wagner eine Aufführung von Verdis
Requiem in Wien, worüber Cosima Wagner in ihrem Tagebuch kurz und bündig
feststellte, dass es anschließend nichts darüber zu diskutieren gab. Verdi respektierte das
musikalische Talent des deutschen Komponisten und als er von der Todesnachricht
Wagner erfuhr, schrieb er einige traurige Zeilen, in denen er vom „großartigem
Individualisten“ spricht, einem Mann, „der die Geschichte der Kunst ganz bedeutend
geprägt hat.“
In Franz Werfels Verdi-Roman von 1923 wird eine flüchtige Begegnung der beiden
23
Opernantipoden in Venedig imaginiert. Nach mehreren Anläufen versucht der
italienische Komponist Anfang 1883 mit dem ambivalent bewunderten Wagner in
Kontakt zu treten, dessen Erfolg ihn in eine tiefe Schaffenskrise gestürzt hat. Doch in
der Nacht vor Verdis geplanten Besuch stirbt Wagner. Über die beiden Komponisten
heißt es im Roman weiter: „Die Sendung Verdi war es, die traditionelle Oper, die Oper
an sich, das Werk des Gesangs zu retten und ihre Entwicklung für die Zukunft zu
sichern. Seinem Genius hatte die Geschichte die schwere Doppelaufgabe anvertraut, die
alte leergewordene Form zu wahren, sie der Menschen-Wahrheit zu versöhnen und
dennoch nicht an das musikalische Drama des Nordens zu verraten. Natürlich war ihm
diese Aufgabe kein Programm, aber bis in die in Nervenenden erfüllte sie das Leben.
Die gesamte Musikkritik Europas hatte es sich angewöhnt gehabt, Verdis Werk an dem
Wagners zu messen […] Gewiss ist das Wagner-Werk ein tausendfältiges dichterischmusikalisch-philosophisches Kompendium. Aber der Meister dieses Werkes hat ja von
vornehinein keine Grenzen anerkannt, er hat seine Gaben, gleichsam außerhalb der
Welt, ausgewirkt. Dies seine unvergleichliche Größe! In einem Ätherraum, befreit von
allen Bedingungen, allen niederziehenden Kräften praktischer Überlegung, nur dem
Gesetz seiner selbst unterworfen, hatte das Werk diese maßlose Gestalt angenommen.“8
Verdi übernahm die Art der Leitmotivik, wie Wagner sie verwendete, in einer auf eigene
Weise abgeänderten Form. Dies wird etwa im Otello an mehreren Stellen sichtbar, etwa
wenn das Thema des Kusses aus dem Duett Gia nella notte densa später wiederholt
wird.
Ohne diese beiden widersprechenden und so unterschiedlichen Komponisten hätte sich
die Oper sicher völlig anders entwickelt.
8
Werfel, Franz: Verdi, Roman der Oper, Buch und Welt Verlag, Klagenfurt, Copyright Paul Zsolnay
Verlag Wien 1924, S. 144 – 150.
24
8 Zusammenarbeit: Komponist und
Librettist
Otello wurde zur 25. Oper von Giuseppe Verdi. Nach dem triumphalen Erfolg mit Aida
hielt die Welt, wie auch Verdi selbst, das Werk des Komponisten für vollendet. Er
genoss die Ruhe der Felder und sein Landgut Sant Agata und zog sich aus dem
öffentlichen Leben zurück. Er hatte keine Absichten, neue Werke zu schaffen. Er
unterbrach sein ruhiges Landleben nur, um in europäischen Hauptstädten seine Werke
persönlich zu dirigieren.
Giulio Ricordi ließ nicht nach und drängte zur Zusammenarbeit mit dem talentiertem
und gebildeten Arrigo Boito. Gemeinsamkeit zwischen Verdi und Boito war die große
Verehrung Shakespeares. Verdi strebte sein ganzes Leben danach, ihn würdig zu
vertonen.
Ricordi arrangierte ein Treffen, bei welchem Boito dem alten Maestro einen szenischen
Entwurf für Otello vorlegte, der von Verdi sehr gelobt wurde. Verdi wollte etwas Neues;
er wollte die Oper mit Otello zum italienischen Musikdrama machen. Dabei ging es ihm
nicht darum, Wagner nachzuahmen, er wollte der Musik etwas Ebenbürtiges,
Italienisches zur Seite stellen. Dabei haben beide Komponisten einen Weg gefunden, um
das eigene Credo zu realisieren. Deswegen war es unumgänglich, das sich die Oper von
der in den „Nummern“ gestalteten Drama in das „Durchkomponierte“ umformte. Verdi
erkannte im Verlauf seines eigenen Opernschaffens die Wichtigkeit des instrumentalen
Teils, der zur echten Ergänzung des vokalen werden muss, um ein moderneres
Tondrama schaffen zu können.9 Boito fügte sich jedem Wunsch zur Veränderung oder
Umgestaltung, der von Verdi ausgesprochen wurde.
Grundsätzlich tat Boito bei seiner Textverarbeitung das Gegenteil von dem, was im 20.
Jahrhundert unter einer „Literaturoper“ verstanden wird (Eine „Literaturoper“ ist die
nahezu wörtliche Vertonung wertvoller dichterischer Vorlagen.): Er griff in
Shakespeares Original ein, kürzte radikal und beließ nur jene Szenen in seinem Libretto,
die zur Zuspitzung und Lösung des dramatischen Knotens notwendig sind. Er erkannte,
dass Shakespeares Stück in seiner theatralischen Form für das Musikdrama zu komplex
9
K. Pahlen, Othello, Wilhelm Goldmann Verlag, 1980, S. 255f.
25
ist, zu figurenreich, zu sehr in kleine Szenen aufgespalten war. Er musste, auch wenn
Verdi keine wirklichen Arien mehr schreiben wollte, Raum für lyrische Ruhe- und
Höhepunkte und Stimmungsmomente schaffen, manches vom Wort, das im
Musiktheater stets weitgehend unverständlich bleibt, ins augenfällige Bild übersetzen.
Er tat dies so restlos hervorragend, dass Verdi das Gefühl hatte, noch nie von einem der
vielen Librettisten seines Lebens so vollständig verstanden worden zu sein. Boitos
Textbuch zu Verdis Otello könnte wahrscheinlich auch im Sprechtheater mit stärkster
Wirkung aufgeführt werden.10
8.1 Der Briefwechsel zwischen Boito und Verdi
Man kann den Briefwechsel zwischen Giuseppe Verdi und Arrgo Boito, dem
Librettisten der Opern Otello und Falstaff, zu den bedeutendsten literarischen Quellen
der Operngeschichte zählen. Der Grund liegt darin, dass man die produktiven
Auseinandersetzungen verfolgen kann, die auf einem hohen geistigen Niveau und mit
sachlicher Kompetenz stattfand. Es war für beide Seiten ein besonderer Glücksfall.
Verdi war der einzige Komponist, der die literarischen Qualitäten von Boitos Libretti
schätzen und sie adäquat musikalisch umsetzten konnte, und der 29 Jahre jüngere
Librettist profitierte von der Zusammenarbeit mit Verdi. Boito konnte nicht nur gute
Texte schreiben, sondern
war auch der Ästhetik der Oper genauso vertraut wie
Giuseppe Verdi.
Die operngeschichtliche Bedeutung dieser Korrespondenz tritt bei den Briefen zu Otello
insofern besonders hervor, da sie alle entscheidenden Phasen des gemeinsamen
Arbeitsprozesses erfassen (1879 - 1887). Sie sind aus dem Aspekt des persönlichen und
emotionalen genauer als jeder wissenschaftliche Bericht, da hier die Hintergründige des
Arbeitsverhältnisses auf besondere Weise beleuchtet werden. So bekommt man einen
direkten Einblick in das Verhältnis von Komponist zu Librettist, wie folgende
Briefausschnitte verdeutlichen:
„Jedermann weiß, dass Otello ein Meisterwerk ersten Ranges und in seiner
Großartigkeit vollkommen ist. Diese Vollkommenheit beruht (Sie wissen es besser als
ich) auf der wunderbaren Ausgeglichenheit des Ganzen und seiner Teile, auf der
tiefgehenden Erfassung der Charaktere , auf jener äußerst strengen und schicksalhaften
10
K. Pahlen, Othello, Wilhelm Goldmann Verlag, 1980, S. 256.
26
Folgerichtigkeit, mit der alle Vorgänge der Tragödie sich entwickeln, auf die Art und
Weise, in der alle Leidenschaften, um die es sich dort handelt, und vor allem die
beherrschende Leidenschaft, beobachtet und dargestellt sind. Alle diese Vorzüge tragen
dazu bei, Othello den Rang eines außerordentlichen Kunstwerks zu geben. […] Die
Musik ist die allmächtigste unter den Künsten, sie hat eine eigene Logik, die viel
rascher, viel freier ist als die Logik des Denkens in Worten und weitaus vielsagender.“11
Sie gaben sich gegenseitig Änderungsvorschläge, bekräftigen diese mit Argumenten,
jedoch stets in einem respektvollem Ton und gekennzeichnet durch große gegenseitige
Achtung:
„Das Ensemble hat, wie es unsrer Absicht lag, seine lyrische Schicht und seine dramatische Schicht, beide miteinander verschmolzen. Oder besser gesagt, es ist ein lyrisches,
ein melodisches Stück, unter dem ein dramatisches Zwiegespräch abwickelt. Die Hauptfigur des lyrischen Schicht ist die Desdemona, die Hauptfigur der dramatischen Schicht
ist Jago. Dieser nun, nachdem er für einen einzigen Augenblick von einem Ereignis
überrollt war, auf das er keinen Einfluss hatte (der Brief, der Othello nach Venedig zurückruft), nimmt sofort, mit einer Schnelligkeit und einer Energie ohnegleichen, alle
Fäden der Tragödie erneut auf und macht die Katastrophe wieder zu seiner eigenen Sache, ja er benutzt sogar das unvorhergesehene Ereignis, um den Ablauf der schließlichen
Katastrophe schwindelerregend zu beschleunigen. Das alles war im Sinne Shakespeares,
und das tritt in unserer Arbeit deutlich in Erscheinung. Jago geht zur Rodrigo über, beide die Werkzeuge, die ihm für seine Untat bleiben. Dann hat er das letzte Wort und die
letzte Gebärde in diesem Akt. […] Sehen sein nun ob diese beiden Schichten, die lyrische und die dramatische, Ihnen gut verschmolzen erscheinen. Sehen Sie auch, ob die
Ausdehnung der einen und der anderen Schicht gut bemessen ist. Bei den Versen habe
ich nicht gespart, weil ich mich an Ihre Bemerkung erinnerte: ‚Sagen Sie alles, was
nützlich zu sagen ist, und jede Angelegenheit soll ausführlich erklärt werden. ‘ Bei dieser Anweisung haben Sie selbst empfunden, dass das Zwiegespräch unter der lyrischen
Schicht voll entwickelt werden muss, damit es tragisch wirkt. Das haben Sie richtig
gesehen, und so habe ich es gemacht. […] Otello ist seine Pose zugeschrieben, nach
dem Willen des Dramas. Wir haben ihn neben dem Tisch zusammengebrochen gesehen
nach den Worten: ‚Zu Boden! Da heule! ‘ Und in dieser Stellung zusammengebrochen
11
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
150, Brief Boito an Verdi, 18.10.1880.
27
muss er bleiben, ohne sich aufzurichten, auch wenn er Jago antwortet, so lange das Ensemble dauert. Er braucht auch nicht zu sprechen oder zu singen, während Jago Rodrigo
einredet. Stumm ist er größer und fürchterlicher, körperlicher. Erst zu dem Aufschrei:
‚Hinaus! ‘ erhebt er sich und stürzt dann wieder zu Boden. Das alles ist gut. Bis hierher
stimmen wir völlig überein wie ich hoffe.“12
„Dass Otello stumm viel großartiger und fürchterlicher erscheint, ist so wahr, dass ich
daran denke, ihn während des ganzen Ensembles überhaupt nichts sagen zu lassen. Ich
meine, nur Jago sollte reden, […] Ein erstickter Schrei auf das Wort ‚Taschentuch‘ erscheint mir furchtbarer als ein Schrei auf den üblichen Ausruf ‚Oh, Satan. ‘ Die Worte
‚Ohnmächtig … Unbeweglich … stumm‘ halten die Handlung etwas auf. […] Sagen
Sie mir ihre Meinung dazu.“13
Nach diesem Brief unterbricht Verdi aus unbestimmten Gründen die Arbeiten an Otello
für fast zweieinhalb Jahre. 1882 erhielt Giulio Ricordi, nachdem er sich nach Otello
erkundigte, von Verdi eine lakonische Antwort, dass er um Gottes Willen die
Schokolade samt Desdemona und Jago in Frieden lassen soll. Vielleicht lag der Grund
für die Verzögerung in der Umarbeitung und Übersetzung der Oper Don Carlos. Die
gekürzte vieraktige Fassung wurde am 10. Januar 1884 in der Scala präsentiert, es
handelte sich dabei um die erste Fassung in italienischer Sprache. Verdi widmete sich
Otello erst wieder im März 1884 und im Dezember des gleichen Jahres fasste er doch
den Entschluss, die Oper zu Ende zu bringen, was ein Brief vom 9. Dezember 1884
belegt:
„ich sagte weiter, dass ich es niemals für möglich gehalten hätte, Shakespeares Trauerspiel in ein so gutes Libretto umzuwandeln, bevor ich diese Arbeit für Sie, Maestro, und
mit Ihnen (auch das ist wahr), ausgeführt hätte. Auch sähe ich erst jetzt, nach vielen
Verbesserungen, zu meiner Genugtuung, dass meine Arbeit, an die ich sehr zaghaft herangegangen wäre, mit hervorragender lyrischen Qualität ausgestattet sei und mit Formen, die ausgezeichnet zu komponieren sind und die den Bedürfnissen eines musikalischen Bühnenwerkes durchaus entsprechen. Diese Worte brachte ich im Brustton tiefer
Überzeugung vor, […] in Ihrer Vertonung ein Libretto zu erleben, das ich gemacht habe
12
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
157f, Brief Boito an Verdi, 24.08.1881.
13
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
160f, Brief Verdi an Boito, 27.08.1881.
28
nur der Beglückung wegen, zu sehen, dass Sie – von mir veranlasst - wieder die Feder
in die Hand nehmen, des Ruhms wegen, Ihr Gefährte bei der Arbeit zu sein, des Ehrgeizes wegen, meinen Namen mit dem Ihren verbunden zu wissen und unseren mit dem
Shakespeares. Und deshalb sind der Stoff und mein Libretto nach dem geheiligten
Rechte des Stärkeren Ihnen zugefallen. Sie allein können Othello in Musik setzen. Das
gesamte Bühnenwerk, das Sie uns geschenkt haben, bestätigt diese Wahrheit. Wenn es
mir gelungen ist, die enorme Musikalität der Shakespeareschen Tragödie zu erfassen,
die ich zunächst nicht wahrnahm, und wen ich sie mit dem zustande gebrachten Libretto
aufzeigen konnte, so deshalb, weil ich mich in die Kunst Verdis hineinversetzt habe,
weil ich beim Schreiben jener Verse mir vorgestellt habe, was Sie gehört haben mögen,
als Sie diese mit einer tausendmal tiefgehenden und mächtigeren Sprache ausschmückten, mit dem Klang. Und wenn ich dies tat, so deshalb, weil ich in der Reife meines Lebens, in jenem Alter, in dem die Gesinnung nicht mehr wechselt, eine Gelegenheit ergreifen wollte, Ihnen, besser als nur mit ausgesprochenen Komplimenten, zu beweisen,
wie sehr ich die Kunst, die Sie uns geschenkt haben, liebte, und wie sehr ich sie nachempfand. […] Aber ich bitte Sie, geben Sie Othello nicht auf, er ist für Sie bestimmt.
Machen Sie ihn, Sie haben ja schon begonnen, daran zu arbeiten, und ich war schon
ganz zuversichtlich und hoffte bereits, ihn eines fernen Tages vollendet zu sehen.“14
„Es kommt mir unmöglich vor, aber es ist trotzdem wahr!!! Tatsächlich!!!! Ich bin bei
der Arbeit und schreibe! Ich schreibe … weil ich schreibe, ohne Ziel, ohne Besorgnisse,
ohne an das Nachher zu denken … sogar mit der entscheidender Abneigung gegen das
Nachher.“15
„Ich habe den vierten Akt beendet und atme auf! Es war für mich schwierig, die allzu
vielen Rezitative zu vermeiden und eine Rhythmus, eine Phrase zu so vielen freien und
so vielen gebrochenen Versen zu finden. Aber so konnten Sie alles sagen, was gesagt
werden musste, und ich bin jetzt ruhig und seelenvergnügt.“16
14
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981,
S.163 - 165, Brief Boito an Verdi, 19.04.1884.
15
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
170f, Brief Verdi an Boito, 09.12.1884.
16
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
172, Brief Verdi an Boito, 05.10.1885.
29
9 Die Hauptpartien in Verdis Otello
Die drei Hauptpartien in Verdis Otello zählen zu den anspruchsvollsten und
schwierigsten, zugleich aber auch zu den begehrtesten und faszinationsreichsten Partien
des Opernrepertoires.
9.1 Otello
Verdis Otello ist ein Mohr, General der Republik Venedig. Er ist über vierzig Jahre alt
und ein starker und loyaler Kriegsheld. Boito wünschte ihn einfach in Haltung und Geste.17 Sein Befehl soll gebieterisch und sein Urteil gelassen sein. Die dem Duell im ersten
Akt folgende Szene genügt, diese Eigenschaften seines Charakters darzustellen. Dieser
Akt zeigt ihn auf der Höhe seines Ruhmes, seiner Kraft und seines Glanzes. Seine ersten Worte donnern im Sturm, donnern im Siege; seine letzten verhauchen im leidenschaftlichen Kuss erfüllt mit innigster Liebe. Erst erlebt der Zuschauer ihn als Kriegshelden und dann als Liebenden. Dahinter steht die Ansicht, dass man sehen muss, wie
groß der Held ist, um ihn verstehen zu können, wie würdig er der Liebe und welcher
Leidenschaft er fähig ist. Dennoch wird aus dieser Liebe durch Jagos Einwirkung
furchtbare Eifersucht. Verstand und Gerechtigkeit leiten Othellos Handlungen bis zum
Augenblick, in dem es Jago, der ehrlich erscheint und auch dafür gehalten wird, gelingt,
ihn zu beherrschen. Von diesem Augenblick an verändert sich der ganze Mensch. Othello ist in erster Linie nicht Eifersüchtiger, sondern ein Mohr, also ein Mensch aus verachteter Rasse. Max Frisch schreibt in seinen Tagebüchern, dass der von Othello erreichte
persönliche Erfolg nichts an seinem verwundeten Selbstvertrauen veränderte. Man achtete ihn zwar, aber seine Hautfarbe und seine Herkunft wurden dennoch negativ bewertet, was Othello selbst spürte. Er leidet an seiner Andersartigkeit, was die Ursache für
die nachfolgende Tragödie ist. Frisch stützt seine Argumentation auch auf das Konzept
Othellos als eines tragischen Helden: „Was uns an Othello erschüttert, ist nicht seine
Eifersucht als solche, sondern sein Irrtum: er mordet ein Weib, das ihn über alles liebt,
und wenn dieser Irrtum nicht wäre, wenn seine Eifersucht stimmte und seine Frau es
wirklich mit dem venezianischen Offizier Cassio hätte, fiele seine ganze Raserei (ohne
17
Busch Hans, Verdi Boito Briefwechsel, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1986, S. 206f.
30
das man ein Wort daran ändern müsste) unweigerlich ins Komische; er wäre ein Hahnrei, nichts weiter, lächerlich mitsamt seinem Mord.“18
Auch der Shakespeare-Forscher Max Lüthi betont, dass es „um weit mehr geht als um
die Eifersucht in diesem Schauspiel. Shakespeare hat wie seine Zeitgenossen ein hohes
Interesse für die Verschiedenartigkeit der Temperamente gehabt; aber Othello ist weit
mehr als das Gemälde eines Cholerikers, ebenso wie Hamlet mehr als die Darstellung
eines Melancholikers; beide sind Tragödien des Menschen, nicht nur eines bestimmten
Menschentyps. Die besondere Leidenschaft, die Eifersucht“19, fährt Lüthi fort, „ist das
geeignete Movens des Geschehens, der besondere Menschentyp, der Choleriker ist der
berufene Träger, das Geschehen selber aber ist von übergreifender Gültigkeit“.
In Othello wird zunächst die Geschichte einer einzigartigen Liebe erzählt. Othello
erscheint sowohl als militärischer Repräsentant des christlichen, patriarchalischen
Venedig als auch als heidnischer Ex-Sklave und Magier. In seiner physischen
Erscheinung, seiner schwarzen Hautfarbe, sucht man den Schlüssel zu seinem Charakter
und seiner Primitivität. Die Barbarei wird nur dünn durch sein venezianisches
Soldatentum übertüncht. Shakespeares Stück verbindet Diskurse, in denen sich
Vorstellungen des Teuflischen, Bestialischen, Monströsen, des Primitiven und auch
Exotischen mischen. Othello hat wegen sich selbst, da er mit seiner Erscheinung und
den damit verbundenen Charisma, das auf die Menschen angsteinflößend wirkt, einen
noch viel dunkleren Schatten, wie der des tragischen Rembrandt oder der Scuro eines
Caravaggios. Man erkennt in Othello die wilde Natur, durch Ruhmbegierde, durch
fremde Gesetze der Ehre, durch edlere und mildere Sitten nur scheinbar gezähmt. Seine
Eifersucht ist nicht die Eifersucht des Herzens, die aus einem zarten Gefühl und
innigster Empfindung der Anbetung der Geliebten entspringt. Seine Eifersucht ist von
einer Unart, die ihn innerlich zerstört und ihn zur unwürdigen Bewachung seiner
Desdemona und zu unnatürlichem Handlungen führt. Jagos Andeutungen bringt sein
ganzes Blut in unermessliche Aufruhr. Der Mohr scheint edel, offen und zutraulich zu
sein, dankbar für die gezeigte Liebe. Er ist all dies und obendrein aller Gefahren
trotzender Held, ein würdiger Krieger, ein treuer Diener des Staates Venedig. Und eine
bloß physische Gewalt entehrt ihn aller erworbenen und angewohnten Tugenden, er
verwirft sie und gibt dem Wilden in ihm über den gesitteten Menschen die Oberhand.
18
19
Frisch Max, Tagebücher, 1946-1949, Berlin/Volk und Welt Verlag, 1987, S. 424.
Lüthi Max, Shakespeares Dramen, 2. Auflage, Berlin 1977, S. 64.
31
Der Ausdruck seiner Rachegelüste gegen Cassio verrät uns die Tyrannei des Blutes über
den Willen. Zuletzt spricht in seiner Reue aus ihm echte Zärtlichkeit für seine Gattin
und der Schmerz eines vernichteten Ehrgefühls den Zeugen seiner Tat gegenüber. Sich
selbst peinigt er zuletzt wie ein Despot seinen Sklaven, die Wut über die grausame Tat,
über das Unbegreifliche, dass er, der große Othello, sich blenden ließ und sich selbst auf
die unwürdigste Art entehrte.
Folgendes Zitat führt nochmals Othellos Charakterzüge vor Augen:
„Er war klug und äußert sich, er war stark und wird schwach, er war gerecht und ehrenwert und wird zum Verbrecher, er war gesund und vergnügt und stöhnt, fällt, wird ohnmächtig wie ein Vergifteter und Epileptiker. Und Jagos Worte sind wahres Gift in das
Blut des Mohren gespritzt. Othello ist das große Opfer der Tragödie, das große Opfer
Jagos.“20
Es erfordert ein großes künstlerisches Geschick, um den Fall Othellos von stolzer Höhe
in die völlige seelische Vernichtung in kurzer Zeit darzustellen. Dies erfordert nicht nur
eine klangschöne, sondern auch eine machtvolle, wandlungsfähige Stimme, die mächtig
ist, dem seelischen Zerfall Othellos gerecht zu werden und die menschliche Tragödie
auszumalen.
Aufgrund dessen ist es auch nachvollziehbar, dass es nur wenig
bedeutende Vertreter dieser Partie gibt.
Othello ist einem Heldentenor zugeteilt, einem „tenore drammatico“. Der Stimmtyp der
italienischen
Oper
muss
eine
gewaltige
Stimme
besitzen,
die
bei
dem
„Esultate“ Meeres-, Sturm- und Volksgebrause mühelos übertönen soll, aber auch fähig
ist im späteren Verlauf des Aktes im Liebesduett mit Desdemona Gia nella notte densa
zu inniger Empfindsamkeit zurückzukommen und den Akt mit einem lang gehaltenen,
hohen Ton mit vollendeter Weichheit und Süße zu beenden.
9.2 Die Uraufführung Otellos
Während die Rollen Othello und Jago für die Uraufführung schon fast vergeben waren,
gestaltete sich die Besetzung Desdemonas als schwierig. Zusammen mit Boito haben sie
sich zahlreiche Kandidatinnen für die Partie angehört.
20
Busch, Hans: Verdi Boito Briefwechsel, ebenda S. 207: Vorwort von Arrigo Boito zum Regiebuch für
„Othello“ von Giulio Riccordi.
32
Der bedeutendste Darsteller des Otello bis zur Jahrhundertwende und der Protagonist
der Uraufführung war der Tenor Francesco Tamagno. 1897 feierte er in Paris seinen
400. Auftritt als Otello innerhalb von zehn Jahren. Er war schon zuvor ein bekannter
Verdi Interpret, gestaltete etwa die Hauptpartien in Un ballo in maschera, Ernani, La
Traviata, Don Carlo, Il Trovatore, Aida sowie Simone Boccanegra.
„Ich glaube gern, dass unser Tenor (Tamagno) bei den zwei Stücken (gemeint sind Stücke von Meyerbeer und Poncchielli, die Tamagno angeblich gut lagen) die Ihr mir geschickt habt, gut weggekommen ist […] Bei Otello ist es nicht so. Nachdem er festgestellt hat, dass Desdemona unschuldig getötet wurde, bekommt Otello keine Luft mehr;
er ist erschöpft psychisch und moralisch am Ende: er kann und darf nur noch mit halberloschener, verschleierter Stimme singen. […] diese letztere ist mit Sicherheit Eigenschaft, die der Tamagno nicht hat. Er muss immer mit voller Stimme singen sonst wird
der Ton hässlich, unsicher, unsauber […] Das ist etwas sehr Ernstes, was mir sehr zu
denken gibt! Lieber will ich die Opern nicht aufführen, wenn diese Stelle der Partitur
nicht herauskommen kann.“21
9.3 Desdemona in Verdis Otello und die erste Interpretin
Desdemona wird aus dem Griechischem abgeleitet: „dysdaimona“ bedeutet die
Unglückliche.
Die erste Interpretin dieser Partie, deren Besetzung Verdi Schwierigkeiten bereitete, war
Romilda Pantaleoni. Sie war eine in Mailand ausgebildete Künstlerin, und auch für sie
entschied sich Verdi erst nach langem Nachdenken. Sie hatte vier Jahre zuvor mit 26
Jahren als Gioconda an der Scala debütiert. Verdi hatte Pantaleoni zwar selbst für die
Partie der Desdemona ausgewählt, war aber nach der Premiere enttäuscht, da sie weder
gesanglich noch schauspielerisch überzeugt hatte. Schon während der Proben soll sie ihr
Gesicht demonstrativ verzogen haben, jedoch war sie die Geliebte Franco Faccios. Die
Tatsache, dass sie sich nach dem frühen Tod ihres Geliebten im Jahre 1891 endgültig
von der Bühne verabschiedet hat, spricht für sich.
Folgender Auszug aus einem Brief von Verdi an Giulio Riccordi belegt seine Zweifel an
Pantaleonis Darbietung:
21
Springer, Christian, Verdi und Interpreten seiner Zeit, Verlag Holzhausen, Wien 2000, S. 473, Verdi an
Giulio Riccordi, 22.01.1886.
33
„Frau Pantaleonis Stimme, die an dramatische Partien gewöhnt ist, wird bei den hohen
Noten etwas zu scharf; sie legt sozusagen zuviel Metall hinein. Wenn sie sich daran gewöhnen könnte, mit etwas mehr Kopfstimme zu singen, würde das smorzato leichter
gelingen und ihre Stimme wäre auch sicherer und würde besser sitzen. […] Ausserdem
ist es nicht immer wahr, dass ihr D ein so schlechter Ton ist wie Sie sagen. Es gibt eine
Stelle, bei der es ihr am besten gelingt: (Es folgt ein Tonbeispiel: Salce, salce, salce, mit
der Bezeichnung ppppp). Diese Phrase wird dreimal wiederholt. Das letzte Mal gelingt
sie ihr gut, die beiden andere Male weniger. Ich habe Euch offen gesagt, was ich denke
und sage Euch nochmals, dass sie in der Partie der Desdemona – auch wenn sie nicht
ganz zu ihrer Empfindungsweise und ihrer Stimme passt - bei ihrem grossem Talent und
Bühneninstinkt, mit gutem Willen und Studium bestens reüssieren wird […] Beachtete
außerdem, dass sie viele Dinge meisterhaft ausführt.“22
Arrigo Boito empfehlt in seinem Vorwort zum Regiebuch für Otello von Giulio
Riccordi, dass die Damen, die Desdemona darstellen, nicht mit den Armen oder Körper
gestikulieren oder sogar mit den Augen rollen sollen. Wenn die Darstellerin intelligent
ist und Achtung vor dem Kunstwerk hat, wird sie Eindruck machen, ohne danach zu
trachten und im umgekehrten Fall werden ihr solche Bemühungen nichts nutzen. Der
Gesichtsausdruck, der Tonfall und der Blick: Das sind die drei Punkte, in denen sie
Ausdruck suchen sollen. Ein tiefes Erleben von Liebe, von Reinheit, von Sanftmut und
Adel, von Ergebung muss in dieser so keuschen Gestalt der Desdemona in Erscheinung
treten. Ihr Spiel muss natürlich und maßvoll sein, damit sie die Anteilnahme des
Zuschauers gewinnen kann. Jugend und Schönheit sollen den Eindruck der Anmut
ergänzen.
Susanne Vill teilt die Frauengestalten der Verdi Opern in verschiedene Charaktertypen.
Desdemona reiht sie in den Typ „unschuldige Opfer“ ein. Desdemona ist das
unschuldige Opfer par excellence. Zum einem wird sie Opfer einer Eifersuchtsintrige,
der Eifersucht Jagos auf Otellos Macht und Cassios Fortune und der Eifersucht
Othellos, die geweckt wurde, damit „il leone“ zu Fall gebracht wird. Sie kann ihre
Unschuld nicht beweisen, doch würde ihr ohnehin nicht geglaubt werden, weil
pathogene Eifersucht im Besitzanspruch und im Minderwertigkeitsgefühl des
Eifersüchtigen begründet und rational nicht auflösbar ist. Zum anderen ist Desdemona
22
Springer, Christian, Verdi und Interpreten seiner Zeit, Verlag Holzhausen, Wien 2000, S. 397, Verdi an
Giulio Riccordi, 22.01.1886.
34
aber auch Opfer eines ideologisch geprägten Selbstverständnisses der Frauenrolle. Das
Ethos, das sie mit vielen anderen Frauengestalten, bei Shakespeare z. B.: Ophelia und
Julia, teilt, formuliert sie im Lied von der Weide (4. Akt, 1. Szene) in der Erzählung der
Armen, verliebten und schönen Barbara, deren Liebster sie verlassen konnte. In ihrer
Canzon del salice sang sie dann, und Desdemona wiederholt es: „Er war geboren zu
seinem Ruhm, ich, ihn zu lieben und zu sterben.“ („Egli era nato per la sua gloria, io per
amarlo e per morir.“)
Dieses Ethos zeichnet eine Bereitschaft zu völliger Hingabe, die jedoch in einer
patriarchalischen Gesellschaftsordnung, welche die Aktivitäten der Frauen ganz der
Führung
männlicher
Autorität
unterordnet,
zum
Pathos
eines
fatalen
Selbstmissverständnisses pervertieren kann. Die Verkettung von selbstverschuldeter
Unmündigkeit, Passivität und Pathos der Opferrolle zeigt sich in Desdemonas
zeittypischer Tragödie besonders eklatant.23
Desdemona entsagt ihrer eigenen Lebenswelt und Handlungsfreiheit, lässt sich von
Otello entführen und begibt sich in die Rolle einer typischen Frau im Patriarchat.
Leidende Hinnahme, männlichen Fehlverhaltens, wie blinde Eifersucht, autoritäres
Dominanzgebaren, Uneinsichtigkeit und anderer Ausprägungen der mangelnder
Verständigungsfähigkeit,
sind
die
Folge
dieser
unterwürfigen
Entscheidung
Desdemonas. Es ist mehr als offensichtlich, dass sich mit der Zeit diese Strukturen, die
man als „sozialpathogen“ bezeichnen könnte, in denen Frauen als Ausdruck der Liebe
die vollkommene devote Hingabe als Weg wählen, nichts geändert hat. Damit ist die
unkritische Hingabe gemeint sowie das Abhandenkommen eines eigenen Willens, die
mit wahrer Liebe verwechselt werden. Dabei kann es sich aber auch um soziale
Konventionen einer gewissen Epoche handeln, die in der Handlungszeit des Otello
durchaus gegeben waren, aber sicher auch heute noch anzutreffen sind, bei welcher die
wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen als Falle eine Rolle spielen und aus welcher
Gehorsam und Duldsamkeit resultieren und eigentlich so erzwungen werden. Für eine
Zuspitzung des Konflikts sorgen willkommene, traditionelle und dramaturgische Stoffe.
So geraten autoritärer Druck, Unselbständigkeit und falsche Vorstellungen von Liebe
und Aufopferungsbereitschaft in die Mechanismen von Macht und Abhängigkeit, statt
dass die Liebe Ausdruck freier Entscheidung ist und auch so angenommen wird.
23
Vill Susanne, Bilder von Weiblichkeit in Verdis Opern, in Verdi-Theater/ hersg. von Udo Bermbach, J.
B. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S. 216.
35
Desdemona wird zugleich Opfer Otellos und der gesellschaftlichen Konventionen und
Erwartungen. Sie war bereit, sich dem Ungerechten bis in den Tod zu fügen. Dies wurde
auch von einer tugendhaften Frau auch erwartet. Aber dennoch kann man Desdemona
für eine für die damalige Zeit fortschrittliche Frau halten, weil sie sich für den Exoten,
für den Außenseiter Otello, entschieden hat und sich mit der Bindung sogar ihrem
geliebten Vater widersetzte. Der gewagte Entschluss der besagten Ehe wäre von der
Gesellschaft nie akzeptiert worden, wäre Othello nicht ein erfolgreicher Kriegsherr
gewesen, der bedeutende Siege für die Republik Venedig eingebracht hatte.
9.4 Jago und sein erster Interpret
Jago ist der personifizierter Neid und Shakespeare charakterisiert ihn im
Personenverzeichnis als „Jago, ein Bösewicht“.
Jago beschreibt sich selbst am Hafenplatz im Zypern: „Ich bin nichts als ein
Kritiker.“ Er ist ein missgünstiger und übelwollender Kritiker, der das Böse im
Menschen, in der Natur und Gott sieht. Er fühlt sich befugt, Böses zu tun, um des Bösen
willen. Er kann charakterisiert werden, als ein hinterlistiger Mensch, der die Kunst des
Blendens und Manipulierens von Natur aus beherrscht. Bei Verdi singt er: „Son
schellerato, perchè son uomo.“ (Ich bin verworfen, weil ich ein Mensch bin.)
Er wird als jung und schön dargestellt, und ist bei Shakespeare 28 Jahre alt. Cinzio sagt
über Jago folgendes: „Ein Fähnrich von schönster Erscheinung, aber von ruchlosester
Natur, die es je unter den Menschen der Welt gab.“24 Er muss schön sein und jovial,
offen und fast gutmütig wirken. Er wird von allen für ehrlich gehalten, außer von seiner
Frau, die ihn schon sehr gut kennt. Wäre er nicht eine Erscheinung von Charme,
Liebenswürdigkeit und scheinbarer Ehrlichkeit, könnte der grausame Betrug nie dieses
Gewicht haben. Er besitzt die Fähigkeit, seinen Gesichtsausdruck sofort zu ändern, je
nachdem, mit wem er im Gespräch ist. Das nutzt er, um Personen besser zu täuschen
und zu seiner Gunst zu lenken. So ist er unbefangen und jovial mit Cassio, bei Rodrigo
ist er ironisch und bei Otello erscheint er gutmütig, unterwürfig und sehr rücksichtsvoll.
Emilia zeigt er sein wahres Gesicht und ist ihr gegenüber brutal und drohend.
Gegenüber Desdemona und Lodovico verhält er sich sehr ehrenhaft.
24
Busch, Hans: Verdi Boito Briefwechsel, ebenda S. 208: Vorwort von Arrigo Boito zum Regiebuch für
„Othello“ von Giulio Riccordi.
36
Jago kann man eher als einen bösen Charakter als das personifizierte Böse beschreiben.
In ihm sieht man das Mephistophelische im Menschen. So ähnlich haben es Verdi und
Boito auch gesehen, weil sie in Jago den düsteren Teil des Menschen gesehen haben.
Aufgrund dessen kann man Jago als Abgrund einer Menschenseele bezeichnen: ein
Abgrund, den kein Mensch in sich selbst finden möchte.
Jago ist eine Mischung aus intellektuellem Zyniker und notorischem Bösewicht. Vor
allem wird deutlich, dass Verdi Jagos zersetzende Aktivität ganz ausschließlich in
seinem Charakter begründet sah. Jago ist ein Mann, dem Glück, Harmonie schlechthin,
zuwider sind, eine moderne Figur demnach, in der sich Chaos gebildet hat, durch das
zusammenfließen
von
organisch
bedingtem
Neid,
innerer
Kälte
und
Menschenverachtung par excellence. Jago kann sich sehr gut ausdrücken und damit
erzielt er den Anschein, verlässlich und loyal zu sein und zeigt sich als „gemischter
Charakter“.25
Diese Interpretation ist unvereinbar mit einer kosmischen Überhöhung Jagos, die ihn
zur symbolischen Inkarnation eines metaphysischen Prinzips stilisieren würde, während
Boito und Verdi gerade die Abgründe der menschlichen Seele darstellen wollten und zu
diesem Zweck die Transzendenz der Romantik hinter sich ließen, die von Jago
ausdrücklich verneint wird.26 Er schließt sein grausames Credo mit den Worten: „E poi?
La morte è nulla. È vecchia fola il ciel!“ (Und dann? Der Tod ist Nichts und der Himmel
ein altes Märchen.)
Der französische Bariton Victor Maurel (1848 - 1923) sang in der Uraufführung der
Oper die Rolle Jago. Maurel war der führende dramatische Bariton seiner Zeit und für
seine exzellente schauspielerische Künste bekannt, weswegen es Verdi die Entscheidung
der Besetzung auch nicht schwerfiel.
Allerdings war Mauriel auch sehr von sich eingenommen und neigte zur
Selbstüberschätzung: So versuchte er Verdi dazu überreden, die Partie des Jago
ausschließlich für ihn allein, zum exklusivem Gebrauch, zu schreiben und verbreitete
diesen Wunsch in der Öffentlichkeit als Tatsache. Als Verdi davon erfuhr, schickte er
25
Holland, Dietmar: Der späte Verdi, in Verdi-Theater/ hersg. von Udo Bermbach, J. B. Metzler Verlag,
Stuttgart/Weimar 1997, S. 81.
26
Drenger, Tino, Liebe und Tod in Verdis Musikdramen, Semiotische Studien zu ausgewählten Opern,
Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 45, Eisenach, 1996, S. 321.
37
Maurel dazu folgenden Kommentar: „Ich glaube nicht, Ihnen versprochen zu haben, die
Partie des Jago für Sie zu schreiben. Es ist nicht meine Gewohnheit, etwas zu
versprechen, was ich nicht mit Sicherheit halten kann. Aber ich könnte Ihnen gesagt
haben, dass die Partie des Jago eine von denen sein würde, die vielleicht niemand besser
darstellen könnte als Sie. Wenn ich das gesagt habe; wäre es nur ein Wunsch, der sich
sehr schön verwirklichen ließe, wenn sich nicht unvorhergesehene Hemmnisse ergeben
sollten. Sprechen wir jetzt also nicht vom Otello“ (Brief vom 30.12.1885)27
27
Csampai Attila, Texte, Materialien, Kommentare, Othello, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1981, S.
183f.
38
10 Vierter Akt
Desdemona
und
die
Szene
der
Dieser Akt ist ein Meisterwerk Boitos und Verdis, besonders dem Dichter gilt hier das
Lob, da er alles, was für die Atmosphäre störend sein könnte, entfernte. Darin wird auch
der Unterschied zwischen Shakespeare und der modernen Technik sichtbar. Um vom
Schicksal Desdemonas vorläufig abzulenken schreibt Shakespeare eine umfassende
Szene mit der Ermordung Rodrigos und Verwundung Cassios. Erst zu Beginn der
zweiten Szene des Fünften Aktes rückt der Dichter in das Schlafgemach Desdemonas.
Boito streicht alles „überflüssige und störende“ und erzielt damit die notwendige
Tragik, die Verdi musikalisch genial umsetzte. Der letzte Akt des Otello beginnt mit
einem herzzerreißend traurigem Vorspiel. Verdi malte mit den Farben, die das Orchester
zu bieten hat, die wehmütigsten Klänge, die mehr als ergreifend auf den Zuhörer
wirken. Der letzte Akt ist ein gutes Beispiel an Abgeschlossenheit und Einheit, Musik
und Text könnten einander nicht besser ergänzen.
Das Englischhorn nimmt leise und allein die Melodie voraus, die Desdemona bald in
Todesahnung vor sich hin singen wird: Das Lied vom Weidenbaum. Zwei tiefe Flöten
vollenden die Weise, es klingt wie ein Seufzer aus todestraurigem Herzen. Lang
gehaltene Töne in den tiefen Klarinetten lassen die Szene unheimlich wirken.
Stille und tiefe Nacht umfängt das Schlafgemach Desdemonas. Emilia ist bei ihr, löst ihr
das Haar und richtet sie für die Nacht her. Desdemona bittet um ihr Hochzeitskleid und
eine mögliche Interpretation ist, dass sie selbst ahnte, sterben zu müssen und sich still
darauf vorbereiten möchte. Sie möchte in ihrem Hochzeitskleid sterben.
Das Lied von der Weide wird nur durch kleine Befehle an Emilia unterbrochen sowie
durch den unheimlichen Wind, der die Tür zufallen lässt. Genauso ist es mit
Desdemonas Aussage, dass ihre Augen aufgrund ihrer Tränen brennen. Zu Recht strich
Boito das Gespräch zwischen Emilia und Desdemona, in welchem sie die Treue der
Frauen bereden. Stattdessen lässt er ein Desdemona aufschreien, als sie Emilia noch ein
letztes Mal in ihrer Vorahnung des Todes umarmt und sich von ihr verabschiedet. Diese
tragische Geste gab es bei Shakespeare nicht.
Emilias erste Worte sind fast klanglos gesprochen. Desdemona antwortet in gleicher
39
Weise und dennoch lässt Verdi Desdemona nicht ohne eine melodische Linie. Die
Anforderung an Emilia sind weich und liebevoll.
Desdemona erinnert sich an die Magd ihrer Mutter, Barbara. Sie erzählt Emilia die
traurige Geschichte über das Mädchen und singt ihr das Lied über die Trauerweide vor.
Desdemonas Sprache geht fast immer unbemerkt in eine schöne Melodie über. Der
Refrain „salce, salce, salce“ klingt mit jeder Wiederholung tragischer und
schicksalhafter.
Kurt Pahlen fragt sich in Bezug auf das Weidenlied folgendes: „so ein trauriges, so ein
wehmütig fremdes Lied vom Weidenbaum. Ist es ein Einfall Verdis? Hat er es einmal
irgendwo ähnlich vernommen? Seine Tonfolge lässt und an den Orient denken:
eigenartige Intervalle, ein fremdes Melos, eine ungewohnte Rhythmisierung, eine
Taktveränderung gegen den Schluss, ein sehr freier Vortrag. Woher immer die Weise
stammen mag: Sie wühlt den Hörer zutiefst auf, denn Einsamkeit und unstillbarer
Schmerz singen aus ihr.“28
Desdemona schwankt zwischen der Hoffnung, sich mit Otello wieder zu versöhnen und
tiefster Verzweiflung, weil sie in ihrem Innersten die Todesangst spürt, was zu einem
der erschütterndsten Augenblicken in der Opernliteratur zählt.
Das Englichhorn wird in der ganzen Oper nur viermal verwendet. Im Liebesduett Gia
nella notte densa, im Lied von der Weide und (es geht kaum rührender) in dem
Augenblick, in dem Otello die schlafende Desdemona betrachtet, bevor er sie tötet und
nach dem er sich selbst erstochen hat. Es dominiert aber auf jeden Fall im Vorspiel des
vierten Aktes und im Lied der Weide.
10.1 Die Weide als Symbol, Canzone del Salice ed Ave Maria
Die Weide, ein Baum oder Strauch, galt in der Antike als Symbol der Unfruchtbarkeit
und mit Bezug darauf, auch noch im Mittelalter. Manchmal taucht sie auch als Symbol
der Keuschheit auf. Da man ihr unerschöpflich stets neue Zweige abschneiden kann,
wurde sie mit
der Bibel als nie versiegende Weisheitsquelle verglichen. Die
Trauerweide ist wegen ihren zum Wasser geneigten Zweigen mit Tränenströmen zu
28
K. Pahlen, Othello, Wilhelm Goldmann Verlag, 1980, S. 158.
40
vergleichen, weswegen sie oft als ein Symbol der Totenklage Verwendung findet.29
Um die Weide ranken sich unzählige Sagen, Legenden und mystische Erzählungen.
Gerade die Trauerweide (Salix x chrysocoma) kommt immer wieder ins Blickfeld.
Weiden galten als „Hexenbäume“, aber auch als Symbol der unbändigen, sich immer
wieder selbsterneuernden Lebenskraft. Die Zauberbesen der Hexen sollen aus
Weidenruten gefertigt worden sein, so hieß es wenigstens in der Zeit der großen
Hexenverfolgungen. Hexen verschwanden als schöne Mädchen in den Weiden und
kamen in fauchende Katzen verwandelt wieder hervor. In der gleichen Zeit, in der die
Hexenverfolgung und das Foltern von Frauen und Ketzern von der Kirche abgesegnet
war, fand die Weide auch als Symbol der Jungfräulichkeit Einzug in der Kirche. Der
volkstümliche Gedanke, dass das Essen von Weidensamen unfruchtbar mache, wurde an
die Jungfräulichkeit Marias angelehnt und so legitimiert. Der griechischen Göttin des
Wachstums der Erde, Demeter, galt die Weide als geweihter Baum, der hin und wieder
auch von Persephone, der Todesgöttin, besucht wurde. Die keltischen Druiden feierten
das Fest der Wiedergeburt der Natur zur Zeit der Weidenblüte. Sie steckten
Weidenzweige in die Erde, um die Fruchtbarkeit der Felder zu erhalten und zu stärken.
So ist die Weide zu einem vielseitigen Symbol geworden. Sie ist Baum der Trauer,
Trennung und des Todes. Sie ist aber auch Baum der Fruchtbarkeit, der Wiedergeburt
und der Erneuerung. Vielen Dichtern bot die Weide eine Fülle von Symbolen, die in
Gedichten, Gesängen und Erzählungen ihren Niederschlag fanden. Als Baum der
Gerechtigkeit und des Ausgleichs finden die Weiden im Märchen von Christian
Andersen Alles am rechten Platz, ihren Niederschlag. Als Heilmittel war die Weide
schon im Altertum bekannt. Fast alle Kräuterkundige der vergangenen Jahrhunderte
schrieben der Weide vielseitige Wirkungen zu, so etwa Hyppokrates, Doscurides,
Plinius, die hlg. Hildegard von Bingen, Matthiole und Paracelsus. Sie alle kennen die
zusammenziehende, wundheilende Wirkung der Weide. Matthiole beschreibt die
Weidenblätter im 16. Jahrhundert als Schlaf förderndes Mittel. Vor ihm beschrieb die
hlg. Hildegard von Bingen die Weide als Ausdruck der Laster.
Ihr innerlicher Gebrauch würde die Melancholie erregen und den Menschen „innerlich
bitter machen“, ihm Gesundheit und Fröhlichkeit nehmen. Im 17. Jahrhundert wurde
dann die Rinde auch als fiebersenkendes Mittel herangezogen. Im Jahr 1898 gelang es,
29
http://www.zh.ref.ch/a-z/zwingli/lexikon-t/trauerweide, 13. 10. 2014.
41
aus der Weidenrinde Salicylsäure zu gewinnen und entsprechend synthetisch
herzustellen. Damit begann eine neue Form der Schmerzbekämpfung, vor allem
rheumatischer Schmerzen. Die Anwendung der Weidenrinde als schmerzlinderndes
Mittel war aber schon viel früher bekannt. Die schmerzstillende Eigenschaft wurde
durch die Entdeckung der Salicylsäure lediglich bestätigt.30
Im Folgenden ist der Text des Liedes von der Weide, auf Italienisch und Deutsch,
angeführt:
Das Lied von der Weide
Canzone del Salice ed Ave Maria
(La
camera
di
Desdemona.
Letto,
inginocchiatoio, tavolo, specchio, sedie. (Schlafgemach der Desdemona. Bett,
Una
lampada
arde
appesa
davanti Betstuhl, Tisch, Spiegel und Sessel. Vor
all´immagine della Madonna che sta al di dem Madonnabild über dem Betstuhle
sopra dell´inginocchiatoio. Porta a destra. brennt eine Ampel. Rechts eine Tür. Es ist
È notte. Un lume acceso sul tavolo.)
Nacht. Auf dem Tische eine Kerze.)
Emilia: Era più calmo?
Desdemona: Mi parea. M´ingunse di Emila: War er schon ruhiger?
coricarmi e d´attenderlo. Emia, te ne
prego, distendi sul mio letto la mia
candida veste nuziale. (Emilia eseguisce).
Desdemona: Ja, es schien. so. Er sagte, ich
sollt zu Bett gehen, warten bis er kommt.
Emilia, eine Bitte: Nimm dieses weiße
Senti. Se pria di te morir dovessi, mi Kleid und leg es dort auf das Bett; es ist
seppellisci con un di quei veli.
mein Brautkleid. ( Emilia tut es).
Emilia: Scacciate queste idee.
Höre, wenn ich noch vor dir sterben sollte,
möcht´ich begraben sein mit solch einem
Desdemona (sedendo macchianalmente
Schleier.
davanti allo specchio):
Emilia: Wie könnt Ihr sowas denken!
Son mesta tanto.
Desdemona (indem sie sich mechanisch
Mia madre avveva una povera ancella
30
http://www.asmedis.eu/Baumheilk/weide.html, 13.10. 2014.
42
innamorata e bella; era il suo nome vor den Spiegel setzt):
Barbara,
amava
un
uom
che
poi
l´abbandonò, cantava una canzone: „la
canzon del Salice“.
Ich bin so traurig.
Meine Mutter hatte eine arme Magd, die
war verliebt und schön. Sie trug den
(ad Emilia)
Namen Barbara, und als ihr Schatz sie
Mi disciogli le chiome: io questa sera ho la treulos dann verließ, hat sie ein Lied
memoria
piena
di
„Piangea
cantando
quella
cantilena: gesungen: „Das Lied vom Weidenbaum.“
nell`erma
landa,
piangea la mesta. O Salce! Salce! Salce!
(zu Emilia)
Sedea chinando sul sen la testa! O Salce! Löse mir die Haare. Und heute avend höre
Salce! Salce! Cantiamo! Il salce funebre ich immer wieder den Klang des alten
sarà la mia ghirlanda.“
Affrettati; fra poco giunge Otello. -
Liedes: „Es sang ein Mägdlein auf öder
Heide, verging in Tränen. O Weide! Oft
saß sie schweigend, das Haupt tief
„Scorreano i rivi fra le zole in fior, gemea neigend! Weide! Weide! Weide! Muss
quel core affranto. E dalle ciglia le singen, muss singen! Es soll die grüne
sgorgava i cor l`amara onda del pianto. O Trauerweide bald mein Brautkranz sein.“
Salce! Salce! Salce! Cantiamo! Il salce
funebre sarà la mia ghirlanda. Schendean gli augelli a vol dai rami cupi
verso quel dolce canto, e gli occi suoi
piangevan tanto, tanto, da impietosir le
rupi.“ (ad Emilia, levandosi und annelo dal
dito)
Riponi quest´anello. (alzandosi)
Beele dich, es kommt ja gleich Othello. „Es rann der Bach durch Blumen und
Gestein, das arme Herz lernt meiden, und
aus den Augen floss ins Herz hinein die
bittre Weise vom Scheiden. Weide! Weide!
Weide! Muss singen, muss singen! Es soll
die grüne Trauerweide bald mein
Brautkranz sein.-
Povera Barbara! Solea la storia con questo Viel Vöglein flogen nieder von den
sempilce suono finir:
„Egli era nato oer las sua gloria, io per
amar ...“
Zweigen, lauschten dem süßen Sange. Und
ihre Tränen flossen, unaufhaltsam, die
Steine zu erweichen.“(zu Emilia, indem
43
(interrompendo)
sie den Ring vom Finger streift)
Ascolta. Odo un lamento. Taci. Chi batte a Bewahr mir diesen Ring auf. (sich
quella porta?
erhebend)
Emilia: È il vento.
Ach, arme Barbara! Und immer schloß ihr
Desdemona: „Io per amarlo e per morir.
Cantiamo! Salce! Salce! Salce!“
Emilia, addio. Come m´ardon le ciglia! È
trauriges Lied mit dem einfachen Wort:
„Er war geboren für seinen Ruhm, ich, um
zu lie...“
presagio di pianto. Buona notte. (Emilia si (abbrechend)
volge per partitre)
Was ist das? Ich höre jammern. Stille. Wer
Ah, Emilia, Emilia, addio, Emilia, Addio! klopft dort an die Türe?
(Emilia ritorna e Desdemona l´abbracia.
Emilia esce.)
Desdemona ( va all´inginocchiatoio):
Emilia: Der Wind nur.
Desdemona: „Ich, um zu lieben und zu
sterben. Muss singen, muss singen!
Ave Maria, piena di grazia, eletta Frau le Weide! Weide! Weide!“
spose e le vergini sei tu; sia benedetto il
frutto, o benedetta,
di
tue materne
vischere, Gesù.
Prega per chi adorando a te si prostra,
prega pel peccator e per l´innocente e pel
debole opresso e pel possente, misero
anch´esso, tua pietà dimostra.
Prega per chi sotto l´oltraggio piega la
fronte e sotto la malvagia sorte;
per noi tu prega sempre e nell´ora della
morte nostra. (Resta ancora inginocchiata
ed appoggia la fronte all´inginocchiatoio
Leb wohl, Emilia! Wie die Augen mir
brennen! Das bedeutet wohl Tränen. Gute
Nacht. ( Emilia will gehen.)
Ach! Emilia! Emilia, Emilia, lebe wohl!
(Emilia kehrt um, Desdemona umarmt sie.
Emilia geht.)
Desdemona ( im Betstuhl):
Sei mir gegrüßt, Jungfrau Maria, du bist
voller Gnaden, der Herr ist mit dir. Du bist
gebenedeit, und gebenedeit ist die Frucht
deines Leibes: Jesus!
come chi ripete mentalmente un´orazione. Bitte für den, der gläubig vor die
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Non s´odono che le prime e le ultime niederkniet, bitte für den, der rein, wie
parole della preghiera.)
Ave Maria …
… nell´ora della morte.
Amen.
auch für den Sünder. Allen Schwachen und
Bedrückten, auch den Mächtigen, allen,
die elend, schenke dein Erbarmen.
Bitte auch für den, der von Schmach und
Schande gebeugt ist und von seinem bösen
Schicksal.
(S´alza e va a coricarsi).
Für uns bitte, bitte immer so wie heute,
auch in der Todesstunde. Bitte für uns!
(Kniet noch eine Weile und legt die Stirn
auf das Pult, als ob sie im stillen das Gebet
wiederhole. Nur die ersten und letzten
Worte sind zu hören.)
Sei mir gegrüßt …
… auch in der Todesstunde.
Sei mir gegrüßt! Amen!
(Erhebt sich und geht zu Bett).
10.2 Ave Maria: das Gebet der Desdemona
Desdemona kniet zum Betstuhl und mit unfassbarer Inbrunst spricht sie ihr Nachtgebet
zur Jungfrau Maria. Das Gebet rezitiert sie auf einem einzigen Ton, danach fährt sie mit
dem Gebet auf andere Weise fort. Sie spürt, dass es ihr letztes Ave Maria sein wird und
betet noch gläubiger als je zuvor.
Ihr Gebet ist Antipod dem Credo, das Jago von sich gegeben hat. Jago stellte alle
Tugenden in Frage, an welche Desdemona mit jedem Atemzug glaubt. Ihr Glaube ist
felsenfest und unerschütterlich. Sie bittet die Jungfrau Maria um Vergebung für alles
Schlechte auf dieser Welt. Das Gebet wiederholt sie innerlich, man bekommt das
Gefühl, dass sie sich selbst Stärke durch das Gebet holen möchte. Sie spürt, dass das
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Ende nah ist und zugleich kann sie es nicht fassen, dass Otello zu so einer grausamen
Tat fähig wäre.
Boito ersetzte das Gespräch zwischen Desdemona und Emilia, in dem es um frivole
Bemerkungen und eheliche Untreue geht, mit dem dramaturgischen Gegenstück zu
Jagos blasphemischem Credo. Er schrieb der Figur Desdemona eine Preghiera, die ihre
Unschuld und Reinheit vor ihrer Ermordung noch einmal verdeutlicht. An dieser Stelle
könnte man Desdemona Passivität vorwerfen, und es kommt ihre Unterwürfigkeit und
vollkommene Ergebenheit gegenüber ihrem Ehemann und ihrem Schicksal zutage. Die
Hoffnung begräbt sie, noch bevor sie um ihre letzten Atemzüge ringen muss.
Shakespeare widmet sich keiner Preghiera auf solch eine tiefgründige Weise, wie es
Verdi und Boito taten. Zwar lässt er die Figur sich an Gott wenden, jedoch kein Gebet
sprechen.
Nachdem Othello Desdemona ermordet, platzt Emilia in das Gemach und berichtet,
dass Cassio Rodrigo ermordet hat. Desdemona wiederholt in ihren letzten Atemzügen,
dass sie unschuldig stirbt. Emilia hört das Seufzen und enthüllt bestürzt die Geschichte,
dass Jago ihr mit Gewalt das Taschentuch entriss, das Desdemona unabsichtlich
verloren hat. Zur tragischen Szene gesellen sich auch Cassio, Lodovico und Montano.
Otello erkennt die grausame Wahrheit und richtet sich selbst. Während er stirbt, küsst er
Desdemona, dann folgt er ihr in den Tod.
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11 Zusammenfassung
Die vorliegende künstlerische Masterarbeit beschäftigte sich mit Giuseppe Verdis Oper
Otello, wobei der Schwerpunkt auf den historischen Hintergründen, der Figur der Desdemona sowie dem Lied von der Trauerweide lag.
Dabei wurde zunächst auf die Ursprünge und den geschichtlichen Hintergrundes des
Stoffes Otello eingegangen: Dabei konnte festgestellt werden, dass es zwei historischen
Personen gab, die für den Schriftsteller Cinzio als Vorlage gedient haben könnten: Cristofalo Morro und Francesco da Sessa. Beide waren im Dienst für Venedig und im
Kampf gegen die Osmanen tätig.
Im darauffolgenden Kapitel wurde genauer auf die Ausführung bei Shakespeare eingegangen: Shakespeares Othello wurde wahrscheinlich um 1603/1604 für die King’s Men
verfasst, und im November 1604 am Hof Jakob I. uraufgeführt. Der Text, der zu den
erfolgreichsten und präsentesten Stücken zählt, liegt in zwei Fassungen vor: eine vom
Jahr 1622 und in einer Folioausgabe des Jahres 1623. Dabei weichen die beiden voneinander ab, wobei jedoch nicht geklärt werden kann, ob der Grund dafür eine Bearbeitung des Autors selbst oder fehlerhaftes Abschreiben ist.
Des Weiteren wurde versucht, die Frage zu beantworten, inwieweit das Drama auch
heute noch aktuell ist. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Motiv der Eifersucht
auch in unserer heutigen Zeit für die Menschen noch immer präsent ist, und das Drama
deswegen nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Danach wurde ein Vergleich von Cinzios Bearbeitung des Stoffes zu der Version von
Shakespeare gezogen: Hier konnte festgehalten werden, dass es einige Abweichungen
zwischen den beiden Texten gibt, etwa dass bei Cinzio das Meer bei der Überfahrt ruhig
ist, während es bei Shakespeare stürmisch erscheint. Letzteres kann als Metapher für die
„stürmische“ Ehe zwischen Otello und Desdemona gedeutet werden. Insgesamt lässt
sich der Schluss ziehen, dass Shakespeare den Stoff dramatisierte und spannender gestaltete als Cinzio.
Im Folgenden wurde auf Verdis Beziehung zu Shakespeare und seine „ShakespeareOpern“ eingegangen: Dabei konnte festgehalten werden, dass Verdi ein großer ShakesShakespeare Verehrer war. Das führte des Öfteren dazu, dass er sich selbst gegenüber
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sehr selbstkritisch war. Er schrieb neben Otello auch die Shakespeare-Opern Macbeth
und Falsaff. Um eine versuchte Bearbeitung von König Lear gibt es die legendenhafte
Geschichte, dass er diese ins Feuer geworfen haben soll, da er so unzufrieden mit dem
Ergebnis gewesen sei.
Obwohl Verdi ein großer Shakespeare-Verehrer war, musste er erst zum Schreiben einer
erneuten Oper überredet werden. Eigentlich hatte er sich schon auf sein Landgut zurückgezogen, und wollte dort als „einfacher Bauer“, wie er sich auch selbst bezeichnete,
leben. Deswegen fassten seine Freunde den Plan, ihn bei einem Abendessen dazu zu
überreden. Dieser wird auch als „Schokoladenplan“ bezeichnet.
Einen maßgeblichen Anteil daran, dass Verdi sich dazu überreden ließ, die Oper zu
komponieren, hatte der Dichter und Librettist Arrigo Boito. Ein Problem Verdis war
nämlich gewesen, dass er keinen geeigneten Librettisten für die Umsetzung gefunden
hatte. Diesen fand er, nachdem seine Freunde ihm diesen vorschlugen, in Arrigo Boito.
Boito, der im darauffolgenden Kapitel kurz charakterisiert wurde, wurde oftmalig als
„idealistischer Feuerkopf“ charakterisiert. Er führte 1868 seine Oper Mefistofele auf,
und hatte sich zuvor jahrelang mit diesem Stoff beschäftigt. Ein erstes Treffen zwischen
ihm und Verdi fand 1872 statt.
Auch auf das Verhältnis zwischen Verdi und Wagner, dem zweiten großen Komponisten
in der Oper der damaligen Zeit, wird kurz eingegangen. Dabei konnte festgestellt werden, dass die beiden sich gegenseitig zwar schätzten, aber nicht im Austausch miteinander standen. Ihre Wege waren auch unterschiedlich: während Wagner die Oper revolutionieren wollte, wollte Verdi eine revolutionierte Tradition derselben. Dennoch beeinflusste Wagner Verdi etwa im Bereich der Leitmotivik.
Im Folgenden wird ein kurzer Einblick in die Zusammenarbeit zwischen Verdi und Boito gegeben: Hierbei ist anzumerken, dass sich die beiden gegenseitig gut ergänzten und
auf die Vorschläge des anderen eingingen, wie Ausschnitte aus ihrem Briefwechsel belegen.
Dem Schwerpunkt der Arbeit, der Oper Otello sowie dem vierten Akt sind die letzten
zwei Kapitel der Arbeit gewickelt. Dabei werden die drei Figuren Otello, Jago sowie
Desdemona ausführlicher behandelt. Zu Otello ist anzumerken, dass es für die Interpreten desselben sehr schwierig ist, die Wandlung die Otello vom angesehenen Mann mit
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Idealen zu einem von Eifersucht Besessenen nimmt in so kurzer Zeit darzustellen. Danach wird auf Desdemona und vor allem die Schwierigkeiten bei der Besetzung ihrer
Figur eingegangen: die erste Interpretin war Romilda Pantaleoni, die aber weder Verdi
noch das Publikum mit ihrer Darstellung überzeugen konnte.
In der Figur Jago sieht man deutlich, dass der Schein trügen kann: Jago schafft es, Otello zu täuschen, auch deswegen, weil dieser nicht über das notwendige Selbstbewusstsein verfügt, und die schön gesprochenen Worte Jagos ernst nimmt.
Abschließend wird auf den vierten Akt und die Szene der Desdemona eingegangen.
Dazu ist anzufügen, dass Boito diese Szene im Vergleich zu Shakespeare verändert. So
streicht er das Gespräch von Emilia mit Desdemona über eheliche Untreue und ersetzt
es durch eine letzte Umarmung und einen Aufschrei Desdemonas, was besser zu der
dramatischen Atmosphäre passt. Auch das Gebet ist bei Shakespeare nicht so sehr im
Zentrum wie bei Boito: Shakespeare lässt Desdemona dieses nur im Stillen, und nicht
laut sprechen. Vor allem das Lied vom Weidebaum setzt die melancholische Stimmung
der Szene um, was sich schon durch den Baum „Weide“ selbst ausdrückt, der als Symbol für Melancholie galt.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Verdis Otello für die Opernwelt der damaligen Zeit durch die Entwicklung eines Musikdramas für die italienische Oper von großer Bedeutung war, und dass die Oper aufgrund der Aktualität des Stoffes auch für das
heutige Publikum noch immer bedeutend ist.
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12 Literaturverzeichnis
12.1 Primärliteratur:
Shakespeare, William: Othello, Phillip Reclam Jun., Stuttgart 2010
Shakespeare, William: Othello, Založba Mladinska knjiga, Ljubljana 1996
Verdi, Giuseppe: Otello, Klavierazszug, Ricordi, Mailand 2006
12.2 Sekundärliteratur
Roselli, John: Verdi, Genie der Oper, eine Biographie, C. H. Beck Verlag oHG,
München 2013
Budden, Julian: The operas of Verdi, Vulume I, Clarendon Press, Oxford 1992
Lüddersen, Caroline: Giuseppe Verdis Shakespeare-Opern: Musik als verborgener
Text, Romanistischer Verlag Jakob Hillen, Bonn 2001
Csampai, Attila: Texte, Materialien, Kommentare, Rowohlt Taschenbuch Verlag
GmbH, Reinbeck bei Hamburg 1981
Bermbach, Udo: Verdi-Theater, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 1997
Hepokoski, A. James: Giuseppe Verdi, Otello, Cambridge University Press 1987
Casini, Claudio: Verdi, Athenäum Verlag GmbH, Königstein 1985
Büthe, Ottfried und Lück-Bochat, Almut: Giuseppe Verdi, Briefe zu seinem Schaffen,
G. Ricordi & Co., Frankfurt am Main 1963
Pahlen, Kurt: Othello, Wilchelm Goldmann Verlag, München 1980
50
Werfel, Franz: Verdi, Roman der Oper, Buch und Welt Verlag, Klagenfurt, Copyright
Paul Zsolnay Verlag Wien 1924
12.3 Internetquellen
Trauerweide: http://www.zh.ref.ch/a-z/zwingli/lexikon-t/trauerweide, 15.01. 2014
Wagner
und
Verdi:
http://www.deutschlandfunk.de/wagner-oder-verdi-1-
2.1184.de.html?dram:article_id=232491, 29.07.2014
Weide: http://www.asmedis.eu/Baumheilk/weide.html, 13.10.2014.
Zypern: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Zyperns_seit_der_Kolonialzeit, 16.
01.2014
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13 Bilderverzeichnis
Bild 1: Othello und Desdemona, Adolphe Weisz, nach 1900, verfügbar unter:
https://conchigliadivenere.wordpress.com/tag/Othello/, 11.09.2014
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Erklärung
Hiermit bestätige ich, dass mir der Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG
bekannt ist und ich diese Richtlinien eingehalten habe.
Graz, den ……………………………………….
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Unterschrift der Verfasserin/des Verfassers
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