Dissertation Michael Markus Hann - Philosophisch

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Dissertation Michael Markus Hann - Philosophisch
Philosophisch-Theologische Hochschule
SVD St. Augustin
Doktorarbeit
Thema:
Ausstieg aus der Sekte – Schritt in ein neues
Leben? Das Problem des Sektenausstiegs am
Beispiel der Zeugen Jehovas und der Psychosekte
Scientology. Eine Herausforderung für Kirche und
Gemeinden
Autor: Michael Markus Hann
Moderator: Prof. Dr. Joachim Piepke SVD
St. Augustin im April 2005
I
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG .......................................................................................................1
KAPITEL 1: DIE GESELLSCHAFTLICHE SITUATION UND DAS
SEKTENPHÄNOMEN..........................................................................................4
1 GESELLSCHAFTSANALYTISCH RELEVANTE GESICHTSPUNKTE AUS DEM BEREICH
DER SOZIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE ......................................................................4
1.1 SOZIOLOGISCHER BEREICH ..............................................................................4
1.1.1 Der Prozeß der Individualisierung ...............................................................4
1.1.2 Religion, Kirche und Soziologie...................................................................5
1.1.3 Sozialstruktur und Partizipation an der kirchlich institutionalisierten Form
von Religion .........................................................................................................6
1.1.4 Die Entstehung von Sinnsystemen und der „Heilige Kosmos“ .....................8
1.2 PSYCHOLOGISCHER BEREICH .........................................................................10
1.2.1 Persönlichkeitsstrukturen in einer Gesellschaft der unbegrenzten
Möglichkeiten .....................................................................................................10
1.2.1.1 Umgang mit der Erfahrung von Entgrenzungen......................................12
1.2.1.2 Zwang zu ständiger Selbstreflexion........................................................13
1.2.1.3 Zwang zur Selbstdefinition .....................................................................13
1.2.2 Die Bedeutung des Schamgefühls ............................................................14
2 SEKTENDEFINITION ...........................................................................................16
2.1 ETYMOLOGIE DES BEGRIFFS „SEKTE“..............................................................16
2.2 VERWENDUNG DES BEGRIFFS „SEKTE“ UND ANDERE BEZEICHNUNGEN .............16
2.3 SPEZIELLE BESCHREIBUNGEN DES SEKTENPHÄNOMENS ..................................17
2.4 DAS SEKTENPHÄNOMEN IN KIRCHENGESCHICHTE UND THEOLOGIE ...................19
3 ZWEI SEKTEN ALS BEISPIEL ..............................................................................21
3.1 DIE ZEUGEN JEHOVAS ...................................................................................21
3.1.1 Das religiöse Umfeld in den USA am Ende des 19. Jahrhunderts .............21
3.1.2 Der Gründer der Zeugen Jehovas Charles Taze Russell (1852 - 1916) ....23
3.1.3 Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin Rutherford ......................27
3.1.4 Die Entwicklung der Zeugen Jehovas in Deutschland ...............................30
3.1.4.1 Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich ....................................................30
3.1.4.2 Von 1945 bis heute ................................................................................33
3.1.5 Der Begriff der sogenannten „Theokratischen Organisation“ .....................35
3.1.6 Die Zentrale in Brooklyn (USA) und die Stellung der Ortsversammlungen 37
3.1.7 Das Lehrsystem ........................................................................................39
3.1.7.1 Das Bibelverständnis und seine Folgen .................................................39
3.1.7.2 Gottesverständnis ..................................................................................43
3.1.8 Die Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber dem Staat und den Kirchen 45
3.1.9 Ergebnisse psychologischer Untersuchungen im Zusammenhang mit der
Sozialstruktur der Zeugen Jehovas ....................................................................47
3.1.9.1 Isolations- und Kontrollmechanismen .....................................................47
3.1.9.2 Das Führerprinzip bei den Zeugen Jehovas ...........................................49
3.1.9.3 Auswirkungen der Sektenstruktur im gesellschaftlich-familiären Bereich 50
3.1.9.4 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte ............................53
3. 2 SCIENTOLOGY ..............................................................................................55
3.2.1 Biographie des Gründers Lafayette Ronald Hubbard (13. 3. 1911 – 24. 1.
1986) .................................................................................................................55
3.2.2 Die Entstehungsgeschichte der Scientology..............................................60
II
3.2.2.1 Die Bedeutung der Science-Fiction-Literatur ..........................................60
3.2.2.2 Der Einfluß von Science-Fiction auf Lafayette Ronald Hubbard .............61
3.2.2.3 Etappen auf dem Weg zu einer festgefügten Organisation.....................62
3.2.2.3.1 „Dianetic“ und „Scientology“ .................................... 62
3.2.2.3.2 Die Anfänge ............................................................ 62
3.2.2.3.3 Weitere Ausbreitung der Organisation .................... 65
3.3. MACHTVERLUST DES GRÜNDERS UND RÜCKZUG AUS DER ÖFFENTLICHKEIT .....71
3.4 ORGANISATIONSSTRUKTUR ............................................................................74
3.4.1 Scientology als Kirche und Religion ..........................................................74
3.4.2 Scientology als hierarchisch strukturiertes globales Netzwerk...................75
3.4.3 Darstellung einiger zentraler Organisationen.............................................76
3.4.3.1 Das „Religious Technology Center“ (RTC) .............................................77
3.4.3.2 Das „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE) ........................77
3.4.3.3 Die Association for Better Living and Education (ABLE).........................79
3.4.3.3.1 Die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen
Menschenrechte“ (KVPM) ...................................................... 80
3.4.3.3.2 Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“
(ZIEL) ..................................................................................... 81
3.4.3.3.3 Das Office for Special Affairs (OSA)........................ 86
3.5 DAS LEHRSYSTEM VON SCIENTOLOGY ............................................................89
3.5.1 Das Menschenbild Hubbards ....................................................................90
3.5.1.1 Der dreigeteilte Mensch .........................................................................90
3.5.1.1.1 Der „Thetan“............................................................ 90
3.5.1.1.2 Der „Mind“ (Sinn oder Verstand) ............................. 92
3.5.1.1.3 Der „reaktive Verstand“ ........................................... 93
3.5.1.2 Die „Dianetic-Auditingtechnik“ ................................................................95
3.5.2 Scientology und die Stufen des „Operating Thetan“ (OT) ..........................97
3.5.3 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte über die ScientologyOrganisation .................................................................................................... 100
KAPITEL 2: DER SEKTENAUSSTIEG ........................................................... 102
1 DER AUSSTIEG ALS PROBLEM ODER: WARUM IST ES SO SCHWER, DIE SEKTE ZU
VERLASSEN?..................................................................................................... 103
1.1 SOZIALISATION DURCH INDOKTRINATION ....................................................... 103
1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann als Beispiel für die Zeugen Jehovas ............. 103
1.1.2 Jutta Elsässer als Beispiel für Scientology .............................................. 110
1.2 ZUSAMMENFASSUNG .................................................................................... 116
2 MOTIVE FÜR EINEN SEKTENAUSSTIEG .............................................................. 117
2.1 SEKTENAUSSTIEG BEI DEN ZEUGEN JEHOVAS ................................................ 118
2.1.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen ............. 118
2.1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann ................................................................... 118
2.1.1.2 Gerd Wunderlich .................................................................................. 123
2.1.1.3 Monika Deppe ...................................................................................... 128
2.1.1.4 Barbara Waß........................................................................................ 132
2.1.2 Konkrete Schritte aus der Sekte.............................................................. 138
2.1.2.1 Hans-Jürgen Twisselmann ................................................................... 138
2.1.2.2 Gerd Wunderlich .................................................................................. 140
2.1.2.3 Monika Deppe ...................................................................................... 144
2.1.2.4 Barbara Waß........................................................................................ 146
2.1.2.5 Zusammenfassung............................................................................... 148
2.1.2.6 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu
einem Bruch mit den Zeugen Jehovas geführt haben ...................................... 150
III
2.1.2.6.1 Theologisch – intellektuelle Ebene ........................ 150
2.1.2.6.2 Soziologisch-psychologische Ebene ..................... 151
2.1.2.6.2.1 Durch Bekanntschaften und Freundschaften mit
Nicht-Zeugen-Jehovas hervorgerufene Erkenntnisse über
die Zeugen Jehovas ......................................................... 151
2.1.2.6.2.2 Persönlich erfahrene Widersprüche zwischen
Glaubenslehre und Glaubenspraxis ................................. 152
2.1.2.6.2.3 Übergroßer physischer und psychischer
Leidensdruck .................................................................... 152
2.2 AUSSTIEG AUS DER PSYCHOSEKTE SCIENTOLOGY ......................................... 153
2.2.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen ............. 153
2.2.1.1 Jutta Elsässer ...................................................................................... 153
2.2.1.2 Elke Nietsche ....................................................................................... 160
2.2.1.3 Norbert Potthoff.................................................................................... 167
2.2.2 Konkrete Schritte aus der Sekte.............................................................. 175
2.2.2.1 Jutta Elsässer ...................................................................................... 175
2.2.2.2 Elke Nietsche ....................................................................................... 176
2.2.2.3 Norbert Potthoff.................................................................................... 178
2.2.2.4 Zusammenfassung............................................................................... 181
2.2.2.5 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu
einem Bruch mit Scientology geführt haben ..................................................... 182
2.2.2.5.1 Widersprüche zwischen Glaubenslehre und
Lebenspraxis........................................................................ 183
2.2.2.5.2 Bewußtseinsveränderung und Stärkung des
eigenen Selbstwertgefühls aufgrund zeitweiser Distanz zur
Scientology-Organisation.................................................. 184
2.2.2.5.3 Physische und psychische Erschöpfungszustände184
2.2.2.5.4 Kontakte zu und Aufklärung durch
Familienangehörige und andere der Sekte fernstehende
Menschen............................................................................. 185
2.2.2.5.5 Finanzieller Ruin.................................................... 186
3 DEN SEKTENAUSSTIEG ERSCHWERENDE PSYCHOLOGISCHE FAKTOREN ............ 186
3.1 ÜBERZEUGTSEIN VON DER HEILSLEHRE DER SEKTE ....................................... 186
3.2 ANSTAND UND LOYALITÄT ............................................................................. 189
3.3 GRUPPENDRUCK UND INFORMATIONSMANGEL ............................................... 190
3.4 ÜBERSTEIGERTE AUTORITÄTSGLÄUBIGKEIT UND ANGST VOR BESTRAFUNG ..... 191
3.5 ERSCHÖPFUNGS- UND VERWIRRTHEITSZUSTÄNDE ......................................... 193
4 VERARBEITUNG DER SEKTENVERGANGENHEIT ALS VORAUSSETZUNG FÜR DIE
RÜCKKEHR INS „NORMALE LEBEN“ .................................................................... 195
4.1 FINANZIELLE UND BERUFLICHE SITUATION NACH DEM SEKTENAUSSTIEG.......... 195
4.2 PSYCHOLOGISCH-EMOTIONALER BEREICH ..................................................... 197
4.2.1 Der belastete Lebenslauf ........................................................................ 197
4.2.2 Schuld und Scham .................................................................................. 199
4.2.3 Angst vor sich selbst ............................................................................... 201
4.2.4 Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte ......................................... 203
4.2.5 Konflikte wegen verlorener Familienangehöriger und Freunde................ 205
4.3 SOZIALE UND PERSÖNLICHE BEZIEHUNGEN ................................................... 206
4.3.1 Unkritische Passivität und hyperkritische Einstellungen .......................... 206
4.3.2 Nachwirkungen des Sektenvokabulars.................................................... 207
4.3.3 Aufbau eines neues sozialen Umfeldes und die Angst vor erneuten
Bindungen........................................................................................................ 209
IV
KAPITEL 3: DER SEKTENAUSSTIEG ALS HERAUSFORDERUNG UND
CHANCE FÜR EINE BERATUNG UND THERAPIE AUF NICHTCHRISTLICHER
UND EXPLIZIT CHRISTLICHER BASIS ......................................................... 211
1 DIE EXISTENZANALYTISCHE LOGOTHERAPIE VIKTOR FRANKLS UND IHR BEITRAG
ZUR GENESUNG VON SEKTENAUSSTEIGERN ........................................................ 212
1.1 GRÜNDE FÜR DIE ENTSTEHUNG DES LOGOTHERAPEUTISCHEN BERATUNGS- UND
THERAPIEKONZEPTES ........................................................................................ 212
1.1.1 Frankls Kritik am Therapiekonzept Sigmund Freuds ............................... 212
1.1.1.1 Das mechanistische Menschenbild Freuds .......................................... 213
1.1.1.2 Lust und Wert....................................................................................... 213
1.1.1.3 Trieb und Sinn...................................................................................... 214
1.1.1.4 Frankls Erfahrungen in der Zeit des 2.Weltkriegs und die Entdeckung der
sogenannten „geistig-noetischen Dimension menschlicher Existenz“............... 215
1.1.2 Zentrale Inhalte und Ziele des von Frankl entwickelten logotherapeutischexistenzanalytischen Therapiekonzeptes ......................................................... 217
1.1.2.1 Bewußtmachen von Freiheit und Verantwortlichkeit ............................. 217
1.1.2.2 Der Aufgabencharakter des Lebens und die Verwirklichung von Werten
........................................................................................................................ 218
1.1.2.2.1 Schöpferische Werte ............................................. 218
1.1.2.2.2 Erlebniswerte und Einstellungswerte..................... 219
1.1.2.3 Die Frage nach dem Sinn des Leidens................................................. 220
1.1.2.4 Die Frage nach dem Sinn des Todes ................................................... 222
1.1.2.5 Die Bedeutung „wirklicher Liebe“.......................................................... 224
1.1.2.6 Schulderfahrung als Umdenkmöglichkeit.............................................. 225
1.2 DIE VERWIRKLICHUNG LOGOTHERAPEUTISCHER INHALTE DURCH DIE
SEKTENAUSSTEIGER .......................................................................................... 226
1.2.1 Die Verwirklichung von Einstellungswerten und schöpferischen Werten bei
Hans-Jürgen Twisselmann............................................................................... 226
1.2.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann und der „Bruderdienst“ –schöpferische Werte
und eine neue Lebensperspektive ................................................................... 227
1.2.1.1.1 Entstehung des Bruderdienstes ............................ 227
1.2.1.1.2 Grundsätze der Tätigkeit des Bruderdienstes ....... 228
1.2.1.1.3 Ratschläge für ein Seelsorgsgespräch .............................................. 230
1.2.2 Wirkliche Liebe und Wertschätzung als Ausweg aus der bedrückenden
Situation der Sekte bei Barbara Waß ............................................................... 232
1.2.3 Die Verwirklichung von Erlebnis- und Einstellungswerten bei Jutta Elsässer
........................................................................................................................ 233
1.2.4 Schuldgefühle und das Bewußtmachen von Verantwortlichkeit bei Elke
Nietsche........................................................................................................... 234
1.2.5 Die Verwirklichung von schöpferischen Werten und Einstellungswerten bei
Norbert Potthoff................................................................................................ 235
1.3 MÖGLICHE LOGOTHERAPEUTISCHE HILFEN FÜR DIE SEKTENAUSSTEIGER AUS DER
SEKTE DER ZEUGEN JEHOVAS UND AUS SCIENTOLOGY ........................................ 236
1.3.1 Die drei “Therapiebewährungskriterien“ für das logotherapeutische
Gespräch ......................................................................................................... 236
1.3.2 Die drei großen Methodengruppen der Logotherapie und ihre Bedeutung
für eine Therapie an Sektenaussteigern........................................................... 238
1.3.2.1 Die „Paradoxe Intention“ ...................................................................... 238
1.3.2.2 Die Dereflexion..................................................................................... 240
1.3.2.2.1 Dereflexion bei Hans-Jürgen Twisselmann ........... 241
1.3.2.2.2 Gerd Wunderlich ................................................... 242
1.3.2.2.3 Monika Deppe ....................................................... 243
1.3.2.2.4 Barbara Waß......................................................... 244
V
1.3.2.2.5 Jutta Elsässer........................................................ 246
1.3.2.2.6 Elke Nietsche ........................................................ 247
1.3.2.2.7 Norbert Potthoff ..................................................... 248
1.3.3 Grenzen des logotherapeutischen Beratungs- und Therapiekonzeptes... 249
2 DAS PSYCHOTHERAPEUTISCHE VORGEHEN JÖRG MÜLLERS AUF EXPLIZIT
CHRISTLICHER BASIS – EIN BERATUNGS- UND THERAPIEKONZEPT FÜR AUSSTEIGER
AUS DER SEKTE DER ZEUGEN JEHOVAS .............................................................. 252
2.1 Müllers Kritik an den heutigen Psychotherapien......................................... 253
2.2 ZIELE CHRISTLICH MOTIVIERTER BERATUNG, THERAPIE UND SEELSORGE ....... 255
2.3 VERSCHIEDENE FORMEN VON LEBENSANGST UND DEREN BEWÄLTIGUNG ........ 256
2.3.1 Normale und krankhafte Angstreaktionen ............................................... 256
2.3.2 Der Einfluß des Gottesbildes................................................................... 257
2.3.2.1 Das rächend-strafende Gottesbild ........................................................ 258
2.3.2.2 Das Bild eines abwesenden, ohnmächtigen Gottes.............................. 260
2.3.3 Abwehrmechanismen und ihre Symptome .............................................. 261
2.3.3.1 Leugnen ............................................................................................... 262
2.3.3.2 Starrsinn............................................................................................... 263
2.3.3.3 Projektion ............................................................................................. 263
2.3.3.4 Intellektualisierung und Privatisierung .................................................. 264
2.3.4 Mögliche Folgen der Angstverdrängung .................................................. 265
2.3.4.1 Vergebungsunfähigkeit......................................................................... 265
2.3.4.2 Berechtigte und unberechtigte Schuldgefühle ...................................... 266
2.3.4.3 Medikamentierung................................................................................ 267
2.3.5 Ersatzglaube und andere Ersatzbefriedigungen als Ausdruck innerer
Sinnleere ......................................................................................................... 268
2.3.6 Angstbewältigung und Sinnfindung durch Hinwendung zu Gott............... 269
2.3.6.1 Die Angstbewältigung Jesu als Beispiel ............................................... 269
2.3.6.2 Ergebnisse erlöster Gottesbeziehung und Lebenshingabe an Gott ...... 270
2.3.6.2.1 Vergebungsfähigkeit.............................................. 270
2.3.6.2.2 Sinnfindung und Selbstannahme........................... 271
2.3.6.3 Geistliches Leben als Grund erfüllter und sinnvoller menschlicher
Existenz ........................................................................................................... 273
2.3.6.4 Die therapeutische Bedeutung der „Jesus-Imagination“ ....................... 273
2.3.6.5 Ein Vergleich des christlich motivierten psychotherapeutischen Konzeptes
Jörg Müllers mit dem logotherapeutischen Konzept Frankls ............................ 274
2.4 ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR EINE THERAPIE UND SEELSORGE AN EHEMALIGEN
ZEUGEN JEHOVAS AUFGRUND DER CHRISTLICH MOTIVIERTEN THERAPEUTISCHEN
VORGEHENSWEISE NACH JÖRG MÜLLER ............................................................. 275
2.5 MÜLLERS METHODE DER JESUS-IMAGINATION UND DIE REVISION EINES
ANGSTBESETZTEN GOTTESBILDES ...................................................................... 279
2.5.1 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Monika Deppe .............................. 279
2.5.2 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Gerd Wunderlich........................... 283
2.5.3 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Barbara Waß ................................ 287
KAPITEL 4: DER SEKTENAUSSTIEG ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE
KATHOLISCHE KIRCHE UND DEREN GEMEINDEN .................................... 293
1 WELCHE PHÄNOMENE VON SEKTEN HABEN ZU DEN NEGATIVEN ERFAHRUNGEN VON
AUSSTEIGERN GEFÜHRT ? .................................................................................. 294
1.1 EINE LEISTUNGSGESELLSCHAFT IN DER LEISTUNGSGESELLSCHAFT ................ 294
1.2 DER FAKTOR ENTMUTIGUNG UND DAS AUSBLEIBEN VON ERFOLGSERLEBNISSEN
........................................................................................................................ 299
1.3 KONFORMITÄTSDRUCK DURCH DAS ERZEUGEN VON SCHULD- UND
MINDERWERTIGKEITSGEFÜHLEN ......................................................................... 301
VI
1.4 DAS ÜBERLEGENHEITSGEFÜHL UND DIE KLUFT ZWISCHEN ANSPRUCH UND
WIRKLICHKEIT ................................................................................................... 305
1.5 MANGELNDES VERANTWORTUNGSBEWUßTSEIN UND DIE ABLEHNUNG VON
GEWISSENSFREIHEIT ......................................................................................... 308
2 DIE SITUATION DER KIRCHENGEMEINDEN ......................................................... 311
2.1 DIE AUFLÖSUNG DER TRADITIONELLEN VOLKSKIRCHE UND DER DIESE
BESTIMMENDEN VERSORGUNGSSEELSORGE ....................................................... 311
2.2 DIE NOTWENDIGKEIT EINER KIRCHEN- UND GEMEINDEREFORM ...................... 312
2.2.1 Mystik...................................................................................................... 313
2.2.2 Geschwisterlichkeit ................................................................................. 314
2.2.2.1 Die Sehnsucht des Menschen nach dauerhafter Gemeinschaft ........... 315
2.2.2.2 Die „Volk-Gottes-Geschwisterlichkeit“ .................................................. 316
2.2.3 Die politische Gemeinde ......................................................................... 317
2.3 DIE SITUATION DER KATHOLISCHEN KIRCHENGEMEINDEN NACH DEM ARBEITSERGEBNIS DES PASTORALGESPRÄCHS IM ERZBISTUM KÖLN ................................. 319
2.3.1 Mangelhafte Seelsorgssituation und mangelndes
Verantwortungsbewußtsein der Gläubigen....................................................... 319
2.3.2 Zu geringe „Sprachfähigkeit im Glauben“, zu wenig Glaubensgespräche, zu
geringe Reflexion über den eigenen Glauben .................................................. 322
2.3.3 Mangelnde Glaubwürdigkeit .................................................................... 323
2.3.3.1 Zu geringe Option für die Armen als Folge zu wenig gelebten Glaubens
........................................................................................................................ 324
2.3.3.2 Zu wenig Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz ......................... 325
2.4 DIE SITUATION DER KIRCHENGEMEINDEN UND DIE PROBLEME UND FRAGEN VON
SEKTENAUSSTEIGERN ........................................................................................ 328
3 DIE KIRCHE BRASILIENS ALS BEISPIEL FÜR EINE KIRCHE AUF DEM WEG ZU DEN
MENSCHEN ....................................................................................................... 335
3.1 DIE BEFREIUNGSTHEOLOGIE ALS BEGRIFF .................................................... 336
3.2 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER BEFREIUNGSTHEOLOGIE .............................. 337
3.3 CHARAKTERISTIKA DER THEOLOGIE DER BEFREIUNG ..................................... 340
3.3.1 Entwicklung und Gesellschaft.................................................................. 340
3.3.2 Option für die Armen ............................................................................... 340
3.3.3 Die Bedeutung der lateinamerikanischen Basisgemeinden und ihre Stellung
gegenüber den Pfarreien und der Gesamtkirche.............................................. 341
3.4 BEFREIUNGSTHEOLOGISCHE ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR EINE VERBESSERUNG
DER KIRCHLICHEN SITUATION IN DEUTSCHLAND IM HINBLICK AUF DIE BEGEGNUNG
UND DAS GESPRÄCH MIT SEKTENAUSSTEIGERN SOWIE EINE MÖGLICHE INTEGRATION
VON AUSSTEIGERN IN KIRCHENGEMEINDEN ......................................................... 345
4 AUSBLICK: CHRISTLICHE SPIRITUALITÄT DES ALLTAGS AUF DER GRUNDLAGE DES
„DREIFACHEN WEGES“ NACH HENRI J. M. NOUWEN – EIN BEDENKENSWERTER
ANSATZ FÜR UNSERE KIRCHENGEMEINDEN IM HINBLICK AUF PROBLEME UND
FRAGEN VON SEKTENAUSSTEIGERN UND IHRE MÖGLICHE INTEGRATION IN UNSERE
GEMEINDEN ...................................................................................................... 347
LITERATURVERZEICHNIS............................................................................. 352
1
Einleitung
„Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, daß Kirche und Gemeinde sich
nicht in einem von der übrigen Gesellschaft abgeschlossenen Raum auf
Zukunft hin bewegen, sondern stets in einen konkreten gesellschaftlichen
Kontext
mit
seinen
Gesetzmäßigkeiten
je
eigenen
eingebunden
sind.“1
Lebensbedingungen
Dies
wird
vor
allem
und
im
Zusammenhang mit der Auflösung der traditionellen Sozialform der
Großfamilie deutlich. Diese Sozialform der Familie, in welche der einzelne
einst eingebunden war und worin er seine ihm spezifischen Rechte und
Pflichten zugewiesen bekam, besonders aber auch Schutz und soziale
Integration erfuhr, existiert in unseren Breitengraden nicht mehr. In
unserer von vielen als Postmoderne bezeichneten Zeit ist eine Pluralität
von Wertmaßstäben und Orientierungsmustern sowie eine sich ambivalent
auswirkende Individualisierung vorherrschend.2 Einige der traditionellen
Wertmaßstäbe und Orientierungsmuster haben ihre für die Gesellschaft
entscheidende Stabilisierungsfunktion eingebüßt. Strukturen lockern sich
in zunehmendem Maß oder sind bereits vollends in Auflösung begriffen.
Es gibt eine Überflutung mit verschiedensten Angeboten für die
persönliche Lebensgestaltung. Erwähnt seien hier beispielsweise die
immer raffinierter werdenden Werbeslogans, die patentrezeptartige
Lösungen zur Erlangung des Lebensglücks bieten und suggerieren, man
könne in einer Art Konsum Glück und Lebensfreude erlangen.3
Durch die Vielzahl der Angebote wird es zugleich immer schwieriger,
sie bezüglich ihrer Qualität und Seriosität genau zu unterscheiden. Dies
kann bis zur völligen Resignation führen, da immer neue Situationen und
1
Kochanek, Hermann, Spurwechsel. Die Erlebnisgesellschaft als Herausforderung für
Christentum und Kirche, Frankfurt a. M. 1998, 11.
2
Vgl. Rivinius, Karl Josef, Sekten und neureligiöse Bewegungen, in: Stimmen der Zeit
215 (1997), 534-544.
3
Vgl. Ernst, Heiko, Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert, München 1996, 137. Ernst
spricht von sogenannten „Lifestyle-Lösungen“, welche beim Konsumenten den
Eindruck erwecken, das Leben könne ästhetisch und sorgenfrei gestaltet werden,
wenn bestimmte Produkte gekauft werden. Er schreibt: „Durch eine banale Magie
könne er so sein Leben transformieren und seine Probleme – Verhaltensunsicherheit,
Entfremdung, Bindungslosigkeit – doch noch lösen.“
2
Herausforderungen ein hohes Maß an Flexibilität und Arbeitsleistung
verlangen.
Diese Entwicklungen greifen auf alle menschlichen Lebensbereiche
über, gerade auch auf den der Religion. Die beiden traditionellen
Großkirchen in Deutschland bekommen die Folgen dieser rasanten
gesellschaftlichen Veränderungen besonders deutlich zu spüren. Sie
werden als lediglich ein Angebot unter vielen betrachtet und haben ihre
einstige Monopolstellung längst eingebüßt. Die Menschen unserer Tage
scheinen sich von der Religion zu verabschieden, so könnte man meinen.
Wie läßt sich aber der zum Teil nicht geringe Mitgliederzuwachs in vielen
von der offiziellen Kirche getrennten Gemeinschaften und Sekten
erklären? Ist der Mensch etwa doch hoffnungslos religiös, wie der
Philosoph und Religionskritiker Friedrich Nietzsche einmal meinte?
In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welche
Bedeutung einem Sektenausstieg für die Aussteiger selber zukommt und
welche Herausforderung ein solcher Sektenausstieg für die katholische
Kirche und ihre Gemeinden bedeutet, sowohl im Hinblick auf eine
angemessene Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern als
auch auf eine mögliche Integration solcher Menschen in unsere
Kirchengemeinden.
In einem ersten Kapitel soll der Blick dabei zunächst auf die
gegenwärtige gesellschaftliche Situation gelenkt werden und eine kurze
Charakterisierung dieser Situation anhand von soziologischen und
psychologischen Gesichtspunkten erfolgen, die in einem Zusammenhang
mit der Sektenproblematik stehen. In einem zweiten Abschnitt des ersten
Kapitels werden verschieden Definitionsversuche des Phänomens „Sekte“
dargelegt und eine eigener Definitionsversuch unternommen. Der dritte
Abschnitt bietet eine Darstellung der Organisations- und Lehrsysteme
zweier Sekten, der Zeugen Jehovas und der Scientology-Organisation.
Das zweite Kapitel bietet eine Auswahl mehrerer Aussteigerberichte, in
denen die Erfahrungen von Menschen mit den Zeugen Jehovas und mit
Scientology dokumentiert werden. Dabei kommen sowohl die Motive für
den erfolgten Ausstieg zur Sprache als auch den Ausstieg erschwerende
psychologische Faktoren.
3
In einem dritten Kapitel wird nach konkreten therapeutischen Hilfen
gefragt, die Sektenaussteigern bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen mit
der jeweiligen Sekte helfen können.
Das abschließende vierte Kapitel befaßt sich mit der Herausforderung,
die sich aufgrund des Sektenausstiegs für die katholische Kirche und ihre
Gemeinden
ergibt.
Sind
unsere
Gemeinden
in
der
Lage,
Sektenaussteigern angemessen zu begegnen, in einen fruchtbaren Dialog
mit ihnen einzutreten, indem sie sich den Problemen und Fragen solcher
Menschen stellen? Können sie Sektenaussteigern letztlich vielleicht sogar
eine neue Heimat bieten, indem sie diese in ihre Reihen aufnehmen?
4
Kapitel 1: Die gesellschaftliche Situation und das
Sektenphänomen
1 Gesellschaftsanalytisch relevante Gesichtspunkte
aus dem Bereich der Soziologie und Psychologie
1.1 Soziologischer Bereich
1.1.1 Der Prozeß der Individualisierung
In unserer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft sind
traditionell
gewachsene
Sozialstrukturen
zusehends
in
Auflösung
begriffen. Bisher entfaltete sich Religion innerhalb einer konkreten
Gemeinde. Sie hatte ihren festen Ort in einem Lebensumfeld, an dem
nahezu alle ihre Mitglieder partizipierten. Dies gewährleistete für breite
Bevölkerungsgruppen eine weitgehende Sicherheit für den Bereich der
Sinnstiftung,
mit
welchem
Lebensführungskonzepte,
die
Problematik
Kontingenzbewältigung
der
Identitätsfindung,
und
das
gesamte
4
Themengebiet Staat, Gesellschaft und Kultur verwoben sind. Trotz aller
Auflösungserscheinungen,
denen
Traditionen
unterworfen
sind,
schwinden diese jedoch nicht gänzlich. Es gibt ein Nebeneinander von
mehr oder weniger verbindlichen und verpflichtenden Vorgaben. Der
Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags von
1998 bemerkt hierzu: „Man muß hier freilich den tiefreichenden
Bedeutungswandel von Traditionen beachten, von für den einzelnen mehr
oder
minder
verbindlichen
und
verpflichtenden
Vorgaben
zu
Gegebenheiten von Wahl und Option. Was an dieser Entwicklung als
Verlust empfunden wird, ist nicht der Verlust der Tradition selbst, aber der
Verlust an sozialer Transzendenz und Erwartungssicherheit, also an
verbindlicher Reichweite der jeweiligen Traditionen und der durch sie
geforderten Normen für das alltägliche, gesellschaftliche Leben und
Handeln. Dies wird in der Soziologie mit dem Begriff der Individualisierung
4
Vgl. Deutscher Bundestag Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Endbericht der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Neue religiöse und
ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik
Deutschland, Bonn 1998, 40.
5
bezeichnet.“5 Zum einen hat die gesamtgesellschaftliche Prägekraft von
allgemeinen Orientierungsmustern abgenommen, zum anderen ist das
Individuum auf Orientierungsbereiche wie die eigene Familie, den
Bekannten- und Freundeskreis aber dringend angewiesen. wenn auch
diese sozialen Bereiche eine weit geringere soziale Reichweite besitzen.6
1.1.2 Religion, Kirche und Soziologie
In seinem Buch „Die unsichtbare Religion“ weist Thomas Luckmann auf
die in der Religionssoziologie lange vorherrschende Gleichsetzung von
Kirche
und
Religion
hin.
Die
neuere
Religionssoziologie
liefert
entsprechend dieser Gleichsetzung fast ausschließlich Beschreibungen
des Niedergangs kirchlicher Institutionen.7 In den 30er und 40er Jahren
des 20. Jahrhunderts bestand der Trend, Religion als System von
Glaubensüberzeugungen anzusehen, die in primitiven Gesellschaften
vorkam und dort eine integrative Funktion erfüllte.
Luckmann äußert sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Die
30er und 40er Jahre waren unfruchtbare Jahre für die Religionssoziologie.
Eine ganze Soziologengeneration wuchs in einem intellektuellen Klima
auf, in dem Religion als ein System von Glaubensüberzeugungen
angesehen wurde, das in primitiven Gesellschaften - wenn nicht sogar
bloß während einer prähistorischen Phase in der Evolution der Vernunft bestimmte integrative Funktionen erfüllt hatte [...].“8 In den Jahren nach
dem 2. Weltkrieg hielt die Soziologie zunehmend Einzug in die Kirchen,
unterstützt durch Pastoraltheologen, Sozialethiker und nicht zuletzt von
kirchlichen Verwaltungsexperten. Die Religionssoziologie entwickelte sich
zu einer Hilfswissenschaft9, deren Inhalte und Problemstellungen von den
Interessen religiöser Institutionen bestimmt und konfessionell geprägt
waren. Dieses konfessionelle Eingebundensein der Religionssoziologie
5
Deutscher Bundestag, Endbericht der Enquete-Kommission, 41.
Ibid., 42.
7
3
Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1996 , 51.
8
Ibid., 53.
9
Ibid.
6
6
erschwerte die Entwicklung einer systematischen Theorie. Durch einen
Mangel an Theorie sowie die völlige Ausklammerung von Glaubensfragen,
wurden zwar handhabbare, jedoch unangemessene Forschungsmethoden
angewendet, die zur Erfassung nichtkirchlicher Institutionen dienten. Die
Anwendung
von
Befragungstechniken
aus
dem
Bereich
der
Meinungsforschung ließ den Befragten oft nicht mehr Spielraum als
zustimmend oder ablehnend zu antworten. Sie erschwerten überdies den
Erhalt von differenzierten Forschungsergebnissen für ein so komplexes
Gebiet wie das der Religion. Eine enge, positivistisch ausgerichtete
Methodologie erwies sich ebenfalls als unzureichend für das Erfassen
religiöser Phänomene.
1.1.3 Sozialstruktur und Partizipation an der kirchlich
institutionalisierten Form von Religion
Aus der Gleichsetzung von Kirche und Religion folgt, daß Religion nur
insoweit erfaßbar ist, als sie organisiert und institutionalisiert ist. Die
Institutionalisierung von Religion findet ihren Niederschlag in ebenfalls
institutionalisierten religiösen Verhaltensweisen in Form von Ritualen und
eines Wissens in Form einer bestimmten Lehre. Luckmann zeigt auf, daß
eine solche Definitionsweise zu kurz greift, um die verschiedenartigen
Gebilde außerkirchlicher Formen von Religion adäquat zu erfassen.
Er erklärt die Forschungsergebnisse der Religionssoziologie aber nicht
für überflüssig, indem er bemerkt: „Im Bemühen um eine Theorie der
Religion in der modernen Gesellschaft kann man sich den Luxus nicht
leisten, so emsig gesammeltes Material beiseite zu schieben – auch wenn
es, wie bereits angedeutet, nur eine Seite der Medaille zeigt.“10 Geht man
von den Kirchenbesucherzahlen aus, so ist in eher ländlichen Gebieten
eine höhere Besucherzahl festzustellen. Im städtischen Bereich scheinen
die Menschen dagegen weniger religiös zu sein. Doch auch in eher
10
Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 62. Die Auswertung des Datenmaterials
ist vor allem auch für die Erstellung einer Theorie der Religion in der modernen
Gesellschaft hilfreich.
7
ländlichen Gebieten machen sich zunehmend städtische Eigenheiten
bemerkbar. Mögliche Ursachen hierfür liegen vor allem in der in den
letzten Jahrzehnten erfolgten ökonomischen Verflechtung von Stadt und
Land, in einer fortschreitenden Technisierung und in der Verbreitung der
städtischen Kultur auf dem Land, vor allem durch die Massenmedien.
Außerdem scheint die Kirchlichkeit geschlechtsspezifisch zu sein und ist in
verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. „Man
kann wohl sagen, daß die ökologische Struktur der Gemeinde und die
Verteilung der sozialen Klassen, sowie Berufsgruppen innerhalb der
Pfarrei die wichtigsten Faktoren sind, die für diese Unterschiede
verantwortlich gemacht werden können.“11
Religion ist nach Meinung vieler Menschen in Europa nur noch eine
Randerscheinung, die im Verlauf des Prozesses einer immer weiter
voranschreitenden Technisierung mehr und mehr zurückgedrängt wird.
Doch weshalb, so könnte man einwenden, ist beispielsweise in den USA,
in einem der hochtechnisiertesten Länder der Welt, die religiöse Praxis
größer als in europäischen Ländern?
Zum Verständnis dieses Phänomens bedarf es eines kurzen Rückblicks
in die Sozial- und Kirchengeschichte der USA. Es existierte dort keine
feudalistische Gesellschaftsstruktur, wie sie für Europa charakteristisch
war. Die Geschichte des Kontinents ist geprägt von zahlreichen
Einwanderungswellen, die eine ethnische und konfessionelle Vielfalt mit
sich brachten. Die Verstädterung ging rasch vonstatten, wobei sich eine
im
wesentlichen
mittelständische
Weltanschauung
und
Lebensart
durchsetzte. Weitere Faktoren wie der Puritanismus, die frühe Trennung
von Kirche und Staat sowie eine zeitweilig enge Verbindung beider
Institutionen, die Erweckungsbewegungen und andere Einflüsse, trugen
das ihre zu einer im Unterschied zu Europa andersartigen soziopolitischen und religiösen Entwicklung bei.
Eine breitgefächerte Mittelklasse partizipiert in den USA aktiv an der
kirchlichen Religion. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt in der Übernahme
einer weltlichen Version der protestantischen Ethik durch die Kirchen, die
11
Luckmann, Die unsichtbare Religion, 65.
8
durch die einzigartige Konstellation von Faktoren in der Sozial- und
Religionsgeschichte
entscheidend
mitgeformt
wurde.
Auf
die
amerikanischen Verhältnisse soll im folgenden nicht weiter eingegangen
werden. Doch bieten die Einblicke in diese Verhältnisse einige
interessante Gesichtspunkte. Der für die USA seit je her typische
Pluralismus kommt auch in Europa immer stärker zum Durchbruch. Viele
in unserem Land anzutreffende Sekten, so die Sekte der Zeugen Jehovas
und Scientology, sind zudem aus den USA zu uns gekommen.
1.1.4 Die Entstehung von Sinnsystemen und der „Heilige
Kosmos“
„Sinnsysteme fallen nicht vom Himmel“, so könnte man schlagwortartig
die Tatsache ausdrücken, daß die Entstehung dieser Systeme eine
Leistung vieler Generationen darstellt. Im Lauf des menschlichen
Sozialisierungsprozesses wird immer eine gesellschaftlich vorgegebene
Ordnung mit ihren jeweils typischen Orientierungs- und Wertmaßstäben
vermittelt. Für Luckmann besitzt dieser Sozialisierungsprozeß zugleich
einen religiösen Charakter. Er bemerkt hierzu: „Diese Prozesse, deren
formale Struktur oben beschrieben wurde, vermitteln zugleich eine
geschichtlich vorgegebene gesellschaftliche Ordnung. Wir sagten vorhin,
daß das Transzendieren der Natürlichkeit ein grundlegender religiöser
Vorgang ist. Wir können nun hinzufügen, daß Sozialisation, also der
Vorgang, in dem solches Transzendieren stattfindet, grundsätzlich einen
religiösen Charakter hat.“12
Die geschichtliche Vorgabe von Sinnsystemen bezeichnet Luckmann
als
„Heiligen
Kosmos“13.
Der
Sinnzusammenhang,
der
einer
geschichtlichen Ordnung innewohnt, kann mit dem Begriff „Weltsicht“14
charakterisiert werden. Diese Weltsicht resultiert aus der subjektiven
12
Luckmann, Die unsichtbare Religion, 88. Vgl. auch Fraas, Hans-Jürgen, Die
2
Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1993 ,
75f.
13
Vgl. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 98.
14
Ibid., 92.
9
Aneignung eines Sinnsystems durch den Menschen. Die Stabilität der
Weltsicht ist ausschlaggebend dafür, daß viele einzelne Situationen als
sinnvolles Ganzes, als biographische Einheit, gesehen werden können.
Diese Weltsicht ist eine grundlegende Sozialform von Religion, die in
allen menschlichen Gesellschaften zu finden ist. Ihr Kennzeichen ist eine
ihr
innewohnende
Bedeutungshierarchie.
Der
sogenannte
„Heilige
Kosmos“ ist ebenfalls ein Teil der Weltsicht. Er ist zwar jenseits der
alltäglichen Wirklichkeit angesiedelt, bedient sich aber allgemeiner
anthropologischer Gegebenheiten, die ihren Ausdruck in Symbolen,
Bildern und in der Sprache finden. Diese haben im profanen Bereich eine
überwiegend pragmatische Funktion, sind aber auf eine transzendente
Wirklichkeit
bezogen.
Die
ungleiche
Verteilung
religiöser
Repräsentationen in unserer Gesellschaft stellt ein großes Problem dar,
denn es gelingt dem Heiligen Kosmos nicht mehr, seine integrierende
Funktion für die Gesamtgesellschaft zu erfüllen.
Das traditionelle religiöse System mit zumeist einheitlichen Formen ist
durch
einen
religiösen
Auflösungsprozeß
Pluralismus
begünstigt.
Die
ersetzt
worden,
Großkirchen
der
stellten
diesen
in
der
abendländischen Geschichte einen einzigartigen Fall von Religion dar.
Der Pluralismus und vor allem auch die Privatisierung von Religion
machen den Bruch mit dieser Tradition deutlich.
Luckmann bietet neben Peter L. Berger15 eine der umfassendsten
Theorien zu Religion und Gesellschaft. Die Sichtweise von Luckmann und
Berger wurde von Fischer und Marhold zurecht unter der Überschrift
„Unsichtbare Religion und heiliger Baldachin“ zusammengefaßt.16 Durch
diese Benennung wird der gemeinsame soziologische Gesamtrahmen
deutlich. Ihre Forschung ist stark wissenssoziologisch orientiert. Fischer
15
Peter L. Berger war ein bedeutender Soziologe. Er wurde 1929 in Wien geboren, war
seit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts Professor an der New School for
Social Research in New York und in den 70er Jahren an der Universität von New
Jersey tätig. Er verfaßte unter anderem die Bücher „Einladung zur Soziologie“, „Auf
den Spuren der Engel“ und zusammen mit Thomas Luckmann „Die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit“.
16
Vgl. Fischer, Wolfram / Marhold, Wolfgang, Das Konzept des symbolischen
Interaktionismus in der deutschen Religionssoziologie, in: Daiber, Karl-Fritz /
Luckmann, Thomas (Hrsg.), Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen
Soziologie, München 1983, 162ff.
10
und Marhold bemerken in diesem Zusammenhang treffend, daß die
beiden Autoren Berger und Luckmann ein wissenssoziologisches Konzept
entwickelt haben, das die Konstitution von Gesellschaft in dialektischen
Prozessen von Individuierung und Sozialisation beschreibt.17
Auf die Unterschiede zwischen Luckmann und Berger soll hier nicht
näher eingegangen werden. Für Luckmann liegt der Kern der Religion
darin, daß der Mensch seine biologische Natur transzendiert. Dies
geschieht durch den Aufbau des „sozialen Selbst“18 und der Gesellschaft.
Diese Sichtweise Luckmanns bietet wichtige Gesichtspunkte, die die
komplexen Zusammenhänge von Gesellschaft, Individuum, Sozialisation
und Transzendenz aus soziologischer Perspektive darlegen. Diese
werden im folgenden durch psychologische Gesichtspunkte ergänzt,
wobei sich die Bereiche gegenseitig ergänzen und zum großen Teil
ineinander übergehen.
1.2 Psychologischer Bereich
1.2.1 Persönlichkeitsstrukturen in einer Gesellschaft der
unbegrenzten Möglichkeiten
Der Mensch unserer Tage hat eine enorme Reizüberflutung zu
bewältigen. Um sich selbst nicht vollkommen darin zu verlieren, muß er
Taktiken entwickeln, die ihm bei der Verarbeitung dieser Reize und der
Abgrenzung
seiner
eigenen
Person
und
seinen
Überzeugungen
gegenüber den vielfältigen Angeboten zur Lebensgestaltung behilflich
sind. Diese Strategien, die auch als Lebensstile bezeichnet werden
können, besitzen wichtige Funktionen, vor allem sollen sie Stabilität und
Zusammenhang gewährleisten, um die physische und psychische
Gesundheit zu bewahren. Heiko Ernst charakterisiert das Ich des
modernen Menschen in Anlehnung an Robert Lyfton19 als proteisch. Unter
17
Fischer / Marhold, 162 ff.
Ibid.
19
Vgl. Ernst, Psychotrends, 21.
18
11
diesem Begriff versteht er, daß der moderne Mensch in der Lage ist, sich
an immer neue Situationen rasch anzupassen und Flexibilität und zugleich
Beharrungsvermögen aufzubringen. Es gelingt jedoch nur wenigen
Zeitgenossen, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen,
um ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Die negativen Folgen dieser Situation sind nicht zu übersehen. Es
existieren aber viele Möglichkeiten, sich über die eigene Überforderung,
zum
Teil
auch
Verzweiflung
und
Leere
des
eigenen
Ich
hinwegzutäuschen.
Viele Menschen sind von einer Art Selbstlosigkeit befallen, indem sie ihr
Selbst im wahrsten Sinne des Wortes los sind. Erich Fromm beschreibt
den Zustand unserer Gesellschaft in seinem bekannten Werk „Die Kunst
des Liebens“ folgendermaßen: „Unsere Zivilisation verfügt über viele
Betäubungsmittel, die den Leuten helfen sollen, sich ihres Alleinseins nicht
bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der
bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, daß sich die
Menschen
ihres
tiefsten
Bedürfnisses,
des
Verlangens
nach
Transzendenz und Einheit bewußt werden.“20 Um die geistige Verfassung
des Menschen in unserer Multioptionsgesellschaft zu beschreiben und
eine Eingrenzung des Problems vorzunehmen, ist es entscheidend, vor
allem drei Gesichtspunkte zu beachten, die ich in Form von drei Fragen
ansprechen möchte:
1. Wie werden Erfahrungen von Entgrenzungen in sämtlichen
Bereichen des Lebens bewältigt?
2. Wie geht der einzelne damit um, ständig über sich selbst
nachdenken zu müssen?
3. Wie gelingt es, zu einer angemessenen Selbstdefinition zu
gelangen?
Auf diese drei Fragen möchte ich im folgenden genauer eingehen.
20
Fromm, Erich, Die Kunst des Liebens, Frankfurt a. M. 1990, 98. Neben der Routine der
bürokratischen Arbeit ist für Fromm die Routine des Vergnügens von Bedeutung, die
sich im Konsum von den durch die Vergnügungsindustrie dargebotenen materiellen
wie immateriellen Konsumgütern äußert.
12
1.2.1.1 Umgang mit der Erfahrung von Entgrenzungen
Erfahrungen
von
Entgrenzung
erstrecken
sich
auf
sämtliche
Lebensbereiche. Das Ich eines Menschen, das Teil seines seelischen
Lebens ist, geht aufgrund seiner Instabilität oder Ich-Schwäche nicht
selten in der Außenwelt auf. Es liegt in diesem Fall oftmals eine
Identitätskrise vor. Die Abgrenzung der eigenen Person gegenüber
anderen und der Umwelt als ganzer gelingt oft nicht mehr. Ein Schwinden
von Grenzen macht sich dann auch dort bemerkbar, wo Menschen
gefordert sind, so vor allem in Arbeitsbereichen, in denen Menschen ihre
Person für die Gesellschaft einbringen, vor allem auf dem Gebiet von
Wissenschaft und Forschung. Grenzen innerhalb der Wissenschaft
schwinden und zusammen mit diesen traditionelle ethische und religiöse
Maßstäbe. Eine Anpassung an die Meinung der Mehrheit oder deren
Handlungen wird oft unbewußt vollzogen.
Mit dem Schwinden solcher Grenzen ist innerhalb der Gesellschaft der
Verlust an Zufriedenheit über das Erreichte verbunden. Daher sind
Wünsche und Erwartungen ins Maßlose gestiegen.21 Folgen dieser
Entwicklung sind die Unfähigkeit zu Verzicht und Genügsamkeit und nicht
zuletzt
ein
immer
häufiger
auftretender
Realitätsverlust.22
Diese
Entgrenzungen wirken sich im Bereich der Bioethik besonders gravierend
aus. Es sei an dieser Stelle an die Diskussion um den Embryonenschutz
oder auch die aktive Sterbehilfe erinnert. In Zusammenhang mit dieser
Problematik kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der
Mensch selbst die letzten Grenzen der Entscheidung über Leben und Tod
allmählich durchbricht.
21
Vgl. Ernst, Psychotrends, 23. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Reiseintensität
und den Konsum von Luxusgütern als Beispiele für gestiegene Ansprüche und zur
Selbstverständlichkeit gewordene Erwartungen: „Grenzenlos sind aber auch unsere
Erwartungen und Wünsche geworden. Nie zuvor in der Geschichte sind so viele
Menschen gereist, haben so viele Luxusgüter konsumiert und so hohe Ansprüche an
Sicherheit, Glück, Zufriedenheit und Erfüllung artikuliert.“
22
Dieser Realitätsverlust wird an dem Beispiel eines jungen examinierten Arztes deutlich,
der sich aufgrund einer Fernsehsendung bei einem in der Realität nicht existierenden
Krankenhaus beworben haben soll.
13
1.2.1.2 Zwang zu ständiger Selbstreflexion
Aufgrund
des
Fehlens
allgemeinverbindlicher
Orientierungs-
und
Verhaltensmuster ist der einzelne aufgefordert, seinen Standort innerhalb
der Gesellschaft immer wieder neu zu bestimmen und sich zu definieren.
Diese Tatsache muß jedoch nicht in jedem Fall Krisensituationen nach
sich ziehen, jedoch haben die äußeren und inneren Entgrenzungen zu
einer Art Hyperreflexivität geführt. Das Individuum kann sich nicht mehr
auf
Prinzipien
und
Traditionen
stützen, welche
ihm
übermäßige
Entgrenzungserfahrungen ersparen würden und ist so in fast neurotischer
Weise damit beschäftigt, sich mit anderen zu vergleichen und zu
profilieren. Dies kann bis zum Narzißmus führen. Michael Lewis23
beschreibt den Narzißmus als ein Charakteristikum unserer Zeit, wenn er
bemerkt: „Die Zunahme des Narzißmus und verwandter Störungen ist kein
Zufall. Narkissos, der von der Betrachtung seines Spiegelbilds in einem
Teich nicht loskam, ist ein angemessenes Symbol für unsere Zeit.“24
1.2.1.3 Zwang zur Selbstdefinition
Soll das Individuum angesichts der Wertepluralität und zahlreichen
widersprüchlichen Sinnangeboten nicht zugrunde gehen, müssen neue
Grenzen konstruiert werden. Die Selbstdefinition hat aber nicht nur
Bedeutung für das Individuum, sondern gerade auch für Gemeinschaften
im religiös-weltanschaulichen Bereich.
Für eine Glaubensgemeinschaft wie die Kirche stellt sich dieses
Problem besonders gravierend dar. Die Kirche besteht aus einer Fülle von
Individuen,
besitzt
jedoch
für
alle
gleichermaßen
vorgegebene
Orientierungsmuster. Der Soziologe Peter Berger setzte sich mit diesen
Problemen bereits in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts
auseinander. In seinem Buch „Auf den Spuren der Engel“ schreibt er: „Der
23
Michael Lewis ist Professor für Psychiatrie, Psychologie und Kinderheilkunde an der
Universität von New Jersey, USA.
24
Lewis, Michael, Scham. Annäherung an ein Tabu, München 1995, 351.
14
Pluralismus stellt uns nicht nur vor die Wahl, er zwingt uns zu wählen. Die
Kehrseite der Medaille ist die Gefährdung jeder religiösen Gewißheit.“25
Die Selbstdefinition und die Bestimmung der eigenen Identität sind von
der Wahl der Werte und des Lebenskonzeptes abhängig, welche der
einzelne oder eine Gruppe zu verwirklichen sucht. Auf alle Fälle besteht
ein „Zwang zur Häresie“26, d.h., indem ich eine bestimmte Sache
auswähle und mich für diese entscheide, muß ich andere ausschließen.
1.2.2 Die Bedeutung des Schamgefühls
Scham spielt im menschlichen Leben eine größere Rolle, als vielfach
angenommen wird. Sie ist kein Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern
eine allgegenwärtige Konstante innerhalb der Gesellschaft. Sie wird nicht
zu Unrecht als Grund- oder Schlüsselfigur bezeichnet, die in den
verschiedensten Lebensbereichen einen breiten Raum einnimmt. Über die
Bedeutung der Scham schreibt Heiko Ernst: „Sie beherrscht und
durchdringt unser Leben weit mehr als beispielsweise Aggression oder
Sexualität.“27 Scham tritt nicht immer in reiner Form zutage, da es
zahlreiche Möglichkeiten gibt, sie zu verdrängen oder auch zu
überspielen. Laut Ernst ist die Scham ein „soziales Gefühl“, welches sich
bis zur Entstehung der menschlichen Gesellschaft zurückverfolgen läßt.
Michael Lewis rechnet das menschliche Schamgefühl zu den
sogenannten „Ich-bewußten, bewertenden Emotionen“28. Es wacht über
den Bereich des Inneren des Menschen und garantiert den Schutz der
Persönlichkeit in Bezug auf Identität und Integrität. Worauf ein Mensch mit
dem Gefühl von Scham reagiert, richtet sich nach dem Gegenstand, der
25
Berger, Peter L., Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die
Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt a. M. 1970, 70. Berger betont, daß
jede Religionsgemeinschaft eine Häresie darstellt, weil sie zur Auswahl steht, was ja
auch die Bedeutung des Wortes Häresie verdeutlicht.
26
Vgl. Berger, Peter L., Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen
Gesellschaft, Hamburg 1980.
27
Ernst, Psychotrends, 100.
28
Zu diesen Ich-bewußten, bewertenden Emotionen zählen nach Lewis auch
Verlegenheit, Stolz und Schuld.
15
für das Selbstbild und das Selbstwertgefühl von Bedeutung ist. Kinder sind
für Beschämungen besonders sensibel. Ihre Persönlichkeit erleidet in dem
Maß Schaden, wie das durch die Erziehung mitbedingte Selbstwertgefühl
verletzt wird, sei es in offener oder verdeckter Weise.
Normen und Wertvorstellungen wirken auf das Kind ein, sobald die
Umgebung Einfluß auszuüben beginnt. In der Phase der primären
Sozialisation sind bekanntlich die Eltern und die nächsten Verwandten die
ersten Vorbilder. Im Elternhaus wird unter anderem die Grundlage für das
das gesamte Leben hindurch so bedeutsame Urvertrauen29 geschaffen.
Versagensangst ist bei Kindern ab dem zweiten Lebensjahr zu
beobachten.
Beim
Kind
laufen
ab
diesem
Alter
feststellbare
Bewertungsprozesse ab.30 Löst ein Kind eine ihm gestellte Aufgabe, die
es selbst als schwierig bewertet hat, so ist es stolz auf das Erreichte,
andernfalls zeigt es Trauer. Versagt es jedoch bei einer leichten Aufgabe,
so reagiert es mit dem Gefühl von Scham. Mit dem Empfinden von Scham
eng verknüpft ist das Schuldgefühl.31 Welches von beiden zuerst auftritt ist
von der Art des Selbst eines Menschen abhängig, also von Mensch zu
Mensch verschieden.
Diese Überlegungen, die am Beginn der Sektenproblematik stehen,
sind für das Verständnis von Sozialisationsprozessen innerhalb von
Sekten und deren Vorgehensweisen von einer nicht zu unterschätzenden
Bedeutung.
29
14
Vgl. Erikson, Erik H., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1994 , 62ff. Erikson
versteht unter dem Urvertrauen das Fundament einer gesunden Persönlichkeit. Er
charakterisiert dies auf folgende Weise: „Als erste Komponente der gesunden
Persönlichkeit nenne ich das Gefühl des Ur-Vertrauens, worunter ich eine auf die
Erfahrungen des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und
zur Welt verstehen möchte.“
30
Vgl. Lewis, Scham, 155.
31
Es gab vor einigen Jahren eine breite Diskussion über die Frage, welches Gefühl
zuerst auftritt. Lewis stellt drei mögliche Modelle vor. Das erste setzt das Gefühl der
Scham vor das der Schuld. Ein weiteres sieht Scham als Folge von Schuld an,
letzteres nimmt eine Gleichzeitigkeit beider Regungen an. (Vgl. Lewis, Scham, 160).
16
2 Sektendefinition
2.1 Etymologie des Begriffs „Sekte“
Das deutsche Wort „Sekte“ leitet sich vom Mittelhochdeutschen
„secte“32 ab, das dem Lateinischen „secta“ entlehnt ist und dem mehrere
Bedeutungen zukommen, wie „befolgter Grundsatz“, „Richtlinie“, „Partei“,
„philosophische Lehre“. Das Substantiv „secta“ wird mit dem Wort „sequi“
bzw. „secutum“ in Verbindung gebracht, welches „folgen“, „nachfolgen“
bedeutet. Die Ableitung vom Lateinischen „secare“ (abschneiden,
abtrennen) scheint im ersten Moment plausibel, ist jedoch philologisch
nicht einwandfrei geklärt.33
2.2 Verwendung des Begriffs „Sekte“ und andere
Bezeichnungen
Es existieren zahlreiche Gruppierungen, vor allem im protestantischen
Bereich, die großen Wert auf eine begriffliche Abgrenzung ihrer Gruppe
von den als Sekten bezeichneten Vereinigungen legen. Sie wehren sich
gegen die Stigmatisierung, die mit dem Begriff „Sekte“ verbunden ist. Im
Englischen wird daher die neutralere Bezeichnung „denomination“ für alle
Gruppen, auch für die im Deutschen als Sekten bezeichneten, verwendet.
Im deutschsprachigen Raum werden religiöse Gruppierungen, die
außerhalb der offiziellen Kirchen stehen als „Sondergemeinschaften“, seit
den
1970er
Jahren
auch
als
„Neureligionen“
oder
„Neureligiöse
Bewegungen“ begrifflich erfaßt. Um das zum Teil zerstörerische Potential,
32
Vgl. Stichwort „Sekte“, in: Duden-Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen
2
Sprache, Bd. 7, Drosdowski, Günther u. a. (Hrsg.), Mannheim 1989 .
33
Vgl. Hemminger, Hansjörg, Was ist eine Sekte? Erkennen - Verstehen - Kritik, Stuttgart
1995, 14. Laut Hemminger ist die Ableitung von lat. „secare“ (abschneiden, trennen)
nicht korrekt, auch wenn sie den Wortsinn stark beeinflußt hat.
17
welches einige Gruppen besitzen, deutlich zu machen, wird manchmal
auch von „Kultbewegungen“ gesprochen.34
2.3 Spezielle Beschreibungen des Sektenphänomens
Kurt Keinath definiert „Sekte“ als ein von „religiösen Gehalten
mitbestimmtes und in soziologischen Kategorien faßbares Gebilde“35,
wobei zwei Grundgesetze der Sektenbildung besonders deutlich werden,
zum einen die sogenannte „Abfallstheorie“, nach welcher der Stamm, von
dem sich eine Sekte abgespalten hat, sich dauernd von seinem
ursprünglichen Leitbild entfernt. Zum anderen erwähnt Keinath den
Gegensatz, in dem Sekten zur ursprünglichen Gemeinschaft (der Kirche)
stehen, wobei Grundinhalte der Lehre dieser ursprünglichen Gemeinschaft
uminterpretiert oder gar völlig eliminiert werden.
Die Sekte schlechthin, als Zusammenfassung einzelner Teile, existiert
nicht. Es gibt lediglich konkrete Erscheinungsformen von Sekten, in denen
sich verschiedenste Elemente in unterschiedlich starker oder schwacher
Ausprägung aufzeigen lassen.
Keinath
zieht
bestimmte
Kriterien
zur
Bestimmung
einzelner
Sektenformen heran. Eines dieser Kriterien betrachtet die Kirche als
Großverband, dem die Sekte als kleine Gemeinschaft gegenübersteht.
Dies nennt Keinath das „Numerische Kriterium“. Das zweite, das
sogenannte „Historische Kriterium“, sieht das Wesen der Sekte in der
Neuerung und diese als Abkehr von der „alten Lehre“, demzufolge sich
allerdings eine prekäre Situation ergeben würde: Das Christentum wäre so
eine jüdische, der Protestantismus eine katholische Sekte. Als drittes wird
das „Sozial-Soziologische Kriterium“ angeführt. Bei einer Sekte handelt es
sich diesem dritten Kriterium zufolge oftmals um eine Protestform
gegenüber einer verbürgerlichten Kirche, wobei dem einzelnen mehr
34
Vgl. Langel, Helmut, Destruktive Kulte und Sekten. Eine kritische Einführung, München
2
1995 , 23: „ Aus der Situation der Betroffenheit und der erfahrenen Schädigung
entstand in Amerika der Begriff des destructive cult, des destruktiven Kults.“
18
Beachtung und persönliche Zuwendung zuteil wird. Das „Psychologische
Kriterium“ macht die Bezeichnung „Sekte“ für eine Gruppe an bei
Sektengründern und Mitgliedern vorkommenden Abnormitäten fest.
Zusammenfassend stellt Keinath die Sekte dar als ein religiös-soziales
Gebilde, das weder das Glaubensbekenntnis der Kirche als verbindlich
anerkennt, noch an ökumenischen Kontakten Interesse zeigt. Am
Ursprung der Sekte steht eine Gründerperson,36 oder sie basiert auf dem
freiwilligen Zusammenschluß von Menschen gleicher Gesinnung.
Eine andersartige Beschreibung des Phänomens Sekte liefert HansDiether Reimer in einer Publikation der Evangelischen Zentralstelle für
Weltanschauungsfragen aus den siebziger Jahren, worin er sich sehr
vorsichtig äußert: „Aber heute nimmt man als nachdenklicher Mensch
diese abschätzige und damit verletzende Wort ‚Sekte‘‚ ,Sektierer‘, nur mit
einem Gefühl der Unsicherheit und des Unbehagens in den Mund.“37
Reimer betrachtet die von der Religionswissenschaft gegebene
Definition, die in der Sekte eine religiöse Minderheit sieht, welche sich von
einer
Mutterreligion
getrennt
hat,
als
ungenügend.
Hinter
der
Gegenüberstellung Kirche – Sekte steht seiner Meinung nach ein ganz
bestimmtes
Kirchenverständnis,
dem
ein
entsprechendes
Sektenverständnis folgt.
Angesichts der verwirrenden Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Sekte“,
die mehr Unklarheit als Klarheit bringt, soll in dieser Arbeit, im Hinblick auf
die Gruppierungen der Zeugen Jehovas und Scientology, folgende
Definition gelten, um den Sektenbegriff sinnvoll gebrauchen zu können:
Unter
Sekten
verstehe
ich
philosophisch–religiös
bestimmte
Gruppierungen, die außerhalb der Großkirchen stehen, das christliche
Glaubensbekenntnis nicht anerkennen und keinerlei Interesse an
35
Vgl. Keinath, Kurt, Sekte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br.
2
1964 , 613f. An dieser Stelle ist absichtlich die Ausgabe von 1964 zu Rate gezogen
worden, da die hier gegebene Definition sehr anschaulich ist.
36
Vgl. Hemminger, Was ist eine Sekte?, 15. Hemminger geht in den meisten Fällen von
charismatischen Gründerpersönlichkeiten aus. Er betont die anfängliche Gutwilligkeit
dieser Person. Diese denkt nicht immer an eine Trennung von einer Gruppe, sondern
verlangt eine Reform der jeweiligen Religion oder Gemeinschaft. Zum Sektierer wird
man dann erst aufgrund des Widerstands der institutionalisierten und organisierten
Kirchen oder anderer Gemeinschaften, deren Reform angestrebt wird.
37
Reimer, Hans-Diether (Hrsg.), Stichwort Sekten. Glaubensgemeinschaften außerhalb
der Kirchen, Stuttgart 1977, 7f.
19
ökumenischen Kontakten zeigen. Sie stehen anderen weltanschaulichen
Überzeugungen ablehnend bis feindlich gegenüber, sind auf die eigene
Führergestalt fixiert, verabsolutieren die eigene Lehre und dulden keinerlei
Kritik von innen wie von außen. Das Leben der Sektenmitglieder ist
geprägt durch gegenseitige Kontrolle, um die Stabilität des Systems zu
gewährleisten.
2.4 Das Sektenphänomen in Kirchengeschichte und
Theologie
Die Geschichte sektiererischer Gruppen läßt sich bereits am Beginn der
christlichen Gemeinden, wie sie uns in der Heiligen Schrift begegnen,
feststellen.38 Der Apostel Paulus beispielsweise setzt sich immer wieder
gegen Personen zur Wehr, die die überlieferte Lehre verfälschen. In den
übrigen Schriften des Neuen Testaments finden sich hierzu ebenso
zahlreiche Beispiele, wie in 2 Petr 2, 1, wo von Irrlehrern die Rede ist.39
Die Dogmengeschichte ist ebenfalls ein Zeugnis für den Kampf der Kirche
gegen die Ketzer und die dogmatische Abgrenzung gegenüber ihren
Irrlehren. Der Kirchenvater Tertullian charakterisiert im 2. Jh. zur offiziellen
Kirche in Widerspruch stehende Gruppierungen als „durch Irrtum und
Lüge verkommene Gebilde“.40 Das griechische Wort „hairesis“ entspricht
dem lateinischen „secta“ in seinem Gebrauch als Abgrenzung gegenüber
anderen Gruppen. Dieses wird im Neuen Testament an bestimmten
Stellen gebraucht, wie an der bereits zitierten in 2 Petr 2, 1, wo von
38
Vgl. Valentin, Friederike, Sekten, in: Gasper, Hans / Müller, Joachim / Valentin,
Friederike (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen,
4
Freiburg i. Br. 1996 , 980. Friederike Valentin bemerkt: „Das Verhältnis Kirche-Sekte
ist von Anfang an spannungsgeladen. Bereits im Neuen Testament ist von
‚verderblichen Sekten’ (2 Petr 2,1) die Rede.“
39
„Aber genauso wie im Volk Israel falsche Propheten aufgetreten sind, werden auch
unter euch falsche Lehrer auftreten, die gefährliche Irrlehren verkünden. Durch ihre
Lebensführung werden sie den erhabenen Herrn verleugnen, der sie freigekauft hat.
Damit werden sie sehr schnell ihren eigenen Untergang herbeiführen.“ (2 Petr 2, 1),
zitiert nach: Die Bibel. Gute-Nachricht-Bibel mit Einführungen und Bildern und den
Spätschriften des alten Testaments, Deutsche Bibelgesellschaft (Hrsg.), Stuttgart
1998.
40
Vgl. Segl, Peter, Sekte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br.
3
2000 , 414.
20
Irrlehrern die Rede ist. Im Griechischen wird von „verderblichen Irrlehren“
(haireseis
apoletas)
gesprochen.41
In
Zusammenhang
mit
der
Dogmengeschichte sei an die Irrlehre des Arianismus erinnert, ferner die
Gnosis,
den
Donatismus
oder
den
Montanismus.
Der
bekannte
nordafrikanische Bischof Augustinus faßte sämtliche ihm geläufigen
Irrlehren in seinem Werk „De haeresibus“ zusammen. Dieses bildete von
einigen Erweiterungen abgesehen das ganze Mittelalter hindurch eine Art
Leitfaden zur Beurteilung aller möglichen Ketzerbewegungen. Als Ketzer
wurden im Mittelalter auch die Katharer und Waldenser verfolgt. Die
Reformation zog zu Beginn der Neuzeit ebenfalls zahlreiche sektiererische
Abspaltungen nach sich, deren radikalste und wohl bekannteste die
Täuferbewegung
war.
Im
Zeitalter
der
Reformation
wurden
die
Protestanten von den Katholiken als Ketzer bezeichnet. Die Wiedertäufer
wurden von Katholiken und Protestanten gemeinsam als gefährliche
Sektierer bezeichnet, weshalb ihnen der Augsburger Religionsfriede von
1555 die reichsrechtliche Anerkennung versagte.
Die verschiedenen Definitionsversuche lassen die Schwierigkeiten bei
einer eindeutigen Bestimmung des Begriffs „Sekte“ erkennen. Sie zeigen
aber auch die Dringlichkeit einer allgemein anerkannten Definition des
Begriffs auf.
In einigen der heutigen Sekten treten wieder längst vergessene und von
der katholischen Kirche verworfene Irrlehren in neuem Gewand auf. Zu
diesen Irrlehren zählt etwa der Adoptianismus42 bei den Zeugen Jehovas,
wovon noch zu sprechen sein wird. Daher ist trotz aller ablehnenden oder
gar abwertenden Aspekte, die im Sektenbegriff mitschwingen, eine
Abgrenzung der Kirche gegenüber Sekten, wie die der im folgenden zu
behandelnden Zeugen Jehovas und Scientology, unerläßlich.
41
Vgl. Dietzfelbinger, Ernst, Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch6
Deutsch, Neuhausen / Stuttgart 1998 .
42
Die Anhänger dieser Lehre betrachteten Jesus Christus als reinen Menschen, der bei
der Taufe im Jordan von Gott adoptiert wurde.
21
3 Zwei Sekten als Beispiel
3.1 Die Zeugen Jehovas
3.1.1 Das religiöse Umfeld in den USA am Ende des 19.
Jahrhunderts
Die Mehrzahl der Auswanderer, die im 18. und 19. Jahrhundert vor
allem auch aus religiösen Gründen Europa verließen und nach
Nordamerika, in die sogenannte „Neue Welt“, aufbrachen, gehörte
überwiegend reformierten Glaubensgemeinschaften an, die wesentlich
von der Theologie Johannes Calvins durchdrungen waren.43
Ein wesentlicher Aspekt der Theologie Calvins ist der Gedanke der
Verherrlichung
Gottes
als
Endziel
der
Welt
und
die
doppelte
Prädestination des Menschen. Diese Vorherbestimmung kann zur
Seligkeit wie zur Verdammnis führen. Aber selbst die Verdammung des
Menschen gereicht zur Verherrlichung Gottes, denn die Verwerfung
unterstreicht die Erlösung aus reiner Gnade. Die theologische Auffassung
von der Verherrlichung Gottes als Endziel der Welt hat darüber hinaus
weitreichende Konsequenzen für das Alltagsleben. Frömmigkeit im
calvinistischen Sinn zeichnet sich durch strikte Enthaltsamkeit und Fleiß
im Berufsleben aus.
Von den reformierten Kirchen wurde auch der in alttestamentlichen
Prophetenworten auftauchende Begriff „Heiliger Rest“44 aufgegriffen.
Dieser „Heilige Rest“ sollte inmitten einer vom Glauben an den alleinigen
Gott Jahwe abgefallenen Gesellschaft ein besonders Gott wohlgefälliges
Leben führen. Ferner spielte der Gedanke der asketischen Lebensweise
und der Heiligung des Alltags durch Arbeit eine große Rolle. Die für das
Mönchtum klassischen evangelischen Räte der Armut und der Keuschheit
wurden nicht übernommen, wohl aber der Rat des Gehorsams, wobei der
Beschluß der Gemeinde als nicht zu hinterfragender Wille Gottes
interpretiert wurde, der besonders in der Heiligen Schrift zu erkennen ist.45
43
Vgl. Hägglund, Bengt, Geschichte der Theologie. Ein Abriß, München 1983, 201ff.
Vgl. Jer 23, 3; 31, 7; 40, 11f; 50, 20.
45
Vgl. Weber, Herbert / Valentin, Friederike, Zeugen Jehovas. Zwischen Bewunderung
2
und Befremdung. Ein Ratgeber, Freiburg i. Br. 1994 , 15.
44
22
Die ursprünglichen Hoffnungen der Auswanderer, in der Neuen Welt
eine Gesellschaft gemäß der Bibel und den Geboten Gottes aufzubauen,
wurden durch den Rationalismus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts
enttäuscht. Die Entwicklungen auf philosophischem Gebiet und die
Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaften bildeten die Grundlage
für neues modernes Denken und Handeln. Hägglund beschreibt diese
tiefgreifenden Veränderungen wie folgt: „Hinter dem neuen Weltbild steht
die Überzeugung von der Kompetenz der menschlichen Vernunft, das
Dasein zu überblicken und zu beherrschen und die Gesetze für das
Geschehen des Daseins wie auch die Regeln für das menschliche
Zusammenleben zu erkennen. Als Konsequenz der neuen Einstellung, die
auch eine fortschrittliche Entwicklung in Erkenntnis und Ethik des
Menschen annimmt, bilden sich eine rationalistische Naturerklärung und
Morallehre heraus.“46
Als
Gegenströmung
zu
dem
naturwissenschaftlichen
Denken
entstanden die sogenannten „Erweckungsbewegungen“47, deren Prediger
eine apokalyptisch-endzeitliche Stimmung erzeugten. Aus einer dieser
Erweckungsbewegungen
bildete
sich
um
1840
die
Gruppe
der
Adventisten heraus, als deren Gründer William Miller (1782-1849) gilt.48
Miller predigte die kurz bevorstehende Ankunft Jesu Christi und
errechnete anhand biblischer Zahlenangaben verschiedene Zeitpunkte, an
denen dieses Ereignis stattfinden sollte. Er setzte die Wiederkunft Christi
zunächst für den 21. März 1844, später für den 21. Oktober 1844 fest. Das
Ausbleiben der Parusie an den von ihm errechneten Terminen zog eine
tiefgreifende Enttäuschung auf Seiten der Anhänger Millers nach sich.
Eine
Aufsplitterung
der
Gemeinde
in zahlreiche
adventistische
Einzelgruppen war die Folge. Jede dieser Gruppen bemühte sich in der
folgenden Zeit darum, durch Neuinterpretation der Parusievorstellungen
Millers das Problem der nicht eingetroffenen Erscheinung Christi zu
46
Hägglund, Geschichte der Theologie, 262.
Dieser Terminus ist ein im protestantischen Bereich angesiedelter Begriff zur
Charakterisierung verschiedener Erneuerungsbewegungen, die sich außer in Europa
vor allem in Nordamerika verbreiteten.
48
Vgl. Obst, Helmut, Adventbewegung, in: Gasper, Hans / Müller, Joachim / Valentin,
Friederike, Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg i.
4
Br. 1996 , 19ff.
47
23
bewältigen. Die bedeutendste Gemeinschaft blieb die der Sieben-TagsAdventisten.49 Diese Gemeinschaft berechnete zunächst weitere Termine
und verlegte die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1874. Alle Jahreszahlen
erwiesen sich jedoch wie ehedem als unzutreffend.
Weitere Abspaltungen waren die Konsequenz. Hierbei spielte N. H.
Barbour eine entscheidende Rolle. Er war der Herausgeber einer Zeitung
mit dem Titel „The Herold of the Morning“.50 Barbour war der Meinung, die
richtige Übersetzung des griechischen Wortes „parousia“ sei „Gegenwart“.
Man deutete das Jahr 1874 von nun an als das Jahr der unsichtbaren
Gegenwart Jesu Christi. Diese Interpretation bot einen doppelten Vorteil.
Zum einen war die vorherige Panne bei den Berechnungen geschickt
überspielt worden, zum anderen konnte das Jahr 1874 immer noch als
korrekt bezeichnet werden. Diese neue Sichtweise ließ alle vorherigen
Berechnungspannen rasch vergessen.
3.1.2 Der Gründer der Zeugen Jehovas Charles Taze
Russell (1852 - 1916)
Der Gründer der Sekte der Zeugen Jehovas – zunächst unter dem
Namen „Ernste Bibelforscher“ auftretend – war der Amerikaner Charles
Taze Russell. Er hatte irisch-schottische Vorfahren und wurde in
Allegheny, in der Nähe von Pittsburgh, geboren. Als Neunjähriger verlor er
seine Mutter, mit fünfzehn Jahren machte ihn sein geschäftstüchtiger
Vater
zum
Teilhaber
an
einer
Vielzahl
von
Herrenbekleidungsgeschäften.51
Der junge Charles Taze beschäftigte sich sehr früh mit Themen des
christlichen Glaubens, was möglicherweise durch den frühen Tod seiner
Mutter mitbedingt war, aber besonders auf seine presbyterianische
49
Vgl. Reimer, Hans-Diether, Die Adventisten, in: Reimer, Hans-Diether / Eggenberger,
Oswald, ...neben den Kirchen, Konstanz 1979, 179f.
50
Twisselmann, Hans-Jürgen, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, Gießen /
8
Basel 1987 , 88ff.
51
Vgl. Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Deutscher Zweig e.V. (Hrsg.), Jehovas
Zeugen. Verkünder des Königreiches Gottes, Selters / Taunus 1993, 42 f.
24
Erziehung zurückzuführen ist.52 Zwei religiöse Probleme gewannen für ihn
dabei besondere Bedeutung: die Prädestinationslehre und damit die Frage
nach dem Freiheitsgrad des Menschen sowie das Problem der
Reprobation, der ewigen Verwerfung bzw. Verdammung, der bösen
Menschen.53 Diese beiden Probleme ließen ihn im Verlauf seines Lebens
nicht wieder zur Ruhe kommen: „Beruflich ging es ihm zwar gut, doch was
seinen Glauben betraf, war er sehr beunruhigt.“54 Als er von der Kirche der
Presbyterianer keine zufriedenstellende Antwort auf seine drängenden
Lebensfragen
bekam,
wechselte
er
in
die
sogenannte
„Kongregationalkirche“ über, wo ihn allerdings eine ähnliche Enttäuschung
erwartete.55 Die Folge war, daß er sich mit siebzehn Jahren völlig von den
Kirchen und ihren Glaubensbekenntnissen lossagte. Wie die Zeugen
Jehovas anmerken, beruhte dieser Entschluß Russels auf seiner
Erkenntnis, die Glaubenskenntnisse der christlichen Kirchen seien
irreführend und widersprächen dem Worte Gottes, auch wenn er ihnen
gewisse Elemente der Wahrheit zugesteht.56 Dies wird von der
Wachtturm-Gesellschaft
wie
folgt
kommentiert:
„Ja,
in
den
Glaubensbekenntnissen der Kirchen waren ,Bestandteile der Wahrheit’ in
einem
Morast
heidnischer
Lehren
verborgen,
die
während
des
jahrhundertelangen Abfalls in die befleckte Christenheit eingedrungen
waren.“57
Im Jahr 1870 trat eine Wende im Leben Russells ein. In diesem Jahr kam
er zum ersten Mal in Kontakt mit einer Gruppe von Adventisten, bei der er
mit der Vorstellung einer nahe bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi
vertraut gemacht wurde. Dieser Gedanke beschäftigte ihn derart, daß er
52
Die Wachtturm – Organisation bemerkt hierzu: „Seine Mutter starb, als er erst neun
Jahre alt war, aber schon von früher Kindheit an war er von seinen frommen Eltern
religiös erzogen worden. Ein späterer Gefährte C.T. Russells drückte es so aus: ,Sie
pflegten den kleinen Zweig und er wuchs in der Richtung des Herrn’.“(Jehovas
Zeugen, 42).
53
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 88ff.
54
Jehovas Zeugen, 43.
55
Vgl. Reimer, Hans-Diether, Jehovas Zeugen, in: Reimer / Eggenberger, ...neben den
Kirchen, Konstanz 1979, 220f.
56
„Schritt für Schritt erkannte ich, daß, obwohl jedes der verschiedenen
Glaubensbekenntnisse Bestandteile der Wahrheit enthielt, sie doch als Ganzes
irreführend und mit dem Wort Gottes im Widerspruch waren.“ (Jehovas Zeugen, 43).
57
Jehovas Zeugen, 43.
25
sich dazu entschloß, mit Freunden und Verwandten zum regelmäßigen
Studium der Heiligen Schrift zusammenzukommen. Bald darauf lernte er
die von Barbour herausgegebene Zeitung „Herold of the Morning“ kennen,
und nach einem persönlichen Gespräch mit Barbour übernahm Russell
die Lehre von der Ankunft des Herrn im Jahr 1874. Er beteiligte sich von
nun an finanziell und mit persönlichem Engagement an der Herausgabe
der Zeitschrift Barbours. Russell gab sogar seinen Beruf als
Geschäftsmann auf, um sich ganz der Aufgabe der Verkündigung der für
1874 erwarteten Wiederkunft Christi widmen zu können. Er erweiterte
diese Lehre, indem er die Jahre von 1874 bis 1914 als eine „vierzigjährige
Erntezeit" bezeichnete, an deren Abschluß 1914 das Königreich Christi
anbrechen werde und alle anderen Reiche einer universalen Vernichtung
anheimfallen würden. Es dauerte aber nicht lange, da trennte sich Russell
unerwartet von Barbour. Grund war die von diesem betriebene Kritik
biblischer Texte, die bis hin zu Zweifeln an der zentralen Bedeutung des
Erlösungstodes Jesu Christi führte. In einem Brief an Barbour vom 3.Mai
1879 machte Russell ihn auf sein falsches Verständnis der Bedeutung des
Todes Jesu aufmerksam und legte seine Gründe für die Trennung von
Barbour dar.58
Mit Russell verließen eine Reihe Anhänger ebenfalls die Gruppe und
schlossen sich ihm an. Die Lehre von der unsichtbaren Gegenwart Jesu
Christi wurde allerdings beibehalten und erweitert. Um die weitere
Verbreitung dieser Lehre zu gewährleisten, und um trotz der Trennung
von Barbour mit der Verkündigung des Königreiches Gottes fortfahren zu
können und vor allem die Lehre vom Loskaufopfer Jesu im Gegensatz zu
Barbour zu verkündigen gründete Russell am 1. Juli 1879 eine eigene
Zeitschrift mit dem Titel „Zion's Watch Tower and Herald of Christ's
Presence“.59 Diese Zeitschrift erfuhr aufgrund des unermüdlichen
58
„Die Abweichungen erscheinen mir so gravierend, daß die enge Verbundenheit und
Harmonie, wie sie zwischen Herausgebern und Redakteuren eines Blatts oder einer
Zeitschrift bestehen sollte, zwischen Dir und mir nicht mehr existiert, und deshalb bin
ich der Meinung, daß wir unsere Verbindung abbrechen sollten.” (Jehovas Zeugen,
48).
59
Die Wachtturm-Gesellschaft gibt dies heute wie folgt wieder: „C.T. Russell war
allerdings der Meinung, daß es nicht reichte, sich vom Herald zu distanzieren; die
Lehre vom Lösegeld mußte verteidigt und Christi Gegenwart verkündigt werden.
26
Engagements der Anhänger Russells eine enorme Verbreitung, und somit
war der erste Schritt für ein internationales Werk vollzogen. Neben dieser
Zeitschrift sind die sogenannten „Schriftstudien“ Russells zu nennen, in
denen er seine wesentlichen theologischen Gedanken niederschrieb.
Russell gründete im Jahr 1881 eine Traktat-Gesellschaft, die sich die
Verbreitung der Schriften zur Aufgabe machte und die er „Zion's Watch
Tower Tract Society“ nannte. Die Gesellschaft wurde 1884 in
Pennsylvanien gesetzlich eingetragen und 1896 in Watch Tower and Bible
Tract Society umbenannt.60 Diese Gesellschaft und die Gruppe der
Bibelforscher, wie sich die Anhänger Russells auch nannten, waren
anfangs von einem harmonischen Verhältnis untereinander geprägt. Alles
schien sich optimal zu entwickeln, bis sich dann eine Krise in Russells
Eheleben abzeichnete. 1906 erfolgte die Scheidung der Ehe61, was nicht
ohne Folgen für die von Russell gegründete Gesellschaft blieb, da seine
Frau innerhalb der Organisation einen bedeutenden Einfluß ausübte;
wegen hinzukommender Lehrstreitigkeiten kam es zu mehreren
Abspaltungen.62
Russell ließ sich von diesen Krisen nicht entmutigen. Er sagte für das
Jahr 1914 bahnbrechende Ereignisse für die Zukunft der Menschheit
voraus, so die Zerstörung aller Reiche dieser Welt und die Errichtung
eines tausendjährigen Reiches Jesu Christi. Der heiligen Stadt Jerusalem
werde besondere Ehre zuteil, alle Heiligen des Alten Bundes würden
auferstehen und als sichtbare Herrscher über die Erde eingesetzt werden,
die Juden würden die Gnadenstellung wiedererlangen, die sie einst
innehatten.63 So werde Gott sein Reich für alle Menschen unübersehbar
aufrichten.
Daher gab Russell im Juli 1879 Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence
(Zions Wacht-Turm und Verkündiger der Gegenwart Christi) heraus.” (Jehovas
Zeugen, 48).
60
„Zion’s Watch Tower Tract Society. Gegründet 1881 und gesetzlich eingetragen am
15. Dezember 1884 im Staat Pennsylvanien. 1896 wurde ihr Name auf Watch Tower
Bible and Tract Society abgeändert.” (Jehovas Zeugen, 229).
61
Die Ehescheidung wird von der WTG als gegen den Willen Jesu gerichtet gewertet
(vgl. Jehovas Zeugen, 177ff.), die Scheidung der Ehe Russells wird daher in der
WTG-Literatur bewußt übergangen.
62
Vgl. Gassmann, Lothar, Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Beurteilung,
Neuhausen / Stuttgart 1996, 30f.
63
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 91f.
27
Keine dieser Voraussagen traf ein. Statt dessen kam der Erste Weltkrieg
und alle Hoffnungen wurden zunichte gemacht. Russell verschob nach
diesen Enttäuschungen den Termin der erwarteten Wiederkunft Christi
von 1916 auf 1918. Das Nichteintreten der von ihm berechneten
Ereignisse schrieb er dem geheimnisvollen Wirken Gottes zu und zog
sich somit aus der Verantwortung. Um seine Anhänger zu beschwichtigen
schrieb er: „Brüder, wer von uns Gott gegenüber die rechte Einstellung
hat, der ist über keine seine Handlungsweisen enttäuscht.”64 Russell starb
am 31.Oktober 1916, ohne erleben zu müssen, daß auch das neue Datum
falsch war. Sein Tod hatte den Ausbruch extremer Spannungen innerhalb
seiner Anhängerschaft zur Folge. Erst kurz vor Ende des Ersten
Weltkrieges wurde es nach schwierigsten Machtkämpfen möglich, das
Problem seiner Nachfolge zu lösen.65
3.1.3 Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin
Rutherford
Unter der Präsidentschaft J. F. Rutherfords wehte ein neuer Geist in der
Wachtturm-Organisation.66 Am 8. November 1869 in Morgan County
(Missouri) als Kind baptistischer Eltern geboren, kam er mit sechzehn
Jahren aufs College, um Rechtswissenschaften zu studieren, und wurde
1892 Rechtsanwalt einer Firma in Missouri. Zeitweise wirkte er sehr
erfolgreich als Staatsanwalt und Sonderrichter, was ihm den Beinamen
„Richter“ einbrachte.67
1894 kam er durch zwei Anhängerinnen Russells mit der Organisation in
Kontakt, ließ sich 1906 „taufen“ und wirkte bereits ab 1907 als
Rechtsberater der Wachtturm-Gesellschaft. Darüber hinaus vertrat er
Russell bei öffentlichen Auftritten und Diskussionen. Seine Position als
Rechtsbeistand der Wachtturm-Organisation lieferte ihm alle nötigen
64
Jehovas Zeugen, 62.
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 42f.
66
Vgl. Kaiser, Eva-Maria / Rausch, Ulrich, Die Zeugen Jehovas. Ein Sektenreport,
München 1998, 126f.
67
Vgl. Jehovas Zeugen, 67.
65
28
Voraussetzungen für eine Übernahme der obersten Führungsgewalt. Er
setzte kurzerhand sämtliche Konkurrenten vor die Tür. Die in Konkurrenz
zu ihm stehenden und ihres Amtes enthobenen Mitglieder des
Führungsgremiums waren laut WTG zwar von Russell ernannt worden,
hatten jedoch auf der Jahresversammlung der Gesellschaft nie eine
offizielle Bestätigung erhalten. Dies kam Rutherford jetzt, bei der
Begründung ihrer Amtsenthebung, zugute. Er erwies sich so als der einzig
legitime Nachfolger Russells. Er wollte sie vor allem wegen ihrer Kritik an
seinem Führungsstil ausschalten. Seine Ausübung der Regierung
innerhalb der Organisation wurde von ihnen als „bestehende Tyrannei“
empfunden. Die WTG bezeichnet seine Konkurrenten auch heute noch als
Unruhestifter.68 Rutherford gehörte zu einem mehrköpfigen Direktorium,
dem er lange vor Russells Tod angehörte, gelangte an die Spitze des
Komitees zur Herausgabe der Zeitschriften und war mit der Arbeit und den
Strukturen bestens vertraut. Am 6. Januar 1917 wurde er bei der Wahl
innerhalb des Führungsgremiums offiziell bestätigt. Es galt, in der
nächsten Zeit schwierigste Aufgaben zu bewältigen, denn die von Russell
für 1914 vorhergesagten Ereignisse waren nicht eingetreten.
Rutherford verstärkte die Werbearbeit. Als weitere Maßnahmen wurden
die bisher nur lose miteinander verbundenen einzelnen Versammlungen,
also die Ortsgemeinden, zentralisiert und über die Zentrale in Brooklyn
verwaltet. Dies hatte eine bessere Überschaubarkeit und Kontrolle zur
Folge und führte nicht zuletzt zu einem rapiden Mitgliederzuwachs
innerhalb kürzester Zeit.
Das Ausbleiben der angekündigten Parusie für 1914 wurde durch
Umdeutungen der Aussagen Russells vertuscht.69 Entscheidend bei
dieser neuen Interpretation der alten Vorhersagen war ein von Rutherford
und
seinen
Mitarbeitern
herausgegebener
siebter
Band
der
„Schriftstudien“ mit den theologischen Gedanken Russells, der zwar von
diesem begonnen, aber von Rutherford und seinen Mitarbeitern vollendet
und somit auch verändert wurde. Er wurde aber bei seinem Erscheinen
68
69
Vgl. Jehovas Zeugen, 67f.
Vgl. Twisselmann, Hans-Jürgen, Der Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas,
Gießen 1995, 78f.
29
als authentischer Band Russells ausgegeben.70 Ab den zwanziger Jahren
ließ Rutherford den Druck der Schriften Russells völlig einstellen, um
möglichst seine eigenen Gedanken und Lehren unter den Anhängern zu
verbreiten.
1917 traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Rutherford und seine
Anhänger lehnten aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen sämtliche
Kriegshandlungen ab. Sie waren davon überzeugt, als einzige religiöse
Gemeinschaft das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern, und
verachteten alle politischen und kirchlichen Systeme, weil diese sich an
den
Kriegshandlungen beteiligten und somit ihre Gottfeindlichkeit
eindeutig unter Beweis stellten. Rutherford scheute selbst vor öffentlicher
Polemik gegen den Staat und die Kirchen nicht zurück. Dies brachte ihn in
eine schwierige Situation. Lothar Gassmann bemerkt hierzu: „Die Antwort
ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als
auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und
staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die
Ernsten
Bibelforscher
genau
beobachten.“71
Bald
darauf
wurden
Rutherford und einige der führenden Köpfe der Bibelforscher verhaftet.72
Kurz vor Ende des Krieges kamen die verhafteten Bibelforscher jedoch
wieder frei. Die Inhaftierung Rutherfords steigerte dessen Ansehen
innerhalb der Organisation erheblich.
Rutherford veröffentlichte 1920 eine Zeitschrift mit dem Titel „Millionen
jetzt lebender Menschen werden niemals sterben“. Darin sagte er ähnlich
wie einst Russell bahnbrechende Ereignisse voraus, die er jedoch für
1925 ansetzte. Zu diesen Ereignissen zählte unter anderem die Rückkehr
der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob auf diese Erde. Als diese
Geschehnisse
ausblieben,
verzichtete
Rutherford
auf
weitere
Voraussagen. Er führte statt dessen weitere Neuerungen ein, so die
Verpflichtung des Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Gründung
70
„Geschäftsführende Vorstandsmitglieder der Gesellschaft überprüften das fertige
Manuskript und genehmigten die Veröffentlichung, [...].“ (Vgl. Jehovas Zeugen, 67).
71
Gassmann, Zeugen Jehovas, 56.
72
Unter der Überschrift „Opfer einer von Geistlichen angezettelten Verfolgung“ macht die
WTG hierfür aber allein die Vertreter der Kirchen, die mit dem Staat paktiert hätten,
verantwortlich. (Vgl. Jehovas Zeugen, 70).
30
eigener Rundfunkstationen und die Abschaffung der für ihn als heidnisch
geltenden Feiertage wie Weihnachten und Ostern und der christlichen
Symbole, vor allem des Kreuzes.
Die Mitglieder der Bibelforscher wurden zu legitimen Nachfolgern des
Alten Israel und der christlichen Kirchen erklärt, die ihre Chance auf die
Erlangung des Heils verwirkt hatten. Die Wachtturm-Organisation war
somit zur auserwählten endzeitlichen Heilsgemeinde geworden. Von nun
an führten sie die bis heute beibehaltene Bezeichnung „Zeugen Jehovas“.
Dies wurde im Jahr 1931 öffentlich bei einem Kongreß bekanntgegeben.
Gleichzeitig wurde die Entwicklung der Sekte zu einem totalitären
religiösen System eingeleitet.
3.1.4 Die Entwicklung der Zeugen Jehovas in Deutschland
3.1.4.1 Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich
Die Ausbreitung der Zeugen Jehovas in Deutschland wurde durch die
Übersiedlung des Deutsch-Amerikaners Otto Kötitz eingeleitet, der sich im
Jahr 1903 in Elberfeld niederließ und dort ein Zentrum der Organisation
eröffnete.73 Die Ernsten Bibelforscher gründeten in den folgenden Jahren
zunächst kleinere Versammlungen, die sich rasch vergrößerten.
Ab dem Jahr 1904 erschienen die ersten Ausgaben der Zeitschrift „Der
Wachtturm“ in deutscher Sprache. Russell, der bei einer Europareise 1891
schon einmal Deutschland besucht hatte, kehrte in den Jahren von 1909
bis 1911 zu mehreren Predigtveranstaltungen wieder hierhin zurück.74
Sein Nachfolger Joseph Franklin Rutherford kam 1913 aus dem gleichen
Grund nach Deutschland. In der Zeit des Ersten Weltkrieges gestaltete
sich die Situation für die Organisation in Deutschland wie in den USA
aufgrund
ihrer
staats-
und
kirchenfeindlichen
Einstellung
äußerst
schwierig, was die Inhaftierung vieler Mitglieder zur Folge hatte. Nach dem
73
Vgl. Weber / Valentin, Die Zeugen Jehovas, 32f. Vgl. auch Köppl, Elmar, Die Zeugen
2
Jehovas. Eine psychologische Analyse, München 1990 , 39.
74
Vgl. Weber / Valentin, Die Zeugen Jehovas, 32f.
31
Tod Russells im Jahr 1916 brach in Deutschland, ebenso wie in Amerika,
eine schwere Krise innerhalb der Anhängerschaft der Zeugen Jehovas
aus. Infolge des Austritts des Schweizers Alexander Freytag verließen
auch in Deutschland zahlreiche Anhänger die Organisation.
Alexander Freytag gehörte den Ernsten Bibelforschern zwanzig Jahre
lang an, trennte sich aber von ihnen aufgrund von Lehrstreitigkeiten. Ein
Hauptstreitpunkt war hierbei die Frage nach der Heiligung des Menschen
durch Gott und nach dem Maß seiner Abhängigkeit von ihm.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Bedingungen für einen
Neuanfang aufgrund der Wirren des Krieges und der bedrückenden
Situation, in der sich die deutsche Bevölkerung befand, äußerst günstig.75
Bereits
ein
Jahr
vor
Großveranstaltung,
ein
Kriegsende
wurde
sogenannter
in
Leipzig
„Kongreß“
eine
abgehalten.
erste
Die
Mitgliederzahl stieg nach Kriegsende auf einige Tausend an. 1923 wurde
in Magdeburg eine Druckerei eröffnet, wohin 1926 auch das Büro für
Deutschland
verlegt
wurde.
Mit
der
Machtergreifung
der
Nationalsozialisten (1933), brach eine schwere Zeit der Verfolgung und
des Leides für die bekenntnistreuen Sektenmitglieder an.76 Ein Konflikt der
Zeugen
Jehovas
unausweichlich.
mit
Der
dem
der
nationalsozialistischen
Organisation
von
Regime
Rutherford
war
verliehene
Charakter eines totalitären religiösen Systems, das alle kirchlichen und
staatlichen Einrichtungen als widergöttlich brandmarkte und deren
Untergang androhte, forderte geradezu Reaktionen von seiten des
ebenfalls totalitären Systems des Nationalsozialismus heraus.
Hans-Jürgen Twisselmann, ein renommierter Kenner der Sekte,
bemerkt hierzu: „Nicht nur die zur Macht drängende Nazipartei war ja nach
damaliger offizieller Lehre der WTG ‚vom Teufel’, sondern alle
Regierungen dieser Welt.“77 Die Organisation verstand sich als göttliches,
allen anderen Systemen feindlich gegenüberstehendes Gebilde. Die
Naziregierung
75
sah
in
der
Sekte
eine
Institution,
die
sich
der
Vgl. Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1966, 113.
Vgl. Köppl, Die Zeugen Jehovas, 40.
77
Twisselmann, Hans-Jürgen, Filmkritik. Jehovas Zeugen im „Dritten Reich“ – Zwischen
Anpassung und Martyrium, in: Brücke zum Menschen Nr. 130. 2. Quartal 1997, 7.
76
32
Gleichschaltung
widersetzte
und
die
angestrebte
Einheit
der
„Volksgemeinschaft" gefährdete.78 Diese Gefahr wurde in den Augen des
Regimes durch die weiterhin äußerst eifrige Missionstätigkeit der Zeugen
Jehovas noch verstärkt.
Der tiefste Beweggrund für die Verfolgung der Zeugen Jehovas lag in
der Verwendung alttestamentlichen und damit jüdischen Gedankengutes.
Ein von Rutherford herausgegebenes Buch mit dem Titel „Trost für die
Juden“79 trug allein durch dessen Titel ein Übriges dazu bei.
Die Verweigerung des Militärdienstes für das Vaterland war für die
Nationalsozialisten ein weiterer Beweis für die Staatsfeindlichkeit der
Zeugen
Jehovas,
Organisation
eine
die
aufgrund
große
des
Gehorsams
Risikobereitschaft
gegenüber
zeigten.
der
Hans-Jürgen
Twisselmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Die Bereitschaft einer
so großen Zahl von Zeugen Jehovas, in dieser bedrohlichen Situation des
Jahres 1933 Rutherfords Anweisungen zu folgen und in der Folgezeit an
der einmal getroffenen Entscheidung festzuhalten, ist auch das Ergebnis
der systematischen Bindung an die WTG.“80
1933 wurde die Magdeburger Druckerei der Zeugen Jehovas
beschlagnahmt, und in Sachsen, der damaligen Hochburg der Sekte,
wurde die Organisation vollends aufgelöst.81 In einem Schreiben aus dem
Jahr 1934 versuchte Rutherford, die deutsche Reichsregierung zur
Tolerierung der Sekte zu bewegen, und drohte bei einer Ablehnung seiner
Forderung
dem
Naziregime
die
endgültige
Vernichtung
durch
Harmagedon82, das Strafgericht Gottes, an.
Das Nazi-Regime ließ sich weder durch die Drohung Rutherfords noch
durch den Mut der Anhänger beeindrucken und ging mit gnadenloser
Härte gegen die Sekte vor. Viele Zeugen Jehovas starben infolge von
Mißhandlungen, andere kamen in Konzentrationslager oder wurden
78
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 139.
Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern, 139.
80
Twisselmann, Jehovas Zeugen im „Dritten Reich“, 9. Vgl. auch Hutten, Seher, Grübler,
Enthusiasten, 95.
81
Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern, 143.
82
Vgl. Grabner-Haider, Anton (Hrsg.), Harmagedon, in: Praktisches Bibellexikon,
Neuausgabe, Freiburg i. Br. 1994, 466.
79
33
einfach umgebracht. Die Verantwortung für diese Verfolgung weist die
Wachtturm-Gesellschaft noch heute der katholischen Kirche zu. Diese
habe sich stets der Hilfe des Staates bedient, um ihre Feinde zu
unterdrücken, die es wagten, „die Lehren und Praktiken der Kirche in
Frage zu ziehen”. Als Begründung für diese These nennt die WTG die
Inquisition, die sich des Staates bedient habe, um ihre Ziele
durchzusetzen. In diesem Zusammenhang spricht sie vom Abschluß des
Konkordates vom 20.7.1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem
Vatikan. Sie deutet das Konkordat in dem Sinne, daß die Kirche in Adolf
Hitler „einen willigen Verbündeten gefunden“ habe, ein Werkzeug, „um die
Zeugen Jehovas in Deutschland zu vernichten”.83
3.1.4.2 Von 1945 bis heute
Nach dem Tod Rutherfords wurde Nathan Homer Knorr84 1942 dessen
Nachfolger. Er führte die Gesellschaft von 1942 bis 1977. Knorr war ein
überaus erfolgreicher Geschäftsmann und leitete den Wachtturm-Konzern
nach den Prinzipien moderner Wirtschaftsunternehmen, wobei er sich um
neue Absatzmärkte für die Organisation bemühte.85 Eine seiner
wesentlichen Neuerungen war, daß er eine spezielle Schulung der
Mitarbeiter einführte.86 Jeder sollte dazu befähigt werden, mit gekonnten
Reden und psychologischem Geschick die Zeitschriften der Gesellschaft
abzusetzen. 1943 errichtete er die sogenannte „Gileadschule“87 in New
York, die bis heute der besonderen Ausbildung von Mitarbeitern dient.
Im Unterschied zu seinem Vorgänger Rutherford verzichtete Knorr auf
eine Konfrontation mit den staatlichen Autoritäten und fand auch zu einer
83
„Wo es jedoch möglich war, bediente sich die katholische Geistlichkeit wie zur Zeit der
Inquisition des Staates, um jeden zu unterdrücken, der es wagte, die Lehren und
Praktiken der Kirche in Frage zu ziehen [..]. In Adolf Hitler hatte die Geistlichkeit einen
willigen Verbündeten. 1933, im gleichen Jahr, in dem ein Konkordat zwischen dem
Vatikan und dem nationalsozialistischen Deutschland unterzeichnet wurde, setzte
Hitler eine Kampagne in Gang, um Jehovas Zeugen in Deutschland zu vernichten.
1935 waren sie im ganzen Land verboten.” (Jehovas Zeugen, 659).
84
Vgl. Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten, 84.
85
Vgl. Gassmann, Lothar, Zeugen Jehovas, 65.
86
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 134.
87
Ibid.,134.
34
toleranteren Einstellung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften;
denn die Zeiten hatten sich geändert, und es gab keine existentielle
Bedrohung der Organisation mehr, wie zur Zeit der beiden Weltkriege. Die
gemäßigtere Position Knorrs ist auch in Zusammenhang mit der
Geschäftstaktik eines Geschäftsmannes zu sehen, der versucht, durch
geschickte Strategien das Beste für seine „Firma“ herauszuholen. Die
öffentlichen Angriffe auf die Kirchen wurden abgemildert zugunsten der
Behauptung, die Zeugen Jehovas besäßen die einzig wahre Religion.
Innerhalb der Organisation herrschte Knorr unumschränkt. Offiziell gab
es zwar ein Führungsgremium, das sich „leitende Körperschaft“ nannte.
Dieses existierte allerdings nur dem Namen nach. Präsident Knorr regelte
sämtliche Angelegenheiten persönlich und duldete keinen Widerspruch.
Bedingt durch Proteste anderer in hohen Positionen befindlicher
Mitarbeiter, erfolgte 1975 eine Umgestaltung des beschlußfassenden
Gremiums,
die
für
die
Durchsetzung
von
Beschlüssen
eine
Zweidrittelmehrheit vorsah.88
Bereits zu Lebzeiten Knorrs übte Frederick W. Franz (1893-1992) einen
enormen Einfluß auf die Organisation aus. Er war Geisteswissenschaftler
und wollte ursprünglich Prediger der Presbyterianischen Kirche werden.
Durch das Studium der Literatur der Ernsten Bibelforscher entschied er
sich 1913 für die „Taufe“.89 1945 wurde er Vizepräsident und übernahm
am 22.7.1977 das Amt des Präsidenten. Im Zusammenhang mit der Wahl
von Frederick Franz zum Präsidenten der Organisation hebt die WTG
seine Verdienste besonders lobend hervor.90 Franz wußte um die Fehler
bei der Berechnung der Endzeit von 1914 und 1925, wagte es aber
trotzdem, für 1975 weitere endzeitliche Spekulationen anzustellen. Als
seine Vorhersagen sich ebenfalls als unzutreffend erwiesen, versuchte er
88
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 137.
Ibid., 138f. Die sogenannte Taufe besitzt bei den Zeugen Jehovas keinen
sakramentalen Charakter wie in den Großkirchen, sondern sie ist ein Zeichen für die
bedingungslose Unterwerfung gegenüber der Wachtturm-Gesellschaft, die als
Sprachrohr Gottes fungiert.
90
„Sein Ruf als bedeutender Bibelgelehrter und seine unermüdliche Arbeit zur Förderung
der Königreichsinteressen haben ihm das Vertrauen und die loyale Unterstützung der
Zeugen Jehovas überall eingetragen.“ (Jehovas Zeugen, 109).
89
35
ihnen eine neue Deutung zu geben. Er starb 1992 im Alter von 99
Jahren.91
Seitdem liegt die Führung der Zeugen Jehovas in den Händen von
Milton G. Henschel (*1920). Er ist der erste Präsident, der in diese
Organisation hineingeboren wurde.92 Henschel war längere Zeit Sekretär
Knorrs,
ab
1976
auch
Mitglied
des
Verlagskomitees
und
des
Vorsitzenden-Komitees. Er vertrat stets einen konservativen, Reformen
ablehnenden Standpunkt, den er bis heute beibehalten hat.
3.1.5 Der Begriff der sogenannten „Theokratischen
Organisation“
Kurt Hutten, ein renommierter Kenner der Zeugen Jehovas, macht
deutlich, daß die Organisation nach Meinung der Zeugen Jehovas von
Gott selbst ins Leben gerufen worden sei. Er schreibt: „Die ganze
Menschheit wird in Harmagedon untergehen – mit einer einzigen
Ausnahme: das ist die Theokratische Organisation. [...] Ihre Würde rührt
daher, daß sie kein Menschenwerk, sondern Jehovas eigene Schöpfung
ist.“93 Diese Überzeugung der Zeugen Jehovas wird in den Publikationen
der WTG stets betont. Die Legitimierung der Organisation durch Jesus
und die Apostel soll durch die Bezeichnung der Jünger Jesu als „Zeugen
Jehovas“ plausibel gemacht werden.94
Der Begriff „Theokratische Organisation“ wurde von den Nachfolgern
Russells eingeführt. Russell wollte kurz vor seinem Tod Versetzungen
innerhalb des oberen Mitarbeiterstabes vornehmen. Er erreichte dieses
Ziel jedoch nicht mehr, so daß es erst unter Rutherford verwirklicht wurde.
Mit dieser Reorganisation der Sekte zog sich Rutherford die
Feindschaft der Direktionsmitglieder zu, und diese weigerten sich in der
91
Vgl. Pape, Günther, Zeugen Jehovas, in: Gasper / Müller / Valentin, Lexikon der
Sekten, 1180f.
92
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 74.
93
Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, 95. Vgl. auch Schnell, William J., Falsche
Zeugen stehen wider mich. 30 Jahre Sklave des Wachtturms, Konstanz 1986, 60f.
94
„Tatsächlich erhielten Jesu Jünger ein beispielloses Vorrecht - Zeugen sowohl von
Jehova als auch von Jesus zu sein. Als treue Juden waren Jesu erste Jünger bereits
Zeugen Jehovas (Jes. 43: 10-12).“ (Jehovas Zeugen, 26).
36
folgenden Zeit, seinen Anweisungen nachzukommen. Sie forderten einen
bloßen
Repräsentationscharakter
des
Präsidentenamtes,
die
Entscheidungen sollten von einem Gremium vorgenommen werden.
Gegen Rutherford konnten sie sich aber nicht durchsetzen. Günther Pape
bemerkt hierzu: „Als sie Rutherford stürzen wollten, mußten die vier
Direktionsmitglieder die Erfahrung machen, daß sie vier Flaschenkorken
glichen, die gegen den Felsen von Gibraltar sprangen.“95
Durch eine geschickte Interpretation der Organisationssatzungen
bestritt
Rutherford
die
Rechtmäßigkeit
der
Forderungen
der
Direktionsmitglieder mit der Konsequenz, daß sie ihre Posten verloren und
aus der Organisation ausgeschlossen wurden.96 Durch das Ausschalten
der Konkurrenten habe Rutherford, so sehen es die Zeugen Jehovas, die
„Reinigung des Tempels“, wie einst Jesus, vorgenommen.97 Dieser
Machtkampf zeigt, daß die theokratische Struktur der Zeugen Jehovas
demokratische Züge vollends ausschließt.98
Zur Zeit Russells gab es das Prinzip der Wahl von Ältesten durch die
Gemeinde. Doch dies widersprach Rutherfords Vorstellungen, so daß er in
jeder Versammlung einen Dienstleiter einsetzte. Im Jahr 1932 schaffte er
das System der Ältestenwahl ganz ab99 und tilgte selbst die Begriffe
„Gemeinde“ und „Kirche“ aus dem Sprachgebrauch der Sekte. Die
endgültige Durchsetzung dieses Zieles konnte allerdings erst im Jahr 1938
erfolgen.100 Diese Unterwerfung der Sekte unter den Willen des
Präsidenten ist das wichtigste Merkmal der „Theokratischen Organisation“.
Seitdem ist die Theokratische Organisation das „Sprachrohr Gottes“
und gilt als der „Kanal Jehovas“, durch den Gott seinen Anhängern seine
Befehle kundtut. Diese Vorstellung ist bis heute unverändert die gängige
Lehrmeinung bei den Zeugen Jehovas. Die Regierung der Theokratie
obliegt
der
„Watch-Tower-Bible-And-Tract-Society“,
Verantwortlicher der Präsident ist.
95
8
Pape, Günther, Ich war Zeuge Jehovas, Wien 1987 , 60f.
Ibid.
97
Ibid.
98
Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 60f.
99
Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas, 121.
100
Ibid.
96
deren
oberster
37
3.1.6 Die Zentrale in Brooklyn (USA) und die Stellung der
Ortsversammlungen
Die Zentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn versteht sich als „Kanal
Jehovas“ und gibt die Befehle Gottes an die Anhänger weiter. Den
Ortsversammlungen kommt dabei eine empfangende und ausführende
Funktion zu. Getaufte Zeugen Jehovas werden als „Verkündiger“101
bezeichnet.
Jeder Verkündiger gehört einer Ortsversammlung an, mit der er in
ständigem Kontakt zu stehen hat. Zu einer Versammlung zählen 60 bis 70
Mitglieder; wird die Zahl überschritten, so erfolgt eine Aufteilung der
Versammlung, um eine optimale Betreuung der Gläubigen und eine
bessere Kontrolle durch die Ältesten zu gewährleisten. Dem Unterhalt der
Versammlung dient ein Spendenkasten, der für alle sichtbar im
Versammlungsgebäude, dem Königreichssaal, aufgestellt ist.102
Die Ältesten sind die Aufseher der Ortsversammlungen. Ihre Ernennung
erfolgt ausschließlich durch die Zentrale, welche zu diesem Zweck ein
Schreiben an den jeweiligen vorsitzenden Aufseher richtet, das öffentlich
verlesen wird. Das sogenannte „Versammlungsdienstkomitee“103 ist die
oberste Entscheidungsinstanz einer Ortsversammlung. Es setzt sich
zusammen aus dem vorsitzenden Aufseher, dessen Sekretär und aus
dem den Predigtdienst leitenden Dienstaufseher. Der WachtturmStudienleiter, der ebenfalls dem Ältestenkreis angehört, ist für die
Vorbereitung und Leitung des wöchentlich stattfindenden Studiums
verantwortlich. Bei Streitfällen innerhalb der Versammlung wird aus dem
Kreis der Ältesten ein sogenanntes „Rechtskomitee“ zusammengestellt.104
Eine weitere Untergliederung der Sekte liegt mit dem Amt des
„Versammlungsbuchstudienleiters“ vor, welcher dem Dienstaufseher
untergeordnet
ist.
Bei
Bedarf
erfolgt
die
Ernennung
eines
„Dienstamtsgehilfen“, dessen Aufgabe darin besteht, die Aufseher zu
101
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 241.
Ibid., 215.
103
Ibid., 37f.
104
Ibid., 193.
102
38
unterstützen.
In
Großstädten,
in
denen mehrere
Versammlungen
existieren, ist der „Stadtaufseher“ die führende Persönlichkeit am Ort.
Ansonsten obliegt dem Kreisaufseher die Verantwortung für mehrere
Kreise, welche zusammen einen „Bezirk“ bilden, an dessen Spitze ein
„Bezirksaufseher“ steht.
Die Sekte der Zeugen Jehovas besitzt also eine überaus gut
durchorganisierte Struktur, welche eine effiziente Leitung und Kontrolle
der Mitglieder ermöglicht. Dem Präsidenten direkt untergeordnet ist die
„Leitende Körperschaft“, die sich aus 12 Männern zusammensetzt. Die
Bezeichnung der apostolischen Christengemeinden als „Versammlung“
sowie die Bezeichnung der Gemeinschaft der Jünger Jesu und der
Presbyter und Episkopen als „Leitende Körperschaft“ soll dabei den
Eindruck erwecken, die Wachtturm-Organisation stünde in direkter
Verbindung zur apostolischen Zeit.105
Unter der Leitenden Körperschaft stehen die „Zonenaufseher“, die im
unmittelbaren Auftrag der Wachtturm-Gesellschaft agieren. Es gibt noch
viele weitere Komitees, deren Erwähnung es aber an dieser Stelle nicht
bedarf. Die Mehrzahl der „einfachen Gläubigen“, die nicht in die höheren
Ämter gelangen, müssen sich mit Sonderdiensten, wie dem des
„Sonderpioniers“, des „Allgemeinen Pioniers“ oder dem des „Hilfspioniers“
begnügen.
Einem
Hilfspionier
wird
die
Predigtleistung
von
60
Wochenstunden pro Monat abverlangt, bei einem allgemeinen Pionier
erhöht sich die Stundenzahl entsprechend seiner Aufgabe.106
Der Schulung der Pioniere dient eine eigens dafür errichtete Schule, für
Anwärter höherer Positionen sind entsprechende Bildungseinrichtungen
vorhanden. Jeder Anhänger der Sekte ist lediglich ein winziges Rädchen
im Getriebe einer weltweit expandierenden Organisation, dem bei
Unbotmäßigkeit oder Ungehorsam der Ausschluß aus dieser allein
seligmachenden Theokratischen Organisation droht.
105
„Die leitende Körperschaft überwachte unter der Führung des heiligen Geistes die
Ernennung von Aufsehern und ihren Helfern, den Dienstamtsgehilfen, die sich alle um
die einzelnen Versammlungen kümmerten.“ (Jehovas Zeugen, 29).
106
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 183.
39
3.1.7 Das Lehrsystem
Am Beginn der Ausführungen zum Lehrsystem der Zeugen Jehovas
soll eine Äußerung Friederike Valentins stehen, die eine erste Einführung
in die Problematik des Lehrsystems bieten soll. Sie betont: „Jeder Zeuge
Jehovas handelt aus der Überzeugung, daß er die ‚wahre Religion’ hat
oder ‚in der Wahrheit’ ist und daher seine Gemeinschaft nicht zu prüfen
braucht. Nur die anderen Religionsgemeinschaften müssen ihre Lehren
anhand der Bibel überprüfen.“107 Diese Auffassung führt meiner Meinung
nach konsequenterweise zur Immunisierung des Lehrsystems der Zeugen
Jehovas gegen Kritik von außen, wie im folgenden dargelegt werden soll.
3.1.7.1 Das Bibelverständnis und seine Folgen
Nach kirchlicher Auffassung ist die Bibel das Zeugnis des sich in der
Geschichte offenbarenden Gottes, welches von den Verfassern durch
Inspiration unter dem Beistand des Heiligen Geistes, niedergeschrieben
wurde. Die Auslegung des Wortes Gottes obliegt zunächst der Kirche,
welcher Christus den Heiligen Geist bis ans Ende der Zeiten zugesichert
hat. Hierbei werden unterschiedliche exegetische Methoden angewendet,
die die sozio-kulturellen und damit geschichtlichen Hintergründe der
biblischen Texte erhellen, um das Wort Gottes für jede Zeit jeweils neu
auszulegen und zu interpretieren.
Bei der Interpretation der Schrift ist der „Geist der Schrift“ entscheidend.
Es geht also nicht um eine fundamentalistische Bibelauslegung, sondern
um eine Aktualisierung in der Gewißheit, so in der Tradition der
Gemeinden der Anfangszeit zu stehen.
Die Evangelien waren ursprünglich Predigten, die auf die aktuelle
Situation der damaligen Gemeinden hin verfaßt worden sind. In der
Notwendigkeit einer Aktualisierung der Evangelien zeigt sich die Dynamik,
107
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des
Apostolischen Stuhls, Päpstliche Bibelkommission. Die Interpretation der Bibel in der
Kirche, Bonn 1993, 26f.
40
welcher das Wort Gottes unterworfen ist. Diese Dynamik widerspricht
jeder fundamentalistischen Bibelinterpretation.
Die Zeugen Jehovas nutzen die Bibel als „Argumentationssteinbruch“.108
Es werden sämtliche Texte gewaltsam an das bereits vorhandene
Lehrgebäude der Wachtturm-Organisation angepaßt. Hierzu wurde eine
eigene Bibelübersetzung geschaffen, die sogenannte „Neue-WeltÜbersetzung“. Diese erschien im Jahr 1963 zum ersten Mal als
Gesamtausgabe. Im Jahr 1986 erfolgte die Herausgabe eines revidierten
Textes mit Studienverweisen.109 Die Notwendigkeit einer neuen
Bibelübersetzung, obwohl sie bereits in „190 Sprachen“ und in Teilen in
zahlreichen weiteren Sprachen und Dialekten vorlag, begründet die WTG
mit dem Argument, daß alle bereits vorhandenen Bibelübersetzungen
„überwiegend von Geistlichen und Missionaren der
Religionsgemeinschaften der Christenheit angefertigt“ und darüber hinaus
heidnische Philosophien und „unbiblische“ Überlieferungen übernommen
worden seien. Ferner wird angeführt, daß „die griechische Sprache des
ersten Jahrhunderts“ durch neue archäologische Entdeckungen besser
verständlich geworden sei.110
Bei den Zeugen Jehovas darf ein Studium der Bibel ausschließlich
begleitend zu den beiden Schriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“
erfolgen.
Ein
selbständiges
und
eigenmächtiges
Erforschen
des
Bibeltextes ist untersagt. Diese beiden Zeitschriften, vor allem „Der
Wachtturm“, untermauern die Lehren der Organisation durch biblische
Zitate.
108
Vgl. Baur, Wolfgang, Die Bibel der Zeugen Jehovas, Katholisches Bibelwerk (Hrsg.),
Stuttgart 1986, 10.
109
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas. Geschichte, 86-89.
110
„War eine andere Übersetzung wirklich notwendig? Zu jener Zeit war die gesamte
Bibel bereits in 190 Sprachen übersetzt, und zumindest Teile davon waren in 928
weiteren Sprachen und Dialekten erhältlich. Jehovas Zeugen haben zu verschiedenen
Zeiten von den meisten dieser Übersetzungen Gebrauch gemacht. Es ist jedoch eine
Tatsache, daß diese Übersetzungen überwiegend von Geistlichen und Missionaren
der Religionsgemeinschaften der Christenheit angefertigt wurden und mehr oder
weniger von den heidnischen Philosophien und den unbiblischen Überlieferungen, die
diese Religionsgemeinschaften aus der Vergangenheit übernommen haben,
beeinflußt sind, aber auch von den Vorurteilen der Bibelkritik. Außerdem standen
immer mehr ältere und zuverlässigere Bibelhandschriften zur Verfügung.
Archäologische Entdeckungen trugen zu einem besseren Verständnis der
griechischen Sprache des ersten Jahrhunderts bei.“ (Jehovas Zeugen, 608).
41
Die Auslegung der Heiligen Schrift erfolgt nach dem Prinzip des
sogenannten „Rösselsprungs“.111 Bei dieser Methode werden biblische
Texte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgetrennt und mit
alt- und neutestamentlichen Bibelstellen beliebig kombiniert, wobei der
Text in 2 Tim 3, 16 „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert“ als
Legitimation
zur
gleichberechtigten
Verwendung
von
alt-
und
neutestamentlichen Aussagen mißbraucht wird. Durch dieses Prinzip des
„Rösselsprungs“ kamen die sich immer wieder als falsch herausgestellten
Berechnungen über das Ende der Welt zustande.
Russel sagte für das Jahr 1914 den Untergang aller Reiche dieser Welt
voraus. Zustande gekommen war diese Jahreszahl durch die falsche
Annahme der Zerstörung Jerusalems im Jahr 607 v. Chr. Die Zeitspanne
von 607 vor bis 1914 nach Christus deutete Russell als die in Lk 12, 24
genannten „bestimmten Zeiten der Nationen“. Nach Dan 4,16.32 seien
dies sieben Zeiten. Durch Off 12, 6.14 wüßten wir, daß eine solche Zeit
360 Tage dauert. Nach Num 14, 34 stehe ein Tag für ein Jahr. Aus der
Kombination dieser Angaben errechnete Russell eine Dauer dieser „Zeiten
der Nationen“ von 2.520 Jahren. Schließlich addierte er diese 2.520 Jahre
zu der Jahreszahl 607 v. Chr. hinzu und errechnete so 1914 als das Jahr
des Weltuntergangs.
Die symbolische Bedeutung biblischer Zahlenangaben spielt für die
Zeugen Jehovas nur eine Rolle, wenn es gilt, dadurch eine Lehre der
eigenen Sekte zu untermauern.112 Daher werden Einschübe und
Wortsubstitutionen am Bibeltext vorgenommen, die den Sinn zahlreicher
Aussagen völlig verdrehen.
Die einschneidenste Veränderung dieser Art ist die Ersetzung des
griechischen Wortes „Kyrios“ durch „Jehova“. Im Neuen Testament wird
„Jehova“ selbst an solchen Stellen verwendet, an denen von Jesus
Christus die Rede ist, so in Röm 14, 8, wo es heißt: „Leben wir, so leben
wir dem Herrn“. Daraus macht die „Neue-Welt-Übersetzung“: „Denn wenn
wir leben, so leben wir Jehova“. Ein weiteres Beispiel ist Lk 23, 43, wo es
111
112
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 80f.
Vgl. Weis, Christian, Zeugen Jehovas - Zeugen Gottes? Eine Hilfe zur kritischen
3
Auseinandersetzung mit der Lehre der Wachtturmgesellschaft, Salzburg 1991 , 15f.
42
heißt: „Jesus antwortete ihm: Amen ich sage dir: Heute noch wirst du mit
mir im Paradies sein.“ Daraus macht die Bibel der Zeugen Jehovas: „Und
er sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir heute: Du wirst mit mir im
Paradiese sein.“113 Durch diese Übersetzung wird die christliche
Überzeugung von einem direkten Hingang der menschlichen Seele zu
Gott nach dem Tode geleugnet. Stattdessen wird die Zusage Jesu auf
einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben, auf die Zeit des Paradieses,
welches erst nach der Zerstörung dieser Erde von Gott geschaffen werden
wird. Die Fehlübersetzung der Zusage Jesu dem Verbrecher am Kreuz
gegenüber und die damit einhergehende Leugnung einer unsterblichen
Seele verwendet die Wachtturm-Gesellschaft zugleich als angeblichen
Beweis dafür, daß die christlichen Kirchen eine unbiblische, falsche Lehre
verbreiten. Zur Stützung der Behauptung es gebe keine unsterbliche
Seele, weist die Wachtturm-Gesellschaft auf divergierende Auffassungen
christlicher Theologen hin. Im Wachtturm wird diese Thematik unter der
Überschrift „Ein theologisches Dilemma“ diskutiert, wobei die Zeugen
Jehovas zu dem Schluß kommen, sie vertreten hierbei die wahre biblische
Lehre.114 Die bei „sogenannten Christen“ vorkommenden sich oft
widersprechenden Bibelauslegungen schreiben die Zeugen Jehovas der
„Verschleierung durch eigene Vorstellungen“ zu.115
Die Verheißung Jesu an den Verbrecher am Kreuz widerspricht der Lehre
der Zeugen Jehovas, denn ihrer Meinung nach, gibt es nur für ihre
Glaubensgenossen Hoffnung auf das Paradies, das auf der Erde wieder
errichtet werden wird, nachdem alle Ungläubigen durch Harmagedon
vernichtet sein werden. Diese Einblicke in die Verfälschung biblischer
Aussagen mögen genügen, um zu zeigen, daß es sich bei der Sekte der
113
Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, New York 1971. Vgl. auch
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholisches Bibelwerk Stuttgart (Hrsg.),
2
Stuttgart 1998 .
114
Vgl. Wachtturm vom 1. März 1995, 29ff.
115
„Daß es heute unter sogenannten Christen eine Vielzahl widersprüchlicher
Auslegungen der Bibel gibt, ist weder ein Fehler ihres Autors, noch ihrer Schreiber.
[...] Es ist der Fehler der Bibelleser, die versäumen, der Führung des Geistes Gottes
zu folgen und Gott zu gestatten, sein eigenes Wort auszulegen. Sie lassen ihr
Verständnis dessen, was der Autor der Bibel sagt, durch eigene Vorstellungen
verschleiern.“(Wachtturm vom 15. Dezember 1988, 4).
43
Zeugen Jehovas um eine Organisation handelt, die selbst vor der
Manipulation des Wortes Gottes nicht zurückschreckt.
3.1.7.2 Gottesverständnis
Das Gottesverständnis der Zeugen Jehovas führt zur Ablehnung der
christlichen Kirchen mitsamt deren Glaubensbekenntnissen. Die zentrale
christliche Lehre von der Trinität wird als Vielgötterei diskreditiert und
daher aufs heftigste bekämpft.116 Parallelen zum Arianismus in der Alten
Kirche, dessen Anhänger der Ansicht waren, Jesus Christus sei ein Gott
Vater untergeordnetes Geschöpf, sind hier unverkennbar. Die Tatsache,
daß der Begriff der Trinität in der Heiligen Schrift nicht vorkommt, bestärkt
die Zeugen Jehovas in der Annahme, es handle sich bei diesem
christlichen Dogma um eine heidnische Irrlehre.117 Die Formulierung
dieses Dogmas auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 unter dem Einfluß
des ehemals heidnischen Kaisers Konstantin unterstreicht nach Meinung
der Zeugen Jehovas den heidnischen Einfluß, der sich in der Kirche
eingeschlichen habe.118 Die Person Jesu und sein Erlösungstod am Kreuz
haben für die Zeugen Jehovas eine völlig andere Bedeutung als für die
Christen. Sie sind der Meinung, Jesus sei vor seiner Menschwerdung
lediglich
ein
Geschöpf
Gottes
gewesen,
dem
Erzengel
Michael
vergleichbar. Manchmal setzen die Zeugen Jehovas Jesus sogar mit
diesem Erzengel gleich. Er sei zunächst nichts weiter als ein
vollkommener Mensch.
116
Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 104.
„Die Bibel sagt, Gott habe die Welt so sehr geliebt, daß er seinen Sohn gesandt habe,
damit er sie errette; viele Geistliche dagegen sagen, Gott sei auf die Erde gekommen,
Christus sei Gott, und um das zu beweisen, lehren sie die heidnische Lehre von der
Dreieinigkeit.“(Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e. V.,
Jahrbuch der Zeugen Jehovas, Wiesbaden 1966, 23).
118
„Nachdem C.T. Russell die Dreieinigkeitslehre als unbiblisch und unlogisch
bloßgestellt hatte, fragte er zurecht entrüstet: ‚Sollen wir also den Aposteln, den
Propheten und Jesus selbst widersprechen, uns über die Vernunft und den gesunden
Menschenverstand hinwegsetzen, um an einem Dogma festzuhalten, das uns durch
eine verderbte, abtrünnige Kirche aus einer finsteren, abergläubischen Vergangenheit
überliefert wurde? Niemals!‘“ (Jehovas Zeugen, 126).
117
44
Die Neue-Welt-Übersetzung schildert die Funktion Jesu als Mittel der
Rettung der Sektenmitglieder auf folgende Weise: „Nun souveräner Herr,
läßt du deinen Sklaven in Frieden gehen, deiner Erklärung gemäß; denn
meine Augen haben dein Mittel zur Rettung gesehen.“119 Die Gleichnisse
Jesu, seine Reden und Wunder, seien von untergeordneter Bedeutung.
Erst bei der Taufe im Jordan habe Jehova Gott Jesus adoptiert, um ihm
die Rückkehr ins himmlische Königreich zu ermöglichen. Die Kreuzigung
Jesu, die als Tod an einem Pfahl gelehrt wird,120 hat für die Sekte keinerlei
Heilsrelevanz, da sie die universale Erlösung der Menschheit bestreitet.
Nach der Auferstehung, die nach der Lehre der Sekte als eine rein
geistige zu verstehen ist, sei Jesus in den Himmel aufgenommen worden,
wo er seitdem als Erzengel Michael eine hohe Stellung innehabe. Der Tod
Jesu ist für die Zeugen Jehovas demnach ein bloßes Mittel zur Rettung
der 144.000 auserwählten Zeugen.
Eng verbunden mit dem Todes- und Auferstehungsverständnis Jesu ist
die Auffassung der Zeugen Jehovas von der Unsterblichkeit der
menschlichen Seele. Mit dem Tod eines Menschen ist seine gesamte
Existenz erloschen, es gibt kein Weiterleben einer unsterblichen Seele.
Die Seele ist für die Zeugen identisch mit der menschlichen Person selbst.
Diese bleibt lediglich in der Erinnerung Gottes lebendig.121 Verantwortlich
für die falsche Auffassung einer unsterblichen Seele sei der Einfluß der
„heidnischen Religionen“ und der platonischen Philosophie, mit denen sich
die christlichen Lehren vermischt habe, was aber letztlich als Wirken und
List des Teufels interpretiert wird.122
119
Lk 2, 29f; zitiert nach: Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, Brooklyn / New
York (USA), 1971.
120
Die Neue-Welt Übersetzung gibt Mt 16, 24 entsprechend dieser Auffassung so wieder:
„Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme seinen
Marterpfahl auf und folge mir beständig.“ (Neue- Welt Übersetzung).
121
Vgl. Watchtower Bible and Tract Society of New York (Hrsg.), Die gute Botschaft, die
Menschen glücklich macht, Wiesbaden 1976, 85f.
122
Hierzu führt die WTG ein Zitat Russells an, in dem es unter anderem heißt:
„Durchblättert man die Seiten der Geschichte, so entdeckt man, daß die Lehre von der
Unsterblichkeit des Menschen zwar der Kern aller heidnischen Religionen ist, nicht
aber von Gottes inspirierten Zeugen gelehrt wird. ... Es stimmt also nicht, daß
Sokrates und Platon die ersten waren, die diese Lehre vertraten: Schon vor ihnen
wurde sie vertreten, und zwar von einem fähigeren Lehrer, als sie es waren. ... Die
erste Aufzeichnung dieser falschen Lehre ist in dem ältesten dem Menschen
45
Bei der in der Offenbarung des Johannes erwähnten Schlacht von
Harmagedon123 am Ende der Weltzeit, werden die Toten aus ihren
Gräbern
herausgerufen,
ausgesondert,
und
zusammen
mit
den
überlebenden Zeugen Jehovas auf der Erde im Paradies leben, dann
werde eine tausendjährige Friedensherrschaft Jehovas anbrechen. Es gibt
demnach kein Weiterleben im Himmel, in einer jenseitigen Dimension in
der Gemeinschaft mit Gott, sondern nur eine Wiederherstellung der
vergangenen irdischen Wirklichkeit, jedoch ohne Krankheit und Tod.
3.1.8 Die Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber dem
Staat und den Kirchen
Wie bereits in den vorhergehenden Ausführungen angeklungen, ist der
Staat nach der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft ein System, das der
Verwirklichung der Ziele Jehovas entgegensteht; er ist ein Feind Gottes.
Die Kirchen, deren Mitglieder mit dem Staat paktieren, werden ebenso wie
dieser vernichtet werden. Jegliches Engagement, sei es politisch, wie die
Beteiligung
an
Wahlen,
oder
sozial-karitativer
Art,
dienen
der
Unterstützung des Staates, dieses für die Zerstörung bestimmten
Gebildes.124 Daher wird die Zusammenarbeit der Kirchen mit dem Staat
bekannten Geschichtsbericht zu finden - in der Bibel. Der falsche Lehrer war Satan.“
(Jehovas Zeugen, 127).
123
Die bei Johannes beschriebene Schlacht von Harmagedon interpretieren die Zeugen
Jehovas gegen die christlichen Kirchen, wenn sie schreiben: „Wenn die organisierte
Religion in der ‚großen Drangsal‘ durch das Schwert der göttlichen Rache fällt, werden
die Menschen, die nicht auf die Jeremia-Klasse gehört haben, bei den zum Untergang
verurteilten politischen Elementen Zuflucht suchen, was zu ihrer sicheren Vernichtung
in Har-Magedon führen wird (Offb. 16:14, 16).“ (Jahrbuch 1982, Tagestext und
Kommentar für den 10. Oktober 1982, unpaginiert).
Die Vernichtung aller Menschen anderer Religionen bedeutet für die Zeugen Jehovas
die Befreiung aus der Macht des Bösen: „Die Befreiung aus dem System Satans und
die Gelegenheit, in die gerechte neue Ordnung Jehovas unter der
Königreichsherrschaft Christi einzugehen, wird dadurch zustande kommen, daß die
unverbesserlich Bösen im Krieg Gottes auf dem Schlachtfeld von Harmagedon
vernichtet werden (Offb. 16:16).“ (Jahrbuch 1984, 3).
124
Vgl. Weber / Valentin, Zeugen Jehovas, 81ff. Die Zeugen Jehovas begründen ihre
Einstellung wie folgt: „Es ist kein Geheimnis, daß Jehovas Zeugen den Fußstapfen
ihres Königs und Vorbilds, Jesus Christus, folgen, wohin immer er sie führen mag. Sie
haben sich Gott hingegeben, um seinen Willen zu tun, nicht ihren eigenen. Sie sind
kein Teil der von Satan beherrschten Welt und haben nichts mit ihrer Politik und ihren
territorialen Kriegen zu tun.“ (Jahrbuch 1983, 6).
46
als „geistige Hurerei“ bezeichnet. Die verschiedenen Kirchen, allen voran
die römisch-katholische, werden als die „Hure Babylon“, ihre Geistlichen
als Helfer Satans und Volksverführer gegeißelt.125
Aus diesen Gründen erscheinen in den beiden Zeitschriften „Der
Wachtturm“ und „Erwachet“ immer wieder Darstellungen, auf denen die
Kirchen durch scharfe Polemik angegriffen werden. Auf dem Titelbild
eines „Erwachet“ aus dem Jahr 1989 sind Ritter abgebildet, die sich
gegenseitig töten, obwohl sie alle das Zeichen des Kreuzes auf ihren
Rüstungen tragen.126 Hierdurch sollen bei den Sektenmitgliedern und den
zu
Werbenden, meist einer der
Menschen,
Erinnerungen
an
beiden
Kirchen entstammenden
unliebsame
Ereignisse
der
Kirchengeschichte wachgerufen werden, um die eigene sektiererische
Lehre als vorbildlich und einzig wahre zu präsentieren. Die Zeugen
Jehovas zählen sich allein zum „Christentum“, das unmittelbar auf Jesus
125
Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 170f. Im Jahrbuch der Zeugen Jehovas heißt es in
diesem Zusammenhang: „Eine der Ähnlichkeiten, die zwischen dem alten und dem
neuzeitlichen Babylon bestehen, hat mit der Art und Weise seiner Vernichtung zu tun.
Das alte Babylon lag am Wasser, am Euphrat. Das neuzeitliche Babylon ‚sitzt‘ auf
vielen Wassern. Beachten wir, daß vor dem Sturz des alten Babylon der
Wasserspiegel des Euphrat gesenkt wurde. Gehen auch die symbolischen Wasser
(Menschen) zurück, auf denen das neuzeitliche Babylon sitzt? Ja, und es geschieht
direkt vor unseren Augen. Auf welche Weise sinken die sinnbildlichen ‚vielen
Wasser‘? Indem Millionen von Menschen, darunter Zehntausende von Geistlichen und
kirchlichen Mitarbeitern, ihre Religionsorganisationen nicht mehr unterstützen,
wodurch diese ernsthaft geschwächt werden. Hin und wieder ist zwar bei einigen
Religionsgemeinschaften von ‚Wiederbelebung‘ die Rede, doch in den meisten Fällen
ist dies nur eine oberflächliche Erscheinung. Welch einen Kontrast Jehovas Volk doch
darstellt!“ (Jahrbuch 1982, Tagestext und Kommentar für den 20. November 1982,
unpaginiert).
Die Zeugen Jehovas versuchen, der Kirche und ihren Mitgliedern durch deren enge
Bindung an den Staat eine angebliche Nichtbeachtung der göttlichen Vorschriften
auch in Bezug auf das Geschlechtsleben zu unterstellen. Im Jahrbuch von 1966 wird
der damalige Papst Paul VI und dessen Rede vor den Vereinten Nationen gezielt für
diese Behauptung verwendet. „Man steht auf dem Standpunkt, der voreheliche
Geschlechtsverkehr sei erlaubt, und folgert daher, ein wenig Abwechslung in der Ehe
sei auch nicht allzu schlimm. Wahllose Geschlechtsbeziehungen sind daher in der
ganzen Christenheit üblich. Unternimmt man aber etwas dagegen? Nein! Hat die
Geistlichkeit ihre Augen vor den Worten Pauli verschlossen: ‚Was? Wißt ihr nicht, daß
ungerechte das Königreich Gottes nicht erben werden? [...] Man sagt sich vielleicht:
‚Wenn doch Papst Paul VI. glaubt, die Vereinten Nationen seien die letzte Hoffnung,
warum sollte ich dann noch daran interessiert sein, Gottes Königreich zu erben?‘ Wer
schon nicht an Gottes Königreich glaubt, dem fällt es auch nicht schwer, das
Sittengesetz dieses Königreiches außer acht zu lassen.“ (Jahrbuch 1966, 25).
126
Vgl. Erwachet Nr.1 vom 8. Januar 1989.
47
und die Apostel zurückgehe, die Kirchenchristen dagegen bezeichnen sie
als in späterer Zeit abgefallene „Christenheit“.127
Der Versuch der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft
öffentlichen Rechts scheint der skizzierten staatsfeindlichen Auffassung zu
widersprechen. Die Anerkennung der Sekte als „Körperschaft öffentlichen
Rechts“ hätte für diese erhebliche Vorteile mit sich gebracht, etwa die
Einnahme von Kirchensteuern und weitere steuerliche Vergünstigungen,
die der Expansion des Wachtturm-Konzerns zugute gekommen wären.
Diese materiellen Vorzüge wogen offensichtlich stärker als die Verachtung
des Staates. Aufgrund der Verweigerung jeglicher Loyalität gegenüber
dem
Staat
wurde
ein
entsprechender
Antrag
vom
Bundesverwaltungsgericht abgelehnt, wobei die Nicht-Teilnahme an den
Wahlen als Hauptargument angeführt wurde. Dies sah das Gericht als
Widerspruch zu dem „für die staatliche Ordnung im Bund und in den
Ländern konstitutiven Demokratieprinzip“.128
3.1.9 Ergebnisse psychologischer Untersuchungen im
Zusammenhang mit der Sozialstruktur der Zeugen Jehovas
3.1.9.1 Isolations- und Kontrollmechanismen
Durch die Auffassung von der Vergänglichkeit und der satanischen
Durchdringung der Welt ergibt sich eine Abkapselung der Sekte der
Zeugen Jehovas von allen weltlichen Aktivitäten, die von der Mehrheit der
Bevölkerung problemlos akzeptiert werden. Die eigene Gruppe nimmt den
obersten Rang im Leben eines Zeugen Jehovas ein. Sämtliche Kontakte
nach außen dienen ausschließlich der Absicht der Werbung neuer
127
„Zwischen dem Christentum und der Christenheit, die im vierten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung gegründet wurde, besteht ein Unterschied. Die Belehrung über das
wahre Christentum wirkt sich heute auf die Menschen gleich aus, wie sich die
Lehrtätigkeit des Paulus damals auf die Menschen auswirkte. Sie kann aus Juden,
Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems, Buddhisten usw. wahre Christen machen,
sofern sie hören und glauben.“ (Jahrbuch 1966, 27).
128
Finke, A., Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Keine Anerkennung der Zeugen
Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts, zitiert in: Brücke zum Menschen,
Nr.131, 3. Quartal 1997, 4. Vgl. auch Stamm, Hugo, Sekten. Im Bann von Sucht und
Macht, Zürich 1995, 69f.
48
Mitglieder. Die Beziehungen zu Außenstehenden werden auf ein
Mindestmaß reduziert, um einer möglichen negativen Beeinflussung und
Kritik durch Außenstehende zu entgehen.129
Die Isolation der Mitglieder von der Außenwelt ist ein allmählicher
Prozeß, an dessen Abschluß die Organisation als einzig sinnstiftende
Gruppe im Leben des Anhängers übrig bleibt. Die Versammlung wird zum
neuen Lebensraum. Elmar Köppl, der eine psychologische Analyse der
Sekte vorgenommen hat, bemerkt hierzu: „Sie wird mit der Zeit zur
einzigen Bezugsgruppe und Verstärkerquelle, zu einer rettenden Oase
und einem Ort der gegenseitigen Auferbauung.“130
Die Isolation der Zeugen Jehovas wird insbesondere deutlich bei den
von der Bevölkerung praktizierten Feiern anläßlich des Osterfestes, des
Weihnachtsfestes oder des Geburtstags. Das Feiern dieser Feste ist
Zeugen Jehovas strengstens untersagt. Die Entwicklung eines SektenVokabulars verschärft die Abschottung gegenüber der Welt außerhalb der
Sekte
zusätzlich.
Die
Kontrolle
der
Einhaltung
der
zahlreichen
Reglementierungen durch das feinstrukturierte System der Organisation
gewährleistet die Stabilität der Gruppe.131 Durch die soziale Kontrolle132
der einzelnen Verkündiger wird jede Uneinigkeit rasch aufgespürt und
einer Spaltung der Versammlung vorgebeugt. Infolge der engen
Verbindung, in welcher die Verkündiger zueinander stehen, ist es möglich,
einen unbequemen Kritiker als Querulanten zurechtzuweisen oder
unschädlich zu machen. Übeltäter werden von den Ältesten für mißliebige
Verhaltensweisen und Äußerungen zur Rechenschaft gezogen und mit
Ausschluß aus der Sekte bestraft. Dieser Ausschluß wird durch das
Versammlungskomitee
vollstreckt
und
innerhalb
der
Versammlung
bekanntgegeben, um allen anderen Mitgliedern als warnendes Beispiel zu
dienen.
129
Vgl. Stamm, Sekten, 113f.
Köppl, Zeugen Jehovas, 96.
131
Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 119ff.
132
Vgl. Köppl, Zeugen Jehovas, 97.
130
49
3.1.9.2 Das Führerprinzip bei den Zeugen Jehovas
Ein wesentliches Strukturmerkmal der Wachtturm-Organisation ist das
Führerprinzip, was bei den Ausführungen über die Präsidentschaft
Rutherfords bereits angesprochen worden ist. Vier Bedingungen sind für
die Durchsetzung dieses Führungsstils133 erforderlich. Diese sind:
a) Das Vorhandensein einer unangefochtenen Führungsautorität und ihre
vorbehaltlose Akzeptierung durch die Mitglieder
b) Unterwerfung unter die Autorität des Präsidenten der WachtturmGesellschaft
und
uneingeschränktes
Vertrauen
in
seine
Führungsqualitäten
c) Ein klar strukturiertes Missionsziel
d) Ähnliche Erwartungshaltungen und Motivationsstrukturen bei dem
Führer und den Geführten
Der
Gründer
der
Sekte
gilt
als
die
unangefochtene
Führerpersönlichkeit. Diese festigt durch ihre oftmals charismatische
Erscheinung das Auserwählungsbewußtsein unter den Anhängern und
einen totalitären Machtanspruch. Die vollkommene Identifizierung mit der
Person des Führers ist Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren
des Systems. Gefahr droht einem solchen System vor allem, wenn die
Führerpersönlichkeit plötzlich abtritt.134 Diese Situation trat nach dem Tod
Russells ein, bis Rutherford sich nach harten Kämpfen durchsetzen
konnte.
Meist wird ein Nachfolger bereits durch den Vorgänger bestimmt. Ist
kein solcher Nachfolger vorhanden, droht der Zusammenbruch des
gesamten Organisationsgebäudes. Orientierungslosigkeit und vor allem
ein Sinnlosigkeitsgefühl der führerlosen Anhänger sind dann die Folgen.
133
134
Vgl. Köppl, Zeugen Jehovas, 129.
Vgl. Stamm, Sekten, 66f.
50
3.1.9.3 Auswirkungen der Sektenstruktur im gesellschaftlichfamiliären Bereich
Der totalitäre Charakter der Sekte der Zeugen Jehovas, die sich daraus
ergebende Bekämpfung aller anderen Systeme und die Fixierung auf die
eigene Gruppe verursachen vielfältige Probleme, von denen nicht nur die
Mitglieder der Sekte, sondern alle Menschen betroffen sind, die mit einem
Zeugen Jehovas in Kontakt stehen. Schließt sich ein Teil der Familie den
Zeugen Jehovas an, bleiben die übrigen Angehörigen von den Folgen
dieser Entscheidung nicht unberührt.135 Die freiwillige Abgrenzung von der
als satanisch verpönten Welt und die den Nicht-Mitgliedern drohende
Vernichtung wirken als Ansporn für einen immensen Missionierungsdrang,
dem sich jeder Verkündiger ausgesetzt sieht. Die bereits erwähnten
Kontroll- und Bestrafungsinstanzen schüren permanent die Angst vor
einer Verwerfung durch Jehova.
Die Einschränkung der Beziehungen zu den Ungläubigen wirkt sich vor
allen Dingen am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und in der Schule aus.
Am stärksten werden dabei die Kinder in Mitleidenschaft gezogen, deren
Eltern sich der Sekte anschließen. Ein Lehrer, der ein solches Kind in
seiner Klasse unterrichtet, wird sehr bald einen Besuch von den Eltern
abgestattet bekommen, um darüber aufgeklärt zu werden, an welchen
Veranstaltungen das Kind auf keinen Fall teilnehmen darf.
Zu solchen Veranstaltungen zählen der Besuch von Schulbällen, das
Singen
von
religiösen
Liedern
und
die
Teilnahme
am
Sexualkundeunterricht der Schule. Verstöße gegen das Verbot der
Wachtturm-Gesellschaft
werden
unverzüglich
nach
Bekanntwerden
geahndet. Seit 1982 erscheinen in der Zeitschrift „Erwachet“ regelmäßig
Artikel, die speziell auf die Probleme Jugendlicher Bezug nehmen. Diese
Artikel wurden auch in Buchform herausgegeben, wie z.B. das Buch
„Fragen junger Leute – Praktische Antworten“136 . Die dort veröffentlichten
135
Vgl. Rogerson, Alan, Viele von uns werden niemals sterben. Geschichte und
Geheimnis der Zeugen Jehovas, Hamburg 1971, 67f.
136
Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, deutscher Zweig e.V., Fragen junger LeutePraktische Antworten, Selters / Taunus, 1989.
51
Artikel bilden eine Art moralischen Kodex für Jugendliche.137 Darin wird
deutlich hervorgehoben, daß nur Freundschaften innerhalb der Gruppe
von gleichgesinnten Sektenmitgliedern erwünscht sind. In dem Büchlein
„Fragen junger Leute – praktische Antworten“ heißt es in diesem
Zusammenhang unter dem Stichwort „Freunde finden“: „Wo kannst du
Freunde finden, die Gott lieben? In der Christenversammlung.138 Suche dir
Jugendliche, die nicht nur vorgeben, Glauben zu haben, sondern deren
Taten von ihrem Glauben und ihrer Ergebenheit zeugen.“139 Dabei werden
Freundschaften mit Jugendlichen, die nicht den Zeugen Jehovas
angehören, als falsche Freundschaften abgewertet.140
Der Umgang mit den Glaubensbrüdern ist von drei Aufgaben bestimmt.
Dazu gehören die Überwachung des anderen, die Zurechtweisung und
schließlich die Meldung eines Fehlverhaltens bei den Ältesten der
Versammlung. Bereits Jugendliche werden dazu angehalten, das
Fehlverhalten anderer zu tadeln und gegebenenfalls zu melden: „Oft
erfordert die Situation mehr Hilfe, als du bieten kannst. Dringe darauf, daß
er [der Freund], wenn er etwas falsches getan hat, es seinen Eltern oder
anderen Verantwortlichen sagt. Was aber, wenn er sich weigert? Sage
ihm, daß du dich als echter Freund verpflichtet fühlst, mit jemand anders
darüber zu sprechen, falls er die Sache nicht innerhalb einer vernünftigen
Zeitspanne in Ordnung bringt (Sprüche 17:17).“141 Diese Überwachung
und
Zurechtweisung
erstreckt
sich
bis
in
den
Bereich
der
Kindeserziehung. Eltern werden dazu angehalten, ihre Kinder zu
züchtigen,
falls
diese
ihren
erzieherischen
Forderungen
nicht
nachkommen. Auch die Kinder und Jugendlichen werden zum Gehorsam
gegenüber den Eltern angehalten. Es wird ihnen stets vermittelt, daß ihre
Eltern wissen, was gut für sie ist, und das sie ihnen aus diesem Grund
137
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 159f.
Diese Christenversammlung meint die Zusammenkunft der Zeugen Jehovas.
139
Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 67.
140
Vor einer solchen falschen Freundschaft wird durch ein eindringliches Beispiel
gewarnt. Es handelt sich hierbei um eine junge Frau, die sich durch falsche Freunde
von den Zeugen Jehovas entfernte und durch diesen schlechten Einfluß in eine
kriminelle Lebensführung geriet. Aus diesem Sumpf kam sie erst heraus, als sie sich
wieder unter die Fittiche der Zeugen Jehovas begab. (Vgl. Fragen junger Leute –
Praktische Antworten, 65ff.).
141
Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 69.
138
52
Gehorsam
schulden,
auch
wenn
sie
persönlich
dieses
nicht
nachvollziehen können.142 Diese Strenge wird durch Zitate aus der Bibel
gerechtfertigt.143 Selbst schwerere Mißhandlungen innerhalb der Reihen
der Zeugen werden von der Gruppe meist ohne Protest hingenommen.144
Welche lebensbedrohlichen Konsequenzen eine Mitgliedschaft bei den
Zeugen Jehovas nach sich ziehen kann, wird deutlich, wenn es um die
Notwendigkeit
einer
Bluttransfusion
als lebensrettende Maßnahme
geht.145 Hierzu sei folgendes Beispiel aus Österreich angeführt: „Im
September 1993 erschütterte der Tod eines Babys die Öffentlichkeit
Österreichs. Nur elf Tage nach seiner Geburt starb der kleine Simon Hartl
[...], weil seine Eltern, strenggläubige Zeugen Jehovas, die lebensrettende
Bluttransfusion verweigert hatten.“146 Die Zeugen Jehovas dagegen
bezeichnen diese Haltung als „gewaltiges Zeugnis“ für ihren Gehorsam
Gott gegenüber.147
Dieses Verbot der Bluttransfusion führt die Organisation auf das
alttestamentliche Blutgenußverbot zurück.148 Durch diese bedingungslose
Unterwerfung unter die Anweisungen der Sekte, die sich als „Kanal
Jehovas“ versteht und den Anhängern Gottes Willen kundtut, wird das
wohlwollende Verhalten Jesu gegenüber den Menschen ignoriert.149
Die Auswirkungen im gesellschaftlichen und familiären Bereich sind
äußerst vielfältig, und es ließen sich eine Reihe ähnlicher Beispiele
hinzufügen. Die dargebotenen Ausführungen sollen jedoch genügen, um
142
Auch zu diesem Thema führt der Ratgeber „Fragen junger Leute – Praktische
Antworten“ zahlreiche Beispiele an. (Vgl. Fragen junger Leute – Praktische Antworten,
11 – 17).
143
„Deshalb heißt es in Sprüche 8:33: ‚Hört auf Zucht.’ Einige jedoch lassen ‚sich nicht
durch bloße Worte zurechtbringen’. Sie mögen für ihren Ungehorsam eine
angemessene Strafe benötigen (Sprüche 17:10; 23:13, 14; 29:19).“ (Wachtturm vom
15. Oktober 1997, 32).
144
Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 30f.
145
Vgl. Rogerson, Viele von uns, 57.
146
Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 187.
147
„Viele Brüder in aller Welt sind mit der Frage der Bluttransfusion konfrontiert worden.
Oft sind unsere Brüder durch Widerstand seitens der Ärzte, Krankenschwestern und
Richter sowie durch ungünstige Presseberichte großem Druck ausgesetzt worden,
aber das Ergebnis ist ein gewaltiges Zeugnis gewesen.“ (Jahrbuch 1983, 17).
148
Vgl. Jehovas Zeugen, 183. Vgl. auch Weis, Zeugen Jehovas, 89f.
149
Vgl. Lk 6, 1-5. Der Evangelist erläutert das nachsichtige Verhalten Jesu am Beispiel
der Jünger, die am Sabbat Ähren abrissen, obwohl es durch das jüdische Gesetz
verboten war.
53
vor den weitreichenden Konsequenzen eines Beitritts in die Sekte zu
warnen. Die psychischen Folgen und Belastungen, denen ein Zeuge
Jehovas
ausgesetzt
ist,
lassen
sich,
bedingt
durch
ständigen
Leistungsdruck, dem er unterliegt, nicht immer verbergen. Unbewältigte
Schuldgefühle
und
Vorgesetzen
oder
Selbstzweifel
die
sowie
Versammlung
Demütigungen
bei
durch
die
Nichterfüllung
des
vorgeschriebenen Leistungspensums sind weitverbreitete Folgen des
ständigen Missionszwangs der Sektenmitglieder. Persönliche Mißerfolge
werden auf einen Mangel an Einsatz für die Sache der Organisation
zurückgeführt, wodurch sich der Druck erhöht und die psychischen
Belastungen
zunehmen.150
Trotzdem
werden
die
Zeugen
dazu
angehalten, nach außen hin stets ein freundliches und ansprechendes
Erscheinungsbild zu wahren.
3.1.9.4 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte
Der Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin Rutherford gab der
Gemeinschaft den Charakter eines totalitären religiösen Systems. Seitdem
existiert eine Körperschaft, die ihre Legitimität von Gott ableitet und an
deren Spitze der Präsident steht.
Im Laufe der über hundertjährigen Geschichte der Zeugen Jehovas
traten vielfältige Konflikte auf, welche im besonderen die Beziehungen der
Sekte zu den staatlichen Instanzen der Länder betrafen, in denen diese
sich ausbreitete, weil der Staat und die angeblich mit ihm paktierenden
Kirchen für die Zeugen Jehovas widergöttliche und daher zu bekämpfende
Institutionen gewesen seien. Die Entwicklung in Deutschland war zur Zeit
der nationalsozialistischen Diktatur durch eine Verfolgung der Sekte der
Zeugen Jehovas gekennzeichnet, welche neben der Ablehnung der
weltlichen Einrichtungen auch durch den Bezug auf das Alte Testament
mitverursacht
war,
wodurch
die
Zeugen
Jehovas
sich
bei
den
Nationalsozialisten dem Verdacht des Sympathisantentums mit den Juden
150
Vgl. Pape, Ich war Zeuge Jehovas, 50f.
54
aussetzten. Das Judentum, als dessen Nachfolger sie sich betrachten,
stellt
für
die
Zeugen
Jehovas
allerdings
lediglich
eine
Übergangserscheinung dar.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte eine rasche weltweite
Verbreitung der Sekte ein, die vor allen Dingen auf die hohe Opfer- und
Einsatzbereitschaft der Mitglieder zurückzuführen ist. Die Verwaltung der
Zeugen Jehovas erfolgt über ein bestens durchorganisiertes System mit
zahlreichen Ämtern und Funktionen. Die Führung, die ihren Sitz in
Brooklyn (USA) hat, beansprucht, göttliche Befehle zu erteilen.
Durch die Schaffung eines eigenen Lehrsystems erfolgte eine deutliche
Abgrenzung von den christlichen Kirchen, was dazu führte, daß die
Kirchen als „Helfer Satans“ diffamiert wurden und auch heute noch
werden.
Eine Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas zieht erhebliche
gesellschaftlich-familiäre Folgen nach sich. Der Lebensoptimismus und
die zentrale christliche Botschaft von der Erlösung der Menschheit durch
den Tod und die Auferstehung Jesu werden durch eine Hörigkeit
gegenüber
einem
totalitären religiösen System
ersetzt, das
den
Mitgliedern vorgaukelt, eine Einrichtung Gottes zu sein. Bedingt durch
Missionierungszwang
und
starke
körperliche
wie
seelische
Beanspruchung treten in den Reihen der Anhänger häufig seelische und
psychische Störungen auf, deren Verdrängung wiederum Krankheiten
begünstigt.
55
3. 2 Scientology
3.2.1 Biographie des Gründers Lafayette Ronald Hubbard
(13. 3. 1911 – 24. 1. 1986)
Es existieren verschiedene Biographien Hubbards. Einige sind von
Mitgliedern der Scientology selbst verfaßt worden. Die Ausschmückung
der von der Scientology-Organisation verfaßten Biographien Hubbards
erschweren einen objektiven Zugang zur Person des Gründers.151 Der
Sektenexperte Friedrich Haack meint dazu: „Sein Leben ist sozusagen ein
Beleg für die Außergewöhnlichkeit des ganzen Systems. Er wird als
Forscher geschildert, der schon in früher Jugend Erstaunliches geleistet
habe, als Kriegsheld und ausgezeichneter Wissenschaftler, als AllroundMann und allgegenwärtiger Hüter des Wissens und der Techniken von
Dianetics und Scientology.“152 Die Scientology-Organisation charakterisiert
in ihrem Handbuch gleich zu Beginn ihrer Ausführungen über die
Biographie Hubbards sein Leben als „Leben im Dienste der Menschheit“.
Seine Forschertätigkeit wird als „Vermächtnis der Weisheit“ gepriesen.153
Haack hat sich mit den verschiedenen Biographien über längere Zeit
hinweg kritisch auseinandergesetzt. Deshalb soll in den folgenden
Ausführungen auch im wesentlichen auf seine Ergebnisse zurückgegriffen
werden.
Lafayette Ronald Hubbard wurde am 13. März 1911 in Tilden, im US
Bundesstaat Nebraska, geboren. Sein Vater, Harry Ross Hubbard, war
151
Die Problematik dieser von Scientology selbst verfaßten Biographien besteht darin,
daß diese sein Leben und Wirken in einzigartiger Weise verklären. In einem Artikel
des Lexikons der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen wird hierzu
folgendes bemerkt: „Lafayette Ronald Hubbards Lebensbeschreibung gleicht mehr
einer Heiligenvita als einer exakten Biographie.“ (Liebl, Hans, Scientology, in: Gasper,
Hans / Müller, Joachim / Valentin, Frederike (Hrsg.), Lexikon der Sekten,
Sondergruppen und Weltanschauungen, 967).
152
2
Haack, Friedrich-Wilhelm, Scientology – Magie des 20. Jahrhunderts, München 1991 ,
17.
153
„Es läßt sich keine passendere Aussage finden, die das Leben L. Ron Hubbards
besser charakterisieren würde, als seine einfache Erklärung: ‚Ich helfe anderen gerne,
und zu den größten Freuden meines Lebens zählt zu sehen, wie sich jemand von den
Schatten befreit, die seine Tage verdunkeln.’ Hinter diesen zentralen Worten steht ein
Leben im Dienste der Menschheit und ein Vermächtnis der Weisheit, die es jedem
ermöglicht, seit langem gehegte Träume von Glück und geistiger Freiheit zu
erreichen.“ (New Era Publications International ApS (Hrsg.), Das ScientologyHandbuch. Aus den Werken von L. Ron Hubbard, Kopenhagen 1994, 783).
56
Mitglied der US Navy. Seine Mutter war Dory May Hubbard. Ronald
verbrachte einige Jahre seiner Kindheit auf der Farm seines Großvaters.
Scientology glorifiziert bereits die Kindheit Hubbards, indem sie seine
angeblich hervorragende klassische Bildung hervorhebt. Er soll sich
bereits als Kind mit griechischer Philosophie und dem englischen
Klassiker Shakespeare beschäftigt haben. Seine Mutter wird dabei als die
Bezugsperson herausgestellt, die ihrem Sohn alle diese Kenntnisse
vermittelt haben soll.154 Zwischen seinem vierten und achtzehnten
Lebensjahr soll Hubbard mehrmals nach Ostasien gereist sein. Während
seines Aufenthaltes in China und Indien erwachte in ihm das Interesse an
Herkunft und Bestimmung des Menschen. Er soll in dieser Zeit unter
anderem von Lama-Priestern unterrichtet worden sein.155 Es wird jedoch
bezweifelt, daß er diese mehrere Jahre dauernden Reisen tatsächlich
unternommen hat. In einem Brief seines Vaters, in dem der Werdegang
Ronalds verzeichnet ist, werden diese Reisen an keiner Stelle erwähnt. In
den hierfür in Betracht zu ziehenden Jahren 1925 bis 1929 sind vielmehr
ganz andere Aktivitäten verzeichnet. Nach den Angaben seines Vaters
kam Ronald Hubbard am Anfang des Schuljahres 1925/26 an die High
School in Washington und wurde bereits 1926 an eine andere High School
versetzt.156
An dieser High School blieb Hubbard nur ein halbes Jahr und ging dann
mit seinen Eltern nach Guam, wohin sein Vater vom Navy Department
154
„Unter der Anleitung seiner Mutter, einer sehr gebildeten Frau, war er in seinem
Lesestoff seinem Alter sehr voraus – Shakespeare, griechische Philosophie und
spätere Klassiker –, er las diese in einem Versuch, seine unersättliche Wißbegierde
zu stillen.“ (Das Scientology-Handbuch, 783).
155
Scientology schreibt hierüber: „Schon bald war Ron im damals abgelegenen Asien auf
der Spur von Antworten auf sehr grundlegende Fragen. Als er das Alter von neunzehn
Jahren erreichte, hatte er beinahe eine halbe Million Kilometer zurückgelegt und
erforschte die Kulturen Javas, Japans, Indiens und der Philippinen. Mit derselben
Entschlossenheit gewann er sich sogar Zugang zu verbotenen Lamaklöstern in den
westlichen Hügeln Chinas.“ (Das Scientology-Handbuch, 784). Haack bemerkt in
diesem Zusammenhang: „Die in diesen Lebensläufen erwähnten geheimnisvollen
Asienreisen, die Hubbard in Kontakt zu Lama-Priestern und zu mongolischen
Nomaden gebracht haben sollen und in deren Verlauf er angeblich China, die
Mongolei, Indien usw. besucht haben soll, haben die Funktion, L. R. Hubbard schon in
früher Jugend als Abenteuer bestehenden Helden wie als klugen Denker und
geistigen Forscher dastehen zu lassen.“ (Haack, Scientology, 22). Haack bestreitet in
diesem Zusammenhang, daß die Reisen Hubbards tatsächlich stattgefunden haben.
156
Im Brief seines Vaters wird die Queen Ann High School in Seattle / Washington
genannt. (Vgl. Haack, Scientology, 24).
57
versetzt worden war. Hubbards Aufenthalt in Guam dauerte ungefähr
sechs Monate. Ron wurde in dieser Zeit von seiner Mutter unterrichtet. Im
Schuljahr 1927/28 kam er in die USA zurück und wurde Schüler der
Helena High School in Montana. Das Jahr 1928 verbrachte er wieder in
Guam, kehrte jedoch schon im Jahr 1929 wieder in die Vereinigten
Staaten zurück. Er studierte von 1930 bis 1932 an der Washingtoner
Universität. Er besuchte unter anderem auch Vorlesungen über Molekularund Atomphysik. Nach einigen Schwierigkeiten mit dem Studium an der
Universität und nachdem er die entscheidende Prüfung nicht bestanden
hatte, verließ er die Universität ohne Studienabschluß.157 1933 heiratete
Hubbard Marie Louise Grubb. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor,
ein Sohn mit dem Namen Lafayette Ronald, und eine Tochter, Katherine
May. Im Jahr 1947 wurde die Ehe geschieden, und Hubbard heiratete zum
zweiten Mal. Doch auch diese Ehe war nicht von langer Dauer und wurde
1951 aufgelöst. 1952 heiratete er seine dritte Frau, Mary Sue Whipp, mit
der er drei Kinder hatte.158 Seine zweite Frau äußerte sich im
Zusammenhang mit der Scheidung sehr negativ über Hubbard und
bezeichnete ihn als psychisch kranken Menschen.159 Diese Äußerung von
Hubbards zweiter Frau, die ihn als geisteskranken Menschen bezeichnete,
scheint nicht ganz unbegründet zu sein, wenn man seine Kontakte zum
157
Vgl. Haack, Scientology, 24. Hemminger bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die
Laufbahn Rons an Schulen und Hochschulen stellt sich, soweit bekannt, als eine
Serie von Mißerfolgen dar.“ (Hemminger, Hansjörg, Scientology. Der Kult der Macht,
Stuttgart 1997, 63). Die Scientology-Organisation erwähnt zwar das Studium
Hubbards an der Washingtoner Universität, verschweigt jedoch den Abgang ohne
Studienabschluß. Es heißt bei Scientology lediglich: „Als er 1929 in die Vereinigten
Staaten zurückkehrte, nahm Ron seine formelle Ausbildung wieder auf und schrieb
sich im darauffolgenden Jahr an der George Washington Universität ein. Dort
studierte er Mathematik, Ingenieurwesen und das damals neue Fachgebiet der
Kernphysik, die alle wichtige Hilfsmittel für weitere Forschung bildeten.“ (Das
Scientology-Handbuch, 784).
158
Vgl. Haack, Scientology, 26. Die vielen Eheschließungen und baldigen Scheidungen
werfen die Frage nach dem Charakter Hubbards auf. Als seine zweite Frau die
Scheidung einreichte (1951), warf sie ihrem Mann unter anderem vor, versucht zu
haben, ihre Tochter zu entführen. Scientology erwähnt auch diese Ereignisse aus dem
Familienlebens Hubbards an keiner Stelle.
159
Der Journalist Peter Köpf, der sich in einer seiner Publikationen mit Scientology
auseinandergesetzt hat, beschreibt die Reaktion der Frau Hubbards folgendermaßen:
„Seine zweite Frau erklärte ihn 1951 bei der Einreichung der Scheidungsklage für
‚hoffnungslos geisteskrank‘, zog diese Aussage später aber wieder zurück.“ (Köpf,
2
Peter, Stichwort Scientology, München 1996 , 12f.). Die Bezeichnung „hoffnungslos
geisteskrank“ entnimmt Köpf von Christopher Evans. (Vgl. Evans, Christopher, Kulte
des Irrationalen, Reinbek 1976, 148).
58
Neosatanismus in Betracht zieht, mit dessen bekanntestem Vertreter,
Alaister Crowley, Hubbard eine Zeitlang in engem Kontakt gestanden
hatte.160
Bereits zur Zeit seines Technikstudiums interessierte sich Hubbard
auch für Philosophie und den Menschen, besonders für den menschlichen
Verstand und das geistige Potential des menschlichen Gehirns. Er hatte
eine große Vorliebe für den Bereich der Science-Fiction161 und schrieb
eigene Romane.
Ab 1935 setzte Hubbard sich mit Funktion und Struktur des
menschlichen Gehirns auseinander. Hierbei spielte besonders seine
Unzufriedenheit mit der damaligen Psychologie und ihrer Wirkung auf die
Kultur eine Rolle.162 Als Zusammenfassung seiner Studien schrieb er das
Buch „Dianetics“163 , das ein voller Erfolg und in den USA zum Bestseller
160
Als Hubbard zum Kriegsdienst herangezogen wurde, mußte er seine schriftstellerische
Tätigkeit als Autor von Science-Fiction-Romanen für einige Zeit einstellen. Er wurde
nach Beendigung des Krieges auf den Satanistenorden „Ordo Templi Orientis“ in
Kalifornien aufmerksam. Über seine Kontakte zum berüchtigten Satanisten Alaister
Crowley und die Wirkungen auf Hubbard heißt es: „Aber die Werke Crowleys soll
Hubbard intensiv studiert haben, und sie dürften auf seine Denkweise in allgemeiner
Form abgefärbt haben.“ (Hemminger, Scientology, 64).
161
Science-Fiction stellt eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und
Fiktion dar. „Der Ursprung der Science-Fiction fällt zusammen mit dem Ursprung der
durch die technologische Nutzung der Erfahrungswissenschaften konstituierten
Moderne und deren spezifischen Wissenschaftsglauben: In der Wissenschaft und
ihrer Anwendungsdimension, der Technik, wir das Heil des Menschen gesehen.“
(Hauser, Linus, Science Fiction, in: Gasper, Hans, u.a. (Hrsg.), Lexikon der Sekten,
Sondergruppen und Weltanschauungen, 958f). Hauser erwähnt des weiteren auch die
mit der wachsenden Technisierung einhergehende Technikangst. Eine knappe, aber
durchaus brauchbare Beschreibung von Science-Fiction bietet Tom Voltz in seinem
Buch „Scientology und (k)ein Ende“. Er umschreibt den Begriff wie folgt: „Wie der
Name schon sagt, ist Science-fiction (sic) eine Verknüpfung von Wissenschaft und
Fiktion. Die Fiktion basiert auf wissenschaftlichen Entdeckungen, sowohl rein
theoretischen als auch tatsächlichen. Aus ihnen entwickelt der Autor dann den Stoff
seines Romans.“ (Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, Düsseldorf 1995, 59).
162
Hubbard bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es war mir sehr klar, daß ich es mit
einer Kultur zu tun hatte und in ihr lebte, die weniger über den Verstand wußte als der
niedrigste aller primitiven Stämme, mit denen ich je in Kontakt kam.“ (Das
Scientology-Handbuch, 784).
163
Der Kerngedanke von Dianetics ist, durch die Beeinflussung des Verstandes
Gesundheit, Erfolg und Heil zu erreichen. Eine ausführlichere Erklärung erfolgt bei der
Darstellung des Lehrsystems. Die Scientology-Organisation stellt die Veröffentlichung
von Dianetics als wichtigen Meilenstein für den Fortschritt der Menschheit dar wenn
sie schreibt: „Die Veröffentlichung von Dianetik läutete eine neue Ära der Hoffnung für
die Menschheit ein [...].“ (Das Scientology-Handbuch, 786).
59
wurde. 1950 wurden die Gedanken Hubbards in einem Science-FictionMagazin der Öffentlichkeit zum ersten Mal zugänglich gemacht.164
Nach weiteren Forschungen begründete Hubbard im Mai 1954 seine neue
Wissenschaft, die Scientology. Die Dianetik wurde dabei der Scientology
eingegliedert. Im gleichen Jahr kam es zur Gründung der „ScientologyKirche“.165
1959 erwarb Scientology ein Schloß in England, welches das
Hauptquartier der Sekte wurde. 1968 bekam Hubbard Schwierigkeiten mit
der britischen Regierung, weshalb er das Land verlassen mußte. Er zog
sich auf ein Schiff zurück und leitete von dort aus sämtliche Aktivitäten von
Scientology. Im gleichen Jahr trat er als oberster Leiter der Organisation
zurück
und
betraute
andere Scientologen
mit der Führung der
Organisation. Acht Jahre später, im Jahr 1976, wurde die Zentrale nach
Clearwater in Florida (USA) verlegt. Hubbard mußte sich in der
Zwischenzeit mehrere Male wegen Betrugs verantworten, so z. B. in
Frankreich im Jahr 1978.
Anfang 1980 zog sich Hubbard vollends aus der Öffentlichkeit zurück
und war mehrere Jahre unauffindbar. Am 24. Januar 1986 wurde sein Tod
von
der
Organisation
offiziell
bekanntgegeben.
Die
Scientology-
Organisation stellt Hubbards Lebenswerk und seinen Tod als verdienstvoll
für die Welt dar und bezeichnet ihn als besten Freund, den die Welt je
hatte.166
164
In einer Broschüre, die sich kritisch mit Scientology auseinandersetzt, heißt es in
diesem Zusammenhang: „Im Jahr 1950 veröffentlichte Hubbard in einem Sciencefiction-Magazin den Artikel: ‚Dianetik – Einführung in eine Wissenschaft’. Aufgrund des
großen Erfolges folgte noch im gleichen Jahr das Buch ‚Dianetik – Die moderne
Wissenschaft der geistigen Gesundheit’, das in den USA schnell zum Bestseller
geworden sein soll.“ (Abel, Ralf B., Scientology. Kritische Darstellung eines
gefährlichen Systems. Aktionsbündnis Hamburg-Eppendorf, Hamburg 1993, 9f).
165
„Die erste Scientology-Kirche, die dem Menschen eine Route zu neuen Stufen des
Bewußtseins bot, wurde 1954 gegründet:“ (Das Scientology-Handbuch, 786).
Vgl. auch Mandau, Luise, Tödlicher Sektenwahn. Die teuflischen Tricks der
2
Seelenfänger, Essen / München 1995 , 245.
166
„Alles in allem belaufen sich Ron Hubbards Werke auf den Gebieten der Dianetik und
der Scientology auf über 5.000 Schriften, einschließlich Dutzender von Büchern und
über 3.000 Tonträgern. Zusammengenommen machen diese Werke das Vermächtnis
eines Lebens aus, das am 24. Januar 1986 endete. Dennoch bedeutete das Ableben
L. Ron Hubbards in keiner Weise ein Ende. Zumal über hundert Millionen seiner
Bücher im Umlauf sind und Millionen von Menschen täglich seine Technologien zur
Verbesserung anwenden, kann man wahrhaft sagen, daß die Welt nie einen
besseren Freund hatte.“ (Das Scientology-Handbuch, 787).
60
3.2.2 Die Entstehungsgeschichte der Scientology
3.2.2.1 Die Bedeutung der Science-Fiction-Literatur
Die Geschichte von Scientology beginnt mit dem Erscheinen des von
Hubbard verfaßten Buches „Dianetik – Die moderne Wissenschaft der
geistigen Gesundheit“. Eine wichtige Voraussetzung für den großen Erfolg
des Buches lag in der Popularität der Science-Fiction-Literatur in den USA
der dreißiger Jahre. Tom Voltz167 , ein exzellenter Kenner von Scientology,
beschreibt den Erfolg dieser Literatur mit folgenden Worten: „In den USA
gewann die Science-fiction Literatur Mitte der 30er Jahre stark an
Popularität und wandelte sich von einem Genre der Trivialliteratur zu
einem Genre der angesehenen Literatur.“168
Der Ursprung von Science- Fiction liegt aber bereits im 19. Jahrhundert.
Bedingt durch die technische Revolution und die damit einhergehenden
Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften bildete sich ein
naiver Fortschrittsglaube heraus, der den Menschen suggerierte, in
absehbarer Zeit auch die letzten Geheimnisse des Lebens und der Welt
entschlüsseln zu können. Gleichzeitig entstand auch eine Technikangst,
die ein neues, durch Ambivalenz gekennzeichnetes, Lebensgefühl
aufkommen ließ, welches so beschrieben werden kann: „Dieser Glaube
und die Angst verschmelzen zu einem epochal neuen und gespaltenen
Lebensgefühl, neomythischer Titan zu sein, der sich vor seiner Macht
fürchtet.“169 Dieses zwiespältige Lebensgefühl wird im ersten modernen
Science-Fiction-Roman „Frankenstein“ sehr deutlich angesprochen. Hier
wird eine menschenähnliche Kreatur im Labor erschaffen, jedoch wird
dem
Wissenschaftler
seine
Schöpfung
schon
sehr
bald
zum
Verhängnis.170 Im Jahr 1932 erschien Aldous Huxley’s Roman „Schöne
neue Welt“, in dem der Autor die heutzutage längst übliche Praxis der
künstlichen Befruchtung im Reagenzglas, die In-Vitro-Fertilisation, als
167
Tom Voltz arbeitet als Unternehmensberater in der Schweiz. Er gehörte 20 Jahre der
Scientology Organisation an. Sein Buch „Scientology und (k)ein Ende“ bietet einen
einzigartigen Blick hinter die Kulissen der verschiedenen Unterorganisationen und
wirtschaftlichen Aktivitäten der Organisation.
168
Voltz, Scientology, 59.
169
Hauser, Science Fiction, 958.
170
Ibid.
61
Utopie beschreibt. Dieses Werk aus dem Bereich der Science-FictionLiteratur sei an dieser Stelle erwähnt, um zu verdeutlichen daß der
Übergang von der Utopie zur Realität oft nur ein kleiner Schritt ist. Viele
ursprünglich als Phantastereien bewertete Dinge sind im Laufe der Zeit
tatsächlich Wirklichkeit geworden, so auch der Traum von einer Reise
zum Mond, den die Menschen des 19. Jahrhunderts nur träumen konnten.
Die Ideen solcher Werke übten auf Lafayette Ronald Hubbard einen
großen Einfluß aus.
3.2.2.2 Der Einfluß von Science-Fiction auf Lafayette Ronald
Hubbard
Hubbard machte sich bereits in den 1930er Jahren einen Namen als
Science-Fiction-Autor. Er verfaßte etliche Science-Fiction-Romane, die
einen guten Einblick in seine Gedankenwelt ermöglichen. Es sollen daher
zwei
der
Werke
Hubbards
erwähnt
werden,
zum
einen
eine
Kurzgeschichte mit dem Titel „The Dangerous Dimension“, zum anderen
der Roman „The Tramp“. In beiden Werken wird die Bedeutung
paranormaler
Fähigkeiten
hervorgehoben,
die
Möglichkeit
der
Fernbeeinflussung von Menschen sowie die Überwindung von Raum und
Zeit.171 Ralf Abel, der sich mit der Scientology-Organisation sehr intensiv
befaßt hat, äußert sich über die Gedankenwelt Hubbards folgendermaßen:
„Die oben beschriebene Gefühls- und Gedankenwelt hat Hubbard offenbar
bis zu seinem Tod nicht verlassen. Die von Hubbard in seinen Sciencefiction-Geschichten beschriebenen Fähigkeiten sind Vorstellungen, die
auch in der scientologischen Ideologie eine wesentliche Rolle spielen.“172
171
172
Vgl. Abel, Scientology, 10f.
Ibid., 11.
62
3.2.2.3 Etappen auf dem Weg zu einer festgefügten
Organisation
3.2.2.3.1 „Dianetic“ und „Scientology“
Vor der Skizzierung der Entwicklung Scientologys zu einer Organisation
mit einem festgefügten Lehrsystem ist es ratsam, die Bedeutung der
Begriffe „Dianetic“ und „Scientology“ zu klären. „Dianetic“ leitet sich von
den beiden griechischen Termini „diá“ (durch) und „noos“ (Sinn, Verstand,
Denken) ab. Das Ziel von Dianetic ist es, durch die Beeinflussung des
menschlichen Verstandes Gesundheit und Heil zu erreichen. Das
Ergebnis ist der neue Mensch, der sogenannte „Clear“.173
Der Begriff Scientology ist eine Kombination aus dem lateinischen Wort
„scire“ (wissen) und dem griechischen „lógos“ (hier: Lehre). Der Begriff
bedeutet also „Lehre vom Wissen“. Scientology im Sinne Hubbards stellt
den Überbau von Dianetics dar.174
3.2.2.3.2 Die Anfänge
Hubbards Forschungen über den menschlichen Verstand haben einen
wesentlichen Einfluß auf die Entstehung der Organisation ausgeübt, da er
versuchte, seine Forschungsergebnisse für die Gründung einer Religion
fruchtbar zu machen. Für Hubbard stellt Religion eine positive, sozial zu
begrüßende Angelegenheit dar. Das Gute an einer Religion ist ein Glaube,
der sich durch eine bestimmte Ordnung auszeichnet. In diesem
Zusammenhang weist Haack auf zwei sehr aufschlußreiche Äußerungen
Hubbards hin, die in Zusammenhang mit der Gründung seiner Sekte
stehen. „Es wäre töricht, für einen Penny auch nur ein Wort zu schreiben.
173
Hubbard definiert Dianetik als „ein System zur Analyse, Kontrolle und Entwicklung des
menschlichen Denkens, welches auch Techniken zur Erhöhung von Fähigkeit und
Vernunft und zur Befreiung von der entdeckten alleinigen Quelle von Aberrationen und
psychosomatischen Krankheiten liefert“. (Dianetik, 520).
174
Unter Scientology versteht Hubbard „eine angewandte religiöse Philosophie und
Technologie, die Probleme des Geistes, des Lebens und des Denkens löst“. (Dianetik,
520). Zur genauen Bedeutung von Dianetik und Scientology für das Lehrsystem siehe
Punkt 3.5.
63
Wollte man wirklich eine Million Dollar verdienen, so wäre der beste Weg,
seine eigene Religion zu gründen.“175 Diese erste Aussage Hubbards läßt
die finanziellen Motive einer Religionsgründung deutlich erkennen, die ihn
von Anfang an bewegten.
Die zweite in diesem Zusammenhang bedeutende Aussage Hubbards
zum Thema Religion beschreibt die seiner Meinung nach notwendigen
Voraussetzungen für eine tragfähige Religion. Nach Hubbard ist ein klar
geordneter Glaube einer Religion sehr förderlich. Hierbei kommt die von
ihm entwickelte Dianetic ebenfalls zum Tragen: „Dianetic ist eine
Wissenschaft; als solche hat sie keine Meinung über Religion, weil
Wissenschaften auf Naturgesetzen basieren, nicht auf Meinungen.“
Hubbard
erhebt
seine
Anschauung
hiermit
in
den
Rang
einer
Wissenschaft. Die Aussage, die Dianetic habe keine Meinung über
Religion, hindert ihn jedoch nicht daran, diese in sein „religiöses System“
zu integrieren. Hubbard bemerkt hierzu: „Wenn Glauben einer Religion
dargebracht wird, kann man beobachten, daß er, einmal gegeben,
unerschütterlich
und
voraussagbar
(predictable)
wird.
Wenn
ein
unordentlicher Verstand nach den Fundamenten der Dinge greift, kann in
keiner Weise vorausgesagt werden, wie der Verstand die Information
nutzen wird. (...) Dianetics (...) macht den Menschen gesund.“176
Dianetic ist für Hubbard eine Art Ordner des Glaubens. Darüber hinaus
ist Dianetic Religion. Haack sagt zu diesem Religionsverständnis: „Was
Hubbard unter Religion versteht, ist jenes Abhängigkeits-Verhalten, das
der
Mensch
braucht
und
wozu
bestimmte
Gruppen
(die
Religionsgemeinschaften) nun einmal hilfreich sein können (wenn sie sich
den vorgegebenen Ordnungen anpassen).“177
175
Haack, Scientology, 40. Vgl. auch Billerbeck, Liane von / Nordhausen, Frank, Der
5
Sektenkonzern. Scientology auf dem Vormarsch, Gütersloh 1994 , 35. Billerbeck und
Nordhausen äußern sich in Zusammenhang mit den Geldsorgen und der
beabsichtigten Religionsgründung Hubbards wie folgt: „Hubbard, der ständig in
Geldnöten schwebte und seine Bekannten anpumpte, hatte sich nicht nur seine
Psycho-Probleme vom Leib geschrieben, er nutzte auch die kommerzielle Chance, die
ihm das Leben unverhofft bot.“
176
Haack, Scientology, 41.
177
Ibid.
64
Im selben Jahr 1950, in dem Hubbard solche Gedankengänge
offenbarte, wurde im US Bundesstaat New Jersey die sogenannte
„Hubbard Dianetic Research Foundation“ gegründet.178 Zwei Jahre später,
im Jahr 1952, führte Hubbard den Begriff „Scientology“ ein. Er
charakterisierte Scientology und seinen Zusammenhang mit Dianetic
folgendermaßen: „Die Formulierungen der Scientology basieren auf
keinem anderen Konzept oder Regeln als denjenigen der Dianetik, mit der
Ausnahme, daß diejenigen der Dianetik sich an die Behandlung des
Menschen als eines Individuums wenden, in einer neuen Art von
Psychotherapie und mit dem Ziel, einen besseren Menschen zu
ermöglichen. Dies sind nicht die Ziele der Scientology.“179 Das Ziel von
Scientology sei das Erklimmen der obersten Wissens- und Seinsstufe:
„Scientology bemüht sich, die höchste Ebene des Wissens und des Seins
zu erreichen, die möglich ist, unabhängig davon, ob die Person ein
Mensch bleibt, oder etwas anderes wird.“180 Daher sei Scientology eine
„Wissenschaft des Wissens“.181
Scientology und die eingegliederte „Dianetic“ bilden das Fundament für
Hubbards
Gründung der „Church of Scientology“. Über dreißig Jahre
nach ihrer Entstehung sagte Hubbard über die Gründung der ScientologyKirche, er habe lediglich das Fachgebiet, nicht aber die Kirche
gegründet.182 Doch ist diese Behauptung nicht stichhaltig.
Die „Scientology Organisation“ ist 1954 in Los Angeles entstanden. Aus
ihr sind im Laufe der folgenden Jahre zahlreiche Nebenorganisationen
hervorgegangen.183 Scientology selbst gibt als Gründungsdatum der
ersten Kirche den 18. Februar 1954 an.
178
Vgl. Abel, Scientology, 11.
Voltz, Scientology, 70.
180
Ibid.
181
Ibid., 71.
182
Ibid., 73.
183
Abel meint: „1954 entstand die erste „Hubbard Scientology Organisation“. Seit den
Anfängen hat sich die Organisation systematisch entfaltet und besitzt eine Reihe von
Unter-, Neben- und Tarnorganisationen.“ (Abel, Scientology, 11).
179
65
3.2.2.3.3 Weitere Ausbreitung der Organisation
Nach der Gründung der Scientology-Organisation unternahm Hubbard
zahlreiche Vortragsreisen, um seine Ideen einem möglichst großen
Publikum zugänglich zu machen und ein möglichst großes Interesse an
Scientology zu wecken. 1955 kam er nach Großbritannien und begann mit
Werbeaktivitäten in dem englischen Ort Notting Hill Gate. Bereits im
Dezember desselben Jahres 1955 konnte er einen englischen Zweig
seiner Organisation, The Church of American Science (United Kingdom
Chapter), gründen.184
Hubbard erwarb in England auch ein luxuriöses Haus und widmete sich
der Gartenarbeit. Durch diese Beschäftigung mit der Natur kam er zu der
angeblich bahnbrechenden Erkenntnis der Existenz von guten und bösen
Pflanzen, die er auf den Bereich des menschlichen Geistes übertrug.185 Es
gibt im menschlichen Geist demnach positive und negative Elemente.
Minhoff bemerkt in diesem Zusammenhang: „Diese ‚bahnbrechende’
Erkenntnis nach einigen Jahren Arbeit mit Drähten und Geräten an
Pflanzen wirft doch ein recht klares Licht auf die Art von ‚Genialität’, die
Scientologen Hubbard zuschreiben.“186
Diese
von
Hubbards
Anhängern
als
„revolutionäre
Erkenntnis“
bezeichnete Aussage war für die weitere Ausbreitung der Organisation in
England von Bedeutung, denn nachdem sich Hubbard in England
niedergelassen hatte,187 zog es auch viele Anhänger nach Sussex, wo sie
neue Anhänger warben. Diese Werbetätigkeit führte 1960 zu Konflikten
mit der einheimischen Bevölkerung. Da er Unannehmlichkeiten aus dem
Weg gehen wollte, begab sich Hubbard wieder auf Reisen, um in den USA
184
Minhoff / Lösch schreiben dazu: „1955 traf Hubbard in England ein, wo er einen neuen
Schwerpunkt seiner Aktivitäten entfalten wollte. So begann Hubbard – nachdem er
sich und seine Scientology in dem Ort Notting Hill Gate eingeführt hatte – mit
Vorlesungen eine Anhängerschaft in Großbritannien aufzubauen. Am 10. Dezember
wurde die Gründungsversammlung für ‚The Church of American Science’ (United
Kingdom Chapter) abgehalten.“ (Minhoff Christian / Lösch Holger, Neureligiöse
Bewegungen. Strukturen, Ziele, Wirkungen, München 1988, 127).
185
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128.
186
Ibid. 128; vgl. Haack, Scientology, 53.
187
Vgl. Hartwig, Renate, Scientology. Die Zeitbombe in der Wirtschaft, Pfaffenhofen
1994, 16.
66
und Australien die Fortschritte von Scientology zu begutachten. Wie weit
Scientology in den USA Anfang 1963 bereits Fuß gefaßt hatte, zeigt die
große Menge der von der US-Bundesbehörde (FDA)188 sichergestellten
Materialien, wie beispielsweise Bücher und E-Meter.189 Es gelang der
staatlichen Behörde aber nicht, genügend belastendes Material gegen
Scientology vorzulegen, was die Scientologen veranlaßte, der USBundesbehörde religiöse Intoleranz vorzuwerfen.190
In Australien ergriff die Regierung härtere Gegenmaßnahmen gegen
Scientology und bildete einen eigenen Untersuchungsausschuß, der 1963
damit begann, die Organisation genau zu durchleuchten. Die Ergebnisse
dieser Untersuchung wurden in einem Bericht zusammengetragen, der
nach dem Leiter der Untersuchungen, Kevin Anderson, als „Anderson
Report“ bezeichnet wird.191 In diesem Bericht wird Scientology als
gefährliche Organisation eingestuft, deren Aktivitäten eine Bedrohung für
die ganze Gesellschaft darstellen. Minhoff bringt die Gefährlichkeit der
Sekte auf folgenden Nenner: „Die Scientology ist schädlich; ihre Methoden
sind schädlich; ihre praktische Anwendung stellt eine ernsthafte
Bedrohung für die Gesellschaft dar und zwar in medizinischer, moralischer
und sozialer Hinsicht.“192
Hubbard zog sich derweil nach England in seinen Wohnsitz zurück, der
von seinen Anhängern zu einem gut eingerichteten Ausbildungszentrum
ausgebaut worden war. Doch bald ging er wieder auf Reisen und zeigte
für seine Organisation nur noch geringes Interesse.193 Daher wuchs der
Einfluß seiner Frau Mary Sue. Es wird in diesem Zusammenhang sogar
188
„FDA“ ist die Abkürzung für „US Food and Drug Administration“.
„Am 4. Januar 1963 marschierten Beamte dieser US-Bundesbehörde in das
Washingtoner Büro der Scientologen und beschlagnahmten kübelweise Bücher,
Schriften und E-Meter.“ (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128).
190
„Die Scientologen, die nun in die Rolle verfolgter Minderheiten schlüpften, belegten die
FDA mit dem Vorwurf, ‚religiöse Intoleranz’ zu zeigen. Dies fiel den Scientologen um
so leichter, als die FDA keine ausreichenden Fakten für eine Anklage oder einen
erfolgreichen Prozeß gegen die Bewegung zusammentragen konnte.“ (Minhoff /
Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128).
191
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128.
192
Ibid.
193
Es wird darüber spekuliert, ob Hubbard 1965 darüber nachgedacht habe, Scientology
zu verlassen. (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 129).
189
67
von einem „autoritären Umbruch“ in bezug auf die Sekte sowie die Lehre
Hubbards gesprochen.194
Anfang 1965 erfolgte die Bekanntgabe von Neuerungen innerhalb des
Lehrsystems,195 was einen Anstieg der Zahl Ausbildungswilliger nach den
Normen der Organisation zur Folge hatte. Ein Jahr später wurde das
Überwachungssystem der Organisation, von dem noch ausführlich die
Rede sein wird, verbessert. Am 1. März 1966 wurde der sogenannte
„Guardian Office“196 gegründet, deren Führung Mary Sue übernahm. Ein
Grund
für
die
Entstehung
dieser
Organisation
ist
wohl in
der
zunehmenden Kritik an Scientology seitens staatlicher Behörden zu
suchen. Hierbei könnte vor allem die Anti-Scientology-Kampagne in
England eine wichtige Rolle gespielt haben. Minhoff meint dazu:
„Ausgelöst worden sein könnte der Aufbau von Abwehrorganisationen mit
dem Beginn der massiven Anti-Scientology-Kampagne in England. Dort
soll laut Garrison, der Abgeordnete Lord Baniel am 7. Februar 1966 mit
Blick auf die australischen Untersuchungen eine Anfrage an den
damaligen Gesundheitsminister Kenneth Robinson gestellt haben.“197
Im Herbst des Jahres 1966 soll Hubbard auf seine Leitungsämter
verzichtet haben, was ihn allerdings nicht daran hinderte, Kritiker seiner
Organisation mit scharfen Worten anzugreifen. Er schreckte nicht einmal
davor zurück, gegen die Feinde von Scientology skrupellose Praktiken
anzuwenden. Einer Person, die es wagt, Scientology zu kritisieren, kann
Schaden
jeder
Art
zugefügt
werden:
„Ihr
kann
das
Vermögen
weggenommen werden, oder sie kann durch jedes Mittel geschädigt
194
„Die Jahre 1965 bis 1968 sollten weitreichende Veränderungen in der Bewegung
bringen. Dies betraf die Organisation wie die Lehre. Auffällig ist, daß gerade diese
Jahre geprägt sind von einem autoritären Umbruch, der sich nicht zuletzt in einem
Aufbau von externen Feindbildern im Innern wie nach außen zeigte. Während
Hubbard auf Reisen war, hatte sich in seiner Studien- und Nachwuchsschmiede in
England auf Saint Hill Manor einiges getan. Seine Frau Mary Sue Hubbard rückte
immer mehr in den Mittelpunkt der Macht.“ (Minhoff / Lösch, Neureligiöse
Bewegungen, 130).
195
Diese Bekanntgabe erfolgte in dem sogenannten HCO Bulletin. Dies ist die Abkürzung
für Hubbard Communications Office Bulletin. Hierin sind die geistigen Techniken von
Scientology und Dianetik verzeichnet. Das Ziel dieser Techniken ist der zur Freiheit
gelangte Mensch, der sogenannte „Clear“. Die Stufen hin zu diesem Ziel des Clear
wurden in diesem Bulletin erweitert. (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 130).
196
Die Aufgabe dieser Organisation besteht in der Abwehr von Kritik von außen.
197
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 131.
68
werden, oder durch jeden Scientologen, ohne Nachteil für den
Scientologen. Sie kann ausgetrickst, verklagt oder belogen oder vernichtet
werden.“198
Kurze Zeit später führte die Sekte ein Kurssystem ein, das
verschiedene Stufen (die sogenannten O.T’s) vorsah und die Mitglieder
schrittweise zur absoluten geistigen Freiheit führen sollten, wobei sie
allerdings die einzelnen Kursstufen auf eigene Kosten absolvieren
müssen.199 Die Ausbildung in den höheren O.T.’s erfolgte auf einem
Schiff, welches Hubbard 1967 erwarb, obwohl er angeblich im Vorjahre
alle seine leitenden Ämter niedergelegt hatte. Er verlegte die Zentrale der
Organisation dorthin und rief die See-Organisation, die sogenannte „SeaOrg“ ins Leben.200 Über Hubbard und den Erwerb seines Schiffes bemerkt
die Ex-Scientologin Renate Hartwig: „Hubbard kauft ein mittelgroßes
Schiff und nennt es ‚Apollo’. Es wird zum Flagschiff und Hubbard macht
sich selbst zum ‚Commodore’.“201
Die englische Regierung ergriff scharfe Maßnahmen gegen die
Aktivitäten der Organisation Hubbards. Es erfolgte die Aberkennung des
Status als ordentliche Ausbildungsstätte seitens des Innenministeriums.
Einreiseanträge von „Studienwilligen“ wurden abgelehnt, sich bereits in
England
befindlichen
Aufenthaltsgenehmigung
„Studenten“
gewährt.
wurde
Des
keine
Verlängerung
weiteren
wurden
der
keine
Arbeitserlaubnisse und Versicherungen für Angestellte von Scientology
gewährt, bzw. nicht mehr verlängert.202 Auch gegen Hubbard selber
wurden Strafmaßnahmen durchgeführt. Er durfte nicht wieder nach
England einreisen. „Der britische Innenminister Calaghan untersagte
Hubbard unter Berufung auf das ‚Fremdengesetz’ nach England
zurückzukehren.“203 Auch in Australien wurde Scientology komplett
verboten.
198
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 131.
Diese Kursstufen werden mit der Abkürzung „O.T.“ versehen, die für „Operating
Thetan“ steht. Eine genaue Erläuterung dieser Stufen wird im Rahmen der Darstellung
des Lehrsystems von Scientology gegeben. Siehe unten Punkt 3.5.
200
Vgl. Haack, Scientology, 192ff.
201
Hartwig, Scientology, 16.
202
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 133.
203
Ibid.
199
69
Auf diese Maßnahmen antwortete Scientology durch ein Straffung der
Organisationsstruktur
(1968).
Auch
Hubbard
ließ
sich
durch
die
Maßnahmen der Regierungen nicht einschüchtern, im Gegenteil. Im
September 1969 versuchte er bei einem Zusammentreffen der Sea-OrgSchiffe, von welchen aus die Scientologen vor staatlichen Kontrollen
geschützt agieren konnten, nahe der griechischen Insel Korfu die
sogenannte
„Advanced
Organisation“
(AO)
zu
gründen.
Diese
Unterorganisation der Scientology sollte Mitgliedern, die auf dem
Ausbildungsweg bereits beachtliche Fortschritte erzielt hatten, das
Durchlaufen der höchsten Ausbildungsstufen innerhalb der Organisation
ermöglichen. Jedoch mußten die Scientologen durch den Druck der
griechischen Regierung deren Staatsgebiet verlassen. Das Resultat war
die
Gründung
der
„Advanced
Organisation“
(AO)
im
dänischen
Kopenhagen im gleichen Jahr 1969. Gleichzeitig mit der Gründung der AO
erfolgte der weitere Ausbau des „Guardian Office“. Das war eine
Schutztruppe, welche die Scientology-Organisation gegen Spione und
Infiltration von außen zu verteidigen hat.204
Ende 1971 gab Scientology Richtlinien und Anordnungen heraus,
welche besondere Leistungen der Mitarbeiter honorierten, bei angeblich
schlechtem
Einsatz
für
die
Belange
der
Organisation
jedoch
Strafmaßnahmen vorsahen. Zwei Jahre später (1973) stellte in England
der Anwalt Sir John Forster, der gleichzeitig Parlamentsmitglied war, einen
Bericht vor, der als „Forster-Report“ bekannt wurde. Dieser Bericht
bezeichnete ein generelles Verbot von Scientology als rechtswidrig und
lenkte die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeit, einen eindeutigen
Religionsbegriff zu definieren. Haack bemerkt in diesem Zusammenhang:
„Sir John Forster spricht einen für moderne Demokratien wesentlichen
Punkt an. In vielen Fällen gibt es besondere, oft weitgehende rechtliche
und steuerliche Vergünstigungen für Religionsgemeinschaften, jedoch
kein Instrumentarium, mit dessen Hilfe etwas über die Qualität einer
204
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 135.
70
Gemeinschaft ausgesagt werden könnte, die in den Genuß dieser Vorteile
kommen soll.“205
Im Jahr 1973 begannen sich die amerikanischen Steuerbehörden für
die gewaltigen finanziellen Einnahmen der Scientologen zu interessieren.
Auch Interpol leitete damals Ermittlungen gegen Scientology und ihre
oberste Autorität Hubbard ein.206 Daraufhin versuchte die Sekte, die
staatlichen US-Behörden zu infiltrieren. Dabei erließ die Führung des
Guardian Office die Anordnung, ihr das gesamte Belastungsmaterial
gegen Scientology, das die amerikanischen Finanzbehörden besaßen, zu
besorgen. Scientology agierte folgendermaßen: „Im Oktober 1974 gab
Jane Kemper, zu dieser Zeit in der Position des „Guardian World-Wide“
(Weltweiter Sicherheitsbeauftragter) Anweisung, die Büros der IRSFinanzbehörde im District of Columbia und die Steuerabteilung des
Justizministeriums der Vereinigten Staaten zu infiltrieren, um alle Akten
über Scientology und ihren Gründer Lafayette Ron Hubbard in ihren Besitz
zu bringen, sowie alle persönlichen Aufzeichnungen von Amtsanwälten,
die die Regierung in Sachen Scientology vertreten.“207 Auch das
Justizministerium war das Ziel solcher Unterwanderungsversuche, weil die
Sekte einen Prozeß und eine eventuelle Verurteilung Hubbards mit allen
Mitteln verhindern wollte.
1975 wurde eine sogenannte „Flag Land Base“ eingerichtet und die
Ausbildung des Führungsnachwuchses von der See-Organisation nach
Fort Harrison (USA) verlagert. Die folgenden Jahre waren durch eine Art
Wettstreit zwischen staatlichen und scientologischen Sicherheitsleuten
gekennzeichnet. „1976 wurden durch das FBI zwei Agenten des
Guardian-Büros mit falschen Ausweispapieren nachts im Justizministerium
aufgegriffen. Im Verlauf der nun folgenden Untersuchungen kam es zu
Enthüllungen über die illegalen Taktiken der Organisation und zu einem
Prozeß gegen führende Persönlichkeiten derselben.“208
Verhafteten
205
war
der
scientologische
Haack, Scientology, 271.
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 135.
207
Ibid.
208
Haack, Scientology, 236.
206
Top-Agent
Einer der
Meisner,
dessen
71
Aussagen maßgeblichen Anteil daran hatten, daß es dem FBI gelang, die
entwendeten
staatlichen
Akten
zurückzubekommen.
Nach
langen
Ermittlungen konnten dann 1979 mehrere ranghohe Mitglieder der
Scientology, an ihrer Spitze die 48jährige Mary Sue Hubbard, wegen
staatsfeindlicher Aktivitäten vom US-Bundesgericht verurteilt werden.209
Diese geschilderten Ereignisse machen deutlich, daß Scientology mit allen
Mitteln versucht, staatliche Maßnahmen gegen die Organisation zu
verhindern.
3.3. Machtverlust des Gründers und Rückzug aus der
Öffentlichkeit
Die von Hubbard gegründete und organisierte Sea-Org hatte sich zu
einer einflußreichen Institution entwickelt, die die Ausbildung des
Führungsnachwuchses
gewährleistete
und
die
zu
Recht
als
„Verwaltungsmacht im Scientology-Imperium“210 bezeichnet wird. Doch
Hubbards Machtanspruch blieb nicht unangefochten, bis er schließlich
ganz entmachtet wurde. „Irgendwann Mitte der siebziger Jahre muß die
Macht Hubbards – über eine schwere Krankheit wurde spekuliert –
geschwunden sein.“211 Die wichtigste Ursache für die Entmachtung
Hubbards war jedoch die Rivalität zwischen der Sea-Org und dem bereits
als Sicherheits- und Spionageorgan der Sekte erwähnten Guardian Office.
Auch Mary Sue verlor zunehmend ihren Einfluß im Guardian Office.
Beide, Hubbard und Mary Sue, wurden vom FBI überwacht, was dazu
beitrug, ihre Machtposition innerhalb der Sekte zu untergraben. Um dem
FBI zu entgehen, blieben sie nie lange an einem Ort. Doch Hubbard
konnte nicht verhindern, daß gegen ihn ein Ermittlungsverfahren
eingeleitet und Anklage erhoben wurde. Das Gerichtsverfahren sollte im
Februar 1980 in Tampa (Florida) stattfinden.212 Jetzt hielten es auch die
209
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 136.
Ibid., 137.
211
Ibid.
212
Ibid., 138.
210
72
Scientologen für notwendig, Hubbard zu verstecken, und rieten ihm, sich
nach Kalifornien zurückzuziehen, wo er vor staatlichen Maßnahmen sicher
zu sein schien. Doch dies war wohl auch ein Trugschluß, denn Hubbard
tauchte zusammen mit Pat Broeker, dem Chef der Sea-Org, schließlich
vollständig unter.213
Mit dem Rückzug Hubbards gewann David Miscavige zunehmend an
Einfluß. Dieser Mann war vorher ein enger Vertrauter Pat Broekers
gewesen. Nach dem Urteil Renate Hartwigs war Miscavige eine
Persönlichkeit, die bereits „von Kindesbeinen an nach den Vorgaben von
Scientology geschult worden“214 sei. Mit seiner Einflußnahme beginnt ein
neues Kapitel in der Geschichte von Scientology. Zunächst mußte sich
Miscavige die Macht in der Sekte jedoch mit dem aus dem Untergrund
zurückkehrenden Pat Broeker und dessen Frau teilen, bevor er durch
einen späteren Machtkampf zum obersten Führer der Organisation
aufsteigen konnte.
Im Jahr 1982 gründete die Sekte das sogenannte „Religious
Technology Center“ (RTC), welches sämtliche Lizenzen für Warenzeichen
und Druckrechte der Schriften und Kursangebote von Scientology erwarb.
Hierzu bedurfte es des Einverständnisses Hubbards, jedoch wurde die
Echtheit der Unterschriften Hubbards auf den hierzu notwendigen
Unterlagen wiederholt in Frage gestellt. Einige scientologische Gruppen
beschuldigten daher das RTC der Unterschriftenfälschung. Die „Zweifler“
wurden
kurzerhand
aus
der
Organisation
ausgeschlossen.
David
Miscavige war an der angeblichen Unterschriftenfälschung beteiligt,
wodurch seine spätere Führungsrolle erst möglich wurde. Er strebte
danach, die ganze Welt zu beherrschen, was Abspaltungstendenzen
förderte. Seine Vorgehensweise war offensichtlich auch altgedienten
Sektenmitgliedern zuviel. David Mayo, einer der bisherigen Weggefährten
Hubbards
und
Miscaviges,
verließ
die
Organisation
mit
vielen
ausgebildeten Scientologen. Aus dieser durch Miscaviges Vorgehen
213
Pat Broeker war eine skurrile Persönlichkeit. Er war mehrere Male verheiratet und
hatte eine schlechte Ausbildung. Zu seinen Aufgaben als Hauptverantwortlicher der
Sea-Org gehörte vor allem die Beschäftigung mit den Sicherheitsfragen innerhalb der
Organisation.
214
Vgl. Hartwig, Scientology, 17.
73
enttäuschten Gruppe von Scientologen bildete sich dann die sogenannte
„Freie Zone“.215
Wie bereits erwähnt, ließ Hubbard sich in der Öffentlichkeit nicht mehr
blicken. Da auch der Sohn den Aufenthaltsort seines Vaters nicht kannte,
leitete er rechtliche Schritte gegen Scientology ein, um feststellen zu
lassen, ob sein Vater überhaupt noch lebte, da von ihm seit Jahren jede
Spur fehlte.216
Am 24. Januar 1986 wurde der Tod Hubbards offiziell bekanntgegeben.
Wann und wo und unter welchen Umständen der Gründer von Scientology
starb ist völlig ungeklärt. Während die Sekte den Behörden einen
Schlaganfall als Todesursache angab, wurde für die Sektenmitglieder die
Sprachregelung ausgegeben, er sei freiwillig (also durch Selbstmord) aus
dem Leben geschieden.217
Der Tod Hubbards führte zu heftigen Machtkämpfen unter den
Führungskräften von Scientology, aus denen David Miscavige als Sieger
hervorging. Seitdem ist er der unangefochtene Herrscher über die Sekte.
Sein schon seit langem verfolgtes Ziel, durch den Ausbau der totalitären
Strukturen der Sekte die Weltherrschaft zu erringen, hat er keineswegs
aufgegeben. Dazu bemerkt die ehemalige Scientologin Renate Hartwig:
„Die Wirtschaft soll unterwandert werden. Über diese wirtschaftliche Macht
will Miscavige an die Schalthebel der politischen Macht. Das Endziel des
neuen Führers: Eine straff organisierte, autoritär geführte Weltmacht, die
nach Scientology-Richtlinien funktioniert.“218
215
Vgl. Hartwig, Scientology, 18.
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 139.
217
Ibid., 141.
218
Hartwig, Scientology, 18.
216
74
3.4 Organisationsstruktur
3.4.1 Scientology als Kirche und Religion
Die Scientology-Organisation nimmt die Begriffe Religion und Kirche für
sich in Anspruch. Dazu schrieb Hubbard bereits im Jahr 1954: „Die große
Neuigkeit in der Scientology ist unsere Allianz mit verschiedenen
Bereichen der Psychotherapie und die Verwendung der Scientology in
sehr unterschiedlichen Gebieten. In Kalifornien zum Beispiel werden wir
als eine Religion sehr akzeptiert. Einer unserer Kollegen hat die Church of
Scientology
in
Kalifornien
registrieren
lassen
und
wird
als
Koordinationspunkt für viele religiöse Gemeinden dienen.“219
Daß Scientology religiös-kirchliche Elemente verwendet, läßt sich an
der
Durchführung
„Priesterweihen“
von
Weihehandlungen
ausgegeben
werden.
Die
erkennen,
Kleidung
die
als
dieser
von
Scientology eingesetzten Priester orientiert sich an der von römischkatholischen Priestern.220 Hubbard rechtfertigt diese Weihen, indem er
Religion
als
eine
philosophische
Lehre
bezeichnet
und
sein
philosophisches System in den Rang einer Religion erhebt,221 die in den
traditionellen,
besonders
östlichen
Philosophien,
ansatzhaft
schon
vorgebildet sei. „Durch die Vorläufer aller Zeiten vollkommen unterstützt,
hat ein Scientologe ein größeres Recht, sich einen Priester, einen
Geistlichen, einen Missionar, einen Doktor der Theologie, einen
Gesundbeter oder Prediger zu nennen, als irgendein anderer Mensch, der
die Insignien der Religion der westlichen Welt trägt.“222
Die Erhebung der Weltanschauung Hubbards in den Status einer
Religion ist jedoch wohl in erster Linie aus kommerziellen Gründen zu
erklären. Die Anerkennung als Religion bietet nämlich eine gute Sicherheit
219
Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 74.
Vgl. Abbildungen in: Das Scientology-Handbuch, 778f.
221
Die Scientology-Organisation verkörpert ihrer Überzeugung nach die höchste Stufe
aller bisherigen Religionen und Philosophien. Dies kommentieren die Scientologen
wie folgt: „Der Traum Abrahams, Mose, Zoroasters, Laotses, Buddhas, Konfuzius’,
Christi, Mohammeds und der anderen geistigen Führer des Menschen im Laufe der
Geschichte ist immer noch mit uns.“ (Das Scientology-Handbuch, Vorwort,
unpaginiert).
222
Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 82f.
220
75
vor Eingriffen des Staates. „Religionsgemeinschaften genießen in den
meisten Staaten der Welt einen besonderen Schutz, denn es soll die
Religionsfreiheit gewährleistet werden. Als Religion kann Scientology eine
Reihe von Privilegien ausschöpfen. Denn eine Religion bewegt sich in
einem nicht zu unterschätzenden Freiraum.“223 Weitere Vorteile der
Verwendung des Relgionsbegriffs bestehen darin, sich als diskriminierte
Minderheit darstellen zu können, öffentlich Werbung zu betreiben und den
Mitarbeitern den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn vorzuenthalten,
indem man sie als „Ordensbrüder“ deklariert.224
3.4.2 Scientology als hierarchisch strukturiertes globales
Netzwerk
Die Scientology-Organisation setzt sich aus einer Vielzahl von Teil- und
Unterorganisationen zusammen,225 die jedoch alle zentral verwaltet
werden. Die Weltzentrale befindet sich in Los Angeles (USA). „Die
Gesamtheit aller Organisationen und Gruppen bilden ein globales
Netzwerk. Jeder einzelne Teil hat seine individuellen, speziellen
Funktionen und Verantwortungsbereiche. Aber sämtliche DienstleistungsOrganisationen haben das Ziel, L. Ron Hubbards Technologie der
Öffentlichkeit bekanntzumachen und zu liefern.“226 Zu den Organisationen
von Scientology zählen unter anderem das „Religious Technology Center”
(RTC), World Institute of Scientology Enterprises (WISE), „Association for
Better Living and Education“ (ABLE) und die sogenannten „Scientology
Missionen“.227
Die Leitung von Scientology basiert auf einer von Hubbard selbst
entwickelten Herrschaftsmethode. Gemäß dieser Methode steht jeder
223
Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 43.
Ibid.
225
Im Scientology-Handbuch findet sich eine 21-seitige Auflistung aller wichtigen
weltweiten Organisationen samt Kontaktadressen. (Vgl. Scientology-Handbuch, 799820).
226
Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 97.
227
Vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW (Hrsg.), Die
Scientology-Organisation. Methoden und Struktur, Rechtsprechung und
gesellschaftliche Auseinandersetzung, Köln 1997, 9ff.
224
76
Kirche
ein
sogenannter
„Führungssekretäre“
zur
„Leitender
Seite
Direktor“
stehen.228
Den
vor,
dem
zwei
Führungssekretären
unterstehen sieben weitere Sekretäre, die als eine Art Abteilungsleiter
fungieren. Diese Sekretäre überwachen sieben Abteilungen. Zu diesen
zählen:
die
Führungsabteilung,
die
Qualifikationsabteilung,
die
Finanzabteilung, die technische Abteilung, die Öffentlichkeitsabteilung, die
Verbreitungsabteilung, sowie die Hubbard-Kommunikationsbüros. Unter
diesen
sieben
Abteilungen
stehen
einundzwanzig
weitere
Unterabteilungen.229 Ein Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit
und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen stellt hierzu fest: „Nach
dem Prinzip ‚Teile und herrsche!’ wird so die absolute Macht über das
weltweite Scientology-Netz an der Spitze der Pyramide konzentriert. Der
Informationsfluß von unten nach oben und der Rückfluß von Direktiven
und
Vorgaben
in
die
einzelnen
Teilbereiche
ermöglicht
es
der
Führungsriege um den Hubbard-Nachfolger und ‚Chairman of the Board’
David Miscavige, die vollkommene Kontrolle über die Organisation und
ihre Mitglieder auszuüben.“230
Scientology
verschleiert
die
Zusammenarbeit
der
einzelnen
Organisationen, um den Eindruck zu erwecken, die Sekte bestehe aus
selbständigen Einzelorganisationen.
3.4.3 Darstellung einiger zentraler Organisationen
Im
folgenden
sollen
einige
zentrale
Einzelorganisationen
des
Gesamtnetzwerks Scientology näher dargestellt werden. Dabei müssen
angesichts
der
Fülle
der
Vereinigungen
die
zahlreichen
Tarnorganisationen entweder gänzlich unberücksichtigt bleiben oder nur
kurz erwähnt werden. Zu den beschriebenen Organisationen zählen das
„Religious Technology Center“ (RTC), das „World Institute of Scientology
228
Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff.
Zu diesen Unterabteilungen gehören u. a. die Unterabteilung für Aufzeichnungen,
Vermögenswerte und Material, das Büro für spezielle Angelegenheiten und die
Unterabteilung für Inspektion und Berichte. (Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff.).
230
Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff.
229
77
Enterprises“ (WISE), die „Association for Better Living and Education“
(ABLE), das „Office of Special Affairs“ (OSA), und die „International
Association of Scientologists“ (IAS).
3.4.3.1 Das „Religious Technology Center“ (RTC)
Nachdem David Miscavige die Führung übernommen hatte, wurde das
„Religious Technology Center“(RTC) zur beherrschenden Organisation
der Sekte. Dieses RTC ist Inhaber aller Waren- und Markenzeichen der
von Hubbard entwickelten Technologie. Es wurde am 7.1.1982 in Los
Angeles gegründet.231 Auch wenn von offizieller Seite betont wird, daß das
RTC nicht Teil des internationalen Managements von Scientology sei, ist
diese Behauptung nicht aufrechtzuerhalten. Peter Köpf betont in seinem
Buch „Stichwort Scientology“: „Das oberste Leitungsgremium ist bis heute
das ‚Religious Technology Center’ (RTC) in Los Angeles. Ihm unterstehen
die verschiedenen Sektoren des Imperiums [...].“232 Dem RTC unterstehen
aber auch noch andere Organisationen, so zum Beispiel der interne
Geheimdienst (OSA) und die Sea-Org.
3.4.3.2 Das „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE)
Dieses Weltinstitut von Scientology-Unternehmen (WISE) wurde im
Jahr 1979 gegründet. WISE vergibt Lizenzen für die Verwendung der
Technologie
Hubbards.
Diese
Lizenzen
werden
an
Wirtschaftsunternehmen erteilt, die für ihr Personal Schulungen im Auftrag
von
Scientology
nach
den
von
Hubbard
entwickelten
Methoden
durchführen. Das Ziel von WISE besteht darin, „die Hubbard-Techniken in
231
Vgl. Voltz, Scientology, 99. Dieses „Religious Technology Center“ beschreibt
Hemminger als „das eigentliche Machtzentrum des Konzerns“. Es befindet sich laut
Hemminger nicht direkt in Los Angeles, sondern auf einem hermetisch abgeriegelten
Gebiet, welches als „Base“ bezeichnet wird. (Vgl. Hemminger, Scientology, 83).
232
Köpf, Stichwort Scientology, 58.
78
die gesamte Geschäftswelt zu tragen“.233 Dabei sollen alle Unternehmen,
die Lizenzen von WISE erwerben, zu von Scientologen geleiteten Firmen
werden. „WISE-Members, WISE-Lizenznehmer und WISE-Unternehmen
sind vertraglich an die Organisation gebunden, bezahlen Lizenzgebühren
und müssen die Hubbard-Techniken einsetzen und verbreiten.“234
Scientology ist der Überzeugung, Hubbard habe die einzige perfekt
ablaufende Verwaltungstechnik der Welt entwickelt.235 Das Konzept von
WISE beruht auf einer Verbindung der religiösen Heilslehre Hubbards mit
einer rigorosen Wirtschaftspolitik. Dabei legt man besonderen Wert
darauf, Manager der verschiedenen oft mittelständischen Firmen für die
Lehre Hubbards zu begeistern. Diese sollen ihren Betrieb dann künftig
nach den Richtlinien von Scientology führen. „Es sind immer wieder die
gleichen Geschäftszweige, in denen – meist junge – Manager plötzlich an
Thetanen,
Engramme
und
Versicherungswesen,
LRH-Tech
Unternehmens-
glauben:
Immobilienhandel,
und
Personalberatung,
Managementtraining, Public Relations, Farb- und Stilberatung, Computerund
Softwarehandel.“236
WISE
kann
als
die
„scientologische
Schlüsselorganisation für die Unterwanderung der Wirtschaft“ bezeichnet
werden.237
Es existieren verschiedene Arten der Mitgliedschaft bei WISE. Jede
dieser
Mitgliedschaftsarten
Beitragszahlung
an
die
verlangt
eine
WISE-Organisation.
spezielle
jährliche
Beispiele
für
die
verschiedenen Mitgliedschaftsarten bietet Tom Voltz. Er nennt die
einfache Mitgliedschaft, die selbst für Nicht-Scientologen möglich ist.
Diese kostet 300 Dollar im Jahr. Die Firmenmitgliedschaft verlangt 1.500
Dollar pro Jahr. Alle Beratungsgesellschaften, die Hubbard-Technologie
an die Wirtschaft liefern, müssen diese Art der Mitgliedschaft nachweisen
233
Vgl. Hartwig, Scientology, 141.
Ibid. Vgl. auch Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 145. Billerbeck und
Nordhausen sprechen im Zusammenhang mit der Verbreitung des Hubbardschen
Gedankengutes von einer Unterwanderung von Wirtschaftsunternehmen. WISE
jedoch bezeichnet diese Vorgehensweise der Organisation als „Ethik“ und stellt sie
damit als gerechtfertigt dar.
235
Vgl. Hartwig, Scientology, 145.
236
Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 147.
237
Vgl. Hartwig, Scientology, 48.
234
79
können. Des weiteren existiert eine Mitgliedschaft im Führungsrat, die mit
36.000 Dollar jährlich veranschlagt ist. Diese empfiehlt sich für Leute, die
Hubbardsches Gedankengut für den Einsatz in staatlich bedeutenden
Vereinigungen bis hin zu Länderregierungen erwägen.238
Die Bedeutung von WISE für das Gesamtsystem von Scientology ist
laut Norbert Potthoff „wichtiger als alle Verpflichtungen dem Staat oder der
Gesellschaft gegenüber“.239 Dabei lassen die einzelnen Unternehmen
selten eine direkte Verbindung zu Scientology erkennen. Dies ist auch das
Ziel der Organisation, da sie so die enorme Verflechtung und die
tatsächliche Bedeutung der Einflußnahme auf weite gesellschaftliche
Kreise geschickt verdecken kann.240
3.4.3.3 Die Association for Better Living and Education (ABLE)
Das Ziel der „Association for Better Living and Education“ (ABLE) ist
eine Reform der Gesellschaft auf der Grundlage der von Hubbard
erarbeiteten Methoden. Dabei behauptet die Sekte, daß es ihr Ziel sei,
gesellschaftliche Probleme, vor allem Drogenmißbrauch und Kriminalität
einzudämmen und zu überwinden. Doch das Engagement Scientologys
auf
sozialem
Gebiet
hat
nur
eine
Alibifunktion
und
dient
der
Verschleierung der tatsächlichen Machtansprüche der Sekte.241 Diese
Taktik wurde bereits von Hubbard entwickelt, der seine Anhänger zu
sozialem Einsatz ermutigte, um seine Organisation als reformfreudige
238
Vgl. Voltz, Scientology, 117f. Vgl. auch Innenministerium des Landes NRW (Hrsg.),
Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Scientology der Verfassungsschutzbehörden,
Düsseldorf 1999, 34f.
239
Potthoff, Norbert, Im Labyrinth der Scientology, Bergisch Gladbach 1997, 303.
240
Als Beispiele für Firmen, die mit WISE in Verbindung stehen, nennt Abel einige
Hamburger Einrichtungen. Zu diesen gehören: AMK (Akademie für Führung und
Kooperation); ARC Musik Vertriebs GmbH, DCS Computerservice und
Handelsgesellschaft mbH. Daneben werden u.a. der Betrieb eines Malermeisters und
ein Studio für Farb- und Stilberatung genannt. (Vgl. Abel, Scientology, 16).
241
Liane von Billerbeck und Frank Nordhausen meinen: „Auf der anderen Seite dienen
Feldzüge, wie ‚Sag nein zu Drogen’ auch als Alibi, um die wahren Ziele der Sekte zu
verschleiern. Scientology braucht Vorzeigekampagnen, um bei negativen
Schlagzeilen auf ihr angeblich soziales Engagement verweisen zu können.“
(Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 124).
80
Institution erscheinen zu lassen. Um auf Staat und Gesellschaft einen
möglichst
großen
untergeordnete
Bereiche
Einfluß
ausüben
Einrichtungen
abdecken.
Zu
und
diesen
zu
können,
Verbände,
die
gründete
ABLE
unterschiedliche
Unterorganisationen
gehören
die
„Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“
(KVPM), das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ (ZIEL),
„Applied Scholastics“, „Mitbürger unterstützen Toleranz – Initiative zur
Wahrung der Menschenrechte in Deutschland“ (MUT), „Narconon“,
„Criminon“ und die Organisation „Freedom for Religions in Germany“
(FRG).242
3.4.3.3.1 Die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen
Menschenrechte“ (KVPM)
Die sogenannte „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen
Menschenrechte“ (KVPM)243 versucht, durch geschickte Kampagnen
aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen und Menschen für sich zu
gewinnen. Dabei ist man vor allem bestrebt, alle Einwände von Personen
aus
den
diffamierten
gegenüberstehen,
von
Organisationen,
vornherein
die
als
der
Sekte
unbegründete,
kritisch
falsche
Anschuldigungen zu diskreditieren. Eine solche Aktion besteht darin, den
angeblich zerstörerischen Einfluß der Psychiatrie auf die Religion
herauszustellen. Hubbard hegte einen enormen Haß auf Psychologen und
Psychiater, da diese die Effizienz seiner Methode zur Erlangung der
vollkommenen geistigen Gesundheit vehement in Frage stellten. Zu
diesem
Zweck
der
Diffamierung
der
Psychiatrie
wurden
eigene
Zeitschriften und Bücher von Scientology herausgegeben. Ein bekanntes
Werk dieser Art ist das Buch „Die Männer hinter Hitler“, das die These
vertritt, daß Psychiater die wahren Verantwortlichen der Naziverbrechen
gewesen seien.244 Selbst der Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den
242
Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 39ff.
Diese KVPM wurde im Jahr 1972 vom Guardian-Büro in München eingerichtet.
244
Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 39ff.
243
81
neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird auf Eingriffe von Psychiatern
zurückgeführt. Hierbei spielte eine von Scientology unterwanderte
Friedensbewegung „Europa / Aktionsbündnis Bosnien–Herzegowina“ eine
Rolle, die Psychiater als „Volksmörder im weißen Kittel“ bezeichnete.245
Der eigentliche Vorwurf richtete sich dabei gegen die von der Psychiatrie
angewendete Methode der Elektro-Schocks und Gehirnlappenschnitte.
Diese von Hubbard als Mißstand bewertete Vorgehensweise wird zum
Anlaß genommen, um dem gesamten Bereich der Psychiatrie den Kampf
anzusagen. Hierzu zählt Haack besonders das Vorgehen gegen
psychiatrische Verbände.246 Peter Köpf hebt die Diskreditierung der
Psychologie durch Scientology noch deutlicher hervor und beruft sich
dabei auf den von der „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen
Menschenrechte“ stammenden Ausspruch „Psychiatrie tötet“.247
Die Publikationen der „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen
Menschenrechte“ werden dabei an Einrichtungen versandt, die eine
möglichst weitläufige Verbreitung der Materialien gewährleisten. Der
Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Scientology bemerkt in diesem
Zusammenhang: „Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass SO
[Scientology Organisation] mittels einer derartigen Organisation vorrangig
versucht, Werbe-Effekte zu ihrem Gunsten zu erzielen und die variable
Anwendungsbreite
scientologischen
Gedankenguts
darzustellen.“248
Dieser Bericht erkennt die Gefahr, bleibt aber leider insgesamt zu vage.
Man hätte sich mehr konkretes Material gewünscht.
3.4.3.3.2 Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ (ZIEL)
Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ ist eine
Einrichtung, die versucht, Kinder und Jugendliche mit dem Gedankengut
Hubbards vertraut zu machen. Hierzu wird Hausaufgabenbetreuung für
245
Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 297.
Vgl. Haack, Scientology, 213.
247
Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 69ff.
248
Innenministerium des Landes NRW, 42.
246
82
Schulkinder angeboten, die durch gezielte Propaganda in Form von
Imperativen wie „Gehe nie über ein Wort hinweg, das Du nicht verstehst!“
geworben werden.249 Dieser Ratschlag kommt besonders dann zum
Tragen, wenn es um das Studium der scientologischen Schriften geht.
Dies ist eine wirksame Methode; denn Eltern, die einer derartigen
Betreuung durch einen ZIEL-Verein zustimmen, lernen oft erst über ihre
Kinder das scientologische Gedankengut kennen und sollen sich, wie ihre
Kinder mit den Hausaufgaben, ebenso konzentriert mit der Lehre der
Sekte beschäftigen.250 ZIEL ist seit 1979 in Deutschland und Österreich
tätig. Nachdem mehrere Versuche von Scientologen, eigene Schulen zu
gründen, die nach Scientology-Richtlinien funktionieren sollten, aufgrund
zahlreicher
Interventionen
der
Öffentlichkeit
in
Deutschland
fehlgeschlagen waren, versuchten diese Scientologen ihr Vorhaben in
anderen Ländern durchzuführen. In Dänemark gelang dieses Vorhaben.
Der Journalist Thomas Kruchem bietet in seiner Publikation „Staatsfeind
Scientology“ sehr aufschlußreiche Interviews mit Scientologen, die die
Motivationen ihres Einsatzes für Scientology darlegen. Hierunter findet
sich auch ein Interview, welches die Position einer Lehrerin an einer von
Scientology betriebenen deutschen Schule in Dänemark wiedergibt. Es
sollen im folgenden einige Passagen zitiert werden, da sie gut
wiedergeben, welche Motive Eltern bewegen können, ihre Kinder von
Scientology betriebenen Schulen anzuvertrauen.
Der Buchstabe „J“ gibt im folgenden die Fragen des Journalisten
Thomas Kruchem wider, „L“ steht für die Aussagen einer Lehrerin.
249
250
Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 70.
Vgl. Haack, Scientology, 213. Vgl. auch Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern,
122ff. Die Autoren äußern sich im Zusammenhang von Kindern und Scientology so:
„Schon Kleinkinder werden in den ‚Studier-‚’ und ‚Lernfibelkursen’ mit Weisheiten und
‚geklärten Wörtern’ aus Hubbards humanistischer Bildung malträtiert.“ Selbst die
Einrichtung von Internaten, Schulen und Kindergärten unter der Leitung von
Scientology wurde erwogen, jedoch durch den Einsatz und die Gegenwehr besorgter
Eltern durch gesetzliche Maßnahmen verhindert. Hierzu kann man folgendes lesen:
„Auf bereits gekauftem Grund und Boden sollte wohl ‚Kinder-Dianetik’ in großem Stil
betrieben werden. Als die Absichten und ihre Hintermänner bekannt wurden,
gründeten besorgte Eltern und Anwohner eine Bürgerinitiative. Sie erzeugten viel
öffentlichen Wirbel, daß sich die Scientologen wieder zurückzogen.“ (Billerbeck /
Nordhausen, Sektenkonzern, 122ff.).
83
„J: War es für Sie so wichtig, Ihre Kinder nach den Prinzipien Hubbards
unterrichten zu lassen, daß Sie deswegen aus Deutschland nach
Dänemark ausgewandert sind?
L: Gar nicht unbedingt. Aber mein Mann und ich hatten die
wohlbegründete Sorge, daß unsere Kinder in der Schule, die sie zuvor
besuchten, diskriminiert werden könnten.
J: Warum haben Sie und die anderen Eltern die Schule nach dem
Scheitern Ihrer Pläne in Deutschland ausgerechnet in Dänemark
gegründet?
L: Es gab in Dänemark seit geraumer Zeit schon zwei Schulen, die mit
der Studiertechnologie Hubbards arbeiteten – in Kopenhagen. Dänische
Scientologen sagten dann speziell uns Hamburger Eltern: „Gründet doch
eine Schule direkt hinter der Grenze. Das ist immer noch besser, als eure
Kinder nach England zu schicken“, wo es ja auch eine entsprechende
Schule gibt. Schließlich kaufte ein Scientologe dieses Gebäude hier, wir
mieteten es, und 1992 kamen zunächst 14 Kinder und 3 Erwachsene
hierher.
J: Was sind eigentlich die Kernelemente der Hubbard’schen (sic)
Studiertechnologie?
L: Es geht darum, einem Kind beizubringen, wie man lernt. Denn das
kann es nicht automatisch. Man muß den sogenannten Gradienten
einhalten, also nicht den nächsten Schritt tun, bevor etwas vollständig
verstanden wurde.
J: Finden an dieser Schule Scientology-Unterweisungen statt?
L: Sie werden es nicht glauben, aber diese Schule unterrichtet kein
Scientology.
J: Und Scientology-Kurse – halten Sie die auch nicht ab?
L: Nur so weit sie sich auf die Studiertechnologie beziehen. Den Kurs
‚Der grundlegende Studierleitfaden’ zum Beispiel machen Kinder ab der 5.
Klasse.“
Dieser Ausschnitt aus dem Interview zeigt die Möglichkeit von
Schulgründungen im scientologischen Sinne auf. In Dänemark, so muß
man wissen, besteht lediglich eine Unterrichtspflicht, keine Schulpflicht wie
84
in Deutschland, wodurch es möglich ist, Kinder auch zu Hause zu
unterrichten.
Allerdings
muß
der
Leistungsstand
den
staatlichen
Unterrichtsbehörden nachgewiesen werden.251
Neben ZIEL existiert noch eine weitere Einrichtung, die Nachhilfe für
Schüler
anbietet.
Diese
nennt
sich
„Applied
Scholastics“.252
Die
Verbreitung dieser Einrichtung ist jedoch nicht so bedeutend wie bei ZIEL.
Die gezielte Werbung für das Programm von Applied Scholastics ist
geringer als die für ZIEL,253 was allerdings nicht zu einer Unterschätzung
ihrer Wirksamkeit verleiten darf, denn der Verzicht auf öffentliche Werbung
bedeutet nicht gleichzeitig auch einen Verzicht auf praktische Tätigkeiten
der Einrichtung.
„Narconon“ ist eine Organisation, die sich die Bekämpfung des
Drogenproblems zur Aufgabe gemacht hat. Diese Gruppe wurde 1966
von dem Amerikaner William Benitez im Staatsgefängnis von Arizona
gegründet. Benitez soll 19 Jahre lang selbst drogenabhängig gewesen
sein und sich dann mittels der Hubbardschen Techniken geheilt haben.254
Durch spezielle Drogenrehabilitationsstätten bietet Narcoon Therapien auf
der Grundlage der Lehre Ron Hubbards an.255 Sie hat in Deutschland
Niederlassungen in Hamburg, Itzehoe und Schliersee. Haack bezeichnet
Organisationen
wie
Narconon
als
sogenannte
„Pfefferminz-
Organisationen“. Darunter versteht er solche Gruppen, „die nach außen
hin anderen, meist als sozial ausgewiesenen, Zielen dienen, intern jedoch
die Hubbardschen Ideen, Techniken oder die Hubbardsche Ethik vertreten
und verwirklichen.“256 Jedoch sind die Rehabilitationsmaßnahmen für
Drogenabhängige nicht in dem Maß als erfolgreich anzusehen, wie dies
von der Sekte behauptet wird. Vielmehr erzeugt Narconon neue
Abhängigkeiten.
Laut
Axel
Seifert
von
der
städtischen
Drogenberatungsstelle in Hamburg findet durch einen von Scientology
251
Vgl. Kruchem, Thomas, Staatsfeind Scientology, München 1999, 63ff.
Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 43.
253
Ibid.
254
Vgl. Haack, Scientology, 212.
255
Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 69.
256
Haack, Scientology, 212.
252
85
angebotenen „Kommunikationskurs“ nur eine „Suchtverlagerung“ von der
Droge auf die Sekte statt.257
Ähnlich wie „Narconon“ stellt auch „Criminon“ eine Organisation dar, die
sich
nach
außen
für
die
Rehabilitation,
in
diesem
Fall
von
Strafgefangenen, einsetzt. Hierbei sollen Strafgefangene durch die
Orientierung an einem von Hubbard aufgestellten speziellen Moralkodex
resozialisiert werden. Das Programm für diese Art „Therapie“ kann laut
Thomas
Kruchem
sogar
von
amerikanischen
Richtern
als
„Bewährungsauflage“ verhängt werden.258 Diese Tatsache zeigt, daß der
Religionsbegriff und die Akzeptanz sich als religiös bezeichnender
Organisationen in den USA weit größer als in Deutschland ist. Diese
Akzeptanz spiegelt sich in der folgenden Aussage einer US – Richterin
wider, die vermuten läßt, daß Scientology als religiös deklarierte
Gruppierung in der amerikanischen Gesellschaft toleriert wird, obwohl sie
von Seiten des Staates kritisch beobachtet wird. Diese Richterin äußert
sich folgendermaßen: „Ich frage mich, wovor die Deutschen sich fürchten
– genauso, wie ich mich frage, warum man in anderen Ländern die
‚Zeugen Jehovas’ fürchtet oder die Baptisten oder, wie in Nordirland, die
Katholiken. Was übrigens die Missionsarbeit der Scientologen angeht, in
der Sie Deutsche, glaube ich, ein Problem sehen, da sind die christlichen
Kirchen viel aktiver. Besuche ich bei der ‚Church of Scientology’ ein ‚social
event’, dann ist es ein ‚social event’, mit vielleicht guter Unterhaltung.
Besuche ich dagegen ein ‚social event‘ einer christlichen Kirche, dann
kommt regelmäßig der Punkt, an dem sie die Leute bitten, ihrer Kirche
beizutreten. Ich verstehe das und halte es auch für richtig. Ich muß aber
auch feststellen, daß niemand mich je gebeten hat, der ‚Church of
Scientology’ beizutreten.“259
Dagegen wird in Deutschland die mit positiven Assoziationen
verbundene religiöse Etikettierung von Organisationen erheblich kritischer
betrachtet. Das Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales
257
Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 122.
Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 358. Kruchem ist Politikwissenschaftler und
Historiker und arbeitet als freier Journalist.
259
Kruchem, Staatsfeind Scientology, 356.
258
86
ließ aufgrund zahlreicher vorangegangener öffentlicher Diskussionen,
Erfahrungsberichte von Aussteigern und Expertenanhörungen mehrere
Gutachten über die Scientology erstellen. Eines dieser Gutachten kommt
zu
dem
Schluß,
daß
Scientology
ein
gesellschafts-
und
staatsgefährdendes Gebilde darstellt. „Es scheint sich hierbei ‚eine
neuartige Form des politischen Extremismus anzubahnen’, orientiert an
Ideen des absoluten, heldischen Übermenschen, der die lästigen Fesseln
des Liberalismus und der Demokratie abstreift auf dem Weg zu einer
Weltherrschaft,
die
auf totalitären und mit
einer
demokratischen
Verfassung unvereinbaren Grundprinzipien basiert.“260
3.4.3.3.3 Das Office for Special Affairs (OSA)
Das „Büro für Spezielle Angelegenheiten” (OSA) ist der Sicherheitsoder Geheimdienst von Scientology.261 Es ist aus dem im Jahr 1983 von
David Miscavige aufgelösten „Guardian Office“ hervorgegangen und hat
seinen deutschen Sitz in München. Anlaß für die Auflösung des „Guardian
Office“ waren zahlreiche Skandale von Mitarbeitern, nicht zuletzt auch von
Mary Sue Hubbard. „1979 verurteilte ein US-Gericht elf führende
Scientologen des 1966 von Hubbard gegründeten ‚Guardian Office‘ (GO)
wegen Einbruchs und Verschwörung gegen die Regierung. In einer
spektakulären Aktion hatten 1977 FBI-Beamte das Führungsquartier in
Clearwater/Florida gestürmt. Die beschlagnahmten Akten und Unterlagen
– 48.149 Dokumente – gaben Hinweise darauf, daß Scientologen sogar
bis in die Regierung hineinreichend ein Spionagenetz aufgebaut
hatten.“262 Die Aufgabe des OSA besteht in der „Abwehr von Feinden“ und
der „Kontrolle der Veröffentlichungen über Scientology in der Presse“.263
Das OSA, als Nachfolger des wegen verschiedener Skandale aufgelösten
Guardian Office, hat seine Arbeitsweise und Techniken wesentlich
260
Ministerium für Arbeit etc. NRW, 6f. Auf Ergebnisse verschiedener Gutachten nimmt
auch Ralf Abel Bezug. (Vgl. Abel, Scientology, 6f.).
261
Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 71ff.
262
Köpf, Stichwort Scientology, 72.
263
Vgl. Hartwig, Scientology, 138.
87
verbessert. „Im Gegensatz zur rigiden und direkten Vorgehensweise des
GO, das in der Vergangenheit zu einem internationalen Ansehensverlust
der SO geführt hat, operiert das OSA heute erkennbar vorsichtiger. Es
wurde
festgestellt,
dass
risikohafte
Operationen
offensichtlich
an
Außenstehende, wie z. B. Privatdetektive, abgegeben wurden.“264 Die
Absichten und Ziele des Geheimdienstes blieben jedoch unverändert.
Als Beispiel für die Arbeit des OSA in Deutschland sei der Versuch
genannt, eine Fernsehsendung (Kennzeichen D) zu verhindern, in der
über die finanziellen Praktiken von Scientology berichtet wurde. Man
versuchte dabei, durch eine intensive Brief- und Telefonkampagne die
Ausstrahlung dieser Sendung zu verhindern. Hierzu heißt es von seiten
eines Fernsehmoderators: „Wann immer Rainer Fromm in ‚Kennzeichen
D’ über Scientology und die Machenschaften von Scientologen berichtet,
drohen und nötigen uns Scientologen.“265 Die Vorgehensweise des
scientologischen Geheim- und Abwehrdienstes läßt sich an Anweisungen
für die Mitarbeiter des OSA deutlich machen. Hierbei sind vor allem 6
Anweisungen von Bedeutung, die lauten:
„Mach’ Dir eine Liste von allen Stellen, die eventuell für uns wichtige
Informationen haben oder verbreiten.
Fange
an,
regelmäßig
dort
Publikationen
zu
bestellen
oder
Scientologen, die sie bereits erhalten, dazu zu kriegen, sie für dich
auszuwerten.
Stürze Dich auf den Lebenslauf von ... und von ... und finde heraus,
was sie in der Vergangenheit gearbeitet und veröffentlicht haben.
Berichte mir regelmäßig über den Fortschritt in den o.e. Gebieten.
Gib mir pünktlich an jedem Donnerstag (wenn Du da nicht auf Posten
bist, am letzten Tag vor dem Donnerstag) Deine Statistik durch.“ 266
264
Innenministerium des Landes NRW, 51ff.
Ibid.
266
Diese Anweisungen machen deutlich, wie raffiniert und gründlich gegen Kritiker
vorgegangen wird. Dabei wird selbst vor Rufmord und persönlicher Bedrohung nicht
zurückgeschreckt. (Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 54. Vgl. auch Haack,
Scientology, 238f).
265
88
Die Arbeit der OSA erstreckt sich auf sämtliche Bereiche des
gesellschaftlichen Lebens und scheut auch vor Maßnahmen gegen
Politiker nicht zurück.267 Sämtliche gesellschaftliche Einrichtungen und
Berufsgruppen laufen Gefahr, im Falle kritischer Äußerungen gegen
Scientology vehement angegriffen zu werden. Aber auch Mitglieder von
Scientology
werden
durch
ständige
Überwachungs-
und
Kontrollmaßnahmen gegängelt.268 Verhaltensweisen oder Meinungen, die
nicht mit den Vorgaben der Organisation übereinstimmen, werden als
unethisch gegeißelt und bestraft. Solche Strafmaßnahmen werden mit
dem Begriff „Fair Game“ wiedergegeben. Mitarbeitern oder ganzen
Abteilungen, die beispielsweise für eine Umsatzminderung der Sekte
verantwortlich sind, sind angeblich unmoralisch und müssen die Strafen,
etwa Überstunden oder Schikanen anderer Art, in Kauf nehmen. Peter
Köpf nennt verschiedene Stufen, nach denen ein erfolgreicher (bzw. nicht
erfolgreicher) Mitarbeiter, hier sind die Sea-Org-Mitarbeiter gemeint,
beurteilt wird. Über die richtige Ausführung der Maßnahmen wachen die
sogenannten „Ethikoffiziere“. Ganz oben auf der Rangskala steht
derjenige, der unter „Power“ verzeichnet ist. Zu einer gefährlichen Stufe
zählt dagegen die Stufe „Danger“. Einem Mitarbeiter mit einer solchen
Einstufung wird die Mittagspause gestrichen, er darf sich nicht rasieren,
wird zur Nachtarbeit verpflichtet und bekommt weniger Gehalt, was bei der
üblichen spartanischen Bezahlung sehr schmerzlich ins Gewicht fällt.269
Zur Bestrafung von Mitgliedern richtete Hubbard im Jahr 1974 das
sogenannte „Rehabilitation Projekt Force“ (RPF) ein. Dabei wird dem
„Pönitenten“ ein bis zu einem Jahr dauerndes Programm auferlegt, das
unter anderem besonderen Drill, Nahrungs- und Schlafentzug und
Schweigepflicht vorsieht. Das Ziel ist eine erneute bedingungslose
Unterwerfung
267
des
Abweichlers
unter
die
Ziele
der
Scientology-
Vgl. Abel, Scientology, 46. Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch
die Ausführungen von Tom Voltz zum Thema „Scientology und der Umgang mit der
Regierung“. Voltz erwähnt u. a. Drohungen und Täuschungsmanöver gegen Beamte
und Politiker, als von der Sekte gebilligte Maßnahmen, mit denen man gegen
behördliche Repressalien zu Felde ziehen soll. (Vgl. Voltz, Scientology, 179-183).
268
Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 74.
269
Ibid., 79.
89
Organisation. Diese Strafmaßnahmen werden in eigens dafür errichteten
Straflagern durchgeführt, die Konzentrationslagern gleichen und sogar
besondere Kleidung vorsehen.270 Den Zweck dieser Maßnahmen erhellt
folgende Äußerung Hubbards, die die Disziplin als Instrument der
bedingungslosen Unterwerfung unter das Scientology-System treffend
charakterisiert: „Da Scientology jetzt TOTALE
Freiheit bringt, muß sie
auch die Macht und Autorität haben, totale Disziplin zu fordern, oder sie
wird nicht überleben.“271
3.5 Das Lehrsystem von Scientology
Tom Voltz weist darauf hin, daß Menschen, die zu Scientology und
deren Lehren stoßen, sich wohl zum ersten Mal „konkret und intensiv mit
dem Themenbereich Philosophie, Psychologie und Religion befassen“.272
Da viele Menschen bei den christlichen Konfessionen keine oder eine
ihrer Meinung nach nur unzureichende Antwort auf ihre existentiellen und
lebenspraktischen Fragen zu finden scheinen, lassen sie sich von anderen
religiösen Angeboten ansprechen. Eine der Scientology-Organisation
beigetretene Frau berichtet darüber: „Und nun kommt jemand, der sagt,
jeder Mensch ist ein Individuum, das über große potentielle Fähigkeiten
verfügt, die nur verschüttet sind. Daß der Grund für menschliches
Versagen, Krankheit, Streit und Probleme in vergangenen traumatischen
Erlebnissen liegt. Und der zugleich eine Technologie anbietet, die
verspricht, diese Erlebnisse aufzuarbeiten. Abgesehen davon bietet sie
eine Technologie, mittels derer man seine verschütteten Fähigkeiten
wiedererlangt,
um
dadurch
selbstbestimmt
und
vor
allem
selbstverantwortlich zu handeln. Das Prinzip von Ursache und Wirkung.
Dies alles wird in Form von Kursen sowie individueller ‚seelsorgerischer
Beratung’ angeboten.“273
270
Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 365.
Haack, Scientology, 184.
272
Vgl. Voltz, Scientology und (k)ein Ende, 25.
273
Ibid., 26.
271
90
Welche Gefahren sich hinter diesen sehr positiv erscheinenden
Äußerungen tatsächlich verbergen, läßt sich nur durch eine nähere
Untersuchung des Lehrsystems der Sekte und des dahinter steckenden
Welt- und Menschenbilds aufdecken.
3.5.1 Das Menschenbild Hubbards
3.5.1.1 Der dreigeteilte Mensch
Nach Hubbards Meinung besteht der Mensch aus drei miteinander in
Beziehung stehenden Teilen, die er als „Body“ (Körper), „Mind“ (Sinn oder
Verstand) und als „Thetan“ (Geistseele oder wahres Ich) bezeichnet.274
Der Body (Körper) spielt innerhalb des Hubbardschen Menschenbildes
nur eine untergeordnete Rolle,275 so daß auf diesen nicht speziell
eingegangen zu werden braucht.
3.5.1.1.1 Der „Thetan“
Hubbard
verwendet
den Begriff Thetan zur
Bezeichnung
des
menschlichen Selbst oder des Ich. Dieser Thetan verkörpert zugleich
Geist und Seele des Menschen und besitzt Unsterblichkeit.276 Nach
274
Vgl. Haack, Scientology, 77. Haack verweist hier auf die herausragende Stellung des
sogenannten „Thetans“, der nach Hubbards Vorstellung niemals zugrunde gehen
kann und durch Reinkarnation zur Wiederverkörperung in der Lage ist. Durch die
Behauptung, dies beweisen zu können, beansprucht Hubbard für seine Lehre den
Status einer wirklichen Wissenschaft.
275
Der Körper wurde von Hubbard lediglich als „Kohlenstoff-Sauerstoff-Maschine“
betrachtet, die den Thetan sichtbar machen soll. Hierzu schreibt Jana Jacobi, die 20
Jahre lang ein hochrangiges Mitglied bei Scientology war: „Zum Körper bemerkt Ron
nur so viel, daß er eine ‚Kohlenstoff-Sauerstoff-Maschine‘ ist, die bei 37° C funktioniert
und als massives physisches Anhängsel des Thetans diesen erkennbar macht und
ihm als Kommunikationszentrum dient [...].“ (Jacobi, Jana, Scientology. Ein Blick
hinter die Kulissen, Kevelaer 1999, 18).
276
„Sie [die Scientology] befaßt sich mit nichts Geringerem als der vollständigen
Rehabilitierung des Thetans, um sein geistiges Bewußtsein, seine angeborenen
Fähigkeiten und seine Gewißheit in bezug auf seine eigene Unsterblichkeit zu
steigern.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, III). Der Thetan soll sich angeblich
im Bereich des Kopfes eines Menschen befinden, er ist aber ebenfalls in der Lage
91
Meinung des Begründers der Sekte besitzt er „keinerlei Verortung im
Raum“, hat keine Masse und Energie. Er kann sich in vier verschiedene
Zustände277 begeben. Diese sind:
•
die Lage außerhalb von Körpern und des Universums,
•
die willentliche Lage außerhalb des Körpers und trotzdem bewußte
Leitung desselben,
•
der Aufenthalt im Kopfbereich des menschlichen Körpers,
•
die zwangsweise außerhalb des Körpers befindliche Lage und
Unmöglichkeit, in diesen einzudringen.
Nach dem Tode eines Menschen löst sich der Thetan vom „Body“
(Körper) und inkarniert in einen Menschen im vorgeburtlichen Zustand.278
Laut der Ex-Scientologin Jana Jacobi vollzieht sich dies auf folgende
Weise: „Der Thetan wird als unsterblich erachtet und soll sich beim Tode
vom Körper loslösen, um sich wieder einen neuen Körper zu suchen, das
heißt ein Kind, das noch vor der Geburt steht.“279 Kann der Thetan jedoch
nicht in einen Körper eintreten, ergibt sich für ihn eine unangenehme
Situation. „Er leidet sozusagen an ‚Bewußtseinsschwund’ und dadurch
unter einer ungewollten Verminderung seiner Fähigkeiten. Denn laut
Scientology vergißt der Thetan seine Identität, ja sogar seine Existenz in
dem Moment, in dem er mit etwas Gegenständlichem in Berührung
kommt.“280 Die Folge ist, daß sich der Thetan mit dem Materiellen, dem
„Ding“ verbindet281 und meint, er sei selbst dieses „Ding“. Minhoff und
Lösch sprechen in diesem Zusammenhang von einer „ungewollten
sich außerhalb des menschlichen Körpers zu begeben und trotzdem die Kontrolle
über den Menschen auszuüben.
277
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145. Vgl. auch Haack, Scientology,
79f.
278
Dies erinnert sehr stark an die buddhistischen Wiedergeburtslehre, was wohl auf die
Beschäftigung Hubbards mit der östlichen Philosophie zurückzuführen sein dürfte.
Haack mißt der Reinkarnationslehre im System Hubbards große Bedeutung zu. Er
schreibt: „Für L. Ron Hubbards Menschenbild und damit für Scientology ist es von
größter Wichtigkeit, daß Hubbard die Wiederverkörperungslehre (Reinkarnationslehre)
der östlichen Religion mit in sein System einbezieht. Diese Lehre findet sich auch im
Okkultismus des OTO und anderer neuokkultistischer Bewegungen, bei denen
Gedanken vorkommen, die später in der Scientology/Dianetics des Lafayette Ronald
Hubbard auftauchen.“ (Haack, Scientology, 92ff.).
279
Jacobi, Scientology, 13.
280
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145.
281
Ibid.
92
Amnesie“, in der sich viele dieser Thetane befinden.282 Durch diesen
Gedächtnisverlust werden der eigentlichen Fähigkeit der Thetane Grenzen
gesetzt, welche durch dianetische Verfahren überschritten werden sollen.
3.5.1.1.2 Der „Mind“ (Sinn oder Verstand)
Der Sinn oder Verstand ist für den Thetan wesentlich zur Kontrolle
seines
Körpers.
Im
Verstand
werden
sämtliche
Erlebnisse
und
Begebenheiten eines Menschen in Form von Bildern und anderen
Sinneseindrücken aufgezeichnet und gespeichert.283 Diese Aufzeichnung
geschieht in chronologischer Reihenfolge und wird von den Scientologen
als „Zeitspur“
bezeichnet, in der die gesamte Vergangenheit eines
Individuums festgehalten ist. Diese Zeitspur soll eine Länge von mehreren
Billionen Jahren aufweisen können.284
Der „Mind“ wird in einen analytischen und einen reaktiven Teil unterteilt.
Der analytische Mind ist für das allgemeine Denken zuständig. Er
speichert alle menschlichen Wahrnehmungen in einer Art Datenbank. In
ihm werden die unterschiedlichen Eindrücke des Menschen285 miteinander
kombiniert und die Schlußfolgerungen gezogen, die für die Lösung der
anstehenden Probleme erforderlich sind.286 Hubbard vergleicht den
282
Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145.
Mit Gedanken und Gefühlen einer Person kommt Hubbard auf insgesamt 52
verschiedene Wahrnehmungen. (Vgl. Jacobi, Scientology, 14).
284
Ibid.
285
„Diese geistigen Eindrucksbilder sind das, was wir häufig als Erinnerung bezeichnen.
Sie sind dreidimensionale Farbbilder mit Geräusch und Geruch und allen anderen
Wahrnehmungen, einschließlich der Schlußfolgerungen oder Überlegungen des
einzelnen.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, IV).
286
„Die Arbeit des analytischen Minds – des Analysators – entspricht allem, was man von
dem besten Computer, den es gibt, überhaupt verlangen könnte. Er beherrscht alle
Kunststücke, die ein Computer fertigbringt. Und darüber hinaus leitet er auch noch
den Bau von Computern. Und immer hat er so vollkommen recht, wie jemals irgendein
Computer recht haben kann. Der analytische Mind ist nicht nur ein guter, er ist ein
perfekter Computer. Er macht nie einen Fehler. Solange ein Mensch halbwegs intakt
ist, kann der analytische Mind sich in keiner Weise irren (es sei denn, etwas habe
diesem Menschen einen Teil der geistigen ‚Ausrüstung’ genommen). Der analytische
Mind ist eines Irrtums unfähig. Er ist so sicher, keinen Irrtum begehen zu können, daß
er alle Berechnungen auf die Unmöglichkeit, Fehler zu machen, gründet.“ (Author
Services Inc., Hubbard, L. Ron, Dianetik. Die moderne Wissenschaft der geistigen
Gesundheit, Hollywood / California 1984, 64).
283
93
analytischen Mind mit dem besten Computer. Er ist der Ansicht, ihm
könne niemals ein Fehler unterlaufen. Dieser Teil des Denksystems,
nämlich
der
analytische
Verstand,
übernimmt
im
Hubbardschen
Lehrgebäude den Part des „Guten“.287
3.5.1.1.3 Der „reaktive Verstand“
Die Entdeckung des reaktiven Verstandes wird von Scientology als
besondere Leistung Hubbards gepriesen. Hubbard bezeichnet ihn als
„Erzverbrecher der menschlichen Psyche“288 , da er für alle negativen
Zustände im menschlichen Leben verantwortlich sein soll. Er speichert die
Daten, die unterhalb der Bewußtseinsebene liegen und die dem
analytischen Verstand nicht zugänglich sind. „Hubbard geht davon aus,
daß alle Geschehnisse, die mit Schmerz verbunden sind, auch ein
gewisses Maß an Bewußtlosigkeit enthalten. Wenn man sich also
beispielsweise in einem Zustand von Trauer befindet, nimmt man seine
Umgebung nicht so bewußt wahr wie in einem positiven Gemütszustand,
und diese graduelle Bewußtlosigkeit verursacht, so die Theorie, daß das
Geschehnis nicht in der analytischen, sondern in der reaktiven Bank
gespeichert wird.“289
Der analytische Verstand bemerkt von alledem nichts.290 Der Person,
welcher
287
etwas
widerfährt,
sind
die
Ursachen
und
tieferen
Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145.
Hubbard schreibt über die Schwierigkeiten bei seinen Forschungen über den reaktiven
Mind: „Die Detektivarbeit die zu leisten war, um diesen Erzverbrecher der
menschlichen Psyche zu lokalisieren, beanspruchte sieben Jahre.“ (Dianetik, 71).
289
Jacobi, Scientology, 15. Jana Jacobi bestätigt auf diese Weise die Aussagen der
Scientology-Organisation über den analytischen und den reaktiven Verstand. Im
Scientology-Handbuch heißt es in diesem Zusammenhang: „Geistige Eindrucksbilder
werden in den Standard-Gedächtnisbanken des analytischen Verstands gespeichert.
In Augenblicken heftigen Schmerzes wird jedoch die Funktion des analytischen
Verstands außer Betrieb gesetzt, und der reaktive Verstand schaltet sich ein. Diese
geistigen Eindrucksbilder – solche, die Schmerz und Bewußtlosigkeit enthalten –
werden vom reaktiven Verstand aufgezeichnet und darin gespeichert.“ (Das
Scientology-Handbuch, Einführung, XIV).
290
Hubbard bemerkt in diesem Zusammenhang: „In Augenblicken intensiven Schmerzes
ist die Tätigkeit des analytischen Minds vorübergehend eingestellt. Tatsächlich verhält
sich der analytische Mind bei jeder Schocksituation gerade so, als wäre er ein Organ,
das von der lebenswichtigen Versorgung abgeschnitten wurde.“ (Dianetik, 75).
288
94
Zusammenhänge ihrer Reaktionen und Empfindungen nicht bewußt.
Geschehnisse aus der Vergangenheit, an die sie sich wieder erinnert und
den Menschen in der Gegenwart belasten, werden „Engramme“
genannt.291 Diese Engramme des reaktiven Verstandes sind für Hubbard
die Ursache aller Übel in der Welt: „Sie, die Engramme, sind nun ihrerseits
die Erbauer des reaktiven Mind. So wie der analytische Mind eine ‚Bank’
hat, ein absolutes und komplettes nie versagendes und jeden Eindruck
treulich bewahrendes Gedächtnis, so schafft sich der reaktive Mind seine
Engramme-Bank. Sie, die Engramme, sind für Hubbard die Urheber aller
Neurosen, Psychosen, Selbstmorde, ja allen sogenannten ‚aberrierten’
Verhaltens.“292
Das Ziel der von Hubbard entwickelten Techniken ist es, die Engramme
durch ihre Bewußtmachung zu entschärfen und „sie von der reaktiven
Bank in die analytische umzuspeichern“.293
Um den Unterschied zwischen den beiden Arten des Verstandes zu verdeutlichen,
nennt Jana Jacobi folgendes Beispiel: Für den reaktiven Verstand ist jeder Teil eines
Geschehnisses gleich einem anderen. Ein Kind beispielsweise fällt von einem Fahrrad
und verletzt sich am Arm oder am Knie. Zur gleichen Zeit hupt ein Auto und eine
andere Person mahnt zum Achtgeben. Das Geschehnis ereignet sich in einer Straße,
an der bestimmte Blumen stehen. Der reaktive Verstand sieht alle Ereignisse,
angefangen vom schmerzenden Knie oder schmerzenden Arm bis hin zur
Aufforderung zum Achtgeben und dem Vorhandensein der Blumen als
gleichbedeutend an. Nun kann es vorkommen, daß später, etwa bedingt durch
Müdigkeit, eine geringe Bewußtlosigkeit bei dem Kind auftritt, und es erscheinen
einige Inhalte aus dem zurückliegenden Ereignis; dann glaubt der reaktive Verstand
des Kindes, das vergangene Geschehen wiederzuerkennen. So kann etwa ein
erneuter Appell zur Vorsicht oder ein jetzt hupendes Auto das vergangene Erlebnis in
all seinen Teilen wiedererstehen lassen, was dazu führt, daß das Kind erneut
Schmerzen am Arm oder an den Knien bekommt. (Vgl. Jacobi, Scientology, 16ff.).
291
„Der reaktive Verstand ist überhaupt nicht wählerisch. Er zeichnet alles in einem
Moment des Schmerzes und der Bewußtlosigkeit getreu auf und besteht
ausschließlich aus diesen Engrammen.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung,
XVI).
292
Haack, Scientology, 82. Zum sogenannten „aberrierten Verhalten“ gehört auch die
Führung von Kriegen und die Verübung von Grausamkeiten an Menschen,
Drohungen, schlicht alle negativen Verhaltensweisen.
293
Vgl. Das Scientology-Handbuch, Einführung, XX. Vgl. auch: Haack, Scientology, 82.
95
3.5.1.2 Die „Dianetic-Auditingtechnik“
Das Ziel der Hubbardschen Techniken ist der sogenannte „Clear“.
Unter einem Clear verstehen Scientologen eine Person, die ihre reaktive
Bank gereinigt und durch die Bewußtmachung der Engramme deren
schädliche Einflüsse beseitigt hat.294 Hubbard schreibt über den Clear, er
sei „ein Wesen“, das überhaupt keinen „reaktiven Mind“ mehr besitze.295
Dadurch soll zugleich der bereits erwähnte Thetan befreit werden. Auf
dem Weg hin zu dieser Klärung bzw. Befreiung, den die Scientologen
auch „Brücke“ nennen, sind bestimmte Techniken notwendig, deren
bedeutendste das „Dianetic-Auditing“ ist. „Den Zeitraum, in dem Auditing
stattfindet, nennt man eine Auditingsitzung. Auditing erfordert eine ruhige,
angenehme Umgebung, wobei der Auditor und die Person, die das
Auditing erhält, einander gegenübersitzen.“296 Am Ende soll dann die von
den Scientologen verkündete „totale Freiheit“ stehen.
Wenn eine Person einen meist kostenlosen Persönlichkeitstest bei
Scientology absolviert hat, erfolgt einige Zeit darauf das Auditing. Der
Persönlichkeitstest dient dazu, interessierten Personen charakterliche und
psychische
Defizite
zu
unterstellen
oder
tatsächliche
Schwächen
herauszufinden, so daß diese sich für Kurse bei Scientology anmelden
und für diese Kurse immer größere finanzielle Opfer bringen müssen. Ralf
B. Abel bemerkt hierzu: „Der Einstieg in die Scientology-Ideologie und
Organisation
erfolgt
häufig
über
den
kostenlosen
sogenannten
‚Persönlichkeitstest OCA’ (‚Oxford Capacity Analysis’, ein Kunstname, der
294
„Ein Clear läßt sich sehr einfach als jemand definieren, der seinen eigenen reaktiven
Verstand nicht mehr hat. Die geistigen Konsequenzen dieses Durchbruchs sind
tiefgründig. Der Clear hat keine Engramme, die, wenn sie restimuliert werden, die
Richtigkeit seiner Berechnungen umstoßen, indem sie versteckte und falsche Daten
einführen. Clear zu werden stärkt die angeborene Individualität und Kreativität einer
Person und verringert diese Eigenschaften in keiner Weise. Ein Clear ist frei in seinen
Emotionen. Er kann für sich selbst denken. Er kann das Leben unbehindert von
Hemmungen erleben, die reaktiv von früheren Engrammen diktiert werden.“ (Das
Scientology-Handbuch, Einführung, XX).
295
„Ein Clear ist ein Wesen, das seinen eigenen reaktiven Mind nicht mehr hat.“
(Dianetik, 513). Der Begriff „Clear“ wird von einem Aussteiger aus der Organisation
einfach als „Machtergreifung durch Scientology“ bezeichnet. (Vgl. Innenministerium
des Landes NRW (Hrsg.), Scientology. Eine Gefahr für die Demokratie, Düsseldorf
1996, 46).
296
Das Scientology-Handbuch, Einführung, XI.
96
mit Oxford nichts zu tun hat) mit über 200 Fragen. Als Eingangstest soll er
einerseits potentielle Kunden überzeugen, sie hätten gravierende
Schwachstellen (‚Ruins’), die unbedingt einer Heilung (‚Lebensreparatur’)
durch Dianetic bedürfen. Andererseits ermöglichen viele der Fragen beste
Einblicke
in
die
private
Sphäre
der
Testpersonen.“297
Der
Persönlichkeitstest wird häufig per Postwurfsendung oder durch eine
Straßenwerbung verbreitet, wodurch ein erster Kontakt
zur Sekte
hergestellt wird.298
Das Wort „Auditing“ kommt vom lateinischen „audire“ (hören). Bei
Scientology wird das Auditing auch als „Beichte“ oder „Seelsorge“
bezeichnet, um den Anschein einer religiösen Institution bzw. einer Kirche
zu erwecken. Renate Hartwig schreibt in diesem Zusammenhang: „Ich
nenne es schlicht ‚Ausforschung’. Nach meinen Erkenntnissen soll damit
der einzelne für die Organisation gläsern gemacht werden.“299 Dabei wird
die
zu
auditierende
Person
an
ein
sogenanntes
„E-Meter“300
angeschlossen, das zur Ermittlung von Problemen in verschiedenen
geistigen Bereichen der Testperson Aufschluß geben soll. Das „E-Meter“
ist
ein
Gerät
zur
Feststellung
und
Messung
des
elektrischen
Widerstandes. Der Auditor will mit dessen Hilfe eine Veränderung
geistiger
Energie
feststellen.
Die
Ausschläge
der
Nadel
sollen
energiereiche Teile des reaktiven Verstandes sichtbar werden lassen.
Durch
das
Bewußtmachen
von
Engrammen
sollen
sich
diese
Energiezentren entladen. Diese Veränderungen sollen durch das E-Meter
angezeigt werden. Dabei soll es dem Auditierten gelingen, durch seine
konzentrierte Haltung, in den Bereich seiner reaktiven Bank einzudringen.
297
Abel, Scientology, 30.
Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW,16f. Vgl. auch Mandau, Tödlicher Sektenwahn,
250.
299
Hartwig, Scientology, 29. Vgl. auch Mandau, Tödlicher Sektenwahn, 251ff.
300
Thomas Kruchem bemerkt zum Stichwort E-Meter: „Viele Kritiker sehen in dem nach
fachwissenschaftlicher Meinung sehr begrenzt aussagefähigen E. teuer bezahlten (es
werden für das technisch eher einfache Gerät ‚Spenden‘ von mehreren tausend Mark
erwartet) Humbug mit eventuellem Placebo-Effekt, manche auch ein Instrument
psychischer Konditionierung.“ (Kruchem, Staatsfeind Scientology, 359).
298
97
Der Auditor gibt der Testperson dabei Hilfestellungen, die dem Preclear301
zur Bewußtmachung unbewußter Ereignisse verhelfen sollen. Dabei ist es
vonnöten, das erste oder früheste Engramm ausfindig zu machen. Ist dies
geschehen, kann das Erlebnis reaktiviert und verarbeitet und so in die
analytische Bank umgespeichert werden. Diese Technik verlangt vom
Auditor angeblich höchste Konzentration und Sensibilität im Umgang mit
dem E-Meter.
3.5.2 Scientology und die Stufen des „Operating Thetan“
(OT)
Dem Zustand des „Clear“ sind die Zustände des sogenannten
„Operating Thetan“ (OT) übergeordnet. Dieser „OT“ verkörpert für die
Scientologen die Erlangung der vollkommenen Erlösung und der
absoluten seelischen Freiheit. Dieses Ziel wird über verschiedene Stufen
erreicht, wofür gewisse Kursangebote wahrgenommen werden müssen.
„Scientology“302 bietet hierzu die entsprechende Techniken an, deren
Stufen von OT 0 bis OT VIII reichen.303
Die wichtigsten dieser Stufen werden im folgenden genannt und haben
folgende Zielsetzung:
301
•
Stufe 0 soll Kommunikationsschwierigkeiten beheben.
•
Stufe I befähigt zum Lösen aller Probleme.
•
Stufe III beseitigt Verstimmungen der Vergangenheit.
Der „Preclear“ ist eine Person, die die völlige Befreiung vom schädlichen Einfluß der
Engramme noch nicht erreicht hat. (Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 358).
302
Innerhalb der Scientology (der Begriff bezeichnet nicht nur die Organisation als
ganzes, sondern ebenfalls die Technik zur Erlangung der OT-Stufen) gibt es die
Vorstellung eines höchsten Wesens, das als „Wesen der 8. Dynamik“ bezeichnet wird,
wobei Scientology niemals in diese Dynamik eindringen kann. Dynamik meint den
„Drang zum Freisein als Unendlichkeit“. (Vgl. Jacobi, Scientology, 22).
Haack zählt insgesamt acht solcher Dynamiken auf. „Unter den sogenannten
Dynamiken versteht man in der Scientology eine Art Triebkräfte, die auf
unterschiedliche Lebensebenen bzw. in unterschiedlichen Lebensausrichtungen
wirken. Hubbard nennt sie auch ‚Motive oder Motivationen‘.“ Haack nennt ferner den
Drang zum Überleben für sich selbst, den Drang zum Überleben durch Sex, den
Drang zum Überleben für die gesamte Menschheit und den Drang zum Dasein als
Unendlichkeit, was Hubbard auch als „das höchste Wesen“ bezeichnet. (Vgl. Haack,
Scientology, 83ff.).
303
Vgl. Das Scientology-Handbuch, Einführung, XXIV-XXV
98
•
Stufe IV löst den Preclear von starren Ansichten und verleiht ihm
mehr Flexibilität.
Die dritte und die achte Stufe nehmen eine herausragende Position ein.
OT III wird als „Feuerwand“ bezeichnet. Nach dem Erreichen dieser
Ebene erfährt der Auditierte die wahre Herkunft und Bedeutung der Welt
und des Menschen. „Vor zirka 75 Millionen Jahren ereignete sich in
diesem Sektor des Universums eine Katastrophe von solchem Ausmaß,
daß noch heute jeder Mann, jede Frau und jedes Kind darunter leidet. Zu
diesem Zeitpunkt hat nämlich der Kopf einer interplanetarischen
Konföderation von 76 Planeten, sein Name war Xenu, die enorme
Überbevölkerung (im Schnitt etwa 250 Milliarden Einwohner pro Planet)
auf die folgende Weise gelöst: Er ließ die Bewohner gefangennehmen,
erschießen, einfrieren und auf unsere Erde befördern, die damals
Teegeack genannt wurde.“304
Erst das Erreichen der achten Stufe macht einen Menschen zu einem
„Operating Thetan“. Hierunter ist ein Clear zu verstehen, der mit seiner
Umgebung so vertraut ist, daß er über Raum und Zeit, Energie und
Materie erhaben ist und sich nicht in seinem Körper befindet. Die Stufen
hin zu diesem Ziel wurden allerdings im Lauf der Jahre immer mehr
erweitert. Renate Hartwig bemerkt zum Stichwort „Operierender Thetan“:
„In diesen beiden Worthülsen projizieren Scientologen ihre persönlichen
Träume und Hoffnungen auf Macht über ‚Materie, Energie, Raum und
Zeit’.“305 Dieser Thetan hat sich nach Meinung der Scientologen über
jegliche irdische Maßstäbe erhoben, er ist selbst „völlig Ursache über
Materie, Energie, Raum, Zeit und Denken“.306 Peter Köpf meint dazu: „Das
mutet an wie überirdische Wesen, die nach Berichten in den Publikationen
von Scientology durch Gedankenkraft Autos bewegen oder mit Katzen
reden und sogar Bücher lesen können, ‚die ein paar Länder entfernt
sind’.“307
304
Jacobi, Scientology, 37. Dieser knappe Hinweis auf die Vorstellungen Hubbards mag
genügen, um das Geheimnis der dritten Stufe einigermaßen verständlich werden zu
lassen. Diese Vorstellungen lassen deutlich Anleihen bei der Science-Fiction-Literatur
Hubbards erkennen. Vgl. auch Haack, Scientology, 80.
305
Hartwig, Scientology, 140. Vgl. auch Potthoff, Im Labyrinth der Scientology, 299.
306
Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 54.
307
Ibid.
99
Die Absurdität eines solchen Weltbildes, auf dem das System von
Scientology aufbaut, wird an dieser Stelle sehr deutlich. Neben dem
Zeitaufwand, den eine Ausbildung in den verschiedenen Stufen mit sich
bringt, sind die Kosten der einzelnen Kurse enorm. Da diese Kurse
aufeinander aufbauen und das Voranschreiten auf dem Weg zur völligen
Befreiung als unbedingt erforderlich hingestellt wird, werden von den
Mitgliedern der Sekte keine finanziellen Opfer gescheut. Die Bezahlung
eines Kurses erfolgt grundsätzlich immer im voraus.
Die Preise für Techniken und Seminare können hunderte bis mehrere
zehntausend Mark (bzw. Euro) betragen. Bereits Anfang der neunziger
Jahre des 20. Jahrhunderts kostete beispielsweise das Auditing in der
Stufe OT V über 10.000 DM.308 Bei der Vielfalt der Kursangebote und der
OT-Stufen lassen sich die Einnahmen der Sekte nur erahnen. Als Folgen
einer Mitgliedschaft lassen sich neben denen der Manipulation der
Menschen und der psychischen Abhängigkeit auch die finanziellen
Belastungen nicht übersehen. Viele Scientologen haben bereits nach
kurzer Zeit viel Geld für die Sekte geopfert, daß sie den Absprung nicht
riskieren, um das investierte Geld nicht zu verlieren, was meist zu einer
hohen Verschuldung beiträgt.309
Der Wunsch nach absoluter geistiger Freiheit und nach versprochenem
Lebensglück sowie nach Erfolg wird jedoch in den meisten Fällen jäh
enttäuscht. Selbst langjährige Mitarbeiter müssen immer wieder neue
Kurse belegen und bleiben auf diese Weise ein Objekt ständiger
Ausbeutung, worüber auch die Vergabe wohlklingender Titel als
Auszeichnung für bestimmte Verdienste nicht hinwegzutäuschen vermag.
308
309
Vgl. Jacobi, Scientology, 61.
Vgl. Abel, Scientology, 39.
100
3.5.3 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte
über die Scientology-Organisation
Bei Scientology steht das Studium des menschlichen Geistes im
Vordergrund, wobei dessen Verhältnis zur Welt und deren Lebensformen
von der Sekte definiert wird. Die Technologien der Dianetic und
Scientology spielen hierbei eine zentrale Rolle. Dabei behauptet die
Sekte, Ziel dieser und anderer Techniken sei es, einen Zustand der
völligen geistigen Freiheit zu erlangen.
Die Techniken wurden von Lafayette Ron Hubbard im Laufe von
mehreren Jahrzehnten entwickelt. Seine von seiten der Organisation
verzerrte Biographie läßt Hubbard bereits in frühen Jahren als Fachmann
auf sämtlichen Gebieten der Wissenschaft und des gesellschaftlichen
Lebens erscheinen. Seine Vorliebe für den Bereich der Science-Fiction
zieht sich dabei wie ein roter Faden durch sein Leben und das Lehrsystem
der 1954 gegründeten Scientology-Organisation. Die Beeinflussung des
menschlichen Verstandes bildet dabei ein Hauptthema. Alle Religionen
werden als Vorläufer von Scientology betrachtet. Dabei wird die Sekte in
den Rang der vollkommenen Religion erhoben, wobei die Organisation
sich die Bezeichnung „Kirche“ zugelegt hat.
Die Frage nach einem persönlichen Gott stellt sich für Scientologen
nicht. Das Heil des Menschen kann durch das Erreichen der Kursstufe
„Operierender Thetan“ erlangt werden, die Teil eines ausgefeilten
Kurssystem darstellt, das sich nach Belieben erweitern läßt. Sogenannte
„Engramme“, unter denen die Sektenmitglieder unbewußt gewordene
Ereignisse der Vergangenheit verstehen, werden für das Böse in der Welt
verantwortlich gemacht. Diese „Engramme“ werden in dem sogenannten
„reaktiven Mind“ gespeichert. Durch die Bewußtmachung sollen sie in den
sogenannten „analytischen Mind“ umgespeichert werden, was auch
„klären“ genannt wird. Eine Person, die diese „Klärung“ vollzogen hat, wird
in der Terminologie der Mitglieder als „Clear“ bezeichnet.
Die Leitung des Clear-Vorgangs obliegt dem sogenannter „Auditor“, der
für diese Prozedur eine besondere Ausbildung erhält und außer mit
psychologischen Fragebögen mit einem sogenannten E-Meter arbeitet.
101
Dieses Gerät mißt angebliche Energieänderungen während des ClearVorgangs.
Das von Hubbard entwickelte Lehrsystem stellt gewissermaßen den
geistigen Überbau für das Gesamtsystem Scientology dar, das sich aus
zahlreichen kommerziell ausgerichteten Unter- und Tarnorganisationen
zusammensetzt. Die oberste Leitungsgewalt obliegt dem sogenannten
Religious-Technology-Center, das in Clearwater (USA) liegt und dessen
Vorsitz seit dem Tod Hubbards im Jahr 1986 David Miscavige innehat. Die
Geschichte der Organisation ist durchzogen von kriminellen Aktionen
gegen
örtliche
Regierungen
und
der
Unterwanderung
sämtlicher
gesellschaftlich und politisch bedeutsamer Institutionen. Dies wird
besonders durch die zahlreichen weltweiten Gerichtsverfahren gegen die
Sekte deutlich. Daher läßt sich Scientology als ein gefährliches,
verfassungsfeindliches Gebilde beschreiben, welches die höchste Form
der Macht und eine durch sein Welt- und Menschenbild geprägte neue
Gesellschaftsordnung anstrebt. Staatlicherseits wurden vor allem nach
dem Bekanntwerden der wahren Vorgänge innerhalb der Organisation,
vor allem durch Aussteiger aus diesem System zahlreiche Aktionen, wie
Aufklärungskampagnen
und
Gerichtsverfahren
eingeleitet,
um
die
Ausbreitung und den Einfluß von Scientology einzudämmen. Die Kontrolle
der Sekte wird jedoch durch die komplizierte Vernetzung der einzelnen
Teilorganisationen und deren verdeckte Vorgehensweisen deutlich
erschwert. Gerade deswegen beschäftigen sich staatliche Stellen in
Deutschland seit geraumer Zeit mit Scientology.
102
Kapitel 2: Der Sektenausstieg
Nachdem die Sekte Zeugen Jehovas und die Psychosekte Scientology
dargestellt und wesentliche Gesichtspunkte ihrer Geschichte und ihrer
Organisationssysteme beleuchtet worden sind, sollen die folgenden
Ausführungen über die Ausstiegsproblematik verdeutlichen, was es für
Menschen bedeutet, wenn sie die Organisation verlassen möchten. Die
Ausführungen
zu
diesem
Themenkomplex
werden
dabei
durch
Erfahrungsberichte und Biographien von Menschen, denen ein solcher
Ausstieg geglückt ist, belegt. Darüber hinaus soll diese methodische
Vorgehensweise
einen
wesentlichen
Beitrag
zur
besseren
Veranschaulichung der Aussteigerproblematik leisten und zu einem
größeren Realitätsbezug beitragen. Bei der Ausstiegsproblematik sollen
dabei drei entscheidende Themenkreise Beachtung finden. Der erste setzt
sich mit den Mechanismen auseinander, die eine Person im Laufe eines
Sozialisationsprozesses zu einem fertigen Sektenmitglied oder einer
„Sektenpersönlichkeit“ machen, die eine entsprechende Sektenidentität
besitzt.
Diese
innerhalb
eines
Sozialisationsprozesses
erworbene
Sektenidentität mit ihren spezifischen Denk- und Handlungsweisen ist
auch für den Ausstieg von Bedeutung, der oft in Zweifeln an der
Schlüssigkeit des Lehrsystems oder Enttäuschungen im Bereich der
Lebenspraxis und Ethik der Sekte seine Ursache hat. Nachdem die
Zweifel und die Enttäuschungen zur Gewißheit geworden sind, folgen
offizielle Schritte der Loslösung von der Sekte.
In einem dritten Teil werden die Folgen des Ausstiegs und der erst nach
einem offiziellen Ausstieg sich anschließende mühsame seelische
Befreiungsprozeß von der Sekte beschrieben.
103
1 Der Ausstieg als Problem oder: Warum ist es so
schwer, die Sekte zu verlassen?
1.1 Sozialisation durch Indoktrination
Der Sozialisationsprozeß, dem eine Person bei der Eingliederung in
eine Sekte unterworfen ist, kann in mehrere sogenannte „Phasen der
Indoktrination“ unterteilt werden.310 Diese, sich zum Teil überlappenden
Phasen, lassen nicht nur den Prozeß des Sekteneinstiegs anschaulich
erklären, sondern deren Inhalte und Mechanismen spielen auch bei dem
darzustellenden Ausstieg eine zentrale Rolle, weshalb sie in ihren
wesentlichen Punkten beschrieben werden sollen.
Zu diesen Phasen zählen nach dem Sektenexperten Hugo Stamm die
Anwerbung, die Einführung in die Heilslehre, die Einbindung in die
Gruppe, die Entfremdung von der Umwelt durch Isolation, sowie die
Festigung in der Heilslehre. Die einzelnen Phasen lassen sich nicht immer
eindeutig voneinander abgrenzen und gehen meist ineinander über.
1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann311 als Beispiel für die
Zeugen Jehovas
Die Anwerbung, auch als „getarnte Anwerbung“ bezeichnet, stellt
bereits den ersten Schritt der psychischen Beeinflussung potentieller
Mitglieder dar312 , die von der latenten Absicht getragen wird, die
310
Indoktrination meint eine Beeinflussung von einzelnen Personen oder Gruppen unter
Zuhilfenahme psychologischer Mittel, um bei den entsprechenden Menschen eine
bestimmte Meinung oder Einstellung zu erreichen. Hugo Stamm bezeichnet diese
Indoktrination als „das zentrale Merkmal vereinnahmender Gruppen und Sekten“. (Vgl.
Stamm, Sekten, 74). Der Autor hat als Journalist und Sektenspezialist bereits im Jahr
1993 das Buch „VPM – die Sektenfalle“ veröffentlicht.
311
Hans-Jürgen Twisselmann gehörte der Sekte der Zeugen Jehovas fünf Jahre lang an.
In seinem Buch „Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi“ beschreibt er seinen
Weg in die Sekte und seinen Ausstieg, wobei er sich sehr intensiv mit dem
Lehrsystem und der Ethik der Gruppe auseinandersetzt.
312
Es handelt sich um eine sogenannte „getarnte Anwerbung“, weil die eigentlichen
Absichten und Ziele den Menschen nicht mitgeteilt, sondern verschleiert werden. Es
werden dabei verschiedene Personengruppen angeworben. „Keiner von uns ist
dagegen gefeit, von einer Sekte angeworben zu werden. Es gibt so viele Sekten, die
ständig Ausschau halten nach neuen Mitgliedern, sie treten in so vielen Masken auf
und ziehen so viele Maschen ab, daß es bestimmt auch für Sie eine passende Sekte
104
kontaktierte Person in eine bestimmte Organisation zu locken. Die Art der
Anwerbung ist dabei unterschiedlich.313 Die Sekte der Zeugen Jehovas
führt gezielt Aktionen auf Marktplätzen und Einkaufsstraßen durch, indem
die laufenden Zeitschriften „Der Wachtturm“ oder „Erwachet“ mit
eindrucksvollen Titelbildern die Vorübergehenden locken sollen, um sie in
ein erstes Gespräch zu verwickeln.314
Hans-Jürgen Twisselmann, als ehemaliges Mitglied der Zeugen
Jehovas, berichtet über seinen ersten Kontakt mit der Sekte: „Freitag, den
18. August 1950. Es ist ein warmer Sommertag. Rund um den Dom der
norddeutschen Kleinstadt Meldorf auf dem geräumigen Marktplatz
herrscht das bunte Treiben des Wochenmarktes. Sommerlich gekleidete
Menschen eilen zwischen den Verkaufsständen hin und her. Das aber
sehe ich nur ganz am Rande. Viel mehr interessiert mich ein junger Mann
von etwa 28 Jahren, der auf dem Bürgersteig vor den um den Markt
gelegenen Geschäftshäusern jeden Passanten anspricht und ihm eine
Zeitschrift anbietet.“315
gibt. Egal, wie alt Sie sind, welche Interessen oder welchen Lebensstil Sie haben, sich
auf eine Sekte einzulassen ist so leicht, wie einen Bibliotheksausweis ausgestellt zu
bekommen.“ (Thaler Singer, Margaret / Lalich, Janja, Sekten. Wie Menschen ihre
Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, 136). Margaret
Thaler Singer ist eine Kapazität auf dem Gebiet der psychologischen Betreuung von
ehemaligen Sektenmitgliedern. Sie ist Professorin für klinische Psychologie in den
USA und hat seit über dreißig Jahren Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt. Ihre
Aussage räumt mit dem landläufigen Vorurteil auf, nur psychisch labile oder psychisch
kranke Menschen seien anfällig für die Heilsversprechen von Sekten. Auch Gabriele
Lademann-Priemer stellt fest, daß selbst Menschen, die vor Sekten sicher zu sein
glauben, in deren Fänge geraten können. „Viele ehemalige Mitglieder von Sekten, die
nicht in eine Sekte hineingeboren sind, betonen jedoch, daß sie auch einmal der
festen Überzeugung waren, sie würden niemals auf eine Sekte hereinfallen.“
(Lademann-Priemer, Gabriele, Warum faszinieren Sekten? Psychologische Aspekte
des Religionsmißbrauchs, München 1998, 79).
313
Die Anwerbemethoden reichen vom direkten persönlichen Kontakt, Werbung an
Kiosken, in Zeitungen und Zeitschriften, bis hin zur Werbung in Radio und Fernsehen,
was besonders in den USA der Fall ist.
314
Klaus-Dieter Pape charakterisiert die Straßenmission als das „optisch auffälligste
Auftreten“ der Zeugen Jehovas. Das Ziel ist, Präsenz zu zeigen und das intensive
Engagement für den eigenen Glauben öffentlich zu demonstrieren. (Vgl. Pape, KlausDieter, Die Angstmacher. Wer (ver)führt Zeugen Jehovas?, Leipzig 1998, 70).
315
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 9. Twisselmann ist
schon öfter auf die Zeugen Jehovas aufmerksam geworden; doch ist dies das erste
Mal, bei dem er sich hat persönlich ansprechen lassen. Er berichtet, er habe als er 15
Jahre alt war, eine Schrift des Gründers in den Händen gehabt, die er im
Bücherschrank seiner Eltern entdeckte, jedoch damals ohne jeglichen Gewinn
gelesen habe.
105
Twisselmann berichtet weiter: „Einige Minuten später lasse ich mich
von dem jungen Mann ansprechen. Es dauert nicht lange, und wir sind
mitten in einer Debatte über Sündenfall, Herkunft des Teufels, Wiederkunft
Christi und Tausendjähriges Reich.“316
Um das begonnene Gespräch in Ruhe fortsetzen zu können, wird der
Zeuge Jehovas nach Hause eingeladen. Dieser erscheint mit zahlreicher
Literatur bei der interessierten Person.317 „Es dauert keine halbe Stunde,
bis Gerd meinen ‚Glauben’ an die Evolutionslehre völlig zerstört hat. Aus
Schriften
der
Wachtturm
Bibel-
und Traktat-Gesellschaft
liest
er
Aussprüche von namhaften Wissenschaftlern vor, die sich zu dieser Lehre
kritisch äußern oder von ihr abrücken. Andererseits versucht er mir zu
zeigen, wie zuverlässig die Bibel ist. Für mich ist es außerordentlich
eindrucksvoll zu sehen, wie die vielen alttestamentlichen Weissagungen
über den kommenden Messias im Leben Jesu von Nazareth sich
buchstäblich erfüllt haben. Kann es da noch einen Zweifel geben an der
Zuverlässigkeit und göttlichen Inspiration der Bibel? Plötzlich wird mir die
gewaltige Überlegenheit des ‚Buches der Bücher’ gegenüber allen
menschlichen Meinungen und Überlieferungen bewußt.“318
Durch die Ausführungen des Sektierers werden bei der interessierten
Person anfängliche Zweifel und Unschlüssigkeiten ausgeräumt, doch
obwohl der Sektierer den Anschein der Glaubwürdigkeit erweckt, dem die
geistige und religiöse Befreiung des Gesprächspartners am Herzen zu
liegen scheint, stellt dieses Gespräch einen Angriff auf die Gedanken- und
Gefühlswelt des potentiellen neuen Mitglieds dar.319 Dabei wird als
weiteres Indoktrinationsmittel auf persönliche Bekenntnisse und die der
316
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 9.
Den Grund für den Rückbesuch bei der angeworbenen Person gibt die WachtturmGesellschaft so wieder: „Bei der Durchführung eines Nachbesuches verfolgen wir
einen Zweck; wir zielen nämlich darauf ab, schließlich ein Heimbibelstudium zu
beginnen.“ (Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 70).
318
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10. Vgl. auch Weber /
Valentin, Die Zeugen Jehovas, 49.
319
Der Sektenexperte Hugo Stamm bemerkt: „So paradox es klingen mag: Obwohl die
Sektenmitglieder durchaus glaubwürdig erscheinen und den Anschein erwecken, die
Angeworbenen geistig und seelisch befreien zu wollen, ist bereits das erste Gespräch
ein Angriff auf die Gedanken- und die Gefühlswelt. Denn die Angesprochenen werden
mit dem Ziele umgarnt, sie in die Gruppe zu locken.“ (Stamm, Sekten, 91f.).
317
106
Gruppe als ganzes zurückgegriffen.320 „Doch nun wächst auch meine
Hochachtung vor den ‚Bibelforschern’, besonders als Gerd mir erzählt, wie
die
Zeugen
Jehovas
um
ihres
Glaubens
willen
in
den
Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelitten haben.“321 Zusammen
mit der Aufwertung der eigenen Gruppe werden andere, vor allem die
Kirchen, durch allgemein gehaltene Versagensschilderungen verleumdet.
Als Beispiel dient hierbei die Verurteilung der katholischen Kirche durch
Heranziehung von Fehltritten von Priestern in der Zeit des Dritten Reiches,
„die sich in den Dienst der Machthaber dieser Welt stellten“322 .
Nach dem Ausräumen der ersten Zweifel und dem Wecken von
Bewunderung für die Gruppe, kann die Einführung in die Heilslehre durch
Publikationen der Sekte erfolgen.323 „Schon in den nächsten Tagen lese
ich das Buch ‚Die Wahrheit wird euch frei machen’, dessen Titel mich
besonders anspricht.“324 Durch das Lesen der ersten Schriften wird
zugleich eine im Menschen schlummernde Sehnsucht nach Heil und
Wahrheit geweckt.325 „Angeregt durch das Lesen des ersten Buches,
studiere ich auch die anderen beiden Bücher, die ich von Gerd gekauft
habe. Schließlich vergrabe ich mich immer mehr in diese Literatur und
lese – wie wohl die meisten Z. J. – nur noch Schriften der WachtturmGesellschaft.“326 Das weitere Schriftstudium soll den Interessenten geistig
vereinnahmen und die Sehnsucht nach einer spirituellen Umwandlung
verstärken, die sich für den Betroffenen unmerklich anbahnt, wobei letzte
Zweifel als Irritationen des Bösen interpretiert und so nicht weiter beachtet
werden. „Letzte Zweifel unterdrücke ich in der Meinung, es seien die
heimlichen Angriffe des Bösen, der mich von dem allein wahren Glauben
abzuhalten versuche.“327 Ratschläge von Verwandten und Freunden
werden dabei, besonders wenn es sich hierbei um Kritik an der neuen
Heilslehre und der neuen Gruppe handelt, als eher störend betrachtet und
320
Vgl. Stamm, Sekten, 93.
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10.
322
Ibid.
323
Vgl. Stamm, Sekten, 95.
324
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10.
325
Vgl. Stamm, Sekten, 95.
326
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10.
327
Ibid.
321
107
übergangen. Widerstand von Seiten anderer verstärkt meist noch das
Interesse des Betroffenen für die jeweilige Gruppe.328 „Die mahnenden
Worte meiner Mutter und anderer naher Verwandter schlage ich in den
Wind, ja ihr Widerstand gegen die ‚Wahrheit’ veranlaßt mich, um so
entschiedener für die Sache der Z. J. einzutreten.“329 Nach einer weniger
als zwei
Wochen dauernden Einführung in Teile der Heilslehre der
Zeugen Jehovas und aufgrund des Widerstands von Seiten der Mutter
bestärkt, entschließt sich Twisselmann der Sekte beizutreten.
„So kommt es, daß ich schon am 30. August – weniger als 14 Tage
nach Gerds erstem Besuch bei mir – in mein Tagebuch schreibe: ‚Mein
Entschluß steht fest: Ich werde Zeuge Jehovas!’“330 Dabei spielt vor allem
die Abwertung der Kirchen und die gleichzeitige Aufwertung und der
Anspruch der Sekte, die allein selig machende Organisation Gottes zu
sein, eine zentrale Rolle. Dies wird durch willkürlich verwendete Bibelzitate
unterstützt.331 Twisselmann bemerkt hierzu: „Schon weitere 14 Tage
später, am 16. September 1950, erkläre ich vor dem Amtsgericht meinen
Austritt aus der Ev.-Luth. Landeskirche. Die Kirche hat nach meinem nun
erlangten
Verständnis
das
Christentum
verwässert,
entstellt
und
mißbraucht. Die Wachtturm-Gesellschaft lehrt daher, die Kirchen der
Christenheit seien in Wirklichkeit nicht Kirche Christi, nicht die treue
‚Braut’-Gemeinde, sondern die im letzten Buch der Bibel erwähnte ‚große
Hure’, also die untreue ‚Braut’, das ‚Babylon’ der Endzeit.“332 Die Sekte
wird somit als einzig wahre, als die ideale Gesellschaft dargestellt, in
welcher nun ein neues erfülltes Leben beginnen kann, das die vorherige,
falsche und vielleicht sündige Vergangenheit hinter sich läßt.333 „Als ich
328
Hugo Stamm erwähnt in diesem Zusammenhang die negativen Auswirkungen einer
möglichen frontalen Konfrontation von Angehörigen, über die er sich wie folgt äußert:
„Besonders verhängnisvoll ist dabei, daß die Angehörigen in diesem Fall die Chance
verspielen, Einfluß auf das betroffene Familienmitglied auszuüben und ihm zu helfen,
den Weg aus dem persönlichkeitszerstörenden Labyrinth zu finden.“ (Stamm, Sekten,
130).
329
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10f.
330
Ibid.
331
Vgl. Weber / Valentin, Zeugen Jehovas, 49 ff.
332
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11.
333
Vgl. Cammans, Heide-Marie, Betroffen durch Sekten. Ein Ratgeber, Düsseldorf 1997,
47. Cammans erwähnt die Verunsicherung, die mit der negativen Wertung der
Vergangenheit bei einer Person auftritt. Diese geht nun voller Hoffnung den von der
Sekte propagierten Heilsweg, hin zu einer neuen und besseren Zukunft. Ein sehr
108
die Tür des Amtsgerichts in Meldorf hinter mir schließe, bin ich daher froh
und zufrieden, nun aus ‚Babylon’ entronnen zu sein; ‚... denn ihre Sünden
sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeit
gedacht’ (Offb. 18, 5).“334 Nachdem der endgültige Bruch mit der Kirche
vollzogen ist und die Einführung in einen Teil der Heilslehre stattgefunden
hat, kann die Einbindung in die neue Gruppe erfolgen. Diese wird durch
die hohen Erwartungen und das oft überdurchschnittliche Engagement
des Neulings sehr gefördert. Hinzu kommt eine anfänglich sehr intensive
Zuwendung und Begleitung durch die neue Bezugsperson, die den
Betreffenden angeworben hat, verbunden mit Bestärkungen seitens der
Gruppe, die nun versucht, durch menschliche Wärme und der Vermittlung
eines Geborgenheitsgefühls auf das „Opfer“ einzuwirken.335 Das Ziel ist
die Arbeit für die Organisation, deren Strukturen dem Neuling, da er mit
dem Zurechtfinden und Einleben in die neue, ungewohnte Umgebung
beschäftigt ist, noch nicht enthüllt werden. Das neue Mitglied soll befähigt
werden, weitere Personen zu werben. Zu diesem Zweck erhält es neben
der theoretischen Schulung durch die Beschäftigung mit der Literatur der
Sekte eine intensive praktische Schulung.336
„Am 28. Oktober gehe ich zum ersten Mal zusammen mit anderen
Zeugen von Tür zu Tür. Der Kreisaufseher, der als Beauftragter der
Wachtturm-Gesellschaft zum Zweck der ‚Schulung der Verkündiger und
zur
Belebung
der
Felddiensttätigkeit’
zugegen
ist,
gibt
wichtige
Anregungen, wie man beim Dienst von Haus zu Haus Erfolge erzielen
kann.“337 Der Neuling wird dabei zusammen mit anderen, erfahrenen
Zeugen zum Werbedienst geschickt, die ihn gegen unerwünschte Kritik
anschauliches Beispiel für die Abwertung des bisherigen Lebens geben Margaret
Thaler Singer und Janja Lalich mit der von Sekten verwendeten Aufforderung „Zeig
uns den schmutzigen Film deiner Vergangenheit“ wieder. (Vgl. Thaler Singer,
Margaret / Lalich, Janja, Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und
wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, 196).
334
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi 11.
335
Vgl. Stamm, Sekten, 105. Vgl. auch Rausch, Ulrich, Sekten: 99 Fragen, München
1999, 56ff. Ulrich Rausch bezeichnet die intensive Zuwendung, die dem Neuling zuteil
wird, als „Love Bombing“. Das Ziel dieses Vorgehens beschreibt er so: „Es soll die
Gruppe als besonders liebevoll und harmonisch erfahren, um so den Unterschied zu
der bösen Außenwelt festzustellen.“
336
Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 59 ff.
337
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11f.
109
von außen und mögliche eigene Zweifel während seines Einsatzes in der
Lehre
der
Gruppe
bestärken
sollen.
Negative
Erfahrungen
und
Frustrationen werden bei der Rückkehr in der Versammlung ausgetauscht
und
im
Sinne
der
Sekte
interpretiert. „Als
ich
zum
Treffpunkt
zurückkomme, sind die meisten anderen schon da. Sie erzählen von ihren
Erfahrungen, von guten und schlechten. Es gibt manche Stunden der
Enttäuschung, und wie eine Oase in der Wüste ist ein Haus, dessen
Bewohner ein Ohr für unsere Botschaft haben. Wir trösten uns jedoch mit
dem Gedanken, Jesus und den Aposteln sei es nicht anders ergangen.
Ja, wir sehen gerade im Widerstand der ‚Welt’ einen Beweis, daß wir das
wahre Christentum haben.“338 Die gemachten Erfahrungen bewirken eine
immer stärkere Verankerung der Heilslehre im Bewußtsein der Anhänger
und festigen zugleich die Verbundenheit untereinander. Zugleich ist durch
den gegenseitigen Austausch auch eine ebensolche Kontrolle gegeben.
Treten bei einer Person Zweifel irgendeiner Art auf, können diese im
kleinen Kreis behoben werden, wenn nicht, muß die von Mitgliedern an
der Sekte geübte Kritik umgehend dem Leiter der Versammlung vor Ort
gemeldet werden. Die Arbeit der Verkündiger wird in Form von
Stundenberichten genauestens festgehalten und dokumentiert, um die
Leistung und eventuelle Leistungsabfälle genau ermitteln zu können.339
„Alles dies überblickt der Neuling noch gar nicht. Er ahnt auch nicht, daß
er in seiner zuständigen Ortsversammlung in eine ‚Verkündigerkartei’
eingetragen wird, sobald er mit dem ‚Felddienst’ begonnen hat. Diese
‚Verkündigerkartei’ dient der Aufzeichnung der monatlichen ‚Felddienst’Stunden, die der Kreisaufseher bei jedem seiner Besuche zu überprüfen
hat.“340
Durch die ausschließliche Beschäftigung mit Literatur der Organisation
und dem Einsatz für diese, wird das Mitglied körperlich und zeitlich sehr
338
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11f.
Klaus-Dieter Pape erläutert die Funktion eines Predigtdienstberichtes. Er hat seinem
Buch eine Kopie eines solchen Vordruckes beigefügt, anhand derer ein guter Einblick
in die Einzelheiten des auszufüllenden Berichtes möglich ist. (Vgl. Pape, Klaus-Dieter,
Die Angstmacher, 72f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die „Haus zu HausNotizen“ bei K.-D. Pape, 69.
340
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 12.
339
110
stark beansprucht. Es bleibt kaum Zeit für persönliche Kontakte. Kontakte
zu Außenstehenden und nicht der Sekte angehörenden Verwandten und
Freunden werden entweder auf ein Minimum reduziert oder vollends
abgebrochen. Es findet eine zunehmende Entfremdung von der Umwelt
statt, die als feindlich, im Gegensatz zur allein seligmachenden Gruppe,
dargestellt wird.341 Die eigene Identität wird dabei immer mehr überlagert
und eine neue, die sogenannte „Sektenidentität“, bricht sich Bahn, indem
ein neues Weltverständnis und ein neues Selbstverständnis entstanden
sind, die sich anhand einer Publikation der Wachtturm-Gesellschaft so
beschreiben lassen: „Du kennst in Wirklichkeit nichts, wodurch du dich vor
dem Angriff grimmiger Menschen und Organisationen dieser Welt
schützen könntest. Worin besteht also dein Schutz? Nur darin, daß du bei
der Herde Gottes bleibst, innerhalb der Hürde und daß du von ganzem
Herzen auf Jehova Gott ... vertraust, auf den Herrn Jesus Christus ... und
außerdem auf deine treuen Brüder, die zu Hirten der Herde eingesetzt
worden sind. Jehova Gott hat heute eine theokratische Organisation.“342
1.1.2 Jutta Elsässer als Beispiel für Scientology
Jutta Elsässer kam durch eine Freundin in Kontakt mit der ScientologySekte. Sie bemerkt hierzu: „Alles begann mit einem harmlosen
Telefongespräch mit einer Freundin.“343 Diese weist Jutta Elsässer auf
einen von Scientology angebotenen Persönlichkeitstest hin, dem sie
selbst sich unterzogen habe. „Wir sprachen über Gott und die Welt.
Wichtigkeiten und Nichtigkeiten hielten sich bei uns zumeist die Waage.
Dieses Mal allerdings wurde das Gespräch von uns früher als sonst
beendet. Sie müsse Schluß machen, sagte sie mir, da sie an diesem
Abend noch einen Termin habe. Eine Art psychologische Testauswertung,
um Stärken und Schwächen auszuloten, ihre Persönlichkeit besser
341
Vgl. Stamm, Sekten, 113 ff.
Zitiert nach: Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 13.
343
Elsässer, Jutta, Scientology. Ich suchte das Licht und fand die Dunkelheit, München
1997, 13.
342
111
beurteilen und einschätzen zu lernen.“344 Diese Informationen wecken bei
Frau Elsässer Neugierde, da sie sich gerade in einer schwierigen
persönlichen Lebenssituation befindet.345 Ihre Situation nach Abschluß
ihres Pädagogik- und Psychologiestudiums beschreibt sie wie folgt: „Denn
trotz
eines
im
Grunde
gesellschafts-
und
menschenorientierten
Studiengangs empfand ich eine Art von Leere, vor der ich mich ein Leben
lang in acht genommen und mit Ausdauer versucht hatte, sie zu füllen.“346
In
dieser
psychischen
Verfassung
und
nach
einigen
weiteren
Ausführungen ihrer Freundin fordert sie auf postalischem Weg den
Fragebogen des Dianetic-Zentrums an. Durch die Aussage „Wir nutzen
nur 10 Prozent unseres geistigen Potentials“ wird weiteres Interesse
geweckt. „Das interessierte mich. Hier verfügte jemand über ein Wissen,
das ich mir zu eigen machen wollte. Deshalb machte ich mich daran, den
Fragebogen auszufüllen.“347 Dieser Fragebogen ermöglicht der Sekte
einen ersten Einblick in die psychische Struktur einer anzuwerbenden
Person.348
Es folgt einige Tage darauf die Einladung zu einem ersten persönlichen
Gespräch. „Bereits drei Tage nach Absenden des Testbogens erhielt ich
den Anruf eines gewissen Herrn Braindl. Man habe diesen mittlerweile
ausgewertet und würde mich gern zu einem unverbindlichen Gespräch
einladen. Ich war noch immer neugierig und vereinbarte einen Termin für
344
Elsässer, 14.
Ulrich Rausch sieht gerade schwierige persönliche Lebenssituationen als idealen
Nährboden für Heilsversprechen von Sekten an, wenn er meint: „In einer persönlichen
Lebenskrise, in einer Phase, in der das Leben eine neue Orientierung bekommen soll,
können die sozialen, psychologischen und die weltanschaulichen Angebote für
Menschen attraktiv sein.“ (Rausch, Sekten, 49).
346
Elsässer, 13. Die innere Leere, die Frau Elsässer verspürte, ist hier ein Faktor, der ihr
Interesse an dem unterbreiteten Heilsangebot bewirkt. Hinzu kommt der sie
belastende Tod ihrer Mutter. Rausch stellt in seinen Ausführungen über die
Sektenanfälligkeit von Menschen fest: „Darüber bin ich der Überzeugung, daß
prinzipiell jeder Mensch offen für die unterschiedlichen Angebote von Sekten sein
kann. Es muß nur der richtige Augenblick und das richtige Angebot sein – oder muß
man besser sagen: der falsche Augenblick und das falsche Angebot? – , um selber
Sekten attraktiv zu finden. In einer persönlichen Lebenskrise, in einer Phase, in der
das Leben eine neue Orientierung bekommen soll, können die sozialen,
psychologischen und die weltanschaulichen Angebote für Menschen attraktiv sein.“
(Rausch, Sekten, 49).
347
Elsässer, 17.
348
Auch die Frage nach der Risikobereitschaft einer Person ist dabei für die Sekte
entscheidend. Hierdurch soll die Bereitschaft zu finanziellen Opfern für die
Organisation ermittelt werden.
345
112
den 9. März.“349 Der erste persönliche Kontakt kommt mit einem
Scientologen zustande, der versucht, die Testergebnisse im Sinne der
Sekte zu interpretieren, um Frau Elsässer emotional zu destabilisieren.
„Er sah sich die Testauswertung an, fragte mich nach meinen
Familienverhältnissen und schließlich auch nach eventuellen negativen
Erlebnissen im Laufe meines Lebens.“350 Nachdem sie entscheidende
Ereignisse ihres Lebens, vor allem auch ihren Lebensweg als Vollwaise,
berichtet hat, werden zahlreiche schwierige und unbeantwortete Fragen
wach, über die sie später schreibt: „Ich glaube heute, daß gerade das
Thema ‚Tod und Sterben‘ für mich und meine Entwicklung ganz
wesentlich war. Meine diesbezüglichen Gefühle und meine ganz
persönlichen Schlußfolgerungen waren sicherlich mit ein Grund, mich
letztendlich auch näher für Dianetic und Scientology zu interessieren.“351
Der Gesprächsleiter kann vergangene Erlebnisse in die Erinnerung
zurückrufen und kann unverarbeitete und eine Person belastende
Erfahrungen aufgreifen und als Lösung für die herausgefundenen
Probleme seine Heilstheorie darlegen. Dabei bleibt die eigentliche
Organisation zunächst außen vor. Der Scientologe rühmt die Person
Hubbards und dessen Heilslehre.352
Er
weckt auf diese Weise
Bewunderung und Hoffnungen auf Seiten der angeworbenen Person. „Ich
war überaus beeindruckt und nahm jedes Wort unbesehen an, weil ich mir
doch in keiner Weise vorstellen konnte, daß man in einer derart
gewichtigen
Angelegenheit
nicht
die
Wahrheit
sagen
könnte.“353
Eventuelle Zweifel an den verkündeten Äußerungen werden auf diese
Weise wegrationalisiert. Jutta Elsässer fühlt sich in einzigartiger Weise
ernstgenommen und verstanden. „Ich fühlte mich großartig und in einer
Weise verstanden, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.354 Sie faßt Vertrauen
349
Elsässer, 19.
Ibid., 22.
351
Hierbei spielt vor allem das Erleben des Todes ihrer Mutter eine zentrale Rolle, über
den sie schreibt: „Nicht zuletzt durch das Erlebnis, meine Mutter in meinen Armen
sterben zu sehen, wurde ich mit Dingen konfrontiert, die man gerne in Zeiten von
Gesundheit und einer augenscheinlich heilen Welt nur allzuoft verdrängt.“ (Elsässer,
23).
352
Vgl. Stamm, Sekten, 93ff.
353
Elsässer, 28f.
354
Ibid.
350
113
zu ihrem Gesprächspartner und zu der von diesem repräsentierten
Organisation Scientology. „Endlich! Endlich eine Institution in dieser
Gesellschaft, die nicht von mir verlangt, etwas zu glauben, was mir als
wenig sinnvoll erscheint, dachte ich.“355
Eine Institution, die in der Lage ist, eine heile Welt zu schaffen und die
bisherige
von
negativen
Einflüssen
durchsetzte
und
schmerzlich
nachwirkende Vergangenheit unschädlich zu machen, entspricht genau
der Sehnsucht Frau Elsässers. „Unsere Welt würde gesunden. Ein sehr
erstrebenswertes Ziel, dachte ich damals. Genau so eine Welt hatte ich
mir schon immer in meinen Wunschträumen vorgestellt.“356
Es schließen sich weitere Kurse an, die gegen Gebühren absolviert
werden müssen.357 Durch die Auditing-Technik wird Frau Elsässer
fortlaufend manipuliert und beginnt die Heilslehre stückweise in sich
aufzunehmen.358 Dabei entfernt sie sich zunehmend von ihrer Umwelt, vor
allem auch durch das Erlernen der Sektensprache mit ihrem Vokabular.359
„Beschäftigt man sich nun gemäß der Hubbardschen Vorschrift, sämtliche
unbekannten Wörter abzuklären, mit der Fachwortsammlung bzw.
ergänzender Materialien, welche Dianetic- und Scientology-Begriffe
aufzuschlüsseln helfen, erfährt man beispielsweise, daß der D of T der
»Director of Training« ist, also derjenige, der die Abteilung für Kurse und
Ausbildung zu leiten hat. Nach und nach lernt man auf diese Weise, sich
in der Organisationsstruktur der Scientology zurechtzufinden.“360 Um auf
dem Weg der Befreiung fortschreiten zu können, wird dem Neuling
unterbreitet,
355
sei
es
unerläßlich,
die
jeweiligen
Vorschriften
und
Elsässer, 28f.
Ibid., 34. Vgl. auch Stamm, Sekten. Im Bann von Sucht und Macht, 95. Stamm
thematisiert die von Sekten mißbrauchte Sehnsucht von Menschen nach einem
erfüllten Leben und einer heilen Welt. „Die Suche oder Sehnsucht nach höheren
Werten und einem erfüllten spirituellen oder religiösen Leben wird von Sekten und
totalitären Gruppen als potentes Mittel der Indoktrination mißbraucht.“
357
Es handelt sich hierbei um die Auditing-Stufen von Scientology.
358
Stamm begründet die allmähliche und behutsame Verabreichung der Heilslehre wie
folgt: „Würden sie schon in der Anfangsphase die gesamte Heilslehre, das
hierarchisch strukturierte Sektengebäude und die totale Einbindung der Mitglieder
erfahren, könnten sie mißtrauisch werden, und die Vision vom absoluten Heil würde
getrübt.“ (Stamm, Sekten, 79f.).
359
Die Sprachmanipulation der Sekten dient laut Hugo Stamm der Erweiterung der
Möglichkeiten der Indoktrination. (Vgl. Stamm, Sekten, 118).
360
Elsässer, 119f.
356
114
Anweisungen erfahrener Mitglieder genau zu befolgen. Zusammen mit
anderen Mitgliedern von Scientology nimmt Frau Elsässer an einem
sogenannten „Reinigungsprogramm“361 teil. Durch das Zusammensein mit
anderen Anhängern der Sekte soll die Identifizierung mit der Gruppe
gestärkt werden, und dabei können etwaige Zweifel besser ausfindig
gemacht und beseitigt werden. Durch körperlich und seelisch aufreibende
Aktionen sollen der Eigenwille und die Selbstbestimmung durch
Gehorsam und Fremdbestimmung ersetzt werden. Als eine dieser
Aktionen
erwähnt
Elsässer
einen
mehrere
Stunden
dauernden
Saunabesuch, an den sich eine zermürbende weitere Indoktrination in die
Sektenlehre anschließt. „Nach der Sauna dann noch im Kursraum zu
sitzen und an meinem Studierkurs zu arbeiten, empfand ich bereits nach
wenigen Tagen als absolute Qual. In der Regel hatte ich alle Mühe, mich
auf den Stoff zu konzentrieren. Ich war völlig kaputt und hätte mich am
liebsten sofort auf die nächstbeste Couch gelegt. Zumeist schlief ich
bereits in der U-Bahn zum Zug ein.“362
Die erschöpfenden Reaktionen werden von seiten der Sekte als normal
und als Signale einer positiven Veränderung hin zur geistigen Freiheit
gedeutet. Ebenso deutet eine Scientologin die Symptome von Jutta
Elsässer. „Meine Müdigkeit und Mattigkeit seien eine vollkommen normale
Reaktion meines Körpers auf das Ausscheiden giftiger Stoffe, beruhigte
sie mich.“363 Obwohl das Opfer den Sinn der weiteren Torturen nicht
einsieht, traut Elsässer sich nicht, sich gegen diese Torturen zur Wehr zu
setzen, denn der Wunsch nach Erreichen des Ziels der absoluten
geistigen Freiheit und der scheinbare Mangel an eigener Kompetenz
gegenüber den erfahrenen Sektenmitgliedern überwiegen.
„Vielleicht würden ja die »Objektiven Prozesse«, der nächste Schritt auf
der Brücke direkt nach dem Reinigungsprogramm, diese Unlust und das
nebelige Gefühl in meinem Kopf wieder zum Verschwinden bringen.“364
361
Zu den Einzelheiten des Reinigungsprogramms vgl. Potthoff, Norbert / Kemming,
Sabine, Scientology Schicksale. Eine Organisation wird zum sozialen Störfall.
Erfahrungsberichte, Bergisch Gladbach 1998, 313ff.
362
Elsässer, 128f.
363
Ibid.
364
Ibid., 132.
115
Nachdem ein weiterer Kurs absolviert ist und nachdem das Opfer seitens
der Sekte wieder eine emotionale Stärkung erfahren hat, erhält es das
Angebot, die Position einer „Kursüberwacherin“ innerhalb der Organisation
zu übernehmen, wofür eine spezielle Ausbildung vorgesehen ist. „Mir
wurde nahegelegt, vorerst in Teilzeit und später eventuell in Vollzeit, u. a.
als voll ausgebildete Auditorin, in der Mission Augsburg tätig zu sein.“365
Finanziert wird diese Einbindung in die Organisation und das Durchlaufen
der weiteren Kursstufen mit Hilfe von Krediten, die von Scientology selbst
vergeben werden. Durch diese Kredite wird das neue Mitglied an die
Sekte gebunden und in den finanziellen Ruin getrieben. Schließlich büßt
es im Lauf der Zeit jegliche Selbständigkeit im geistigen wie im materiellen
Sinn ein.366
Um die Schulden abtragen zu können, muß sich das Sektenmitglied in
Zukunft ausschließlich für die Belange der Organisation zur Verfügung
stellen, die fortan eine immense Kontrolle über die Persönlichkeit ausübt.
Die Sekte ist für das Opfer zu einer Art Gegenwelt geworden.367 In
Gegensatz dazu stehen die vielen Menschen, die die Heilslehre noch nicht
erkannt haben und die durch Mission der Sekte zugeführt werden müssen.
Durch das Ausschalten des eigenen kritischen Bewußtseins und durch die
Vermittlung eines neuen Welt- und Menschenbildes lebt das Mitglied in
einer Sonderwelt, die sie trotz unzähliger Repressalien und immenser
Forderungen der Sekte verteidigt. So werden Kontakte zu Verwandten
und Freunden, besonders wenn diese der neuen Gruppe gegenüber
Vorbehalte hegen, auf ein Minimum reduziert oder ganz abgebrochen. Auf
diese Weise wird eine Entfremdung von der angeblich feindlichen Umwelt
und damit eine Isolation des Sektenmitglieds bewirkt.368
Jutta Elsässer schreibt in diesem Zusammenhang: „In den letzten
Wochen hatte sich mein Verhältnis zu meinem Onkel vehement
verschlechtert. Je intensiver er sich bemüht hatte, mich den Klauen dieser
365
Elsässer, 133.
Margaret Thaler Singer und Janja Lalich geben eine Fülle von ergänzenden
Fallbeispielen für die durch Sekten verursachte Freiheits- und Eigentumsberaubung.
(Vgl. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 123-127).
367
Vgl. Stamm, Sekten, 22ff.
368
Ibid., 113.
366
116
Organisation zu entreißen, wie er sich ausdrückte, desto mehr kapselte
ich mich von ihm und seinen Argumenten ab und richtete mich darauf ein,
den Kontakt auf das Notwendigste zu beschränken.“369
Das ausschließliche Leben in und für die Gruppe mit ihren
dazugehörigen
Techniken
und
Beeinflussungsmethoden
dient
der
Festigung der erworbenen Sektenidentität.
1.2 Zusammenfassung
Anhand der fünf Phasen der Indoktrination, die Hugo Stamm
zusammengestellt hat, läßt sich der Weg von der Anwerbung bis hin zu
einer fertigen Sektenpersönlichkeit nachzeichnen. Wenn sich diese
Phasen
auch
überschneiden
und
nicht
immer
klar
voneinander
abzugrenzen sind, bieten sie doch eine Richtschnur, an der sich ablesen
läßt, auf welcher Indoktrinationsstufe sich eine Person gerade befindet. In
die Fänge einer Sekte geraten kann jeder. Zwar gibt es Situationen, die
Menschen für das Werben einer Sekte sehr anfällig werden lassen, jedoch
sind es nicht nur Zeiten psychischer Belastung, die hierbei eine Rolle
spielen.
Hans-Jürgen Twisselmann ließ sich durch die scheinbaren Argumente
für die Bibel und die Widerlegung seiner Zweifel dazu bewegen, sich
weiter mit den Schriften der WTG zu befassen. Er befand sich in keiner
ersichtlichen Lebenskrise, die eine Zuwendung zur Organisation der Z.J.
begünstigt hätte. Jedoch spielt die im Menschen grundgelegte Sehnsucht
nach Heil, Erfüllung, und nach einer Gemeinschaft, in der man sich
verstanden fühlt, wohl immer eine Rolle, egal ob zur Zeit eine
offensichtliche psychische Belastung vorliegt oder nicht.
Jutta
Elsässer
empfand
ein
Leere,
die
sie
trotz
ihres
Pädagogikstudiums und der Tätigkeit in einem sozialen Bereich nicht
ausfüllen konnte. Die wirkliche Bedeutung des Todes ihrer Mutter und die
psychischen Nachwirkungen dieser Erfahrungen, wurde ihr erst nach dem
369
Elsässer, 187.
117
von Scientology durchgeführten Persönlichkeitstest und dem Auditing
richtig bewußt.
Es können also auch verdeckte Konflikte vorhanden sein, die den
Betreffenden für die Heilsversprechen von Sekten empfänglich machen,
die von Sekten erkannt und geschickt zur psychischen Manipulation von
Menschen benutzt werden. Das Alter und der Bildungsstand einer Person
sind dabei nicht entscheidend. Der im Menschen verankerte Wunsch nach
einem erfüllten Leben und der von Sekten geschickt praktizierte
Gruppendruck sind so stark, daß selbst augenscheinliche Widersprüche
und negative Erfahrungen im Interesse der Gruppe interpretiert und von
den Betreffenden ignoriert werden.
Hat sich die Sektenidentität herausgebildet, so muß diese regelmäßig
durch Nahrung aus dem geistigen Repertoire der Gruppe gestärkt werden.
Durch
die
Entfremdung
von
der
bisherigen
Umwelt
und
den
ausschließlichen Einsatz für die Belange der Organisation bewegt sich ein
solcher Mensch in der Gedanken- und Vorstellungswelt der Sekte, der
sein Welt- und Menschenbild dem der Sekte angepaßt hat. Das
Sektenmitglied wird in ein straff organisiertes System eingegliedert und
hat fortan durch seine Arbeitsleistung für die Expansion der Gruppe, vor
allem durch das Werben neuer Anhänger, beizutragen.
2 Motive für einen Sektenausstieg
Durch die Entwicklung hin zu einer Sektenpersönlichkeit und dem
Hintersichlassen der Vergangenheit, kann das vorherige Leben samt
seinen Lebensvollzügen nicht vollständig ausgelöscht werden. Die
ehemalige Persönlichkeit wird lediglich überlagert. Sobald alte, vielleicht
auch positiv anmutende Geschehnisse und Beziehungen an die
Oberfläche dringen, müssen diese durch Indoktrination in Form von
Lektüre, körperlichen Anstrengungen und Verdrängungsmechanismen
zurückgedrängt werden. Zweifel an dem eingeschlagenen Weg kommen
vor allem dann auf, wenn die anfängliche Suggestion einer heilen
118
Sektenwelt der Realität nicht standhalten kann, denn die Manipulation der
Mitglieder wirkt sich auf deren Psyche aus. So kommt es nicht selten zu
Unzufriedenheit und Frustrationen.
Bei der Entscheidung für einen Ausstieg aus einem totalitären
Sektensystem
kommen
mehrere
Gründe
und
psychologische
Mechanismen zum tragen, die im folgenden durch Erfahrungsberichte von
Aussteigern dokumentiert werden sollen. Diese geben neben den
Ursachen und Motive für einen Ausstieg zugleich einen deutlichen Einblick
in die Realität des Sektenalltags mit den vielfältigen Anforderungen, die
ein Mitglied zu erfüllen hat.
2.1 Sektenausstieg bei den Zeugen Jehovas
2.1.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu
verlassen
2.1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann
Hans-Jürgen Twisselmann bemerkt zahlreiche Unstimmigkeiten und
Widersprüche im Lehrsystem sowie im Bereich der Lebenspraxis der
Zeugen Jehovas. Der Einsatz der Mitglieder für die Belange der
Wachtturm-Organisation stellt für diese eine enorme physische wie
psychische Belastung dar. Der Einsatz reicht von mehrmals wöchentlich
zu besuchenden Zusammenkünften in den Versammlungen, wobei eine
große Bandbreite von Literatur der Sekte erarbeitet werden muß, bis hin
zur Mitgliederwerbung in der Öffentlichkeit auf Marktplätzen und den
Dienst „von Haus zu Haus“. Wesentlicher Ansporn für den Einsatz im
Sinne der Organisation ist die Angst, das ewige Heil nicht zu erlangen.
Twisselmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Bei uns aber wird der
Dienst als das Mittel zur Erlangung der Seligkeit hingestellt: ‚Ohne
Felddienst keine Rettung’, heißt die Devise.“370 Das Heil muß verdient
werden, indem das Mitglied ein vorgegebenes Leistungspensum zu
370
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43.
119
erledigen hat, das von der Organisation, die als „Sprachrohr Jehovas“
fungiert, vorgegeben ist. Als sich Twisselmann näher mit dieser Lehre
beschäftigt, findet er heraus, daß es sich hierbei um eine biblisch nicht
begründbare Lehre handelt: „Der Unterschied zur Lehre der Schrift
besteht darin: für den biblischen Glauben ist Jesus und seine Erlösungstat
das Primäre. Unser Wirken, Dienen und Überwinden ist Frucht seines
Verdienstes, also sekundär. Für den ‚Wachtturm’ liegen die Dinge
umgekehrt: unser Wirken ist das Primäre, und als Folge wird das
‚Lösegeld Christi’ auf uns ‚angewandt’ – irgendwann nach bestandener
Schlußprüfung am Ende der Tausendjahr-Herrschaft Christi.“371 Diese
Beobachtung teilt er bald einem anderen Zeugen Jehovas mit, wodurch
sich ein reger Gedankenaustausch zwischen den beiden entwickelt, der
zu weiteren Entlarvungen von Unstimmigkeiten führt. Durch die Erkenntnis
im Bereich der Erlösungslehre kommen Twisselmann weitere Zweifel an
der Organisation, die er seinem Mitbruder mitteilt. „Gewiß, sie ist – wie in
so mancher Hinsicht – auch hierin weitergegangen, nicht geblieben in der
Lehre des Christus’ (2. Joh. 9).“372 Dies trifft vor allem für die sich
angemaßte Stellung der Sekte zu, denn trotz der Lehre der WachtturmGesellschaft, Jesus Christus sei Mittler zwischen Gott und Mensch, nimmt
die Organisation faktisch die Funktion eines „Sprachrohrs Gottes” ein, die
dessen Vorschriften und Befehle an die Gläubigen weitergibt.373
Twisselmann stellt seinem Mitbruder in diesem Zusammenhang die
Frage
nach
der
Rechtmäßigkeit
eines
solchen
Anspruchs.
Die
Organisation ersetzt die Bedeutung Jesu Christi als Mittler zwischen Gott
und Mensch: „Tritt nicht damit der antichristliche Charakter dieser ‚Kanal’Theorie deutlich zutage?“374 Durch zahlreiche Bibelstellen, in denen von
Jesus Christus als dem alleinigen Mittler des Vaters die Rede ist,
veranschaulicht Twisselmann seinem Mitbruder die Unrechtmäßigkeit des
371
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 45.
Ibid., 45f.
373
Die Wachtturm-Gesellschaft nimmt für sich den in einem Gleichnis Jesu
vorkommenden Titel „Treuer und verständiger Sklave“ in Anspruch, im Gegensatz
zum ungehorsamen Sklaven, mit dem alle nicht zur Wachtturm-Gesellschaft
zählenden weltlichen Institutionen gezählt werden, besonders auch die Kirchen. (Vgl.
Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 34f.).
374
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 47.
372
120
Anspruchs
der
Wachttum-Gesellschaft.
Die
Entdeckung
dieses
fundamentalen Irrtums der Sekte, veranlaßt ihn dazu, die Schriften der
Gesellschaft von nun an nur noch äußerst kritisch zu betrachten. Er
entdeckt dabei eine Reihe bewußt publizierter Verurteilungen und
Verleumdungen andersdenkender Menschen. In einer Ausgabe des
Wachtturm heißt es: „Schaudert es dich nicht vor der Vernichtung, welche
diese alle (Korah und Genossen) ereilte? So wisse, daß jene, die sich
wider Jehovas theokratische Anordnungen und Anweisungen (gemeint ist
die Wachtturm-Gesellschaft) auflehnten, dem Beispiel Korahs, des
Rebellen, folgen und ebenso bestimmt umkommen werden wie er und
seine Schar. Wehe Ihnen!“375
Diese Verurteilung Andersdenkender fällt, so Twisselmann, auf die
WTG selbst zurück. Sein Mitbruder versucht sich den anklagenden
Äußerungen Twisselmanns zu entziehen und die Organisation in Schutz
zu nehmen, indem er die Kritik Twisselmanns als ein „Richten“ über die
Organisation darstellt. Jedoch läßt dieser sich nicht zurückhalten und führt
weiter aus: „Mein lieber Bruder Braun, erwidere ich ihm, das brauchen wir
gar nicht einmal; denn dieses System richtet sich ja selbst mit seinem
üblen Richtgeist.“376
Twisselmann macht sich an diesem Punkt offenbar schon über einen
Ausstieg aus der Sekte Gedanken, wenn er im Zusammenhang mit dem
Richtgeist der Gruppe erwähnt: „Wenn du und ich früher oder später
dieser Gesellschaft endgültig den Rücken kehren werden, wird man uns
wie Tausenden vor uns das Urteil der ‚ewigen Vernichtung’ sprechen.“377
Nachdem er die Methoden der Sekte durchschaut hat, erkennt er auch die
Mitgliederwerbung als reinen Selbstzweck der Organisation. Dabei stellt er
fest, daß vor betrügerischen Vorgehensweisen nicht zurückgeschreckt
wird. „Die Andersdenkenden in der ‚Welt’ und in den christlichen Kreisen
will sie ja noch locken. Da kommt sie statt mit der Peitsche auch bisweilen
mit Zuckerbrot. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß sie für die,
375
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 48.
Ibid.,49.
377
Ibid.
376
121
die sich ihr nicht unterwerfen, und ihre unbiblischen Lehren ablehnen, nur
die ewige Vernichtung kennt.“378
Weitere Kritikpunkte sind für Twisselmann die Endzeitberechnungen,
die sich im Lauf der Zeit als unzutreffend erwiesen haben. Seine
Erkenntnisse in diesem Zusammenhang faßt er so zusammen: „Die
meisten Irrtümer der Gesellschaft sind mittelbar oder unmittelbar auf der
Grundlage der 1914-Theorie aufgebaut. Mit ihr stehen und fallen sie.“379
Diese fehlerhaften Berechnungen bringen bei Twisselmann schließlich
das gesamte Lehrgebäude der WTG zum Einsturz. Er ist nicht mehr
bereit, sich nach Lehren und Anweisungen zu richten, die jeglicher
vernünftigen Grundlage entbehren.
„Nun glaube ich auch nicht mehr an das ganze Endzeit-Lehrgebäude,
das die Wachtturm-Gesellschaft auf ihrer These vom Kommen Christi im
Jahre 1914 aufgebaut hat.“380 Im weiteren Gesprächsverlauf mit seinem
Mitbruder Braun charakterisiert er die WTG als totalitäres System, das
durch eine willkürliche Bibelauslegung Legitimation und Herrschaft über
Menschen beansprucht. „Die Wachtturm-Gesellschaft hat alles getan, ihre
‚Theokratie’ so herzurichten, daß sie dem Bild der Zeugen Jehovas von
der wahren Gottesherrschaft möglichst genau entspricht.“381 Diese
Gottesherrschaft zeichnet sich durch entsprechende Merkmale aus. Wo
ein König regiert, muß es auch Fürsten geben.
378
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 49.
Ibid., 53. Für das Jahr 1914 wurde das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi
vorausgesagt. Das Jahr 1914 kam dabei durch eine komplizierte und willkürliche
Vermischung verschiedener biblischer Daten zustande. Die Wachtturm-Gesellschaft
rechnet folgendermaßen: Nach dem Alten Testament hat König Nebukadnezar sieben
Zeiten des Wahnsinns durchlebt. Diese sieben Zeiten entsprechen sieben Jahren.
Sieben Jahre umfassen biblisch gesehen 84 Monate bzw. 2.520 Tage, weil jeder
Monat auf 30 Tage festgesetzt ist. Ebenso werden in der Offenbarung des Johannes
(Offb 12, 6. 14) 1.260 Tage als dreieinhalb Zeiten bezeichnet. Folglich ist eine Zeit als
ein Jahr zu definieren. Die Zerstörung Jerusalems wurde fälschlicherweise auf 606 v.
Chr. datiert. Ausgehend von diesem Datum setzte die Wachtturmgesellschaft die
Wiederkunft Christi für das Jahr 1914 fest. Diese Hypothese ist aber aus zwei
Gründen nicht haltbar: Zum einen fand die Zerstörung Jerusalems bereits 586 v. Chr.
statt. Zum anderen ergibt sich eine Differenz von etwa 36 Jahren, denn die
Wachtturm-Gesellschaft definierte 360 Tage, nicht wie nach heutiger Zeitrechnung
365 Tage, als ein Jahr. (Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu
Christi, 58f.). Als sich die Voraussagen für das Jahr 1914 nicht erfüllten, wurde
behauptet, Jesus sei unsichtbar auf der Erde erschienen. Auf diese Weise versuchte
man den Irrtum zu vertuschen.
380
Ibid., 55.
381
Ibid., 68.
379
122
Solide Fürsten im Sinne der WTG sind die „theokratischen Männer“382
im Leitungsgremium der Gesellschaft. Diesen Oberen ist absoluter
Gehorsam entgegenzubringen. Der angeblich durch göttlichen Ratschluß
eingesetzte Präsident, sowie seine Mitarbeiter im Führungsstab der
Organisation, verlieren in den Augen Twisselmanns immer mehr an
Ansehen, besonders als er erkennt, wie die Entwicklung hin zu einem
totalitären System verlaufen ist. Ein Mittel dazu war die Abschaffung aller
demokratischen Spielregeln. Er bemerkt in diesem Zusammenhang:
„Darum
schaffte
man
in
der
‚theokratischen
Organisation’
alle
parlamentarisch-demokratischen Spielregeln ab. Hat man bis in die
zwanziger Jahre hinein die ‚Ältesten’ noch gewählt, so gilt heute das
Prinzip der ‚theokratischen Einsetzungen’.“383
Die den Anhängern vorgegaukelte Einheit und durch göttlichen Willen
erfolgte Einsetzung der Führung sieht Twisselmann als unzutreffend an.
Er begründet dies durch die Feststellung, daß man fast ein Jahr
verhandeln mußte, um einen Nachfolger zu finden. Twisselmann schreibt
hierzu: „Daß fast ein ganzes Jahr lang über die ‚Reorganisation’
verhandelt werden mußte, bis ein Konsens erreicht wurde, und alle
Glieder der ‚leitenden Körperschaft’ zustimmten, könnte als Indiz dafür
gewertet werden, daß – bei aller Demonstration von Einheit und
Geschlossenheit nach außen hin – hinter den Kulissen in Brooklyn
widerstreitende Parteien kräftig miteinander ringen.“384
Auf
diese
Weise
erkennt
Twisselmann
den
von
der
WTG
vorgenommenen Betrug an den Gläubigen. Dies führt zu seinem
Entschluß, eine solche Situation nicht länger hinzunehmen und die
Organisation zu verlassen.
382
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 69.
Ibid.
384
Ibid., 71f.
383
123
2.1.1.2 Gerd Wunderlich
Bei Gerd Wunderlich und seiner Frau verläuft die Entwicklung ein wenig
anders. Wunderlich wird erst durch einen Mitbruder bei den Zeugen
Jehovas auf zahlreiche Mißstände und Unstimmigkeiten innerhalb der
Organisation aufmerksam gemacht. Seine erste Reaktion und auch die
seiner Frau ist ein Ignorieren der Kritik des Mitbruders, da dessen Kritik an
der Gesellschaft Gottes Anordnungen in Frage stellt, die nach der
Überzeugung der Zeugen Jehovas Gott durch seine Organisation den
Menschen kundtut. Die Kritik Wunderlichs richtet sich vor allem gegen das
schlechte Vorbild im Bereich des menschlichen Miteinanders. Die
enormen Leistungsanforderungen und der ständige Leistungsdruck führen
bei zahlreichen Gläubigen zu ernsthaften gesundheitlichen Störungen.385
Die kritischen Äußerungen des Mitbruders veranlassen Wunderlich dazu,
das Gebaren der Organisation aufmerksamer als bisher zu beobachten.
Er macht in diesem Zusammenhang einige Entdeckungen, die er nicht
weiter verdrängen kann. Im selben Wohnhaus leben zwei Zeuginnen, die
einen Dienst als sogenannte „Sonderpioniere“ versehen. Trotz ihrer
angeschlagenen Gesundheit sind sie unermüdlich im Einsatz für die
Wachtturm-Organisation. „Nun gehen die doch in den Felddienst, obwohl
sie so sehr erkältet sind, daß sie kaum noch aus den Augen sehen
können.“386
Anfangs meint Wunderlich, die beiden Mitschwestern seien übereifrig
oder gar fanatisch, wenn er bemerkt: „Also die beiden Pionier-Schwestern
sind wirklich fanatisch.“387 Doch bald erkennt er die wahren Gründe dieses
Übereifers. Der Dienst der beiden Frauen wird von der WachtturmGesellschaft finanziell vergütet, im Krankheitsfall wird aber jegliche
Bezahlung eingestellt. Aufgrund des kargen Lohns für diese belastende
385
Die hohen Anforderungen und der immense Leistungsdruck läßt die WachtturmOrganisation als „Leistungsgesellschaft in der Leistungsgesellschaft“ erscheinen. Vgl.
Borchers-Schreiber, Gerd, Vermehrtes Auftreten psychischer Erkrankungen unter
Jehovas Zeugen, in: Brücke zum Menschen, Heft 107/108 (1991), 4f.
386
Wunderlich, Gerd, Jehovas Zeugen. Die Paradies-Verkäufer. Erfahrungen auf einem
4
Irrweg, München 1994 , 65.
387
Ibid.
124
Arbeit bleibt ihnen keine andere Wahl, als trotz ihrer Krankheit Dienst zu
tun, um finanziell nicht in Bedrängnis zu geraten. Diese Beobachtung führt
Wunderlich zu einer weiteren Erkenntnis. „Jetzt verstand ich auch, warum
sehr viele Pioniere aus gesundheitlichen Gründen ihren ‚beglückenden’
Dienst aufgeben mußten. Wahrlich, die ‚Früchte’ der Nächstenliebe stehen
bei dieser Organisation nur auf dem Papier.“388
Diese rücksichtslose Ausbeutung der Mitglieder durch die WTG stellt
Wunderlich noch mehrere Male fest, bis ihm selbst auf einem der
Kongresse der Widerspruch zwischen den ethischen Forderungen und der
Praxis der Organisation endgültig deutlich wird. Seine anfänglichen an den
Kongreß geknüpften Erwartungen beschreibt er so: „Trotz Hitze und harter
Arbeit waren wir in guter Stimmung und freuten uns, daß wir an diesem
großen Werk für Jehova Gott teilhaben konnten, zumal wir im Herbst den
Beginn des neuen Systems erwarteten.“389 Doch ein unerfreulicher
Zwischenfall trübt die erfreulichen Erwartungen Wunderlichs. Während er
nach Abschluß der körperlich äußerst anstrengenden Aufbauarbeiten für
den Kongreß eine kostenlose Mahlzeit erhält, muß ein anderer Zeuge, der
ebenfalls hart gearbeitet hat, seine Mahlzeit selbst bezahlen. Als
Wunderlich zu intervenieren versucht, wird er mit der Bemerkung
zurückgewiesen, man verhalte sich so, weil die WTG nicht allen ein
kostenloses Essen geben wolle. Seinen Ärger über eine solche
Vorgehensweise drückt er wie folgt aus:
„Dieser Vorfall gab mir zu denken. Es ging mir nicht um die 3,50 DM für
das Essen, sondern um die Einstellung der Wachtturm-Funktionäre zu
ihren Gläubigen. So viel Mißtrauen den eigenen Brüdern gegenüber hatte
ich nicht erwartet. Man traute ihnen ohne weiteres zu, sich ein
Abendessen zu erschleichen.“390
Diese entlarvende Einstellung der Verantwortlichen kann Wunderlich
von nun an immer öfter zu wahrnehmen. Besonders kritische Anfragen an
388
Wunderlich, 65.
Ibid. Der Beginn des neuen Systems ist das Ende der Welt, das durch die Vernichtung
der nicht zu den Zeugen Jehovas gehörenden Menschen charakterisiert ist. Für die
treuen Zeugen soll Gott ein neues Paradies auf Erden schaffen, in dem für immer
Frieden herrschen wird.
390
Ibid., 67.
389
125
die Praxis der Organisation rufen Reaktionen der Führung hervor, die
Wunderlich zum Teil schockieren. Als ein Mitbruder, Rudolf genannt, in
einem Vortrag die wiederholte Übertretung des Sabbatgebotes durch
Jesus erwähnt, muß er von den Oberen der Versammlung heftige Kritik
und öffentliche Anfeindungen hinnehmen. Am Ende seiner Ausführungen
stellte dieser Mitbruder schließlich den von der Organisation geforderten
Kadavergehorsam in Frage.
„Besonders das Wort ‚Kadavergehorsam’ hatte die Aufseher tief
getroffen. Zu dritt wollten sie Rudolf zum Widerruf seiner Ansichten
bewegen. Da er ihre Argumente gänzlich widerlegte und sie nichts in
ihrem Sinne erreichen konnten, versuchten sie ihn kaltzustellen.“391
Bedingt durch das freundschaftliche Verhältnis zu Rudolf sind
Wunderlich und seine Frau sehr betroffen, und weiteres Mißtrauen
gegenüber der Leitung der Versammlung stellt sich ein. Dieses Mißtrauen
steigert sich, als Rudolf dem Ehepaar Wunderlich unter anderem mitteilt,
die Wachtturm-Gesellschaft sei eine Geschäftsfirma, die selbst vor
dubiosen Praktiken nicht zurückschrecke. Diese Vorwürfe belegt Rudolf
durch eindeutige Beweise. Die von Rudolf vorgebrachten Kritikpunkte
gegenüber der WTG faßt Wunderlich in fünf Fragen zusammen392 :
•
„Ist die WTG eine Geschäftsfirma (Inc.)?
•
Warum werden in der WT-Literatur gewisse Zitate gegen ihren Sinn
gekürzt (gefälscht)?
•
Sind die ‚Endzeitlehren’ der WTG biblisch begründet?
•
Ist die Erklärung zur Wehrdienstfrage der Schweizer Zweigbüros der
WTG eine Fälschung?
•
Ist der ‚treue und verständige Sklave’ als ‚Kanal Gottes’ unfehlbar?
•
Sind Jehovas Zeugen wirklich wahrheitsliebend und aufrichtig?“
Wunderlich bekommt angesichts der Ausführungen seines Freundes
immer größere Zweifel an der Aufrichtigkeit der WTG, und die
391
Wunderlich, 68. Die Ältesten drohten Rudolf, ihm alle Aufgaben im Bereich der
Versammlung zu entziehen.
392
Ibid., 70.
126
Feststellung, daß die WTG eine Geschäftsfirma sei, wirkte auf ihn und
seine Frau wie ein Schock.393
Dank der Argumente Rudolfs durchschaut Wunderlich auch zahlreiche
Praktiken der Organisation, worüber er bemerkt: „Jetzt verstand ich auch,
warum der Wachtturm-Verlag so viele Bücher herstellt, die wir in den
Versammlungen im Eiltempo ‚studieren’ mußten. Mir ging auf, daß die
WTG zu den größten Verlagsunternehmen der Welt gehört und durch
extrem günstige Herstellungs- und Vertriebsbedingungen, selbst bei den
relativ niedrigen Verkaufspreisen, noch erhebliche Gewinne erzielen
muß.“394 Wunderlich zieht jedoch noch nicht einen Ausstieg als
Konsequenz in Erwägung, da er noch viel zu sehr im System der
Organisation verwurzelt ist. Statt dessen wird er sogar befördert und zum
„Dienstamtsgehilfen“ ernannt. Doch wirken die einmal erfahrenen Zweifel
und Enttäuschungen weiter nach.
Als seine kritische Einstellung gegenüber der WTG bekannt wird395 ,
interveniert die Versammlungsleitung. Sie will jeglicher Kritik und
Diskussion über die Unstimmigkeiten entgegenwirken. „Doch die Ältesten
unserer Versammlung, die inzwischen von der Pionierschwester Maria H.
und deren Freundin Emmy H. informiert worden waren, waren anderer
Meinung.
Aufgeschreckt
durch
diese
‚gefährlichen’
Informationen,
beschlossen sie deren Verbreitung im Keim zu ersticken.“396 Die Ältesten
statten Wunderlich und seiner Frau einen Besuch ab und unterziehen sie
einem Verhör, durch das sie deren Überzeugungen in Bezug auf die WTG
und ihre Beziehung zum Mitbruder Rudolf klären wollen. Doch es gelingt
ihnen nicht, sie für ihre Position zu gewinnen, im Gegenteil, die
Ausführungen der Ältesten verstärken die bereits vorhandenen Zweifel
Wunderlichs und seiner Frau an der Organisation. „Hatten schon ihre
schwachen
393
Argumente
und
ihr
ausweichendes
Taktieren
unsere
Vgl. Wunderlich, 71.
Ibid., 72.
395
Zwei Zeuginnen informieren die Oberen der Versammlung über die engen Kontakte
Wunderlichs zu dem kritisch eingestellten Mitbruder Rudolf.
396
Wunderlich, 75.
394
127
Bedenken nicht beseitigen können, so wurde unser Mißtrauen erst recht
durch diese weiteren Erkenntnisse bestärkt.“397
Als die Ältesten keinerlei Erfolg verzeichnen können, informieren diese
den Kreisaufseher, der das Ehepaar Wunderlich bald darauf ebenfalls
besucht.
Der
Kreisaufseher
drängt
sie zum
Eingeständnis
ihres
angeblichen Irrtums und verläßt die Wohnung nach dem Mißlingen seiner
Bemühungen
ohne
Verabschiedung.
Nach
wenigen
Tagen
wird
Wunderlichs eine Anklageschrift zugesandt, und sie werden zu einem
Verhör vor dem Rechtskomitee vorgeladen. Als die Ältesten die
Stichhaltigkeit der Dokumente Wunderlichs398 und dessen Überlegenheit
anerkennen müssen, wird Gerd Wunderlich aus der Versammlung
ausgeschlossen. Als er dem Rechtskomitee vorwirft, es hätte für den
vollzogenen Ausschluß keinerlei rechtskräftige Argumente vorzuweisen
und das Verfahren habe ihm und seiner Frau keinerlei positive Ergebnisse
gebracht, wird ihm von einem der Ältesten erwidert, dies sei gar nicht die
Absicht
der
Ältesten
gewesen.
Wunderlich
bemerkt
in
diesem
Zusammenhang: „Ich bin ihm heute noch dankbar, daß er durch diese
Bloßstellung seiner wahren Beweggründe meiner Frau die letzten Zweifel
nahm, die WTG könnte doch die ‚Organisation Gottes’ sein.“399
Nachdem
Wunderlichs
„das
wahre
Gesicht“
der
Organisation
kennengelernt haben, ist eine Trennung von dieser unausweichlich.
Das Entsetzen seiner Frau in Bezug auf das Vorgehen der WTG
beschreibt Wunderlich wie folgt: „Später sagte sie zu mir, wenn sie nicht
397
Wunderlich, 86. Die Ältesten wenden betrügerische Methoden an, um die Eheleute
Wunderlich von der Wahrhaftigkeit der Organisation zu überzeugen. Sie verwenden
beispielsweise Zitate namhafter Wissenschaftler, die die Lehren der WTG scheinbar
bestätigen. Doch diese Wissenschaftler werden nur in Auszügen zitiert, die sich in das
Konzept der Organisation passen. Oder aber wissenschaftliche Erkenntnisse werden
vollkommen ignoriert. Wunderlich führt hierzu folgende Begebenheit an: „Schwester
Ria F. und meine Frau unterhielten sich einmal über die Entstehung von Kohle und
Erdöl. Meine Frau erzählte ihr von den großen Zeiträumen, die dazu nötig waren.
Heutzutage kann die Wissenschaft diese Zeitspanne ziemlich genau bestimmen und
steht damit im Gegensatz zur Lehre der WT-Gesellschaft. Denn nach ihren Angaben
kann pflanzliches Leben nicht älter sein als 48.000 Jahre.“ Die Gesprächspartnerin
von Frau Wunderlich meinte, die Wissenschaft müsse sich in diesem Fall eben
korrigieren. (Vgl. Wunderlich, 83f.).
398
Er hat dem Rechtskomitee unter anderem zahlreiche Schriften der WTG vorgelegt, in
denen Positionen vertreten werden, die inzwischen längst revidiert worden sind. Damit
beweist er Relativität und Interpretationsbedürftigkeit der WTG-Publikationen und stellt
die Unfehlbarkeit der theokratischen Organisation in Frage.
399
Wunderlich, 141.
128
selbst an dieser Verhandlung vor dem ‚Rechts’- Komitee der Zeugen
Jehovas teilgenommen hätte, so hätte sie das niemals geglaubt.“400
2.1.1.3 Monika Deppe
Monika Deppe wird bei einem ihrer zahlreichen Hausbesuche von Tür
zu Tür von einem Mann auf Unkorrektheiten in der Bibelübersetzung der
Zeugen Jehovas aufmerksam gemacht. Diese Begegnung schildert sie
folgendermaßen: „Nachdem wir den Grund unseres Kommens erklärt und
ihm eine Zeitschrift angeboten hatten, antwortete er uns: ‚Wissen Sie
eigentlich, daß ihre Bibel nicht richtig übersetzt ist? Sie haben den Namen
‚Jehova’ ins Neue Testament übernommen, obwohl er in den griechischen
Urschriften nicht genannt wird. In ihnen ist nur der Name ‚Kyrios’ zu
finden, während ‚Jehova’ nur im Alten Testament steht’.“401 Frau Deppes
Begleitperson entgegnet darauf, die Lutherbibel des Mannes sei nicht
exakt übersetzt.402
Doch Monika Deppe weiß den Argumentes des Mannes nichts
entgegenzusetzen, während ihre Mitschwester unbeeindruckt bleibt und
ihre
Argumente wie
403
nachdenklich.
gewohnt abspult. Frau Deppe wird
jedoch
Bei der Durchsicht der WTG-Literatur entdeckt sie bald
darauf einen Text, der die Behauptung des Mannes bei ihrem Hausbesuch
bestätigt.
Sie wendet sich mit ihren Zweifeln über die Korrektheit dieser
Behauptung an den Vorstand der Versammlung. Dieser weist ihre
Bedenken als unzutreffend zurück. Als sie einem der Ältesten von dem
Vorfall an der Haustür berichtet und die entsprechende Publikation der
WTG
vorlegt,
404
abgewiesen.
400
die
dessen
Aussage
bestätigt,
wird
sie
schroff
Durch diese Begebenheit verunsichert, berichtet sie ihrem
Wunderlich, 141.
Deppe, Monika, Die Zeugen Jehovas. Auch ich habe ihnen geglaubt. Sanfter Einstieg,
harter Ausstieg. Ein Lebensbericht, Gießen / Basel 1996, 49.
402
Ibid.
403
Ibid.
404
Ibid., 51.
401
129
Mann von den Ungereimtheiten in der Organisation. Da in den Schriften
der Zeugen Jehovas darauf hingewiesen wird, sich im Zweifelsfall an die
zuständige deutsche Zentrale der Gesellschaft in Selters zu wenden, bittet
Herr Deppe die zuständige Zentrale um eine schriftliche Stellungnahme.
Über die Antwort aus dem Büro in Selters ist das Ehepaar allerdings sehr
enttäuscht. „Als wir nach einigen Wochen das Antwortschreiben in den
Händen hielten, konnten wir es kaum fassen, was wir dort lasen. Mit
keiner Silbe wurde auf die Ausführungen der Broschüre eingegangen,
sondern man verwies uns auf mehrere ältere Wachtturmartikel, die alle
besagten, daß der Name Gottes zu Recht in den griechischen Schriften
stand.“405 Diese Erfahrung läßt das Mißtrauen gegenüber der WTG
wachsen. „Der Stachel des Zweifels setzte sich tief in uns fest und sollte
uns von nun an nie wieder verlassen.“406
Das Ehepaar Deppe nimmt zwar weiterhin an den Veranstaltungen der
Organisation teil, allerdings leidet es auch zunehmend an der Eintönigkeit
des WTG-Programms. Herr Deppe bemerkt diese Eintönigkeit des öfteren,
was seine Frau mit den Worten kommentiert: „Ich verstand ihn gut, auch
ich konnte diese ‚Schwarzweißmalerei’ manchmal nicht mehr ertragen.“407
Die definitive „Verteufelung“ der Welt außerhalb der Organisation
können Deppes nicht mehr gutheißen. Die Erfahrungen mit den
Verantwortlichen, die nicht auf ihre Sorgen eingegangen sind, bewirken
bei ihnen eine größere Sensibilität in bezug auf die Herabsetzung und
Diskriminierung anderer. Die Diffamierung anderer, besonders der
Christen in den Kirchen, nimmt in den Publikationen der WTG einen
großen Raum ein. Monika Deppe meint hierzu: „Zu dem Zeitpunkt waren
auch wir noch davon überzeugt, daß alle Kirchenchristen einen falschen
Glauben hatten und die Gebote Gottes nicht so ernst nahmen wie wir.
Aber deshalb hatten wir doch nicht das Recht, sie so zu diskriminieren,
wie es auf diesem Bild geschah.“408
405
Deppe, 52.
Ibid., 53.
407
Ibid.
408
Ibid., 54f.
406
130
Ein weiterer Sachverhalt, der Monika Deppe stört, sind die zahlreichen
Verordnungen und Kontrollen, durch welche versucht wird, das Verhalten
der Gläubigen zu lenken. „Wir störten uns daran, daß versucht wurde,
durch unzählige Verordnungen das Verhalten der Mitglieder, selbst in
deren ganz persönlichen Lebensbereichen, zu beeinflussen.“409 Als
Beispiel wird eine Verordnung angeführt, die den männlichen Gläubigen
das Tragen eines Bartes untersagt. Als Herr Deppe seinen Bart jedoch
nicht entfernt, hat dies Konsequenzen, die Frau Deppe so wiedergibt: „Bei
den Wachtturmstudien war es üblich, daß ein Bruder vorn auf der Bühne
saß und von dort die einzelnen Abschnitte des Studienartikels vorlas. Ab
sofort wurde dieses ‚Vorrecht’ für meinen Mann gestrichen. Auch eine
kurze Bibelauslegung, die während der Dienstzusammenkunft immer
abgehalten wurde, durfte er als Bartträger nicht mehr halten.“410
Die Einhaltung des von der Organisation vorgegebenen Moralkodex
wird genauestens überwacht. Durch die zahlreichen Reglementierungen
und das Verbot jeglicher Kritik entfernen sich Frau Deppe und ihr Mann
immer weiter von der Gesellschaft der Zeugen Jehovas. „Wieso durften
wir keine Kritik äußern? Warum wurden unser persönliches Gewissen und
unsere eigene Meinung bei allen Anordnungen völlig übergangen?“411 Ein
Unterdrücken und Ignorieren der persönlichen Überzeugungen ist
schließlich nicht mehr möglich.
Das Ehepaar muß seinem seelischen Befinden Ausdruck verleihen.
Dieser Drang nach Klärung der eigenen Position und des zugefügten
Unrechts wird durch weitere zu beobachtende Unstimmigkeiten genährt.
„Es verging kaum noch eine Woche, in der wir nicht über neue
Ungereimtheiten stolperten.“412
Auch als die Ältesten der Versammlung ihnen raten, lediglich Literatur
der Organisation zu konsultieren, bleibt dies wirkungslos. Monika Deppe
kommentiert die Unsinnigkeit dieses Ratschlags wie folgt: „Wie konnten
wir uns führen lassen von Schriftaussagen, die unser gesunder
409
Deppe, 56.
Ibid., 59.
411
Ibid., 63.
412
Ibid., 64.
410
131
Menschenverstand anzweifelte? Wir konnten doch unseren eigenen Geist
nicht vergewaltigen.“413 Hier stoßen wir auf den Kern der Entfremdung, die
zum späteren Bruch mit den Zeugen Jehovas führt.
Das Studium organisationsexterner Literatur verhilft dem kritischen
Bewußtsein des Ehepaars Deppe zum endgültigen Durchbruch. Die
Sektenidentität gerät zunehmend ins Wanken. Nach und nach erkennen
sie das Lehrgebäude der WTG als Irrlehre und Betrug an den Gläubigen.
Ihre Angst vor den Konsequenzen läßt sie jedoch weiterhin in der
Organisation verbleiben. Die Indoktrination, durch welche die Angst vor
einer möglichen „Strafe Jehovas“ geschürt wurde, hat sich tief in der
Persönlichkeitsstruktur verankert. Deppes haben Angst davor, bei einem
Ausstieg aus der Organisation Gott untreu zu werden, so daß Monika
Deppe sagen kann: „Wenn die Zeugen Jehovas tatsächlich den richtigen
Glauben hatten, dann würden wir in Harmagedon von Gott erschlagen
werden, wenn wir uns von ihnen trennen würden. Dieses Risiko wollten
wir auf keinen Fall eingehen.“414
Ein weiterer Grund des Zögerns beruht auf der Tatsache, daß die
Versammlung der Ort ist, an dem ihre Bezugspersonen zu finden sind.
Sind diese nicht mehr vorhanden, sehen sie keine Möglichkeit mehr, sich
über ihren Glauben und ihr Leben auszutauschen. Die Suche nach einem
Ausweg stellt eine enorme psychische Belastung dar. In dieser
bedrängenden Situation rufen Deppes Gott um Hilfe an. Diese Gebete
geben ihnen die Kraft endgültig mit der Sekte zu brechen.
413
414
Deppe, 65.
Ibid., 72.
132
2.1.1.4 Barbara Waß
Auch für das Ehepaar Waß stellt das Leben als Zeugen Jehovas eine
große Belastung dar. Hierüber schreibt Frau Waß: „Es bedeutete, daß wir
im Lauf der Zeit unser ganzes zukünftiges Leben mehr und mehr darauf
einstellten, daß wir das Königreich an die erste Stelle setzten und alles
andere danach ausrichteten.“415
Seit
der
Geburt
des zweiten
Kindes wachsen
die
familiären
Herausforderungen, so daß Frau Waß die mehrmals wöchentlich
stattfindenden Zusammenkünfte nicht mehr regelmäßig besuchen kann.
Doch es besteht eine Anwesenheitspflicht, von welcher eine Dispens nicht
möglich ist. Es gibt keine Ausnahmeregelungen für überlastete Mütter mit
Kindern. Diese Überbeanspruchung schädigt schnell die Gesundheit von
Frau Waß. „Schon damals begann es, daß ich immer, wenn ich in den
Dienst zu gehen hatte, Kopfschmerzen bekam.“416 Doch sie findet diese
Schmerzen zunächst nicht als beunruhigend. In der Zeit vor 1975 wird viel
Einsatz für die Belange der Organisation gefordert, da das Ende der Welt
und die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstehen sollen. Dies führt bei
einigen Gläubigen aber auch zu bequemen Verhaltensweisen, doch diese
werden durch saloppe Redensarten geschickt entschuldigt. „Es hieß
immer, wo Menschen sind, da »menschelt« es eben. Das würde aber
nichts an der ‚Wahrheit‘ ändern. In der Bibel hieße es ja, daß es in der Zeit
des Endes schwer sein würde.“417
Herr Waß wird bald zum Dienstamtsgehilfen und kurz darauf zum
Ältesten ernannt, was für ihn erhebliche Mehrarbeit bedeutet. „Das
bedeutete, daß er nun neben allem anderen auch Ansprachen und
Vorträge auszuarbeiten und vorzubereiten hatte.“418 Nach der Geburt des
dritten Kindes gestaltet sich die Situation immer schwieriger. Die drei
Kinder werden unter großen Opfern mit zu den Veranstaltungen
genommen, wobei das Ehepaar lange und schwer zu bewältigende
415
Waß, Barbara, Leben in der Wahrheit? Zwölf Jahre Zeugin Jehovas, Salzburg 1989,
125.
416
Ibid., 134.
417
Ibid., 140.
418
Ibid., 141.
133
Anfahrtswege zu den Versammlungen auf sich nehmen muß. „Im Winter
passierte es uns, daß wir auch noch Schneeketten anlegen mußten und
oft gerade noch zurechtkamen. Es konnte auch passieren, daß man gar
nicht ganz bis ans Ziel fahren konnte.“419 Alle diese Mühen nehmen Herr
und Frau Waß für Jehova in Kauf.
Doch eines Tages tritt eine entscheidende Veränderung in ihrem Leben
ein. Bei ihrem Dienst von Haus zu Haus macht Barbara Waß die
Bekanntschaft einer Frau, die sie als Frau I. bezeichnet. Zwischen den
beiden Frauen entwickelt sich im Lauf der Zeit ein freundschaftliches
Verhältnis. Frau I. hat einen schwerbehinderten Sohn, der aufgrund einer
Krankheit in die Intensivstation eines Krankenhauses eingeliefert werden
muß. Dieser Mutter des kranken und schwerbehinderten Kindes leistet
Barbara Waß seelischen Beistand. Entgegen dem Verbot der WTG,
Freundschaften mit Ungläubigen zu schließen, ist sie für Frau I. verfügbar,
ohne ihre Situation für Bekehrungsversuche im Sinne der WTG zu nutzen.
Der Anblick des kranken, durch eine Glasscheibe abgeschirmten Kindes
im Krankenhaus löst bei ihr eine entscheidende Reaktion aus, die sie
selbst so wiedergibt: „Diese Wand [die Glasscheibe als Symbol einer
inneren Wand] hatte ich bei Frau I. zerbrochen. Ich hatte sie zu diesem
Zeitpunkt überhaupt zerbrochen. Das gab mir die Möglichkeit, wieder über
all die im Laufe der Jahre aufgebauten Schranken hinauszugehen.“420
Frau Waß wird bewußt, daß ein Zitieren von Wachtturm- und
Bibelzitaten nicht die persönliche Zuwendung ersetzen kann, die Frau I. so
dringend benötigt. Bald darauf berichtet ihr Mann von merkwürdigen
Ereignissen innerhalb seiner Tätigkeit als Ältester der Versammlung,
wodurch er in einen inneren Konflikt gerät. „Er mußte die Brüder von der
Bühne her zu Tätigkeiten ermuntern, wenn nicht gar antreiben, die er
selber nicht für richtig hielt.“421 Dieser innere Widerspruch veranlaßt ihn,
Kontakt zu einem anderen Zeugen Jehovas aufzunehmen, der zu einem
regen Austausch führt, bei dem Unzufriedenheit und Enttäuschung über
die WTG zur Sprache gebracht werden. Barbara Waß schreibt hierzu: „In
419
Waß, 143.
Ibid., 198.
421
Ibid., 202.
420
134
der Folge wurde zwischen uns Freunden öfters über manche Dinge
gesprochen, die uns zu denken gaben.“422
Bei den Missionseinsätzen müssen die beiden Zeitschriften der Sekte,
nämlich „Der Wachtturm“ und „Erwachet“, angeboten werden. Dabei
werden die aktiven Zeugen dazu angehalten, ältere und oft nicht mehr
aktuelle Literatur zu verkaufen. Dies bestärkt bei Familie Waß den
Eindruck der kommerziellen Zielsetzung der WTG. Als sie den Ältesten
gegenüber ihren Unwillen über diese Praxis äußert, wird sie zu Treue und
Unterordnung angehalten. Vor allem aber wird ihnen mitgeteilt, sie hätten
selbst bei eventuellen Irrtümern der Gesellschaft Gehorsam zu leisten.
Diese Äußerungen lösen bei Barbara Waß eine große Bestürzung aus.
„Das war zu viel für mich. Ich konnte das nicht einsehen.“423 Durch die
zahlreichen kritische Anfragen kommen den Oberen der Versammlung
Zweifel an der Loyalität von Herrn und Frau Waß der Organisation
gegenüber.
Um ihre wahre Einstellung gegenüber der WTG zu ermitteln, greifen die
Oberen zu unlauteren Mitteln. Sie schicken zwei Frauen aus den Reihen
der Versammlung zu Familie Waß. Diese geben vor, ein vertrauliches
Gespräch mit Herrn Waß führen zu wollen, durch welches sie seine
Ansichten
über
die
Gesellschaft
auskundschaften
wollen.
Dieses
Gespräch nehmen sie unbemerkt auf Band auf.424
Frau Waß erwähnt in diesem Zusammenhang eine andere noch weit
raffiniertere Vorgehensweise. „Von uns weg gingen sie zu einem anderen
Ältesten, der schon ziemlich alt war, und inszenierten dort das gleiche. Als
das Band zu Ende war, redeten sie dem Bruder ein, es hätte an der Tür
geläutet. Als er nachschauen ging, drehten sie das Band um.“425 Ihren
Ärger und ihre Enttäuschung über diese Praktiken bringt Frau Waß zum
Ausdruck, indem sie bemerkt: „Wir hätten nie geglaubt, daß es unter
Zeugen Jehovas solche Methoden gibt.“426
422
Waß, 203.
Ibid., 204.
424
„Es sollte vertraulich sein. Was mein Mann nicht wußte und was er nie für möglich
gehalten hätte, war, daß die beiden Frauen dieses ‚vertrauliche‘ Gespräch auf Band
aufgenommen hatten.“ (Waß, 208).
425
Ibid., 208f.
426
Ibid., 209.
423
135
Als sie wegen angeblicher Nachlässigkeiten bei den Bemühungen um
Frau I.,427 die bereits wiederholt an den Zusammenkünften der Zeugen
Jehovas teilgenommen hat, getadelt wird, beschließt sie, sich nicht länger
bevormunden zu lassen. Sie rechtfertigt das unregelmäßige Erscheinen
von Frau I. in der Versammlung und äußert Verständnis für deren
Probleme. Schrittweise trifft sie ihre Entscheidungen unabhängig von den
Vorschriften der Ältesten, weil sie selbst die Verantwortung für ihr Handeln
übernehmen will. Sie schreibt: „Ich war nun nicht mehr bereit, mich bei
allem bevormunden zu lassen. Ich wollte selbst die Verantwortung für
mein Handeln tragen.“428
So rufen die Freundschaft zu Frau I. und die Wahrnehmung ihrer
Sorgen und Nöte bei Barbara Waß das Verlangen hervor, ihr Leben selbst
in die Hand zu nehmen. Es gelingt ihr zunehmend, die Kritik anderer
Zeugen Jehovas zu ignorieren. „Von jetzt an kümmerte ich mich gar nicht
mehr
um
mißbilligende
Gesichter
und
auch
nicht
um
gewisse
Äußerungen. Besonders nicht, wenn es um Frau I. ging. Ich allein kannte
ihre wirkliche Situation, und ich verstand sie auch.“429 Barbara Waß
enthüllt Frau I. auch zunehmend ihre Bedenken gegenüber der
Wachtturm-Gesellschaft, obwohl sie damit alle bisherigen Bemühungen,
sie für die Organisation zu gewinnen, zunichte machen kann. „So
berichtete ich ihr, wenn auch schweren Herzens, von den Dingen, die
nicht so waren, wie sie hätten sein sollen.“430
Wirkliche Freundschaften sind bei Jehovas Zeugen selten, denn die
Beziehungen untereinander dienen im wesentlichen der gegenseitigen
Bespitzelung. Außer zu Frau I. stehen Herr und Frau Waß auch in engem
Kontakt zu einer anderen Familie, welche ebenfalls Widersprüche
innerhalb der WTG entdeckt hat, dies jedoch aus Furcht vor möglichen
Konsequenzen nie publik gemacht hat. Barbara Waß schreibt über die
Beziehung zu dieser Familie: „Wie gut war es da, jemanden zu haben, mit
427
Frau I. konnte aus zeitlichen Gründen nicht so oft an den Zusammenkünften
teilnehmen und fühlte sich aufgrund ihrer schwierigen Lebensumstände auch nicht
immer dazu in der Lage. Sie benötigte viel Zeit und Energie, um ihren
schwerbehinderten Sohn zu versorgen.
428
Waß, 213.
429
Ibid., 214.
430
Ibid., 215.
136
dem man offen reden konnte, dem man vertrauen konnte. In der
Versammlung gab es sonst niemanden, obwohl sicher auch andere ihre
Zweifel hatten. In dieser Situation Freunde zu haben, mit denen man
wirklich offen reden konnte, auf die man bauen konnte, das war unendlich
wertvoll.“431
Obwohl der nähere Umgang mit Nicht-Zeugen strengstens untersagt
ist, nehmen Herr und Frau Waß nach der Rückkehr aus dem Urlaub eine
Einladung von Verwandten von Frau I. an. Diese Begegnung mit von der
WTG geächteten Menschen, hinterläßt einen tiefen Eindruck und beseitigt
die Voreingenommenheit von Familie Waß gegenüber Andersgläubigen.
„Nun stellten wir fest, daß diese Menschen bestimmt nicht anders waren
als die Brüder.“432 Es wird ihnen auch bewußt, welchen Realitätsverlust
sie durch das Leben in der WTG erlitten haben. „Wir stellten fest, daß wir
alle Übersicht über das normale Leben verloren hatten, daß wir einseitig
denken gelernt hatten.“433
Barbara Waß liest mit Frau I. auch die Bibel, ohne sich dabei um die
Literatur der Organisation zu kümmern. Dabei lernte sie zum ersten Mal
die durch die WTG-Literatur verzerrten Texte der Bibel in ihrem wahren
Zusammenhang kennen. „Wir lernten beide viel dabei,“ schreibt sie.434
Dieses Bibelstudium veranlaßt sie zu einer vorbehaltlosen Ehrlichkeit Frau
I. gegenüber. „Ich erzählte Frau I. jetzt ganz offen von den Problemen, die
es gab. Ich wollte ehrlich zu ihr sein und ihr nichts vormachen.“435
Bei einer bald folgenden Veranstaltung der Sekte entschuldigt sich ein
Ältester öffentlich für den der Gesellschaft unterlaufenen Irrtum bei der
Berechnung der Endzeittermine, da diese sich nach den Berechnungen
für die Jahre 1974 und später 1975 im Jahr 1980 immer noch nicht
bewahrheitet hatten. Frau Waß kommentiert dieses Eingeständnis mit den
Worten: „Für mich war das eine Wohltat. Doch in der Versammlung schlug
es ein wie eine Bombe.“436
431
Waß, 216.
Ibid.
433
Ibid.
434
Ibid., 219.
435
Ibid.
436
Ibid., 221.
432
137
Anfeindungen durch linientreue Zeugen veranlassen diesen Ältesten,
sein Amt niederzulegen. Als Frau Waß einen anderen Ältesten, der mit
diesem anscheinend gute Beziehungen unterhält, fragt, weshalb er den
angefeindeten Mitbruder nicht unterstütze, bekommt sie zur Antwort, es
gebe in der Wahrheit keinen Freund.437 Diese Aussage löst bei ihr einen
Schock aus. Schließlich wird der von seinem Amt zurückgetretene Älteste
in der Versammlung öffentlich verleumdet, weshalb Herr Waß sein Amt
aus Protest ebenfalls niederlegt. Für Barbara Waß sind diese Vorgänge
nur schwer zu verkraften. „Ich versuchte, alles hinunterzuschlucken, doch
es gelang mir nicht.“438 Schließlich meldet auch sie sich zu Wort, um ihren
Protest offen kundzutun, jedoch wird sie schroff zurechtgewiesen. „Eine
Frau hätte sich unterzuordnen und zu schweigen. Damit war für den
Ältesten die Sache abgetan.“439
Doch auf Grund dieser Erlebnisse will Familie Waß die üblen Praktiken
der WTG nicht mehr länger hinnehmen. Barbara Waß erkennt auch bald
das wahre Gesicht der WTG und stellt fest: „Sie [die WTG] war alles, ja sie
war eigentlich das ‚goldene Kalb‘, das angebetet wurde. Man mußte ganz
untertan sein, jedwede Kritik war unmöglich und wurde gleich als
Rebellion ausgelegt.“440
Es wären noch zahlreiche andere enttäuschende Begebenheiten zu
berichten, doch reichen die geschilderten Erlebnisse aus, um zu
verdeutlichen, warum Barbara Waß und ihr Mann die Zeugen Jehovas
verlassen haben. Barbara Waß bemerkt im Hinblick auf ihre Erfahrungen:
„Das alles half, uns mehr und mehr über alles klar zu werden und uns
abzusetzen.“441
437
Vgl. Waß, 222.
Ibid., 225.
439
Ibid., 225ff.
440
Ibid.
441
Ibid., 232f.
438
138
2.1.2 Konkrete Schritte aus der Sekte
2.1.2.1 Hans-Jürgen Twisselmann
Nachdem Twisselmann die Unvereinbarkeit zwischen den Lehren der
Wachtturm-Gesellschaft und den Aussagen der Bibel festgestellt und
seinem Mitbruder Braun seine zahlreichen Kritikpunkte dargelegt hat, zieht
er Konsequenzen. Ein erster Schritt besteht darin, daß er zusammen mit
Herrn Braun und anderen der Organisation kritisch eingestellten Zeugen
Jehovas eigenständige Zusammenkünfte mit Bibelstudium veranstaltet.
„Nach einigen Wochen“, schreibt Twisselmann, „sind es etwa fünfzehn,
die sich getrennt von der ‚Neuen-Welt-Gesellschaft’ versammeln.“442
Die Erkenntnis, daß die Organisation nicht die Lehren und den Glauben
der
frühen
Christengemeinden
verkündigt
und
der
Drang,
den
apostolischen Glauben zusammen mit den zweifelnden Mitbrüdern
wiederzuentdecken, geben der Gruppe die innere Kraft, den folgenden
Anfeindungen der anderen, linientreuen Zeugen, entgegenzutreten.
Twisselmann beschreibt diesen Sachverhalt so: „In diesen Tagen und
Wochen zerreißen in der Kraft des Herrn selbst solche die ehernen
Fesseln der Wachtturm-Gesellschaft, von denen es kaum jemand
geglaubt hätte. Da befreit der Herr Menschen, die als so schüchtern und
still galten, daß niemand ihnen zutraute, daß gerade sie allen WachtturmVerdammungsurteilen und Gerichtsandrohungen zum Trotz den Weg des
persönlichen Glaubensgehorsams gehen würden.“443
Twisselmann verfaßt einen Brief an die Wachtturm Bibel- und TraktatGesellschaft und legt darin den Vorrang des Erlösungsgeschehens im
Gegensatz zur Leistungsfrömmigkeit und dessen Bedeutung für den
Glauben dar. Er betont dabei die Verantwortung vor Gott und seinem
Gewissen gegenüber und schreibt dem deutschen Büro der WTG: „Liebe
Brüder, ich schreibe Euch diese Zeilen, weil ich mich vor meinem
Gewissen und vor Jehova, unserem Gott, dazu verpflichtet fühle.“444
442
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 73.
Ibid.
444
Ibid., 75.
443
139
Das deutsche Büro der Organisation antwortet erst nach mehreren
Wochen und teilt ihm mit, sein Brief sei an einen Bezirksdiener
weitergeleitet worden, der in einigen Wochen in der Kreisversammlung zu
einem Gespräch in dieser Angelegenheit bereit sei.445 Twisselmann lehnt
dieses Angebot jedoch ab und zeigt dadurch, wie weit er sich innerlich
schon von der Organisation entfernt hat. „Da ich aus Gewissensgründen
an diesen Versammlungen der Wachtturm-‚Theokratie’ nicht mehr
teilnehmen kann, bin ich nicht gewillt, die lange Fahrt dorthin
zurückzulegen, nur um mir einige Zurechtweisungen wegen meiner
Ketzereien geben zu lassen.“446
Kurze Zeit darauf stattet der Bezirksaufseher Twisselmann einen
Überraschungsbesuch ab und versucht, ihn von der Richtigkeit der WTGLehren zu überzeugen, jedoch ohne Erfolg. „Aber die schlagfertigste
Argumentation und die schlausten Versuche, den Wachtturm-Theorien
zum Recht zu verhelfen, vermögen mich nicht zu überzeugen, daß der
schlichte Glaube an das klare Gotteswort falsch, die dem Worte
widersprechenden Wachtturm-Lehren aber richtig sein sollen.“447
Am
Ende
der
erfolglos
verlaufenden
Diskussion
befragt
der
Bezirksaufseher Twisselmann über seine Zukunftspläne, worauf dieser
bemerkt, er werde das Evangelium verkünden und nicht länger
„Wachtturm-Sonderlehren und Irrtümer“.448 Twisselmann wird daraufhin
vom Versammlungs-Komitee vorgeladen, zu dessen Sitzung er aber nicht
erscheint, was er in seinem Buch folgendermaßen begründet: „Wäre nicht
auch schon ein Erscheinen vor diesem Gerichtskomitee eine ‚De jureAnerkennung’ ihrer Richteransprüche, für die sie durchaus keine göttliche
Vollmacht besitzt? Eine Organisation, die den apostolischen Glauben nicht
vertritt, hat auch keine apostolische Vollmacht. Darum lehne ich es ab, vor
dem Wachtturm-Komitee zu erscheinen. Hinzu kommt, daß berufliche
Aufgaben mich am Erscheinen hindern.“449
445
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 76.
Ibid.
447
Ibid., 77f.
448
Ibid.
449
Ibid., 78.
446
140
Er legt seine Kritikpunkte auch in einem Schreiben dar, das er an das
zuständige Versammlungskomitee sendet. Jetzt wird er aus der
Organisation ausgeschlossen. Die von der WT-Gesellschaft verfügte
Exkommunikation und seine Entrüstung über die Methoden der Sekte
bringt er wie folgt zum Ausdruck: „So also reagiert die ‚Neue-WeltGesellschaft’, wenn einer ihrer Anhänger es wagt, selbständig zu denken,
Gottes Wort zu erforschen und daran zu glauben. So handelt sie, wenn
ein Zeuge Jehovas Gott mehr glaubt, als der Wachtturm-Gesellschaft
(Apg 5, 29). Und dieser neuzeitliche religiöse Totalitarismus wagt es, als
Hüter und Vorkämpfer der Glaubens- und Gewissensfreiheit aufzutreten.
Er kämpft vor weltlichen Gerichten so lange um die ‚Freiheit der
Anbetung’, wie er sie selbst noch nicht hat, um diese Freiheit sofort
abzuwürgen, wo er die Freiheit zu seiner eigenen Machtentfaltung
besitzt.“450 Diese Zeilen charakterisieren gut den Konflikt zwischen der
Freiheit des Gewissens und dem religiösen Totalitarismus der WachtturmGesellschaft.
2.1.2.2 Gerd Wunderlich
Auch Gerd Wunderlich wird als Ergebnis der Verhandlung des
Rechtskomitees aus der Organisation ausgeschlossen, worauf er gegen
dieses Urteil Berufung einlegt. Einige Wochen später findet die
Berufungsverhandlung
statt.
Die
Wochen
bis
zu
dieser
zweiten
Verhandlung sind jedoch von zahlreichen Schikanen seitens der
Versammlung begleitet. Als das Urteil des Komitees den anderen
Gläubigen bekannt wird, distanzieren sich diese von ihrem bisherigen
Mitbruder Gerd Wunderlich. Seine Frau ist allerdings noch nicht aus der
Organisation ausgeschlossen worden und unterhält noch einige Kontakte
zu anderen Zeugen. Sie berichtet diesen Männern und Frauen von den
diktatorischen und verleumderischen Methoden der Oberen während des
Prozesses und versetzt damit einige Mitbrüder ebenfalls in Unruhe. Doch
450
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 81.
141
gelingt es der Leitung diese wieder zu beschwichtigen, was Gerd
Wunderlich wie folgt kommentiert: „Den Ältesten blieb jetzt nichts anderes
übrig,
als
mit
gewohnten
diktatorischen
Maßnahmen
die
Ruhe
wiederherzustellen. So wurden unter anderem die beunruhigten Brüder
aufgefordert, nicht mehr mit uns zu sprechen. Wenn wir am Telefon
wären, sollten sie sofort den Hörer auflegen.“451
Seine Frau wird, obwohl sie nicht ausgeschlossen worden ist, in eine
Außenseiterrolle
gedrängt
und
von
ihren
Mitschwestern
mit
Gleichgültigkeit und Nichtbeachtung bestraft. „Auch von meiner Frau zog
man
sich
immer
mehr
zurück.
So
wurde
sie
von
ihren
Glaubensschwestern nicht mehr gegrüßt, wenn man sie auf der Straße
traf. Darunter waren ‚Schwestern‘, mit denen sie seit Jahren gemeinsam in
den Felddienst gegangen war.“452
Selbst die Verwandtschaft der Eheleute Wunderlich, soweit sie Mitglied
der
Sekte
ist,
distanziert
sich
von
ihnen,
und
so
wird
die
Auseinandersetzung mit der WTG zu einer Zerreißprobe im familiären
Bereich. Auch nach der Bestätigung des Ausschlusses von Gerd
Wunderlich als Ergebnis der Berufungsverhandlung wird er von anderen
noch aktiven Gläubigen, die er viele Jahre kennt, verleumdet. Als ein
solcher Zeuge von einem Passanten, der durch die Aufklärungsarbeit
Wunderlichs auf Irrtümer im System der WTG aufmerksam gemacht
worden ist, auf Unstimmigkeiten im Lehrsystem der WTG hingewiesen
wird, wertet dieser die Darlegungen Wunderlichs ab, indem er dem
Passanten dessen angeblich fragwürdige Vergangenheit entgegenhält.
Doch Wunderlich selbst, der dies erfährt, bemerkt hierzu: „Die Familie von
Gustav F. und wir kannten uns durch die Versammlung seit dreizehn
Jahren. Ihm war sehr wohl bekannt, daß ich wegen meiner Überzeugung
als Zeuge Jehovas keinen Wehrdienst und keinen Wehrersatzdienst
leisten durfte. Er wußte ganz genau, daß ich nur aus diesem Grund im
Gefängnis war. Dennoch versuchte er, bei dem Passanten den Eindruck
451
452
Wunderlich, 145.
Ibid., 146.
142
zu erwecken, ich hätte eine kriminelle Vergangenheit und sei deshalb
unglaubwürdig.“ 453
Die Berufungsverhandlung erweist sich als eine weitere Form der
Diskriminierung. Durch die Festlegung des Verhandlungsverlaufs und die
Unterdrückung jeglicher Kritik an der Organisation wird ihm nicht gestattet,
sein gesammeltes Beweismaterial zu seiner Verteidigung gegen die WTG
zu verwenden, weil dadurch die gegen ihn vorgebrachten Anklagen der
WTG widerlegt werden könnten.454 Der Beschluß der ersten Verhandlung,
nämlich
der
Ausschluß
Wunderlichs,
wird
am
Ende
der
Berufungsverhandlung bestätigt.
Das Ehepaar Wunderlich versucht, nach dem offiziellen Ausschluß von
Gerd durch das Rechtskomitee der Organisation auch die amtliche
Eintragung als „Zeuge Jehovas“ aus dem Familienstammbuch zu tilgen.
Doch gibt es hierbei unvorhergesehene bürokratische Schwierigkeiten.
„Da die Wachtturm-Gesellschaft – gleichbedeutend mit Jehovas Zeugen –
keine Körperschaft öffentlichen Rechts ist, ist es nicht möglich, auf dem
Amtsgericht seinen Austritt aus dieser Gesellschaft zu erklären, wie das
z. B. bei den Großkirchen der Fall ist.“455
Um die Eintragung „Zeuge Jehovas“ im Familienstammbuch löschen zu
können,
wird
eine
Austrittsbestätigung
verlangt.
Daher
ersucht
Wunderlich, die zuständige Abteilung der WTG schriftlich, ihm die
erforderliche Austrittsbestätigung auszustellen. Als er nach Ablauf
mehrerer Wochen noch immer keine Antwort erhält, schickt er der WTG
eine
Mahnung.
Daraufhin
erhält
er
die
Mitteilung,
daß
die
Ausschlußerklärung des Versammlungskomitees als Austrittsbestätigung
zu werten sei. Eine schriftliche Bestätigung dieser Mitteilung wird ihm
jedoch verweigert. Wunderlich wendet sich anschließend an den
Versammlungsaufseher, aber auch dieser weigert sich, seiner Bitte um
Zusendung einer Austrittsbestätigung nachzukommen, so daß er seinen
453
Wunderlich, 172.
Wunderlich schreibt über diese Vorgehensweise: „Ich sagte schon, daß ich nach
diesen bedeutungsvollen Worten des Aufsehers die Verhandlung hätte ablehnen und
verlassen sollen. Denn das war wirklich ein starkes Stück, Anklage wegen ‚Verbreiten
falscher Lehren und Schriften‘ zu erheben und dann zu erklären, es sei nicht Sache
des Verfahrens, das Beweismaterial zu prüfen.“ (Wunderlich, 157).
455
Wunderlich, 184.
454
143
Brief mit der Vermerk „Annahme verweigert“ zurückerhält.456 Erst nach
einer weiteren Aufforderung wird ihm die Bescheinigung dann doch noch
durch das WTG-Büro zugesandt. Doch die negativen Machenschaften der
Sekte sind damit noch nicht beendet. Frau Wunderlich, die wie ihr Mann
die
Sekte
verlassen
möchte,
erbittet
ebenfalls
eine
solche
Austrittsbescheinigung. Doch nun bekommt auch sie die Schikanen der
Organisation zu spüren. In ihrem Fall bestreitet die WTG schlicht, daß sie
überhaupt bei ihnen Mitglied sei, was sie und ihren Mann mit Bestürzung
und Zorn erfüllt. Herr Wunderlich stellt entgegen dieser Behauptung der
WTG ganz klar fest: „Meine Frau war schon im Kindesalter als Zeugin
Jehovas erzogen worden, ich selbst war, ohne die Zeit, in der mich
Großmutter in der WT-Lehre unterrichtet hatte, achtzehn Jahre dabei
gewesen.“457
Als Frau Wunderlich in einem Schreiben an die WTG deutlich
herausstellt, daß sie Beweismaterial für ihre aktive Mitgliedschaft
vorweisen könne, reagiert die WTG prompt. Gerd Wunderlich bemerkt
hierzu: „Mit diesem Brief mußte die WTG begreifen, daß wir es ernst
meinten. Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten, entweder es darauf
ankommen zu lassen und einen Prozeß zu riskieren oder meiner Frau die
gewünschte Bescheinigung über ihren freiwilligen Austritt zu geben.“458
Nach langem Zögern läßt die WTG Frau Wunderlich die mehrmals
angeforderte Bescheinigung endlich zukommen. Die damit verbundene
Manipulationstaktik der Organisation veranlaßt Gerd Wunderlich zu
folgendem Kommentar: „Der Briefkopf war aber offensichtlich rückdatiert
worden, da zwischen Briefdatum (6.5.77) und Poststempel (13.5.77)
sieben Tage liegen. Durch diese plumpe Manipulation sollte wohl unsere
Mahnung
gegenstandslos
gemacht
werden.
Das
ganze
war
so
durchsichtig, daß wir uns fragten, ob die Bockenheimer Aufseher ihr
Gesicht gegenüber uns oder ihren eigenen Vorgesetzten in Wiesbaden
wahren wollten. Vielleicht haben sie aber auch nur die genauen
Anweisungen der WTG ausgeführt. Nach allem, was wir bisher erlebten,
456
Vgl. Wunderlich, 185.
Wunderlich, 185
458
Ibid., 189.
457
144
halten wir die letzte Möglichkeit für die wahrscheinlichste.“459 Nach Erhalt
der Austrittsbescheinigung kann er beim Standesamt die langersehnte
Löschung des Eintrags „Zeuge Jehovas“ vornehmen lassen.
2.1.2.3 Monika Deppe
Monika Deppe und ihr Mann sind in der WTG einem immensen
psychischen Druck ausgesetzt. Frau Deppe bricht oft in hemmungsloses
Weinen aus, weil sie den seelischen Druck und diese innere Zerrissenheit
nicht mehr ertragen kann.460 Seit sie von den Zweifeln geplagt werden,
besuchen die Eheleute die Veranstaltungen der Sekte nicht mehr. Auch
der Sohn, der unter den Problemen seiner Eltern sehr leidet, erklärt seinen
Eltern, er weigere sich an den Zusammenkünften einer Organisation
teilzunehmen, die bei ihren Mitgliedern ein derartiges seelisches Leid
hervorrufe.461 Dieser enge Zusammenhalt der Familienmitglieder ist für
Frau Deppe eine große Stütze. Sie sucht aber vor allem Zuflucht in ihren
Gebeten, in denen sie Gott bittet, er möge ihr einen Ausweg aus der
unerträglichen Situation zeigen.462 Ihre Gebete sollen bald schon Wirkung
zeigen.
Bei einem seiner Hausbesuche begegnet Herr Deppe einem Mann,
dem er von seinen Zweifeln in Bezug auf die Organisation berichtet und
der sich sofort an die Versammlungsoberen wendet, was zur offenen
Konfrontation und zum baldigen Ausschluß aus der Versammlung führt.
Die Eltern erhalten zunächst eine Vorladung vor das Rechtskomitee der
Versammlung, doch sie kommen der Aufforderung der Ältesten nicht
459
Wunderlich, 190.
Vgl. Deppe, 73.
461
Ibid. Der Sohn soll sich nach den Angaben seiner Mutter so geäußert haben: „Wenn
ich das sehe, was ihr für Probleme habt und wie ihr von euren Geschwistern
behandelt werdet, dann kann ich nicht mehr glauben, daß das Christen sind. Ich gehe
nicht mehr mit in die Versammlungen!“
462
Ibid., 74. Monika Deppe berichtet von ihren eindringlichen Gebeten. Eines dieser
Gebete lautet: „Vater, ich kann so nicht weiterleben! Wenn diese Organisation wirklich
dein Volk ist, dann hilf uns, daß wir wieder mit frohem Herzen in die Versammlungen
gehen können. Aber wenn dieser Glauben falsch ist, dann bewirke du, daß man uns
ausschließt aus der Versammlung!“ Dieses Gebet hilft ihr, ihre Ruhe
460
145
nach, weil sie sich bereits sehr weit von den Methoden und
Vorgehensweisen der WTG und ihrer Lehren distanziert haben. „Wir
erklärten am Telefon, daß wir zu weiteren Gesprächen nicht mehr bereit
seien und auch nicht mehr in den Königreichssaal kommen würden.“463
Nach diesem Telefongespräch, das die der WTG ohnehin bekannte
Einstellung von Familie Deppe der Organisation gegenüber bestätigt,
erfolgt der prompte Ausschluß aus der Gemeinschaft der Zeugen
Jehovas. Alle Familienmitglieder empfinden diesen Ausschluß als eine
große Erleichterung. Auch die Ächtung durch die noch aktiven Mitglieder
der Versammlung und ein letzter Versuch, ihnen ein schlechtes Gewissen
einzureden, bleiben wirkungslos.
Monika Deppe wertet den Ausschluß als letzten Versuch der
Versammlung, ihr und ihrer Familie ein schlechtes Gewissen einzureden.
Sie bezeichnet ihn als „letztes Druckmittel“, mit dem die Sekte versucht,
Kontrolle über das Leben ihrer Mitglieder auszuüben. Für die Zeugen
Jehovas ist dieser Ausschluß ein Verdammungsurteil. Die Sicht der
Zeugen Jehovas gibt sie so wieder: „Ihr seid von nun an ausgestoßene
Personen! Euer Gott Jehova, an den ihr jahrelang geglaubt habt, will
nichts mehr mit euch zu tun haben! Euer ewiges Leben, für das ihr so viel
geopfert habt, habt ihr verspielt, weil ihr euch getrennt habt vom
auserwählten Volk Gottes! Von nun an steht ihr im Machtbereich des
Satans!“ 464 Für die Familie ist vor allem wichtig, wieder ein freies und von
der WTG unabhängiges Leben führen zu können.465
Der enorme Leidensdruck und der tiefe Zusammenhalt der Familie sind
entscheidende Faktoren, die den Bruch mit der Sekte ermöglichten.
Monika Deppe hebt deutlich hervor: „Wir sind noch heute dankbar dafür,
daß wir diesen Weg durch alle Höhen und Tiefen gemeinsam gegangen
sind und unsere Ehe dabei niemals aufs Spiel gesetzt wurde.“466
wiederzuerlangen und dabei die Angst vor einem möglichen Austritt aus der
Organisation zu verringern.
463
Deppe, 75.
464
Ibid., 76.
465
„Nach ziemlich genau sechs Jahren Sektenmitgliedschaft (wir waren im Dezember
1979 getauft und im Dezember 1985 wieder ausgeschlossen worden) waren wir
wieder Menschen, die frei über ihr Leben und ihren Glauben entscheiden konnten.“
(Deppe, 77).
466
Deppe,77.
146
2.1.2.4 Barbara Waß
Nachdem die Ältesten der Versammlung mißtrauisch geworden sind,
versuchen sie das in der Wohnung der Familie Waß stattfindende
Bibelstudium zu verbieten. Die Oberen der Versammlung wollen auf diese
Weise die übrigen Mitglieder der Sekte dem schädlichen Einfluß der
Organisationskritiker Waß entziehen.467
Eines Tages wird bei einem solchen Schriftstudium ein von der WTG
neu herausgegebenes Buch mit dem Titel „Wähle den besten Lebensweg“
studiert. Die Auseinandersetzung mit diesem Buch hat für Barbara Waß
einschneidende Folgen. In diesem Buch wird die Unterordnung unter die
Organisation
Jehovas
als bester Lebensweg
dargestellt.468
Diese
Behauptung macht Frau Waß hellhörig, da sie bemerkt, daß alle, die es
wagen, Kritik zu üben, aufs schärfste verurteilt werden. Ihnen wird sogar
die Vernichtung prophezeit. Herr Waß, der das Studium leitet, muß
erkennen, daß er und seine Frau zu den Personen gehören, denen dieses
Schicksal droht.469 Dieser Studientag hat die Konsequenz, daß das
Ehepaar Waß künftig jeden weiteren Einsatz für die Organisation ablehnt,
was den Schriftleiter zu dem Versuch veranlaßt, ihre Kinder für die Sekte
zu gewinnen. Doch die Kinder durchschauen die manipulativen Absichten
des Schrifleiters und stellen sich auf die Seite ihrer Eltern. Nachdem der
Schriftleiter seine Niederlage eingesehen hat, bestimmen die Oberen der
Versammlung sofort einen anderen Ort für das künftige Schriftstudium.
Die gegenseitige Entfremdung ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß
Barbara Waß bemerkt: „Wir, Familie B. und Frau I. gingen nicht mehr
hin.“470
Das Fernbleiben von den Zusammenkünften erleben diese Menschen
zunehmend als wohltuend. Allmählich findet auch eine Veränderung ihres
Denkens statt. „Langsam begannen wir unser Gedankengut zu revidieren.
467
Da keine der Personenzahl angemessene Wohnung für das privat durchgeführte
Schriftstudium gefunden wird, müssen die Ältesten tolerieren, daß dieses noch einige
Zeit bei Familie Waß stattfindet.
468
Vgl. Waß, 233.
469
Ibid., 234.
470
Ibid., 234f.
147
Hatten wir früher immer gedacht, es würde uns etwas fehlen, wenn wir die
Zusammenkünfte nicht mehr besuchten, so stellten wir jetzt fest, daß es
eine Wohltat war, einmal nicht weggehen zu müssen. Besonders für die
Kinder war es eine ganz große Erleichterung. Endlich konnten sie in Ruhe
ihre Aufgaben machen und auch spielen.“471
Die offizielle Trennung von der Organisation haben Herr und Frau Waß
allerdings noch nicht vollzogen. Die Ältesten versuchen aber ihrerseits der
erwarteten Austrittserklärung durch einen Ausschluß zuvorzukommen.
Doch Familie Waß weigert sich, zu dem vom Rechtskomitee anberaumten
Verhör, das einem Ausschluß vorangehen muß, zu erscheinen. Sie ist
nicht länger bereit, sich den Anordnungen der Wachtturm-Gesellschaft zu
unterwerfen.472
Dies
veranlaßt
die
Ältesten
als
Mitglieder
des
Rechtskomitees zu einem Hausbesuch, bei dem sie auch die Freundin
von Barbara Waß, Frau I., antreffen.
Das Gespräch entpuppt sich schnell als Verhör, obwohl die Ältesten
zusichern, daß dieses Gespräch keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen
werde. Da
die Eheleute Waß bei ihrer ablehnenden Haltung bleiben,
ordnen die Ältesten in der Versammlung an, die Familie in Zukunft zu
meiden.473 Bei Begegnungen mit Frau Waß in der Öffentlichkeit, so z.B.
auf der Straße beim Einkaufen, wechselt deswegen eine aktive Zeugin
Jehovas
die
Straßenseite.
Barbara
Waß
schreibt
in
diesem
Zusammenhang: „Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man mit
jemandem
oder
gar
einer
ganzen
Familie
noch
vor
kurzem
zusammengesessen hat, mit ihm versucht hat, seine Probleme zu lösen,
wenn man mit den Leuten gefühlt und gekämpft, vielleicht sogar geweint
hat. Wenn man versucht hat, Familien, Ehen zusammenzukitten, weil sie
zu zerfallen drohten oder andere ganz persönliche Dinge besprochen hat.
Und nun taten diese Menschen so, als würden sie uns nicht mehr
kennen.“474 Dieses Verhalten der aktiven Sektenmitglieder ist bestimmt
471
Waß, 234f.
Ibid. 236f.
473
Dies kommentiert Barbara Waß wie folgt: „Dieses Vorgehen war außerhalb aller
Regeln, denn es war laut Aussage der Ältesten ohne eine richtige Verhandlung
geschehen.“ (Waß, 137).
474
Waß, 238.
472
148
durch die Angst vor Bestrafungen durch die Ältesten der Versammlung.
Die ständige Angst vor den Folgen des Denunziantentums spielt hierbei
eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Da ein Ausschluß an juristische Vorgaben gebunden ist, schlagen die
Ältesten einen weiteren Verhandlungstermin vor, wobei sie es Herrn Waß
überlassen, den Ort der Verhandlung selbst zu bestimmen. Aber auch
dieses Mal lehnen beide ab. Sie wollen sich keinem Verhör mehr
unterwerfen, bei dem das Ergebnis, nämlich ihr offizieller Ausschluß aus
der Versammlung, bereits von Anfang an feststeht. Die Methoden und
Schikanen der Organisation zehren an den psychischen und physischen
Kräften von Familie Waß. „Wir wollten unsere Ruhe haben. Wir waren
nicht mehr bereit, uns diesen Dingen zu unterwerfen. Außerdem waren wir
durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir
nichts mehr sehen und hören wollten. Sollten sie doch tun, was sie
wollten.“475
In dieser Lage bleibt der Organisation nur noch das Mittel, die
Abtrünnigen durch Verleumdungen zu strafen. Als Barbara Waß die über
sie und ihren Mann verbreiteten Lügen erfährt, reagiert sie ein letztes Mal
auf die Maßnahmen der Sekte. „Als wir davon erfuhren, riefen wir einen
Ältesten an und sagten ihm, wenigstens solche gemeine Lügen müßten
unterbunden werden, doch er sagte nur, das gehe ihn nichts mehr an,
denn sie würden nicht mehr mit uns reden.“476
2.1.2.5 Zusammenfassung
Die anfängliche Euphorie und das Glück, der allein seligmachenden
Organisation Gottes anzugehören, verfliegen in der Regel nach einem oft
jahrelangen, durch physische und psychische Opfer bestimmten Leben in
der Gruppe der Zeugen. Das einzelne Mitglied wird durch ständige
Indoktrination und den unermüdlichen Einsatz für die Organisation an
475
476
Waß, 240.
Ibid.
149
einer reflektierten Betrachtung über die Gruppe gehindert. Gelingt es
Anhängern der Sekte nicht, die kritischen Fragen, die Außenstehende bei
Werbeaktionen auf Marktplätzen oder bei den zahlreichen Hausbesuchen
zu verdrängen oder im Sinne der Sekte als Prüfung Jehovas und als
Bewährungsprobe
zu
interpretieren,
droht
ihnen
eine
Persönlichkeitsspaltung. Wird der persönliche Leidensdruck zu groß und
gelingt
keine
Verdrängung
gesundheitlichen
mehr,
Beschwerden
kann
es
zu
kommen.
Da
die
schwerwiegenden
Sekte
derartige
Krankheitssymptome meist als Folge eines ungenügenden Einsatzes
wertet, verstärkt sie den Leistungsdruck auf das jeweilige Mitglied.
Diese Zerreißprobe besteht nur ein Mensch, der einen starken Rückhalt
in der Familie hat, um den zermürbenden Prozeß der Entfremdung von
der Gruppe in Gang zu setzen und zu bestehen. Wenn die Oberen der
Versammlung begriffen haben, daß ein Mitglied ihnen entgleitet, den
Gehorsam verweigert und nicht mehr für ihre Sache zurückzugewinnen
ist, schließen sie es aus der Sekte aus, wobei dem Ausschluß eine
Verhandlung vor dem Rechtskomitee vorangeht.
Um
die
übrigen
Sektenmitglieder
dem
Einfluß
der
abtrünnig
gewordenen Mitglieder zu entziehen, werden diese offiziell als von Gott
verworfene Menschen deklassiert, denen man aus dem Wege gehen
muß. Für den Fall, daß die aktiven Zeugen trotzdem Kontakte zu den von
Gott verworfenen Personen unterhalten, werden Sanktionen angedroht,
um sie unter Kontrolle zu halten. Der Kontakt zu Nicht- Zeugen- Jehovas
hat nämlich oft eine Distanzierung von der Sekte zur Folge und kann ein
entscheidendes Motiv für einen Bruch mit den Zeugen Jehovas sein. Eine
systematische Darlegung der wichtigsten Motive für diesen Bruch mit den
Zeugen Jehovas wird im folgenden Punkt geboten.
Zusammenfassend
läßt
sich
sagen,
daß
die
zahlreichen
Kontrollmechanismen und Manipulationen innerhalb der Sekte und die
Verleumdungskampagnen gegen Aussteiger das gefährliche totalitäre
Potential der Sekte der Zeugen Jehovas dokumentieren.
150
2.1.2.6 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und
Motive, die zu einem Bruch mit den Zeugen Jehovas geführt
haben
Es sollen im folgenden aus den vier Berichten ehemaliger Zeugen
Jehovas Ursachen und Motive, die zum Entschluß, die Sekte der Zeugen
Jehovas zu verlassen geführt haben, systematisch dargelegt werden.
Ursachen und Motive, die zu einem Konflikt mit der bisherigen
Sektendoktrin und WTG und schließlich zum Ausstieg aus der Sekte der
Zeugen Jehovas führen, lassen sich anhand der Berichte auf zwei
wesentlichen Ebenen zusammenfassend darstellen. Dies ist zum einen
die von mir als „theologisch-intellektuelle Ebene“ bezeichnete, zum
anderen eine soziologisch-psychologische Ebene.
2.1.2.6.1 Theologisch – intellektuelle Ebene
Eine theologische Auseinandersetzung mit den Glaubenslehren der
Zeugen Jehovas erfordert ein hohes Maß an selbständigem Denken, das
in den Reihen der Sekte durch permanente Indoktrination zurückgedrängt
wird. Hans-Jürgen Twisselmann ist eine solche Auseinandersetzung
jedoch geglückt. Er ist durch den Vergleich biblischer Aussagen mit denen
des Wachtturms und anderer Schriften der WTG zur Erkenntnis gelangt,
daß die biblische Lehre mit den Lehren der Wachtturm-Organisation
unvereinbar ist. Diese Erkenntnis Twisselmanns verbunden mit dem
Drang die wirkliche biblische und apostolische Lehre im Gegensatz zu den
veränderten nichtchristlichen Lehren der Zeugen Jehovas zu verkünden,
bilden das zentrale Motiv und die Motivation für den Bruch mit den Zeugen
Jehovas. Neben Erkenntnissen und Motivationen auf dieser Ebene spielen
auf der soziologisch-psychologischen Ebene dargelegten Motive eine
wichtige Rolle.
151
2.1.2.6.2 Soziologisch-psychologische Ebene
Auf der soziologisch-psychologische Ebene lassen sich im
wesentlichen drei Motive nachweisen, die schließlich zum Bruch mit der
Sekte der Zeugen Jehovas geführt haben. Hierzu zählen: Durch
Bekanntschaften und Freundschaften mit Nicht-Zeugen-Jehovas
hervorgerufene Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas, persönlich
erfahrene Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Glaubenspraxis
sowie ein übergroßer physischer und psychischer Leidensdruck.
2.1.2.6.2.1 Durch Bekanntschaften und Freundschaften mit Nicht-ZeugenJehovas hervorgerufene Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas
Die von der Wachtturmgesellschaft geförderte Herabsetzung und
Verleumdung derjenigen Menschen, die nicht den Zeugen Jehovas
angehören, vor allem die Mitglieder der christlichen Kirchen, sowie die
Verteufelung der angeblich von Satan beherrschten Welt kann für Zeugen
Jehovas besonders dann fragwürdig werden, wenn sie erfahren müssen,
daß Außenstehende den Vorurteilen und Verurteilungen der WTG gar
nicht entsprechen. Die freundschaftliche Beziehung beispielsweise, die
sich zwischen Barbara Waß und Frau I. entwickelt hat, ist ein
einschlägiges Beispiel dafür, wie durch menschliche Anteilnahme und
Fürsorge die Vorschriften und Verbote der WTG immer mehr an
Bedeutung einbüßen.
Auch bloße Bekanntschaften mit Menschen, die beim Haus-zu-HausDienst für die Sekte geworben werden sollen, können als Anstoß für eine
kritische Beschäftigung mit der eigenen Sektendoktrin führen, wie das
Beispiel von Monika Deppe zeigt. Wird eine den Zeugen Jehovas
gegenüber kritische Anfrage oder Behauptung von einer zu werbenden
Person durch ein Sektenmitglied an die Vorgesetzten der Versammlung
weitergeleitet und erfährt das Mitglied keine zufriedenstellenden Antworten
auf seine Fragen, kann dies oftmals, wie im Fall von Frau Waß, der
152
Anstoß für eine kritische Betrachtung der eigenen Gruppe sein, die
eigene, sektenunabhängige Nachforschungen nach sich ziehen kann.
2.1.2.6.2.2 Persönlich erfahrene Widersprüche zwischen Glaubenslehre
und Glaubenspraxis
Erfahrene Widersprüche zwischen der Glaubenslehre und dem
tatsächlichen Verhalten der Glaubensbrüder- und Schwestern, vor allem
von Ältesten als Vorgesetzte der Versammlung, in Form von Schroffen
Zurechtweisungen und Beleidigungen statt eines klärenden Gespräches,
oder in Form von Ignorieren der Bedürfnisse eines Mitbruders oder einer
Mitschwester können in Unzufriedenheit und Frustration umschlagen.
Häufen sich derartige negative Erfahrungen, können diese ein Ansporn
für weitere kritische Beobachtungen und Einstellungen gegenüber der
Glaubensgemeinschaft sein. Das Beispiel Gerd Wunderlichs zeigt
eindeutig, wie Bevormundung und von der WTG verhängte Sanktionen
gepaart mit stetigem Leistungsdruck den Ausstiegswillen des Ehepaars
Wunderlich reifen lassen und schließlich zum Bruch mit den Zeugen
Jehovas führen.
2.1.2.6.2.3 Übergroßer physischer und psychischer Leidensdruck
Als weiteres Motiv für das Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas ist
der oftmals große Leidensdruck der Mitglieder zu nennen, welcher aber
meist zusammen mit anderen Motiven zusammenwirkt. Eine Vielzahl von
Zeugen unterliegt diesem Leidensdruck aber verläßt die Sekte nicht.
Hierbei ist ersichtlich, daß dieses Motiv erst zusammen mit einem oder
mehreren anderen Motiven zum Tragen kommt. Dennoch darf dessen
Bedeutung für einen Sektenausstieg nicht unterschätzt werden. Der
Leidensdruck kann zu völliger Resignation führen oder aber er unterstützt
den Prozeß des Ausstiegs. Großer Leidensdruck und die freundschaftliche
Beziehung zu einer nicht den Zeugen Jehovas angehörenden Person
153
können, wie beispielsweise die Beziehung zwischen Barbara Waß und
Frau I., zwei entscheidende zusammenwirkende Motive für den Bruch mit
den Zeugen Jehovas sein. Auch der Wegfall großer physischer und
psychischer
Belastungen,
bedingt
durch
das
Fernbleiben
von
Veranstaltungen der Versammlung, kann verbunden mit Enttäuschungen
und Sanktionen seitens der Sekte zu einem Erlebnis werden, welches, wie
bei Familie Waß, das Familienleben verbessert und zum Entschluß des
endgültigen Bruches mit den Zeugen Jehovas führen kann.
Abschließend ist zu bemerken, daß ein einziges Motiv in den seltensten
Fällen zu einem Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas führt.
Erst die Verbindung von mindestens zwei Motiven läßt den Entschluß
zum Verlassen der Sekte reifen, wobei der eigentliche Bruch, auch wenn
er innerlich bereits vollzogen ist, erst durch das Ausschlußverfahren der
Versammlungsältesten als rechtskräftig anzusehen ist.
2.2 Ausstieg aus der Psychosekte Scientology
2.2.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu
verlassen
2.2.1.1 Jutta Elsässer
Jutta Elsässer investiert alle ihre persönlichen und finanziellen Kräfte in
die Scientology-Organisation. Sie ist bereit, für das von Ron Hubbard
propagierte Ziel der absoluten geistigen Freiheit alles zu geben. Dabei
versucht sie den Anordnungen des Gründers in vollkommener Weise
nachzukommen. Sie schreibt: „Wieder und wieder wies Hubbard darauf
hin, daß man sich am Riemen reißen und die vorgegebenen Richtlinien
zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Scientology mit größter Härte
und Unnachgiebigkeit durchsetzen solle.“477 Da Hubbard verkündet, daß
die Zukunft unseres Planeten vom Einsatz der Scientologen abhänge478 ,
477
478
Elsässer, 123.
Ibid.
154
läßt sie sich zu einem immer größeren Engagement anspornen. Einige
Sichtweisen Hubbards, beispielsweise die Abwertung der Demokratie,
erscheinen ihr anfangs als sehr gewagt: „Sicherlich, einige Passagen
gaben mir durchaus zu denken, so z. B. seine Auffassung, daß uns die
Demokratie neben populären Maßnahmen und Selbstverleugnung im
Grunde nichts weiter gebracht hätte, als uns noch weiter ‚in den Schlamm
zu stoßen‘.“479 Doch angesichts der für sie als wissenschaftlich und
überzeugend klingenden Lehre von der geistigen Freiheit, die jeder durch
das Absolvieren von Kursen erreichen könne, treten die Bedenken in den
Hintergrund. „Ohne es zu bemerken, ordnete sich meine Kritikfähigkeit in
immer größerem Umfang dem anzustrebenden Ziel, Menschen aus ihrer
seelisch-geistigen Gefangenschaft zu befreien, unter.“480
Der Einfluß der Sekte verändert die Persönlichkeit so stark, daß Frau
Elsässer Mißerfolge als Folge ungenügender eigener Anstrengung deutet
und sich veranlaßt sieht, außer ihren Ersparnissen auch ihre Gesundheit
für die Belange der Organisation zu opfern.
Da auch sie einen Kredit aufgenommen hat, den sie Scientology
zurückzahlen muß, ist sie in totale Abhängigkeit geraten. In ihrer
Hilflosigkeit nimmt sie immer neue Angebote der Organisation an, um ihre
Schulden abzutragen, wodurch sich ihre Abhängigkeit jedoch nur
vergrößert.
Um Kursüberwacher zu werden, muß ein Scientologe mehrere
Kursstufen erfolgreich durchlaufen. Da Jutta Elsässer bei den Kursstufen
angeblich rasante Erfolge erzielt hat, wird ihr die Position einer
Kursüberwacherin zugewiesen. Sie muß sich jedoch verpflichten, noch
eine entsprechende Ausbildung auf eigene Kosten nachzuholen. Da ihr für
diese Tätigkeit ein festes Monatsgehalt von 2.150 DM zugesagt wird,
glaubt sie, ihre Schulden bei der Organisation rasch abzahlen zu können.
Doch diese Hoffnung wird jäh enttäuscht. Entgegen ihrem anfänglichen
Wunsch, lediglich eine Teilzeittätigkeit auszuüben, wird sie vertraglich als
Vollzeitmitarbeiterin mit einem aufreibenden Terminkalender verpflichtet.
479
480
Elsässer, 124.
Ibid.
155
Ihren nun zu bewältigenden Tagesablauf beschreibt sie wie folgt: „Mein
Missionsalltag begann um 13 Uhr und endete in der Regel zwischen 22
und 24 Uhr. Einziger freier Tag war der Freitag. Zwischen 15.15 Uhr und
15.30 Uhr sowie von 18 bis 19 Uhr wurde pausiert. Kursschluß war um 22
Uhr (an den Wochenenden wurde um 9.30 Uhr begonnen, als Ausgleich
hierfür die Mission um 18 Uhr geschlossen).“481
Zu den Kursen kommen noch weitere Verpflichtungen. Sie wertet
Statistiken aus, führt Gespräche mit anderen Scientologen über neue
Methoden der Mitgliederwerbung und richtet eine neue Zweigstelle der
Organisation ein, um die Durchführung weiterer Kurse zu ermöglichen.
Doch die Organisation zahlt nicht den zugesagten Monatslohn. Diese
unangenehme Überraschung macht sie mißtrauisch, so daß sie ihren
Vorgesetzten über diesen Sachverhalt informiert. Doch dieser weiß
angeblich nichts von einer regelmäßigen Entlohnung von Mitarbeitern
innerhalb der Scientology. Er setzt sich sofort mit der Münchner Zentrale
in Verbindung und führt in Anwesenheit Jutta Elsässers ein längeres
telefonisches Streitgespräch.
Ihre Entrüstung über die Mißachtung der Zahlungsverpflichtung der
Organisation für ihre mühselige Arbeit äußert sie so: „Das konnte doch
nicht sein! Nein, das durfte ganz einfach nicht sein! Ich traute meinen
Ohren nicht. Hatte ich doch tatsächlich felsenfest geglaubt, ich würde
aufgrund Tinas und Sonjas482 Versprechen eine Ausnahme darstellen und
nicht unter diese Regelung fallen. Man hatte mir 2.150 Mark netto pro
Monat versprochen, komme, was da wolle!“483
Diese Begebenheit ruft die Erinnerung an ihren Onkel wach, der sie
häufig vor den ausbeuterischen Praktiken der Scientology-Sekte gewarnt
hat. Noch unterdrückt sie diese kritischen Gedanken, indem sie sich sagt,
es seien ja gewiß nur einige Mitarbeiter an dem Vorfall schuld, man könne
jedoch nicht die Lehre Hubbards oder die gesamte Organisation für den
Fehler einzelner Mitarbeiter verantwortlich machen. „Das konnte nicht
481
Elsässer, 186.
Tina und Sonja sind zwei Scientologinnen, die ihr die 2.150 DM monatlich zugesagt
haben.
483
Elsässer, 190.
482
156
Scientology sein! Nein, ganz unmöglich, diese Verhaltensweise konnte mit
dieser Philosophie nicht das geringste zu tun haben!“484
Doch andererseits sagt Jutta Elsässer sich, daß die verantwortlichen
Mitarbeiterinnen bereits die Stufe „Clear“ erreicht haben und auf einem
sehr hohen ethischen Niveau angelangt seien. Diese zwiespältige
Erfahrung läßt sie nicht mehr los. Dazu kommt ihr die Erinnerung an eine
andere Begebenheit, bei der selbst Lügen und Betrug für die Belange der
Organisation gerechtfertigt wurden. Sie schreibt hierzu: „Ich dachte an
Lydia, die mir vor Tagen in diesem Zusammenhang beigebracht hatte,
daß es schlicht und ergreifend ums Überleben gehe und dieser Grund
auch eine Lüge rechtfertige. Dem Ziel zu überleben, müßten jegliche
andere Absichten untergeordnet werden. Denn letztlich komme es darauf
an, daß das Individuum an sich sowie die Scientology als Organisation
fortbestehe – und ohne Scientology und ihre befreiende Technologie gebe
es keine Chance, Planet Erde wieder in die richtigen Bahnen zu
lenken.“485
Trotz dieser frustrierenden Erlebnisse unterwirft sie sich weiterhin dem
Allmachtsanspruch der Organisation und deren Heilslehre und versucht
lediglich, die beiden verantwortlichen Mitarbeiterinnen zur Rede zu stellen.
Doch da erlebt sie eine neue Enttäuschung. Als sie nach München zur
Zentrale der Organisation fährt, um mit Tina und Sonja über das nicht
eingelöste Gehaltsversprechen zu reden, wird sie bereits am Eingang des
Hauptbüros abgewiesen. Statt dessen muß sie sich von anderen
Scientologen sagen lassen, statt Kritik anzubringen, solle sie sich lieber
intensiver mit der Scientology-Literatur befassen und so ihre eigene
Schuld herausfinden. Sie bemerkt hierzu: „Man hatte sich augenscheinlich
nur um mich, um den Belogenen, gekümmert, jedoch nicht um die
Lügner!“486
In der Hoffnung, es handle sich nur um einen Irrtum und ihr Gehalt
werde ihr bestimmt im nächsten Monat nachgezahlt, schluckt Frau
Elsässer
484
Zweifel
Elsässer, 191.
Ibid., 192.
486
Ibid., 197f.
485
und
Ärger
hinunter.
Über
die
verheerenden
157
Auswirkungen
der
ständigen
Verdrängung
dieser
und
anderer
Enttäuschungen, die bald ihre Gesundheit schädigen, berichtet sie:
„Beständig
mußte
ich
packenweise
Papiertaschentücher
mit
mir
herumtragen, da ich unter vereiterten Stirn- und Nebenhöhlen litt.
Durchfälle, Übelkeit, Ekzeme, Schmerzen in der Nierengegend und eine
Pilzinfektion wurden zu meinen hartnäckigen Begleitern, die ich nicht mehr
loswurde. Ich fühlte mich krank, ausgelaugt und unsagbar müde.“487 Doch
die Organisation nimmt auf ihren verschlechterten Gesundheitszustand
keine Rücksicht. Im Gegenteil, sie muß sich auch weiterhin sagen lassen,
daß sie ihre Situation selbst verschuldet habe.
Eine andere Sorge kommt hinzu: Da sie den ihr von Scientology
gewährten Kredit bald zurückbezahlen muß, vergrößert sich ihre
Verzweiflung. Doch reichen all diese Erfahrungen noch immer nicht aus,
um der Organisation den Rücken zu kehren. „Anstatt nun endgültig
meinen Mantel zu nehmen und der Mission Augsburg – und auch der
Scientology ganz allgemein – den Rücken zu kehren, tat ich, wie mir
geheißen, und arbeitete mich die Ethik-Zustände hoch, um wieder von der
Gruppe, sprich meinen Kollegen, angenommen zu werden.“488
Da sie den Anstrengungen nicht gewachsen ist, gibt sie ihren Posten
als Kursüberwacherin auf und arbeitet fortan nur noch als einfache
Teilzeitmitarbeiterin in einem der Büros der Organisation. Doch das bringt
auch keine Lösung ihrer Probleme, da der Lohn noch geringer als vorher
und die Arbeit nicht weniger aufreibend ist. „Diesen durchschnittlichen
monatlichen Zahlungsverpflichtungen stand ein in der Regel um
fünfundzwanzig Prozent geringeres Gesamteinkommen gegenüber. Meine
wöchentliche Vergütung als Teilzeitmitarbeiterin in der Org war kaum eine
Erwähnung wert. Obwohl ich auf gut und gern 15 bis 20 Stunden als
Kinderbetreuerin und Telefonistin kam, brachte ich selten mehr als
zwanzig Mark nach Hause.“489
Zusätzlich zu den bei Scientology zu tilgenden Beträgen verlangt ihre
Bank in Augsburg ebenfalls die Rückzahlung von Krediten, die sie bei ihr
487
Elsässer, 198f.
Ibid., 202.
489
Ibid., 216.
488
158
aufgenommen hat. Diese Zahlungsverpflichtungen zwingen Frau Elsässer,
sich eine Zusatzbeschäftigung außerhalb von Scientology zu suchen. Sie
lebt inzwischen mit einem anderen Scientologen zusammen, der sie als
Freund und Partner unterstützt, jedoch bald als Vollzeitmitarbeiter
verpflichtet wird. So erlebt dieser Scientologe dieselben finanziellen und
gesundheitlichen Schwierigkeiten wie seine Partnerin.
Eines Tages bietet ihr ein vorgesetzter Scientologe Arbeit in seiner
eigenen Firma an. Sie nimmt das Angebot an, muß aber auch bei dieser
Arbeitsstelle um ihren Lohn am Monatsende kämpfen. Schließlich begibt
sie sich eigenständig auf Arbeitssuche und übt neben ihrer Tätigkeit bei
Scientology Arbeiten aus, bei denen ihr auch Urlaub zusteht und bei
denen
ihr
freie
Wochenenden
garantiert
werden.
Sie
und
ihr
Lebensgefährte gönnen sich nun auch Zeiten der gemeinsamen Erholung,
ohne von Scientology dafür getadelt zu werden.
Jutta Elsässer schreibt über die gemeinsamen Unternehmungen in der
freien
Zeit:
„Unsere
gemeinsamen
Spaziergänge
an
der
Isar,
Tagesfahrten an den Starnberger See oder an den Ammersee und kleine
Wanderungen in der Münchner Umgebung ließen uns bewußt werden,
was wir in den vergangenen Monaten und Jahren entbehrt hatten. Es war
eine vollkommen neue Erfahrung, an den Wochenenden nicht nur
stundenweise zusammensein zu können.“490
Jutta Elsässer nutzt auch den ihr zustehenden Urlaub für Ausflüge und
kurze Reisen. Sie ist zwar weiterhin zu Arbeiten bei der Org verpflichtet,
jedoch wecken die Freizeiterlebnisse ihr Selbstbewußtsein. Sie bemerkt:
„Trotz des nach wie vor sehr intensiven Kontakts zu Scientology begann
allmählich ein Loslösungsprozeß, der immer dann seinen Höhepunkt
erreichte, wenn ich für einige Tage abwesend gewesen war. Kam ich nach
einer knappen Woche wieder zurück in die Org, um mit meinem Kurs
fortzufahren,
befremdete
mich
die
Atmosphäre.“491
Auch
das
gesundheitliche Befinden verbessert sich durch die neue Freiheit. „Meine
Gesundheit besserte sich von Woche zu Woche, und das erste Mal seit
490
491
Elsässer, 230f.
Ibid., 233.
159
über zwei Jahren streifte ich mir einen Badeanzug über. Ich hatte ganz
vergessen, wie schön Schwimmen sein konnte!“492
Doch letztlich glaubt Frau Elsässer weiter an die Richtigkeit der von
Ron Hubbard verkündeten Lehre, kann aber wegen ihres geringen
Einkommens keine weiteren Kurse mehr absolvieren. Dies zeigt deutlich,
wie tief sich die Heilslehre in der Psyche von Frau Elsässer verankert hat.
Da sie jedoch nicht mehr regelmäßig zu den vorgesehenen Kursen
erscheint, weil keine neuen, ihre Persönlichkeit auf dem Weg zur
absoluten Freiheit voranbringenden Kurse stattfinden und ihr die gerade
praktizierten Kurse bereits bekannt sind, setzen die Scientologen sie per
Telefon unter Druck. „Je weniger ich mich in der Org zeigte, desto häufiger
klingelte bei uns das Telefon. Man wollte mich wieder im Kurssaal
sehen.“493
Bald schon erklärt sie sich bereit, wieder zu auditieren. Doch die von
der Sekte eingerichteten Kurse werden nicht ordnungsgemäß zu Ende
geführt. Sie soll sich statt dessen, um schneller zum Ziel zu gelangen,
wieder intensiv mit dem vorgegebenen Material befassen. Dies erregt ihr
Mißfallen: „Mein überschneller Kursabschluß sollte der Org lediglich einen
dicken Punkt auf ihrer Statistik bescheren. Um dieses Abschlußziel zu
erreichen, hätte ich beinahe Tag und nacht studieren müssen. Hier hörte
der Spaß für mich allmählich auf!“494 So kommt es zu einem ersten Schritt,
der zur Trennung von der Sekte führen wird. Sie ist nicht mehr bereit, die
erholsamen Wochenenden für Scientology zu opfern. Jetzt hat sie den
Kopf freier und gewinnt etwas Abstand von den aufreibenden Tätigkeiten
der Sekte. Das neue Bewußtsein schildert sie mit folgenden Worten:
„Kopfschüttelnd wurde mir allmählich klar, daß ich über viele Monate
hinweg regelrechten Raubbau an meiner Seele und meinem Körper
betrieben hatte. Ich sah ein, daß Menschen, die an der Grenze zum
psychischen und physischen Wrack stehen, niemals die Kraft aufbringen
würden, etwas tatsächlich Positives in dieser Welt zu bewirken.“495
492
Elsässer, 231.
Ibid., 233.
494
Ibid.
495
Ibid., 234.
493
160
Unabhängig davon bekommt sie Zweifel an der Legitimität der
scientologischen Methoden und des Anspruchs der Sekte, im alleinigen
Besitz der Wahrheit zu sein. Der Widerspruch zwischen Theorie und
Praxis der Scientologen macht sie immer kritischer. Sie schreibt: „Tag und
Nacht nagten diese Gedanken an mir, ohne daß ich zu einem fruchtbaren
Ergebnis gekommen wäre. Immer wieder wog ich Pro und Contra
gegeneinander ab, versuchte mir darüber klarzuwerden, ob ich tatsächlich
Mitglied einer heilsspendenden Vereinigung war oder doch eher das
nichts
ahnende
Opfer
einer
gemeinhin
als
Sekte
betitelten
Gruppierung.“496
Der Kontakt mit einer anderen Scientologin, die sich wegen ihrer
Schwangerschaft nicht mehr so intensiv den Aufgaben der Sekte widmen
kann und die Jutta Elsässer ebenfalls von üblen Praktiken in den Reihen
der Organisation zu berichten weiß, veranlaßt Frau Elsässer, ein
Schreiben an das Büro für spezielle Angelegenheiten zu senden, in dem
sie alle erlebten Mißstände zur Sprache bringt.497 Diesen weiteren
Versuch der Klärung von Mißständen begründet sie so: „Ich wollte die
Hoffnung noch immer nicht aufgeben, daß sich alles zum Guten wenden
würde. Mein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen war
noch immer nicht gebrochen!“498 Doch da sie mehrere Monaten lang keine
Antwort erhält, verstärken sich ihre Vorbehalte derart, daß sie ihren
Austritt aus Scientology androht.
2.2.1.2 Elke Nietsche
Elke Nietsche ist eine arbeitslose kaufmännische Angestellte, die sich
über eine Zeitungsannonce von Scientology anwerben läßt. Sie ist eine
alleinerziehende Mutter, die mit ihrer Tochter Fredericke in Leipzig wohnt.
Ihre Eltern wohnen ebenfalls in Leipzig.
496
Elsässer, 235.
Ibid., 236f.
498
Ibid., 238.
497
161
Zunächst ist Elke Nietsche für zwei Mitarbeiter der Sekte tätig, um diese
bei ihrer Arbeit für die Organisation zu unterstützen, wird jedoch innerhalb
kürzester Zeit auch zur Absolvierung der zahlreichen Kurse und
Auditingveranstaltungen genötigt, so daß sie sich bereits nach sechs
Wochen als Scientologin bezeichnen kann. Ihre Erfahrungen gibt sie in
Form eines Tagebuches wider. Durch diese Form des Erfahrungsberichts
läßt sich der Ausstiegsprozeß sehr gut verfolgen, wobei der offizielle
Austritt aus der Sekte dank des engen Kontaktes zu ihrer Tochter und zu
ihren Eltern in nur wenigen Tagen vollzogen ist.
Elke Nietsche wird von Olaf und Heike, einem Scientologen-Ehepaar,
angeworben,
bei
dem
sie
zahlreiche
Hausarbeiten
und
die
Kinderbetreuung übernimmt. Als Gegenleistung bekommt sie nur eine
karge finanzielle Entlohnung. Vor allem aber verkauft sie regelmäßig auf
Flohmärkten, um für das Ehepaar etwas Geld zu verdienen, wofür sie
ebenfalls etwas Geld bekommt.
Bald schon muß sie zu Ausbildungskursen in das Büro der Sekte nach
München fahren, was für sie eine große finanzielle und zeitliche Belastung
bedeutet. Wegen ihrer häufigen Abwesenheit muß Fredericke von ihrer
Großmutter betreut werden. Die starke Beanspruchung durch die Sekte
und die gleichzeitigen persönlichen und familiären Verpflichtungen führen
schon bald zu gesundheitlichen Problemen.
Als sie sich eines Tages bei einem Flohmarktverkauf für das
Scientologen-Ehepaar mehrere Stunden lang ungeschützt in der Sonne
aufhalten muß, zieht sie sich Verbrennungen zu. Doch sie will, ganz im
Sinne des Sektengründers Ron Hubbard, nicht über ihre gesundheitliche
Verfassung klagen. Sie schreibt: „Die Hitze und die Sonne machen mir zu
schaffen. Auf meiner Haut bilden sich schon Blasen. Doch das zählt nicht.
Wenn ich mit körperlichen Beschwerden übereinstimme, so ist das
überlebensfeindlich; ich muß das ignorieren und ‚handhaben’.“499
Als der Flohmarkt beendet ist, fährt sie sofort weiter nach München in
die Zentrale der Scientology, wo sie einen Integritätskurs belegen soll. Da
erlebt sie jedoch eine böse Überraschung. Sie wird bereits an der
499
Nietsche, Elke, Alptraum Scientology. Ein Tagebuch aus Leipzig, Berlin 1995, 60.
162
Rezeption des luxuriös ausgestatteten Gebäudes von einer Frau barsch
abgewiesen mit der Begründung: „Es sind speziell ausgebildete Leute, die
die Kurse zusammenstellen, und da dieser Kurs nicht auf meinem Tip500
steht, könne sie mir nicht helfen.“501
Frau Nietsche ist empört, weil sie diese Worte als eine barsche
Abweisung empfindet, zumal sie bereits des öfteren zusammen mit
anderen Scientologen die Zentrale in München besucht hat und ein
anstrengender Arbeitstag hinter ihr liegt. Während sie einen Kaffee trinkt,
um dieses Erlebnis zu verdauen, trifft sie eine andere Scientologin, die sie
aufgrund
ihrer
zahlreichen
Besuche
in
der
Münchener
Zentrale
wiedererkennt und ihr die Absolvierung der gewünschten Kurse für den
nächsten Tag zusagt. „Sie sagt, daß sie mit mir alles klarmachen werde,
und ich solle ihr folgen.“502 Frau Nietsche muß deshalb in der Nähe von
München übernachten und kann nicht nach Leipzig zu ihrer Tochter
zurückkehren. Sie kommt aber bei einem Scientologen unter.
Der
folgende
Tag
ist
geprägt
von
einem
straff
organisierten
Ausbildungsprogramm, das sie so beschreibt: „Um 8 Uhr aufstehen,
waschen, anziehen und los zur Org. Unterwegs irgendwo frühstücken.
9.30 Uhr Studierbeginn. Nach etwa einer Stunde kommt Roman, der
Kursüberwacher, zu mir und stellt fest, daß wir während meines
Auditorenkurses kaum Möglichkeiten für Auditings hatten und das
nachholen werden. Tanja macht jetzt den Kurs und ob ich mich als PC
(Preclear), also zu Auditierende, bereit erklären würde. Sie macht zwei
Sitzungen mit mir. Ab 16 Uhr komme ich dazu, mit meinem Kurs
fortzufahren. Bis 22 Uhr studiere ich und bekomme für morgen abend 22
Uhr noch eine mündliche Einladung, am Briefing ‚Gegen die Attacken an
Scientology’ teilzunehmen.“503
Der Kurs über die Abwehr von Attacken gegen Scientology macht Elke
Nietsche stutzig und sie fragt sich, wieso Scientology Zielscheibe von
500
Nachweis der Zulassung zum Kurs.
Nietsche, 63.
502
Ibid.
503
Ibid.
501
163
Angriffen sein könne.504 Im Verlauf ihres Ausbildungstages erfährt sie
sogar von scientologischen Aktionen gegen Interpol, was bei ihr die Frage
nach dem Sinn solcher Aktionen aufwirft. „Ich frage mich kurz, was das
soll, wenn doch alles in Ordnung ist. Es scheint mir wie eine Show.“505 Sie
versteht
den
Inhalt
und
die
Bedeutung
der
weitschweifigen
scientologischen Vorträge ohnehin nicht ganz und sehnt aufgrund ihrer
körperlichen
und
geistigen
Erschöpfung
das
rasche
Ende
der
Veranstaltung und des Tages herbei. Doch sie muß bis 1.30 Uhr nachts
warten, ehe sie zu Bett gehen kann.506
Der Scientologe Björn versucht im Namen seiner Auftraggeber, Frau
Nietsche für ihre Mission ganz zu vereinnahmen, so daß sie die Gefahr
sieht, den Kontakt zu ihrer Familie in Leipzig ganz zu verlieren. Daher
setzt sie sich gegen die massiven Versuche der Scientologen, sie in
München zu halten, zur Wehr. Sie äußert sich hierüber so: „Ich mache ihm
[Björn] klar, wie unmöglich es für mich ist, sofort damit zu beginnen, da ich
morgen früh nach Hause fahre. Und wieder bearbeitet man mich. Besser
wäre es, gleich mit dem Programm zu beginnen, und ob es denn so
wichtig sei, nach Hause zu fahren. Ja, es muß sein! Ich habe einiges zu
klären, so zum Beispiel die Unterbringung meiner Tochter. Björn gibt nicht
auf, mich zu bedrängen. Er meint, daß wir das auch telefonisch klären
können. Olaf und Heike würden sich bestimmt bereit finden, meine
Tochter in dieser Zeit zu sich zu nehmen, und es sei nicht gut, wenn sie
bei meinen Eltern bleibt. Woher weiß er denn meine Verhältnisse?“507
Das penetrante Einreden auf ihre Person macht Frau Nietsche
nachdenklich, weil sie erkennt, daß Björn sogar über ihre familiären
Verhältnisse bestens informiert ist. Doch sie ist von der Hoffnung erfüllt,
daß sich ihre finanzielle Lage durch eine mögliche Beschäftigung bei
Scientology bessern könnte.
Wegen ihres Entschlusses, nach Leipzig zurückzukehren, muß sie sich
einem Reinigungsprogramm unterziehen, um ihre schuldhaften Erlebnisse
504
Nietsche, 65.
Ibid.
506
Ibid.
507
Ibid., 67f.
505
164
offenzulegen. Da merkt sie an ihren körperlichen Reaktionen, wie sehr sie
unter
der
Überbeanspruchung
leidet.
Sie
bemerkt
in
diesem
Zusammenhang: „Alle Geschehnisse muß ich mehrmals durchgehen. Ich
habe fürchterliche Schmerzen in den Beinen, und der Kopf tut sehr
weh.“508
Ihr Entschluß, nach Hause zu fahren, wird nach dem Abschluß des
Reinigungsprogrammes wiederum scharf kritisiert. Dies belastet Frau
Nietsche zusätzlich. „Jetzt habe ich ein fast achtstündiges Auditing hinter
mir. Das scheint er [Björn] nicht zu hören. Er fragt nur, was ich denn so
lange in Leipzig wolle. Ich will ihm darauf antworten, aber er geht. Ich bin
dem Wahnsinn nahe. Was ist nur los?“509
Auf der Heimfahrt ruft Frau Nietsche Olaf und Heike an. Doch Olaf ist
sehr aufgebracht und informiert sie, daß ihre Mutter sich bei ihm nach
ihrem Verbleib erkundigt habe, da sie unter dem Zeitdruck lediglich eine
kurze Notiz hinterlassen habe, in der sie ihre Fahrt nach München
mitgeteilt habe. Als sie schließlich zu Hause in Leipzig ankommt ist sie am
Ende ihrer Kräfte. „Ich bin fix und fertig. Wenn Mutter anruft, ist die Lage
wirklich ernst. Gewöhnlich meidet sie jeden Anruf. Ich gehe erst einmal
nach Hause, um mich einigermaßen zu sammeln.“510
In Leipzig, wo sie ihre Tochter und ihre Eltern wiedersieht, scheint alles
seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Doch Olaf und Heike schicken sie
sofort zu weiteren Verkaufsaktionen auf den Flohmarkt. Bald macht auch
ihre Tochter Schwierigkeiten. Deren Schulleistungen leiden sehr unter der
Abwesenheit
der
Mutter,
die
ihr
nicht
mehr
die
erforderliche
Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken kann. Sie bemerkt hierzu:
„Ihre Sturheit nervt mich. Mir ist, als ob sie mich für alles verantwortlich
machen will. Dabei gibt sie mir keine Möglichkeit, ihr wirklich zu helfen.
Dem bin ich einfach nicht gewachsen.“511
Als sie kurz darauf bei ihrer Bank den Kontostand überprüft, stellt sie
fest, daß ihr Konto um fast 300 DM überzogen ist. Sie benötigt jedoch
508
Nietsche, 70.
Ibid., 71.
510
Ibid., 73.
511
Ibid., 76.
509
165
Geld, um die Kurse in München fortsetzen zu können und ihren
Lebensunterhalt zu bestreiten.512
Bald schon überstürzen sich die Ereignisse. Sie bekommt Besuch von
ihrer Schwägerin, die einen äußerst bestürzten Eindruck macht. Die
Schwägerin hat nämlich Erkundigungen über Scientology eingezogen und
erkannt, an welche Organisation Frau Nietsche geraten ist.513 Sie hat
daraufhin einen Sektenexperten zu Rate gezogen und diesen ohne
Wissen
von
Frau
Nietsche
zu
einem Aufklärungsgespräch
über
Scientology eingeladen. „Um 19 Uhr klingelt es. Es ist Gerda mit dem
angekündigten jungen Mann, Herrn Batsch. Wir gehen ins Wohnzimmer.
Er erzählt über Scientology und daß es sich um eine Sekte handele, die
sehr gefährlich sei. Ihr System ähnele dem der Stasi. Das Dianetic-Buch
und der Persönlichkeitstest werden benutzt, um die Leute abhängig zu
machen.“514
Doch Frau Nietsche ist zu erschöpft, um den Äußerungen des Mannes
genau zu folgen. Abgesehen davon scheinen sie den ihr bisher
verkündeten Lehren Scientologys nicht gerecht zu werden. Sie fühlt sich
auch nicht fähig, sich ein Urteil zu bilden.515 Als sie wieder mit ihrer
Schwägerin allein ist, erscheint der Scientologe Olaf bei ihr, obwohl dieser
eigentlich in München sein sollte, und berichtet, ihr Bruder habe ihn wegen
Scientology bedroht. Diese unangenehmen Begebenheiten lassen Frau
Nietsche nicht mehr zur Ruhe kommen und sie beschließt, vorerst nicht
mehr zur Scientology-Zentrale nach München zu fahren.516
512
Ihre unangenehme Lage beschreibt sie so: „Noch nie habe ich Schulden auf meinem
Konto gehabt. Doch, einmal, aber da waren es etwas über 2 DM. Jetzt sind es fast
300 DM. Wie ist das passiert? Ich überlege, von wem ich mir Geld borgen könnte. Das
ist mir unangenehm. Ich kann unmöglich mit den 200 DM, die mir Mutter geliehen hat,
nach München fahren. Davon muß ich doch für das Wochenende einkaufen.“
(Nietsche, 76f.).
513
Vgl. Nietsche, 77.
514
Nietsche, 76.
515
„Ich höre mir seine Ausführungen an. Sie widersprechen völlig dem, was ich bisher
gehört habe. Ich bin nicht in der Lage, mir eine Meinung über all das zu bilden, und
nicht fähig, mich dazu zu äußern.“ (Nietsche, 77).
516
In ihrem Tagebuch faßt sie diese aufregenden Ereignisse folgendermaßen
zusammen: „Ein aufregender Tag! Auf dem Konto habe ich fast 300 DM Miese. Gerda
kam heute nachmittag. Sie war fix und fertig. Es waren wahrlich keine erfreulichen
Informationen. Um 19 Uhr erschien sie mit einem jungen Mann. Er hatte Informationen
dabei über Scientology. Mir ist angst und bange geworden. Eine Sekte soll das sein.
Leute, die aussteigen, werden verfolgt. Es ist ein Apparat, der bis ins kleinste
166
Was Frau Nietsche an diesem Tag widerfahren ist, läßt sie hellhörig
und kritisch werden. Sie hat Angst, in ein totalitäres System geraten zu
sein und fragt sich: „Befinde ich mich etwa schon in dieser Maschinerie?
Ich muß mir Gewißheit verschaffen.“517 Sie versucht, die bisherigen
Erfahrungen mit den Scientologen zu bewerten und ihre spontanen
Eindrücke von der Zentrale in München (Org) zu analysieren. Dabei
kommt sie zu dem Schluß, in eine Verschwörung geraten zu sein.518 Auch
die Lehrerin ihrer Tochter, der sie von ihren Schwierigkeiten berichtet,
warnt Frau Nietsche ebenfalls vor Scientology, was ihre Sorge
verstärkt.519 Sie besucht daraufhin ihre Schwägerin Gerda, die wiederum
einen
Herrn
eingeladen
hat.
Dieser
gehört
einer
Eltern-
und
Betroffeneninitiative an. Er weist sich als Herr B. aus und versucht, Frau
Nietsche über Scientology aufzuklären.520 Das Ergebnis dieses Gesprächs
mit Herrn B. ist für Frau Nietsche erschreckend. Sie berichtet hierüber: „Er
erzählt etwas von Sekten und gibt mir Materialien darüber. Ich lese darin.
Mir wird mulmig und ängstlich zumute.“521
Jetzt fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erkennt endlich, daß
sie in eine gefährliche Sekte geraten ist und macht sich Vorwürfe, dies
nicht vorzeitig erkannt zu haben. „Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Zwar
gab es während der letzten Zeit Momente des Zweifelns, aber daß es sich
um eine Sekte handelt, habe ich nicht vermutet. Das ist ein Schock! Hätte
ich das nicht merken müssen? So blind kann man doch gar nicht sein.“522
funktioniert, und jede aufkommende Feindseligkeit wird gehandhabt. Obwohl Olaf in
München sein müßte, stand er etwa 15 Minuten, nachdem der Mann gegangen war,
vor meiner Tür. Roland hat angerufen bei ihm und sich über Scientology empört. Ich
weiß nicht, was ich tun soll. Was Olaf sagt, klingt überzeugend. Was der junge Mann
sagt, klingt überzeugend. War Olaf vorher schon da, und wußte er von der
Anwesenheit des jungen Mannes? Ich fahre erst mal nicht nach München.“ (Nietsche,
79).
517
Nietsche, 79.
518
„Die Org in München macht einen eigenartigen Eindruck auf mich. Sie wirkt wie ein
Apparat, der gegen Selbstbestimmung ankämpft. Dort erfolgen die Anweisungen, die
auch in Befehle ausarten können. Dinge und Personen werden einfach gehandhabt.
Es ist ein in sich abgeschirmtes System. Möglich wäre auch, daß der Mann Olaf
benachrichtigt hat. Mir ist das alles unheimlich. Läuft da eine Verschwörung ab? Ich
bin hilflos und skeptisch.“ (Nietsche, 80).
519
Nietsche, 81.
520
Ibid.
521
Ibid.
522
Ibid.
167
Sie versteht, daß ihre körperliche und seelische Überlastung eine
wirkliche Auseinandersetzung mit den Scientologen bisher verhindert hat.
Auch wird ihr bewußt, wie sehr ihre Tochter unter ihrer Abwesenheit und
der dauernden psychischen Angespanntheit der Mutter gelitten haben
muß. Sie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Nie bin ich während dieser
Zeit so recht zur Besinnung gekommen. Jede Menge Streß gab es.
Allmählich erkenne ich die Manipulation, mich abhängig zu machen.
Entscheiden muß ich mich: für Scientology oder für Fredericke, meine
Tochter.“523 Sie entscheidet sich für ihre Tochter, Herr B. bietet ihr nun
konkrete Hilfen für den Ausstieg an.
2.2.1.3 Norbert Potthoff
Norbert Potthoff ist selbständiger Graphiker. Eines Tages kommt ein
Kunde und stellt ihm ein neues Projekt in Aussicht, wobei sich der
Auftraggeber als Scientologe entpuppt. Durch intensive Kontakte zu
diesem Scientologen und seiner Frau werden Potthoff und seine Frau
Sabine ebenfalls zu Scientologen. Herr Potthoff gelangt nach dem
Absolvieren der verschiedenen Auditingstufen bis hin zur Stufe eines
Clear und steigt innerhalb der Sektenhierarchie zum Leiter der
Verbreitungsabteilung in Düsseldorf auf.
Während seiner Mitgliedschaft in der Sekte wird er mit den
unglaublichen und menschenverachtenden Praktiken von Scientology
vertraut, welche selbst vor kriminellen Methoden zur Durchsetzung ihrer
Ziele nicht zurückschreckt. Die Konfrontation mit der Härte des
Sektenalltags und die menschenverachtenden Praktiken machen ihn
gegenüber dem System hellhörig.
Um das Ziel der Organisation für Deutschland, eine radikale
Umgestaltung der Gesellschaft nach den Richtlinien Hubbards zu
erreichen, ist harter Arbeitseinsatz vonnöten, den er so beschreibt: „Nun,
da ich drei Abteilungen zu leiten habe, hat sich alles vervielfacht. Durch
523
Nietsche, 82.
168
den Personalmangel kann ich außerdem meinen alten Posten nicht neu
besetzen, sondern bin gezwungen, ihn mitzuverwalten.“524
Als Leiter der Verbreitungsabteilung muß Norbert Potthoff auch
Vorträge über effektive Vorgehensweisen zur Verbreitung der Ideen von
Scientology halten, wodurch die Stärkung der Motivation der Scientologen
erreicht werden soll. Hierbei kommt auch die körperlich wie geistig hohe
Arbeitsbelastung zur Sprache, wenn er bemerkt: „Wir alle arbeiten hart,
meist 70 bis 80 Stunden die Woche, aber ohne eine funktionierende
Technologie verpufft zuviel von unserer Energie.“525 Doch durch eine
geschickte Motivation der Mitarbeiter und durch einen intensiven
Arbeitseinsatz gelingt es ihm, der Düsseldorfer Org zu großem Erfolg zu
verhelfen. „Düsseldorf taucht immer öfter in den Erfolgsstatistiken auf. Wir
stellen neues Personal ein, verkaufen mehr Bücher, schicken immer mehr
neue Leute auf Kurse“, berichtet er.526
Aufgrund seines überragenden Erfolgs wird Potthoff nach Kopenhagen
geschickt, um Geheimdokumente, vor allem Belastungsmaterial gegen
Scientology-Kritiker mit der Absicht zu studieren, die Gegner der Sekte zu
schädigen. Er schreibt dazu: „Die Anweisungen, die ich studieren muß,
werden immer härter, und immer öfter ist von Geld und Macht die Rede,
von Endzeitstimmung, von Spionage und Gegenspionage, von Krieg.“527
Solange er diese geheimen Unterlagen und Anweisungen für führende
Scientologen nicht zu Gesicht bekommt, steht er hinter der Organisation
und beachtet Hinweise über die kriminellen Machenschaften der Sekte
wenig. Doch das Studium des Geheimmaterials vermittelt ihm völlig neue
Einsichten, die ihm alle Illusionen rauben.528 Er muß zunehmend zur
Kenntnis nehmen, daß es Hubbard gar nicht um die den Mitgliedern
gepredigte völlige geistige Freiheit geht. Ihm kommt es vielmehr nur auf
den finanziellen Gewinn an, welcher durch die zahlreichen Kursen erzielt
524
Potthoff, Norbert, Im Labyrinth der Scientology, Bergisch Gladbach 1997, 192.
Ibid., 195.
526
Potthoff, 195.
527
Ibid., 204.
528
Sein Erstaunen über die Inhalte des Geheimmaterials gibt er so wider: „Damals, als
ich diese Worte zum ersten Mal von Peter hörte, habe ich fast noch spöttisch gelacht.
Dieses Lachen vergeht mir von Tag zu Tag mehr.“ (Potthoff, 204).
525
169
wird. In diesen Tagen versteht er endlich die vom Scientology-Gründer
vorgebrachte Anweisung „Mach Geld, mach mehr Geld, sorge dafür, daß
andere produzieren und Geld machen“.529 Die wahre Bedeutung des
Satzes vergällt ihm die Freude, ein Scientologe geworden zu sein. 530
Eines Tages sucht ihn Susan, eine Mitscientologin, auf. Sie befindet
sich in einer erbärmlichen gesundheitlichen Verfassung und teilt Potthoff
mit, sie sei innerhalb der Organisation als Verbrecherin verurteilt und
deshalb in eines der Straflager der Sekte interniert worden. Die Existenz
derartiger von der Sekte betriebenen Straflager bedeutet für Potthoff einen
großen Schock. „In einem alten Heizungskeller fristete sie dort mit
anderen Schwerverbrechern ein kümmerliches Leben mit Sprechverbot,
Schlafentzug und schlechter Ernährung. Beate [eine zeitweilig führende
Scientologin] hatte sie zum schweren Ethikfall erklärt, und da sie gar nicht
wußte, was sie überhaupt verbrochen haben sollte, hatte ihr Widerstand
gegen diese Behandlung sie tiefer und tiefer in die Strafmaßnahmen
hineingezogen.“531 Norbert Potthoff ist über die geschilderten Methoden
zutiefst empört. „Erschüttert lausche ich ihren Schilderungen. Ist das etwa
Ethik, wenn man Menschen das Rückgrat bricht, sie erniedrigt und
quält?“532 Er rät dieser Mitscientologin daraufhin zur Flucht aus der
Organisation. Doch da erlebt er eine Überraschung; denn Susan schlägt
seinen Ratschlag in den Wind. Sie erkennt nämlich das ihr angetane
Unrecht aufgrund ihres Kadavergehorsams der Scientology-Führung
gegenüber als gerechtfertigt an.533
Das Studium des geheimen Aktenmaterials und die unmenschliche
Behandlung von Mitscientologen beschäftigen Norbert Potthoff von nun an
immer mehr. Erst jetzt kann sich Potthoff ein sehr genaues Bild von den
Zuständen hinter den Kulissen der Organisation machen. Er absolviert
zwar noch die für ihn verpflichtenden Kurse. Doch der Schock über die
ihm zur Kenntnis gebrachten Praktiken der Organisation läßt ihn nicht
529
Potthoff, 204.
„Wo ist die Leichtigkeit, die Freude geblieben, mit der ich vor Jahren Scientologe
geworden war?“ (Potthoff, 204).
531
Potthoff, 204f.
532
Ibid., 205.
533
Ibid.
530
170
mehr los.534 Er hat allerdings die Befürchtung, jemand könnte die
Unterredung mit Susan beobachtet haben und seine Entdeckung in einem
Bericht festgehalten haben. Deshalb empfindet er die Anwesenheit der
Ethikoffiziere
in
ihren
Uniformen
zunehmend
als
störend
und
verunsichernd. „Dunkle Erinnerungen an ein Wahrheitsministerium, die
allgegenwärtige Kontrolle
eines militärischen Systems, kommen in mir
hoch. Es ist lange Zeit her, daß ich davon gelesen habe, irgendwann in
meiner Jugend, als wir uns mit dem Faschismus auseinandergesetzt
haben. Mir wird mulmig zumute. Aber ich, ein überzeugter Antifaschist,
kann doch nicht, ohne es zu merken, in ein solches System hineingeraten
sein!“535
Zunächst zerstreut er noch seine Bedenken. Doch eines Tages wird
die Mission in Düsseldorf von zwei Ethikoffizieren inspiziert, welche für die
Überprüfung und die Entdeckung von Abweichlern (sogenannte Ethikfälle)
eingesetzt werden. Einer dieser Ethikoffiziere begutachtet auch Potthoffs
Arbeit und versucht sogar, sein Arbeitstempo zu beschleunigen. „Marko
[der Ethikoffizier] läuft weiter neben meinem Schreibtisch auf der Stelle,
verzieht keine Miene. Ich bin entsetzt. Seit einer halben Stunde trabt er so,
will mich dadurch zu höherer Arbeitsgeschwindigkeit veranlassen.“536
Potthoff kennt diese Vorgehensweise. Sie wird vom Scientology-Gründer
Ron
Hubbard
ausdrücklich
empfohlen, da
angeblich
„durch
das
Suggerieren von Geschwindigkeit das Arbeitstempo erhöht werden
kann“.537 Als Leiter der Org in Düsseldorf trägt er die Hauptverantwortung
für seine Abteilung, was seine Angst vor dem ihn beobachtenden
Ethikoffizier noch verstärkt. Er befürchtet, daß dieser Mann über jede
seiner Reaktionen einen Bericht schreiben und ihn für jeden Fehler, den er
zu entdecken glaubt, ans Messer liefern werde.538
534
„Nachdenklich eile ich in den Kursraum. Was um Himmels willen macht man hier mit
den Menschen? Das also nennen die Rehabilitierungsprojekt!“ (Potthoff, 205).
535
Potthoff, 206.
536
Potthoff, 213.
537
Ibid.
538
Ibid.
171
Nach der Abreise der Ethikoffiziere wird Potthoff tatsächlich nach
Kopenhagen beordert, um sich einer Ethikbehandlung zu unterziehen.539
Er muß sämtliche Verbrechen seines Lebens schriftlich darlegen und
einige bürotechnische Strafarbeiten erledigen. Dadurch kann er dem
gefürchteten Straflager der Sekte entgehen. Doch dann bemerkt er, daß
die
Organisation
seine
Frau
wegen
angeblicher
unethischer
Handlungsweisen belangen will. Er versucht, diese vor einem möglichen
Transport ins Straflager zu warnen, darf jedoch Kopenhagen nicht
verlassen, was ihn veranlaßt, seine Flucht aus dem ScientologyHauptquartier zu planen. Wie nie zuvor erkennt er den Widersinn des
scientologischen Systems, das sich anschickt, „die eigenen Kinder zu
fressen“. Was Menschen wie Beate oder Susan erduldet haben, könne
doch nicht „die Freiheit sein, die uns Hubbard versprochen hat“. Die
Erkenntnis, daß „Würde, Freiheit, Selbstbestimmung [...] plötzlich ins
Gegenteil verkehrt“ werden, ist schmerzlich.540
Potthoff gelingt die Flucht aus dem Hauptquartier in Kopenhagen. Er
fährt mit dem Zug zurück nach Deutschland, nach Düsseldorf, und
beschließt, Scientology endgültig den Rücken zu kehren. Doch was ihn
dort erwartet, weiß er nicht. Auch auf der Zugfahrt verfolgt ihn die Furcht,
entdeckt zu werden. Er leidet auch unter dem Zweifel, ob er überhaupt die
richtige Entscheidung getroffen hat.541
Als er in Düsseldorf ankommt, wird er von seinen Mitarbeitern, die von
seiner Flucht aus dem Kopenhagener Hauptquartier noch nichts wissen,
freudig begrüßt. Doch räumt er sein Büro und macht den Mitarbeitern
seinen
Ausstiegsentschluß
kund,
was
allgemeine
Bestürzung
hervorruft.542
539
Potthoff, 215ff.
Potthoff, 228.
541
„Es ist die Angst wieder da. Nicht nur die Angst vor Verfolgung. Es ist leicht
vorstellbar, daß sich mit mir im Zug noch ein Dutzend anderer Scientologen befindet.
Aber sie können unmöglich wissen, daß ich mich auf der Flucht befinde. Es ist auch
die Angst davor, nicht zu wissen, ob meine Entscheidung überhaupt richtig ist. Was
soll ich tun, wenn ich Düsseldorf erreiche?“ (Potthoff, 230).
542
„Thorsten starrt mich mit offenem Mund an, als ich mein Büro verlasse. Wie
verabredet, erwartet mich Sabine [Frau Potthoff] bereits mit gepackter Tasche auf
dem Flur. Sie hat sich ebenfalls entschlossen, die Org mit mir zu verlassen, nachdem
ich sie über die Vorfälle in Kopenhagen informiert hatte. Und so lassen wir gemeinsam
540
172
Herr Potthoff und seine Frau Sabine kehren in ihre Wohnung nach
Krefeld zurück, auch um einen räumlichen Abstand zu Scientology zu
gewinnen. Doch erleben sie bald eine böse Überraschung da ihre
finanzielle Situation mehr als dürftig ist und die Möglichkeiten, ins normale
Leben zurückzukehren, sehr begrenzt sind. „Mit voller Wucht trifft uns nun
die Wirklichkeit mit unbezahlten Rechnungen, leeren Bankkonten,
Schulden und einer miserablen Auftragslage. Wenn wir das Steuer noch
einmal herumreißen wollen, dann müssen wir Tag und Nacht arbeiten.
Doch um zu arbeiten, brauchen wir Kunden, ich aber stoße überall auf
Reserviertheit oder offene Ablehnung.“543 Die Schwiegereltern erklären
sich bereit, finanzielle Unterstützung zu gewähren, stellen jedoch die
Bedingung, daß Norbert und Sabine jeden weiteren Kontakt zu
Scientology unterlassen.
In der schwierigen finanziellen Lage bietet Adele, eine befreundete
Scientologin, überraschenderweise ihre Hilfe an. Sie versichert, Norbert
könne für sie arbeiten, ohne weitere Verpflichtungen einzugehen. Frau
Potthoff hat von Anfang an ein ungutes Gefühl dabei, wieder in direkten
Kontakt zu einer Scientologin zu treten, woraufhin ihr Mann die
Vordringlichkeit der Geldbeschaffung und die Möglichkeit der Abtragung
der Schulden hervorhebt. Tatsächlich entpuppt sich dieses verlockende
Angebot bald als ein raffinierter Trick, um das Ehepaar Potthoff wieder
intensiv an die Sekte zu binden.544 Diese Rechnung geht teilweise sogar
auf. Sabine Potthoff gerät durch Adele wieder unter den massiven Einfluß
der Sekte. In diesem Zusammenhang bemerkt ihr Mann: „Als Sabine zu
einem längeren Gespräch in Adeles Büro verschwindet, ahne ich noch
nichts Böses. Erst als sie mit völlig verändertem Gesicht wieder auftaucht,
all die Menschen hinter uns zurück, die wir für unsere Freunde gehalten haben. Was
wird uns die Zukunft bringen?“ (Potthoff, 233).
543
Potthoff, 233f. Die Reserviertheit und Ablehnung wird dem Ehepaar Potthoff von
Mitbewohnern ihrer Umgebung in Krefeld entgegengebracht. Diese haben offenbar
von den Aktivitäten bei Scientology erfahren und halten sich von Familie Potthoff fern,
wodurch die Rückkehr ins normale Leben sehr erschwert wird.
544
Vgl. Potthoff, 237.
173
werde ich stutzig. Sie hat wieder diesen seltsamen Auditorenblick, der in
den letzten Monaten ganz verschwunden war.“545
Durch seine Frau läßt sich auch Norbert Potthoff bald wieder zu einer
Tätigkeit bei Scientology überreden. Er erhält den Auftrag, sich sofort nach
Kopenhagen zu begeben, wo er von allen Vorgesetzten und Mitarbeitern
trotz seiner Flucht aus der Organisation äußerst zuvorkommend behandelt
wird und wo er an einem neuen Projekt arbeiten soll.546 Nach diesem
anfänglichen „Love-Bombing“547 wird er wieder dem Leistungsdruck und
den Kontrollmechanismen der Organisation ausgesetzt.548 Die Unterkunft
in der Kopenhagener Zentrale ist miserabel und schockiert ihn sehr: „Im
Halbdunkel erkenne ich doppelstöckige Betten in langen Reihen. Mit
Laken und Decken versuchen einzelne, etwas wie Privat- oder
Intimsphäre herzustellen – aber die Trostlosigkeit dieses Schlafsaales ist
unübersehbar.“549 Trotz der widrigen Umstände entdeckt Potthoff, daß er
die Freude an seiner Arbeit und seinem Beruf wiedergefunden hat. Dabei
wird ihm immer deutlicher bewußt, daß er diese Arbeit und nicht das
System von Scientology liebt.550
Potthoff wird schließlich nach Deutschland zurückgeschickt. Auf der
Rückreise geht ihm die Arbeitsweise der Organisation und sein als
Arbeitssucht zu charakterisierender Einsatz für das scientologische
System durch den Kopf. Wie ein Workaholic habe er sich blind in die
Arbeit gestürzt. Nur um nichts sehen zu müssen, habe er bis tief in die
545
Die finanziell begüterte Scientologin Adele verspricht Sabine bei dieser Gelegenheit,
sie und ihr Mann könnten wieder für die Organisation arbeiten und ihre Schulden bei
Scientology seien getilgt. Ihr Mann ist über ein solches Angebot überrascht. „Mag
sein, daß ich in einem Anflug von Naivität die Gefahr des erneuten Kontakts mit
Scientoloy sträflich unterschätzt habe, aber mit einer solchen Entwicklung konnte ich
wirklich nicht rechnen. Und wie so oft: Sabines strahlende Haltung, ihre Zufriedenheit,
endlich wieder auditieren zu können, bricht meinen Widerstand.“ (Vgl. Potthoff, 238f.).
546
Hubbards Buch „Kampf um die Erde“ soll eine möglichst große Verbreitung erfahren
und er soll zu diesem Zweck effiziente Werbestrategien entwickeln. (Vgl. Potthoff,
241).
547
Überhäufung mit Komplimenten, um das Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln.
548
Über die Arbeitsweise im Kopenhagener Scientology-Zentrum berichtet er folgendes:
„Druck und Geschwindigkeit sind in der Sea-Org noch weit höher, als ich erwartet
habe. Kaum einer geht, fast alle eilen in einer Art Dauerlauf über die Flure, Die
Werbeabteilung ist im obersten Stock, und auch Beate hat auf dem Weg dorthin ihr
Schrittempo merklich erhöht.“ (Potthoff, 243).
549
Potthoff, 245f.
550
Ibid., 251.
174
Nacht gearbeitet. Er müsse endlich aufhören, sich selbst zu belügen. In
diesem System seien doch alle nur Rädchen.551 Diese Gedanken führen
zu seinem Entschluß, die Sekte nun endgültig zu verlassen, was er auf
der Rückreise mit dem lauten Ausruf „Nie wieder Sea-Org“ quittiert.552
Potthoff will für sich und seine Frau eine größere räumliche Distanz zu
Scientology aufbauen und fährt deshalb nach Kempen zu Matthias, einem
befreundeten ehemaligen Scientologen.553 Über den psychischen Zustand
seiner Frau zu dieser Zeit schreibt er: „Sabine folgt mir widerspruchslos.
Sie wirkt wie paralysiert, steht unter Schock. Immer wieder kommen diese
Phasen und immer hängen sie mit Scientology zusammen, das weiß ich.
Irgend etwas scheint vor Jahren in ihr zerbrochen oder empfindlich gestört
worden zu sein.“554
Norbert Potthoff ist nicht gewillt, ihre psychischen Störungen länger
hinzunehmen. Daher ist die Reise als Versuch zu werten, sich und seine
Frau bei dem befreundeten Matthias in Sicherheit zu bringen und dort die
erste Zeit nach der Trennung von der Sekte zu verbringen. Norbert
Potthoff fürchtet allerdings nicht ohne Grund, die Frau des Gastgebers
könnte der Organisation seinen Aufenthaltsort verraten. Doch wird ihm
von Seiten seines Freundes versichert: „Und wegen Eva macht euch mal
keine Sorgen. Die wird euch schon nicht verraten.“555
551
Potthoff, 251f.
Ibid., 252.
553
Über Matthias bemerkt Potthoff, dieser habe nach der Durchführung eines bestimmten
Kurses die Verbindung zu Scientology beendet, allerdings sei seine Frau Eva
weiterhin eine aktive Scientologin, was für die weitere Entwicklung von großer
Bedeutung ist. (Vgl. Potthoff, 255).
554
Potthoff, 254.
555
Ibid., 255.
552
175
2.2.2 Konkrete Schritte aus der Sekte
2.2.2.1 Jutta Elsässer
Für Jutta Elsässer wäre der Ausstieg aus der Sekte mit ihrer
Austrittserklärung eigentlich beendet gewesen, jedoch wird ihr empfohlen,
die Angelegenheit durch eine Rechtsinstanz der Scientology-Organisation
entscheiden zu lassen. Frau Elsässer hatte bis dahin rechtliche Schritte
gegen Scientology in Erwägung gezogen. Trotzdem ist sie gewillt, sich auf
das sogenannte Kaplansgericht einzulassen;556 aus Gründen, die ihr
vorenthalten werden, kommt jedoch diese Verhandlung schließlich nicht
zustande. Als ihre weiteren Bemühungen um Klärung ignoriert werden,
faßt sie den endgültigen Entschluß, die Sekte auch offiziell zu verlassen.
Mit Datum vom 2. Dezember 1992 kündigt sie ihren endgültigen Austritt
aus Scientology an und verlangt die ihr noch zustehenden Geldbeträge
zurück.557 In der Hoffnung, die von der Organisation eingesetzte
Verzögerungstaktik unwirksam zu machen, droht sie rechtliche Schritte
an.
Die Sekte reagiert, indem sie ihr 2.000 DM als Abfindung gewährt. Die
scheinbare Großzügigkeit erklärt sich vor allem aus der Absicht, einen
öffentlichen Skandal und eine Offenlegung der Praktiken der Organisation
zu vermeiden. „Über ein solches ‚Angebot‘ konnte ich nur lachen“ schreibt
Jutta Elsässer. „Ich hatte einen Kredit von insgesamt 33.000 Mark
(inklusive Zinsen) für nichts und wieder nichts abzutragen, war schamlos
belogen
worden,
konnte
mich
weder
der
Fortführung
eines
Universitätsstudiums noch einer Ausbildung widmen, da ich auf einen
bestimmten festen Monatsverdienst angewiesen war – und sollte mit
lächerlichen 2.000 Mark abgefunden werden!“558 Da sie deshalb auf einem
Prozeß beharrt, versucht die Sekte, sie erneut zur Absolvierung einiger
556
„Entgegen meinen kühnsten Erwartungen wurde mir auf meine Ausstiegsankündigung
hin vorgeschlagen, ein sogenanntes ‚Kaplansgericht‘ einberufen zu lassen, um die
Sache zu bereinigen.“ (Elsässer, 239).
557
Vgl. Elsässer, 240. Frau Elsässer hat noch Guthaben auf den Servicekonten der
Sekte für nicht besuchte Kurse, die ihr zurückgezahlt werden sollen.
558
Elsässer, 241.
176
Kurse zu bewegen und sie zu Gesprächen mit Scientologen zu überreden,
um angeblich den wirklichen Grund ihrer Unzufriedenheit zu ergründen.
Sie lehnt dies jedoch strikt ab. Sie war nur noch an einem Termin zur
Abwicklung der erforderlichen Formalitäten interessiert. Scientology biß
sich an ihr fortan die Zähne aus.559
Jutta Elsässer setzt sich durch und erhält alle von ihr geforderten
Geldbeträge zurück. Dazu bemerkt sie ironisch: „Und siehe da: Man
zahlte. Die Drohung mit rechtlichen Konsequenzen war demnach die
einzige Sprache, die auf Anhieb verstanden wurde.“560 Innerhalb kurzer
Zeit hat Frau Elsässer den Kontakt mit der Sekte endgültig beenden und
zusammen mit einem befreundeten ehemaligen Scientologen alle
Schulden abzahlen können.
2.2.2.2 Elke Nietsche
Nachdem Markus B. von der Eltern- und Betroffeneninitiative
vernommen hat, daß Frau Nietsche endgültig mit Scientology brechen will,
warnt er sie vor jeglichem weiteren Kontakt mit der Sekte und rät ihr, einen
Anwalt einzuschalten. „Er meint“, schreibt Frau Nietsche, „daß man bei
den Scientologen mit allem rechnen müsse. Auf keinen Fall dürfe ich
irgendeine Verbindung mit ihnen aufnehmen und schon gar nicht bei Olaf
auftauchen. Sie verfügen über Techniken und Mittel, um mich wieder
zurückzuholen.“561 Durch diese Vorsichtsmaßnahmen wird Frau Nietsche
deutlich vor Augen geführt, in welcher Gefahr sie auf dem Weg ihres
Ausstiegs schwebt. Sie denkt mit Schrecken an Olafs Auftreten in ihrer
Wohnung zurück. Sie ist überzeugt, daß die Münchener Zentrale ihn zu ihr
geschickt hat. Sie wagt gar nicht daran zu denken, was hätte passieren
können, wenn sie mit ihm allein in der Wohnung gewesen wäre. Mit Hilfe
des Sektenberaters, Herrn Markus B., verfaßt Frau Nietsche ein
559
Elsässer, 241.
Ibid., 242.
561
Nietsche, 82.
560
177
Austrittsschreiben, wobei sie eine fürchterliche Angst und Unsicherheit
überkommt. Sie beginnt am ganzen Leibe zu zittern, als sie das
Kündigungsschreiben des Mitarbeitervertrages aufsetzt. Sie ist so
angespannt, daß sie zu weinen beginnt. Gleichzeitig wird sie von einer
großen Unsicherheit erfaßt, da sie Angst vor eventuellen Repressalien der
Sekte hat. „Welche Maßnahmen wird Scientology ergreifen?“, fragt sie
sich.562 Schließlich verläßt Frau Nietsche ihre Wohnung und hält sich mit
ihrer Tochter Fredericke bei ihren Eltern verborgen.
Tatsächlich läßt die Sekte sie eine Zeitlang in Ruhe, so daß sie sich
ermutigt fühlt, zunächst ohne ihre Tochter in ihre alte Wohnung
zurückzukehren, um sich allein und ungestört mit den Ereignissen der
vergangenen
sechs
Wochen
auseinandersetzen.
Die
Scientology-
Organisation hat ihr Leben ruiniert, so daß sie sich „wie eine Aussätzige“
fühlt. Man hat ihr alles genommen. Sie schämt sich sehr und möchte sich
am liebsten „verkriechen und nichts sehen und nichts hören“. Die
ausbleibenden Reaktionen der Organisation wertet sie als geschickte
Taktik der Sekte mit dem Ziel, sie seelisch „fertigzumachen“. Sie soll ins
Wanken geraten und zu Scientology zurückkehren. Doch sie ist fest
entschlossen, der Organisation nicht mehr zu erlauben, künftig noch
irgendwie Macht über sie auszuüben.563
Der Scientologe Olaf, für den sie einst auf Flohmärkten und anderen
Veranstaltungen
Waren
verkauft
hat,
um
ihre
Mitgliedschaft
bei
Scientology zu finanzieren, meldet sich nach einiger Zeit mit einem Brief.
Er teilt Elke Nietsche mit, sie sei von allen ihren Aufgaben bei der
Organisation entpflichtet. Sie solle jedoch ihrer Tochter die Möglichkeit
geben, mit Scientology in Kontakt zu treten.564
Dieses Ansinnen stürzt Frau Nietsche in eine weitere Krise. Olaf
versucht, in ihr wegen der Vernachlässigung der Tochter Schuldgefühle
wachzurufen. Er bringt Fredericke ins Spiel, um Salz in die Wunden des
Opfers zu streuen und es seelisch und moralisch zu destabilisieren, was
562
Nietsche, 82.
Ibid., 86f.
564
Ibid., 87f.
563
178
ihm auch gelingt. 565 Sie erkennt seinen Brief als Versuch, sie zu erneuten
Kontakten mit der Sekte zu bewegen. Die eigentlichen Hintergründe
seines Interesses an ihr werden ihr erst jetzt wirklich bewußt. „Es ist ein
Spiel, das einen in den Wahnsinn treibt. Allmählich wollte er [Olaf] mir all
seine Posten übergeben, damit er endlich das ausführen darf, was er
eigentlich von Anfang an wollte: Auditor mit E-Meter sein. Das jedoch wird
man ihm nur erlauben, wenn er einen Ersatz liefert. Dafür hatte er mich
auserkoren.“566 Frau Nietsche begreift immer mehr, wie sehr die
Scientologen sie mißbrauchen und ausnutzen. Bei allem, was ihr an
Schrecklichem widerfahren ist, kann sie von Glück sagen, daß ihr mit Hilfe
ihrer
Verwandten
und
der
Hilfe
des
Sektenberaters
und
der
Betroffeneninitiative der Ausstieg nach sechs Wochen Mitgliedschaft
geglückt
ist,
wenngleich
die
psychologische
Bewältigung
der
Sektenmitgliedschaft noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Daher fragt
sich Frau Nietsche: „Wann kann ich endlich sagen, wirklich draußen,
wirklich ausgestiegen zu sein? Es ist ein langwieriger Prozeß.“567
2.2.2.3 Norbert Potthoff
Norbert Potthoff und seine Frau versuchen, sich von Scientology zu
lösen, indem sie sich in Kempen bei seinem Freund Matthias verstecken.
Nachdem er schon einmal zur Organisation zurückgekehrt ist, fehlt bei
Norbert die Bereitschaft, einen erneuten Rückfall zu riskieren. Besonders
die psychischen Probleme, unter denen seine Frau leidet, bestärken ihn in
dieser Haltung.
Trotz der Entfernung zur Niederlassung in Düsseldorf nimmt seine Frau
wieder Verbindungen zur Sekte auf. Bald schon fährt sie wieder
565
„Mich macht das sehr betroffen, ich kann mich kaum beruhigen. Besonders die
Anspielung bezüglich meiner Tochter schmerzt mich. Er weiß, daß ich Probleme mit
ihr habe. Somit schießt er in eine offene Wunde, denn momentan komme ich mit
Fredericke überhaupt nicht zurecht.“ (Nietsche, 88).
566
Nietsche, 89.
567
Ibid., 91.
179
regelmäßig zu Scientology nach Düsseldorf.568 Der Weg in die Freiheit, in
ein der Sekte abgewandtes Leben, erscheint ihr eher als Bedrohung, denn
als wirklicher Schritt hin zur Selbständigkeit, während die vertraute
Ordnung in Scientology ihr wie das Paradies erscheint. Schließlich
verbringt sie nur noch einen Tag pro Woche bei ihrem Mann und
entfremdet sich immer mehr von ihm.569 Alle seine Vorhaltungen bleiben
wirkungslos. Dadurch erschweren sich die Ausstiegspläne erheblich.
Nach einiger Zeit findet er sich bereit, zusammen mit seiner Frau eine
von
der
Sekte
organisierte
Party
zu
besuchen,
bei
der
auch
Nichtscientologen anwesend sind. Dabei stellt er fest: „Mich fragt niemand
mehr nach meiner Meinung, denn mein Band zu ihnen [Scientologen] ist
nur noch sehr dünn, besteht vielleicht auch nur noch deshalb, weil ich
meine Frau nicht verlieren möchte.“570 So merkt er, daß seine kritische
Haltung gegenüber der Sekte den Scientologen längst bekannt ist.
Scientology übt eine derart großen Einfluß auf Frau Potthoff aus, daß
diese beschließt, sich von ihrem Mann zu trennen. „Sabine sagt es kühl
und ohne eine Spur von Mitgefühl.“571 Als seine Frau diese Worte spricht,
hat Norbert den Eindruck, daß neben ihm plötzlich eine Fremde sitzt.
Diese Episode zeigt, wie weit es der Sekte gelungen ist, das gute
Verhältnis zwischen den Eheleuten zu zerstören.
Durch seine Frau bringen die Scientologen Norberts Aufenthaltsort
Potthoffs bei dem Ex-Scientologen Matthias in Erfahrung. Deshalb statten
ihm zwei Ethik-Offiziere der Organisation einen Besuch ab, um ihn zur
Rückkehr in die Organisation zu bewegen. Doch Norbert öffnet ihnen erst
gar nicht die Tür seiner Wohnung und zeigt dadurch unmißverständlich,
daß er sich nicht mehr in ein Gespräch mit ihnen einlassen will. Als die
beiden Männer das Haus verlassen müssen, ist seine Wut so groß, daß er
568
„Sabine fährt immer noch regelmäßig nach Düsseldorf, und ich kann sie auch nicht
davon überzeugen, damit aufzuhören. Im Gegenteil, sie fährt immer öfter und bleibt
immer länger aus, schließlich sogar für mehrere Tage.“ (Potthoff, 257).
569
„Mir bleibt nur ein einziger Tag, um mit Sabine ins Gespräch zu kommen, während sie
sechs Tage in der Woche unter scientologischem Einfluß steht.“ (Potthoff, 259).
570
Potthoff, 260.
571
Ibid., 261.
180
den Wunsch nicht unterdrücken kann, sie mögen auf der dunklen Treppe
stolpern und sich „den Hals brechen.“572
Das
Abweisen
der
Ethik-Offiziere
zeugt
von
einem
neuen
Selbstbewußtsein. „Ich kann mein Selbstbewußtsein nicht länger davon
abhängig machen, wie ich zu diesem System Scientology stehe. Ich muß
meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig von irgendeinem
System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten schreiben, will
sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik schielen oder auf
eine schwebende Nadel am E-Meter.“573
Um seine Wut und Enttäuschung zu verdrängen, beschließt Potthoff
spontan, die Wohnung, die Matthias ihm zur Verfügung gestellt hat, zu
renovieren. Dabei erleidet er einen lebensgefährlichen Unfall, der einen
mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt zur Folge hat.574 Nicht einmal im
Krankenhaus ist er vor Schikanen der Scientology-Organisation sicher. Als
seine Frau ihn eines Tages in der Klinik aufsucht, zeigt sich auch bei
dieser Gelegenheit, wie sehr sie von Scientology indoktriniert ist. Das
einzige, was sie ihrem Mann in seiner lebensbedrohlichen Lage zu sagen
hat, ist die sarkastische Bemerkung: „Nun, mein Lieber, du siehst, was
geschieht, wenn du die Brücke zur totalen Freiheit verläßt. Du mußt
schnellstens OT III gehen. Du hast eine fallende Statistik. Denk darüber
nach. Mit einem Selbstmordversuch wirst du mich nicht zurückgewinnen.
Ich bin nicht erpreßbar.“575 Die Mutter läßt dagegen ihren Sohn nicht im
Stich.576 Sie kennt die Intrigen der Sekte und um die Ursachen der Not
ihres Sohnes und nimmt ihn nach seiner Entlassung aus dem
Krankenhaus bei sich auf.
Trotz aller Rückschläge gibt sich Potthoff nicht geschlagen und hofft,
seine Frau Sabine zurückgewinnen zu können. Deshalb fährt er nach
seiner Genesung nach Düsseldorf, um sie am Scientology-Gebäude
abzufangen, was ihm nach mehreren Versuchen auch gelingt. Dieser
572
Vgl. Potthoff, 263.
Ibid.
574
Ibid., 265ff.
575
Potthoff, 271.
576
„Sie weiß, daß es schlecht um ihren Sohn steht. Und sie ahnt auch, wie es zu dieser
Katastrophe kam. Ihr Haß auf Scientology ist fast grenzenlos.“ (Potthoff, 269f.).
573
181
letzte Versuch, Sabine zurückzugewinnen, scheitert jedoch. Sie ist zu
einem von Scientology gesteuerten Werkzeug geworden. Potthoff muß
sich damit abfinden, daß er seine Frau endgültig verloren hat. Seine
seelische Verfassung nach diesem gescheiterten Gespräch schildert er
folgendermaßen: „Voller Entsetzen stolpere ich in die Nacht hinaus. Das
Bild einer Toten drängt sich mir auf. Es mag absurd sein, Mediziner,
Psychologen mögen dafür bessere Erklärungen haben, aber mir kommt
kein anderer Vergleich in den Sinn.“577
Frau Potthoff dagegen leitet als letzte Reaktion die Scheidung in die
Wege und läßt ihrem Mann das Ehescheidungsgesuch zusenden. Norbert
Potthoff weigert sich zunächst, das Scheidungsgesuch zu akzeptieren,
allerdings nur aus Trotz, um die Scientology-Organisation für das erlittene
Unrecht gewissermaßen zu bestrafen. Die Scheidung kann er dadurch
jedoch nicht verhindern. Es kommt zu einer Verhandlung, durch welche
die Ehe geschieden wird.
Diese Ehescheidung ist der endgültige Schlußstrich. Sie dokumentiert
nicht nur, daß seine Frau sich von ihm getrennt hat, sondern auch seinen
endgültigen Bruch mit der Sekte. Erst jetzt kann Norbert Potthoff
erleichtert feststellen: „Wenn ich jetzt durch die Tür des Gerichtssaals
hinausgehe, verlasse ich endlich nach sieben Jahren das Labyrinth von
Scientology.“578
2.2.2.4 Zusammenfassung
Die
geschilderten
Erfahrungsberichte
zeigen,
daß
es
für
die
Sektenaussteiger mit schweren Belastungen verbunden ist, wenn die
Sekte von dem Ausstiegswillen Wind bekommt. Die Gründe, die Mitglieder
veranlassen Scientology den Rücken zu kehren, sind im wesentlichen
dieselben wie bei den Zeugen Jehovas, sind jedoch vielfältiger.
Scientology versteht es, ihre Anhänger durch eine absolute Kontrolle und
577
578
Potthoff, 274.
Ibid., 282.
182
Manipulation, vor allem durch eigene Sprach- und Verhaltensmuster, so
weit vom Lebensalltag der übrigen Gesellschaft abzukapseln, daß ihnen
der Realitätsbezug immer mehr abhanden kommt. Ohne die Hilfe von
außen, durch Familienmitglieder oder Freunde, ist ein Ausstieg fast nicht
zu bewältigen.
Welche Wirkungen die Indoktrinationsverfahren nach sich ziehen,
haben die Aussteigerberichte deutlich vor Augen geführt. Der Rückfall in
die Sekte bei Norbert Potthoff und besonders bei seiner Frau sprechen in
diesem Zusammenhang eine eindeutige Sprache. Die räumliche Trennung
vom scientologischen Bezugsfeld ist in der ersten Zeit des Ausstiegs von
großer Bedeutung. Angesichts des bei Scientology üblichen Psychoterrors
und der üblichen Repressalien als Reaktion auf die Kündigung der
Mitgliedschaft ist ein Wohnungswechsel ratsam.
Jeder ausstiegswillige Scientologe muß sich einem Verfahren, dem
sogenannten Kaplansgericht, unterziehen. Dieses Gericht stellt dabei
ähnlich wie das Rechtskomitee bei den Zeugen Jehovas einen Versuch
dar, die betreffende Person unter der Kontrolle der Sekte zu halten. Zu
einer solchen oft mit weiteren Schikanen einhergehenden Prozedur
erklären sich die wenigsten Ausstiegswilligen bereit, da eine solche
erneute Konfrontation mit der Sekte für sie mit allzu großen Belastungen
verbunden wäre.
2.2.2.5 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und
Motive, die zu einem Bruch mit Scientology geführt haben
Die Ursachen und Motive für einen Sektenausstieg bei Scientology
betreffen fast ausschließlich den psychosozialen Bereich. Im Gegensatz
zu einem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas findet bei Aussteigern aus
Scientology meist keine kritische Auseinandersetzung mit der religiösen
oder philosophischen Lehre, hier der Philosophie Hubbards, statt. Nicht
sein philosophisches System als solches wird in Frage gestellt, sondern
eher die Lebenspraxis von Mit-Scientologen, die Hubbards Lehren noch
nicht angemessen verwirklicht haben.
183
Bei den Sektenaussteigern aus der Scientology-Organisation lassen
sich vor allem fünf Ursachen und Motive deutlich herausstellen, die mehr
oder weniger selbständig und ausgeprägt in Erscheinung treten können.
Diese sind: Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis,
Bewußtseinsveränderung und Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls
aufgrund zeitweiser Distanz zur Scientology-Organisation, physische und
psychische Erschöpfungszustände, Kontakte zu und Aufklärung durch
Familienangehörige und andere der Sekte fernstehende Menschen, sowie
als ergänzendes Motiv der finanzielle Ruin von Betroffenen.
2.2.2.5.1 Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis
Bei den Widersprüchen zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis
spielen Enttäuschungen und Frustrationen eine Rolle, die mit den hohen
ethischen Forderungen, die das Sektenmitglied zu verwirklichen hat,
zusammenhängen, so vor allem Enttäuschungen über das Verhalten von
Mit-Scientologen unteren Ranges und von Vorgesetzten. Oftmals werden
berechtigte Anfragen des Mitglieds von der zuständigen Abteilung der
Scientology einfach ignoriert, was bei wiederholtem Auftreten zu Zweifeln
und Kritik an der Organisation führen kann. Frau Elsässer beispielsweise
erhält von der zuständigen Abteilung der Scientology-Organisation auch
nach
mehreren
Monaten
keine
Antwort auf
ihre
Anfragen.
Am
prägnantesten lassen sich die Widersprüche zwischen der Glaubenslehre,
die den Mitgliedern der Sekte absolute geistige Freiheit verheißt, und der
negativen Praxis der Sekte, die sich am deutlichsten in der Existenz von
Straflagern zeigt, die eine Bedrohung für Leib und Leben darstellen. Die
unmenschlichen Malträtierungen innerhalb dieser Einrichtung erfährt
Norbert Potthoff, als eine Mit-Scientologin, physisch und psychisch in
Mitleidenschaft gezogen, bei ihm erscheint, woraufhin er sich über die
Maßnahmen der Organisation entrüstet. Die ihm aufgrund seiner
Führungsposition bekannten kriminellen Aktivitäten der Scientology, die
Bedrohung seiner eigenen Freiheit und seines Lebens sowie dem seiner
Frau, bilden zusammen das entscheidende Ausstiegsmotiv aus den
184
Reihen
der
Scientology.
Die
von
Scientologen,
besonders
von
Ethikoffizieren, verübten Gewaltakte gegenüber Mit-Scientologen machen
die in den Schriften Hubbards verheißenen positiven philosophischen
Ziele zunichte.
2.2.2.5.2
Bewußtseinsveränderung
Selbstwertgefühls
aufgrund
und
zeitweiser
Stärkung
Distanz
des
zur
eigenen
Scientology-
Organisation
Die enge Bindung an die Sekte, vor allem durch die ständige
Indoktrination, bewirkt auf Seiten des Mitglieds ein hohes Maß an
physisch-psychischer und zeitlicher Beanspruchung. Sobald sich dem
Mitglied durch unerwartete Umstände eine Möglichkeit zur zeitweisen
Distanz
gegenüber
der
Sekte
bietet,
etwa
durch
gemeinsame
Freizeitaktivitäten mit Außenstehenden, die eigentlich verpönt sind, kann
dies ein Schritt hin zu eigenem Denken sein und ein Gefühl der Freiheit
aufkommen lassen. Dies kann, wie im Fall von Frau Elsässer, bei einer
Rückkehr in das von der Sektendoktrin beherrschte Umfeld ein Gefühl der
Befremdung bewirken. Schließlich führen dies Erfahrungen zu der
Erkenntnis,
die
Sektenumgebung
sei
für
den
schlechten
Gesundheitszustand verantwortlich und die dauernde Beanspruchung
durch Scientology habe die Reflexion über die Gruppe verhindert. Frau
Elsässer will keinen „Raubbau“ mehr an ihrer Person zuzulassen und
beschließt mit Hilfe von Verwandten und eines Sektenberaters die
Organisation zu verlassen.
2.2.2.5.3 Physische und psychische Erschöpfungszustände
Physische und psychische Erschöpfungszustände stellen meist ein mit
anderen kombiniertes Motiv für einen Sektenausstieg bei Scientology dar.
Erschöpfungszustände in diesen beiden Bereichen allein sind meist kein
Grund dafür, die Sekte zu verlassen. Erschöpfungszustände aber,
185
kombiniert mit einer zeitweisen Distanz zur Organisation oder dem
Kontakt mit Außenstehenden können ein wichtiger Schritt hin zum
späteren Bruch mit der Gruppe sein.
Neben Frau Elsässer zeigt auch das Beispiel Elke Nietzsches, wie
Kontakte zu Familienangehörigen und Aufklärung durch diese und andere
der Sekte fernstehende Menschen sowie eine zeitweise Distanz zur Sekte
zu einem Reflektionsprozeß und zur „Besinnung“ führen kann.
2.2.2.5.4 Kontakte zu und Aufklärung durch Familienangehörige und
andere der Sekte fernstehende Menschen
Familienangehörigen und anderen der Sekte fernstehenden Menschen
können jedoch meist nur dann einen Einfluß auf ein Sektenmitglied
ausüben, wenn die Verbindungen noch nicht vollends abgebrochen
worden sind und das Sektenmitglied erst seit kurzer Zeit, bei Frau
Nietsche etwa nur sechs Wochen, ein Mitglied der Scientology ist. Bei ihr
ist der Trennungs- und Abkapselungsprozeß von ihren Eltern im vollen
Gange. Der noch vorhandene Kontakt zur Familie, sowie ihre zeitweise
Distanz von Scientology aufgrund der räumlichen Entfernung zwischen
Wohnort und Scientology-Zentrale begünstigen ihren baldigen Entschluß
zum Ausstieg aus Scientology, wobei erst der von ihrer Schwägerin
hinzugezogene und sie aufklärende Sektenberater ihr zur Erkenntnis
verhilft, sie befinde sich in einer totalitären Sekte. Die durch ihre Reisen
zur Scientology-Zentrale bedingte längere Abwesenheit von zu Hause und
die so verursachte Vernachlässigung ihrer Tochter weckt Schuldgefühle
und läßt sie die Ursache für die gestörten Familienbeziehungen erkennen.
Der Sektenberater hilft in diesem Fall bei der Formulierung des
Austrittsschreibens. Der Kontakt zu Familienangehörigen und anderen der
Sekte fernstehenden Menschen kann also neben anderen Motiven
entscheidend für das Verlassen der Sekte dar.
186
2.2.2.5.5 Finanzieller Ruin
Als letztes, wenn auch mit einem oder mehreren der anderen Motive
verknüpft, sei der finanzielle Ruin der meisten Scientology-Mitglieder
genannt. Zunächst verstärkt die schlechte finanzielle Situation die
Abhängigkeit und Bindung des Mitglieds an die Sekte, kann aber, wie das
Beispiel Jutta
Elsässers
zeigt, auch zur
Erkenntnis
führen, die
Organisation sei verantwortlich für die eigene miserable finanzielle
Situation.
Allerdings
müssen
auch
hier
immer
mehrere
Motive
zusammenwirken, um schließlich die Entscheidung zum Ausstieg fällen zu
können. So stellt der finanzielle Ruin nur ein Begleitmotiv dar, welches
nicht allein stehen kann, sondern dem eine die anderen Motive
verstärkende Funktion zukommt.
3 Den Sektenausstieg erschwerende
psychologische Faktoren
3.1 Überzeugtsein von der Heilslehre der Sekte
Auch bei einer ausstiegswilligen Person ist der Glaube an die Heilslehre
der Sekte noch außerordentlich wirksam. Durch die permanente
Indoktrination haben sich die Glaubensvorstellungen tief im Bewußtsein
des Sektenmitglieds verankert. In diesem Zusammenhang betont Jutta
Elsässer des öfteren ihre Versuche, dem Anspruch und der Lehre der
Scientology-Organisation gerecht zu werden: „Wieder und wieder wies
Hubbard darauf hin, daß man sich am Riemen reißen und die
vorgegebenen Richtlinien zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der
Scientology mit größter Härte und Unnachgiebigkeit durchsetzen solle.“579
Monika Deppe von den Zeugen Jehovas äußert sogar die Befürchtung,
den bisherigen Glauben im Falle eines Ausstiegs aus der Organisation,
nicht mehr in der von Gott geforderten Weise ausüben zu können. Sie
579
Elsässer, 123.
187
schreibt: „Wir konnten uns kaum vorstellen, nie wieder in eine
Versammlung zu gehen, denn das war uns zu einer alltäglichen
Gewohnheit geworden. Würden wir jemals andere Menschen finden, die
ihren Glauben ebenso ernst nehmen wie wir? Mit wem sollten wir nun
über Gottes Wort reden können? Und die Sektendoktrin, daß ein ewiges
Heil nur in unserer Organisation zu erreichen war, hatte sich so tief in
unserem
Unterbewußtsein
festgesetzt,
daß
die
Angst
vor
einer
Vernichtung durch Jehova immer wieder in uns aufkam.“580
Diese zwei Beispiele zeigen, wie tief die Glaubenslehre gepaart mit
einer Angst vor schlimmen Konsequenzen im Falle des Verlassens der
Gruppe noch in der Denkstruktur der Mitglieder verankert bleibt.
Das Mitglied hat für seine persönliche Überzeugung oft große Opfer
gebracht und seine persönliche Glaubensüberzeugung auch außerhalb
der Gruppe vertreten. Dies äußert sich bei den Zeugen Jehovas in der
Lebensweise, beispielsweise in dem Verbot, daß ihre Kinder an gewissen
schulischen Veranstaltungen oder an Weihnachtsfeiern, Geburtstagsfeiern
und anderen als verwerflich betrachteten Feiern teilnehmen. Diese
freiwillige
Absonderung
persönliches
wird
Bekenntnis
von
der
der
Kinder
Wachtturm-Gesellschaft
und
Jugendlichen
zu
als
ihrer
Organisation und damit zu Jehova angesehen. Klaus-Dieter Pape spricht
in diesem Zusammenhang davon, daß die WTG ihre Kinder und
Jugendlichen als „theokratische Armee“ bezeichne. Zur Schulung dieser
Armee sei eine strenge Zucht durch die Eltern und die Organisation
erforderlich.581
Erwachsene Zeugen Jehovas leben ihre Glaubensüberzeugung auch in
Konfliktsituationen am Arbeitsplatz, wo sie einerseits für ihren Arbeitseifer
und ihre Disziplin bewundert, andererseits aber auch oft offen angefeindet,
abschätzig
Verachtung
behandelt
bestärken
und
verspottet
gläubige
werden.
Anfeindungen
Sektenmitglieder
meist
in
und
ihrer
Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein. Monika Deppe erinnert in
diesem Zusammenhang an die Gestalt des Noah aus dem alten
580
581
Deppe, 73.
Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 172-176.
188
Testament, der aufgrund seiner Predigten und Gottverbundenheit
ebenfalls verspottet wurde: „Die damalige Menschheit hatte seinen
Warnungen nicht geglaubt, und sicherlich hatte Noah den gleichen Spott
geerntet, wie wir heute als Zeugen Jehovas. Wenn er das hatte ertragen
können, dann konnten wir das auch, denn auch wir handelten ja im
Auftrag Gottes.“582
Der Auftrag Gottes, so wie er von der jeweiligen Sekte interpretiert wird,
ist unbedingt zu erfüllen. Das hat Klaus-Dieter Pape am Beispiel der
Zeugen Jehovas dargelegt. Danach gilt es, sämtlichen Anfeindungen und
Kritiken entgegenzutreten, um für Jehova Zeugnis abzulegen. Diese
Überzeugung immunisiert die Gläubigen gegen jegliche Kritik von außen
und ermöglicht es den Mitgliedern, Ablehnung und Spott zu ertragen.
Auch eigene Zweifel werden so unterdrückt oder kommen erst gar nicht
auf. „Der Zweifel bringt dich ums Paradies“ 583 , schreibt Klaus-Dieter Pape.
Margaret Thaler Singer und Janja Lalich befassen sich mit der Rolle der
Glaubensüberzeugungen in Sekten aus psychologischer Sicht und
kommen
zu
dem
Ergebnis:
„In
der
Welt
der
Sekten
sind
Glaubensüberzeugungen der Klebstoff, der eine Person an die Gruppe
bindet. In welcher Art von Gruppe Sie auch sein mögen, Sie machen mit
und passen sich an, weil Sie an die Gruppe glauben. Sie glauben an die
Ziele und an die Menschen, die das gleiche tun wie Sie. Sie glauben an
den Führer. Sie glauben, daß Ihr Tun Sinn hat.“584 Diese Überzeugungen
sitzen so tief, daß vereinzelte Zweifel und Unstimmigkeiten immer wieder
verdrängt
werden.
Als
Rechtfertigung
für
Fehler
innerhalb
der
Organisation wird dabei auf die Fehlerhaftigkeit einzelner verwiesen,
jedoch wird die Verantwortung für negative Vorkommnisse niemals der
Sekte als solcher zugeschrieben. Im Falle von Kritik wird das Mitglied in
der Regel mit dem Hinweis auf die Kompetenz der Führung abgespeist
und ausdrücklich auf seine eigene Inkompetenz hingewiesen. Dem
Zweifler oder Kritiker wird dann empfohlen, an sich selbst zu arbeiten, sich
selbst durch das tiefere Studium der Heilslehren zu verändern „und
582
Deppe, 45.
Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 158.
584
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 307.
583
189
allmählich haben diese Veränderungen eine radikale Wirkung auf Ihre
Gedanken und Handlungen, ohne daß Sie sich dessen bewußt sind.“585
3.2 Anstand und Loyalität
Die Loyalität gegenüber der eigenen Glaubensgemeinschaft wird in
zahlreichen Publikationen und Vorträgen immer wieder als zentraler
Bestandteil der Mitgliedschaft hervorgehoben.586 Bei der Erwägung eines
Ausstiegs gerät eine Person in einen Gewissenskonflikt. Sie kann das der
Gruppe gemachte Loyalitätsversprechen im Falle eines Ausstiegs nicht
mehr erfüllen.
In formaler Hinsicht muß der einmal unterzeichnete Mitgliedsvertrag der
Organisation gegenüber gekündigt werden. Dieser Schritt stellt für die
Mehrheit der Ausstiegswilligen eine harte Probe dar und ist oft mit
erheblichen
schwierigen
Schuldgefühlen
Konflikten
und
und
Zweifeln
Ängsten
verbunden.
die
Mit
Aufkündigung
welch
der
Sektenmitgliedschaft einhergehen kann, haben wir am Beispiel von Elke
Nietsche
gesehen.
Sie
berichtet,
das
Kündigungsschreiben
des
Mitarbeitervertrages von Scientology „zitternd“ aufgesetzt zu haben.
Dieser Brief strengt sie so sehr an, daß sie „zu heulen“ beginnt und „ins
Schwanken“ gerät.587
Das einmal gegebene Versprechen, die Organisation und alle ihre Ziele
zu unterstützen und nach außen hin auch zu verteidigen, besitzt ein
solches Gewicht, daß die Entscheidung, die Sekte zu verlassen, immer
wieder aufgeschoben wird. So kann man bei Thaler Singer / Lalich lesen:
„Ich habe mich dazu entschlossen, ich habe ja gewußt, daß es nicht leicht
ist. Manches hier scheint mir nicht in Ordnung zu sein, aber ich habe
gesagt, daß ich mitmachen will, ich habe schließlich mein Wort gegeben.
Ein bißchen bleibe ich noch.“588
585
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 307. Das „Ihre“ in dem Zitat bezieht sich auf den Leser,
der sich auf diese Weise direkt angesprochen fühlen soll.
586
Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 132ff.
587
Vgl. Nietsche, 82.
588
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308.
190
Die
Entscheidung für
die Sekte
und die
Hoffnung
auf
eine
überraschende Wende zum Guten verhindert, daß ein Sektenmitglied den
längst fälligen Ausstieg tatsächlich vollzieht. Jutta Elsässer gibt ihre
Erfahrungen und Gedanken in diesem Zusammenhang so wieder: „Ich
wollte die Hoffnung noch immer nicht aufgeben, daß sich alles zum Guten
wenden würde. Mein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen
war noch immer nicht gebrochen!“589 Durch diese Verzögerung erspart
sich der Ausstiegswillige das Gefühl, vor den Anforderungen der Sekte zu
kapitulieren und seine eigene Unfähigkeit eingestehen zu müssen. Das
Gefühl, ein „Drückeberger“ zu sein, soll unbedingt vermieden werden.590
3.3 Gruppendruck und Informationsmangel
Die stets als vorbildlich herausgestellte Leistungsbereitschaft von
Mitgliedern und deren Missionserfolge soll bei den übrigen Gläubigen die
Motivation stärken. Dies führt zu einer Art Konkurrenzdenken, bei
welchem es darum geht mit den anderen mitzuhalten, und deren
Leistungen und Erfolge womöglich noch zu übertreffen und so selbst ein
Vorbild für andere zu werden. Bedingt durch den zeitaufwendigen und
energiereichen
Einsatz
für
die
Sekte,
bleibt
für
persönliche
Angelegenheiten nicht mehr viel Raum. Eine eingehende Reflexion über
das eigene Leben und die wirklichen Vorgänge innerhalb der Gruppe ist
aus Zeitmangel und persönlicher Inanspruchnahme nicht möglich und
auch nicht erwünscht. Alles soll im Licht der Heilslehre interpretiert
werden, wobei der Einfluß der Außenwelt, besonders von Kritikern, so weit
wie möglich ausgeschaltet werden soll: „Dienst, Dienst, Dienst, das ist
doch die Parole, die aus allen Wachtturm-Schriften spricht, die das
übergeordnete Thema einer jeden örtlichen Zusammenkunft darstellt, und
die auch auf allen Kongressen immer neu im Vordergrund steht.“591
589
Elsässer, 238.
Vgl. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308.
591
Twisselmann, 43.
590
191
Die Zurückdrängung des Einflusses der Außenwelt zeigt sich bei den
Zeugen Jehovas insbesondere in dem Verbot, mit ehemaligen Mitgliedern
Kontakte
zu
unterhalten.
Diese
könnten
durch
ihre
kritischen,
sektenexternen Informationen die Stabilität des gesamten Systems in
Frage stellen: „Da gerade ehemalige Zeugen Jehovas viele Mißstände der
Organisation aufdecken, werden sie in den Veröffentlichungen der
‚leitenden Körperschaft’ geradezu verketzert. Kein Zeuge darf einen
Ehemaligen grüßen, und für deren Literatur besteht ein absolutes
Leseverbot.“592
Ziel des Gruppendrucks und des Vorenthaltens von Informationen ist
es, das eigene System zu stabilisieren und gegen die feindliche
Außenwelt abzuschirmen. Thaler Singer / Lalich bemerken hierzu:
„Weltereignisse werden entstellend interpretiert, ebenso die Haltung der
Außenwelt zur Gruppe. Alle diese Mythen über die Sekte und die
Gesellschaft werden nicht nur vom Führer, sondern auch von seinem
inneren Führungskreis ständig verbreitet. Der Informationsmangel der
meisten Mitglieder hält sie davon ab, sich wirklich Rechenschaft über die
Situation zu geben, in der sie sich befinden.“593
3.4 Übersteigerte Autoritätsgläubigkeit und Angst vor
Bestrafung
Die ständige Indoktrination und die Forderung eines absoluten
Gehorsams unter Hinweis auf die angeblich gottgegebene Autorität der
Oberen führt bei den Anhängern zu einem Gefühl der Unterlegenheit und
zu einer übersteigerten Autoritätsgläubigkeit. „Die meisten Mitglieder sind
überzeugt, daß die Leitung ihrer Gesellschaft in den Händen von Männern
liegt, die in besonderer Weise vom Geist Gottes geleitet werden. Nur sehr
wenige Mitarbeiter in der Weltzentrale in Brooklyn ahnen, mit welchen
592
593
Deppe, 62.
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 310.
192
Methoden tatsächlich die einzelnen Entscheidungen gefällt werden und
wie oft dieses Leitungsgremium mit zweierlei Maß mißt.“594
Bei Scientology ist diese Autoritätsgläubigkeit mit Kadavergehorsam
gepaart. Personen, die höhere Auditingstufen erfolgreich absolviert haben,
genießen besonderes Ansehen. Den Offizieren der Organisation gebührt
dabei die höchste Form des Respekts, den sie notfalls unter Androhung
von Strafmaßnahmen erzwingen. Kritik wird als Mißachtung gegenüber
den Oberen interpretiert und geahndet. Es gilt der Grundsatz: „Der Führer
besitzt
die
erschöpfende
Antwort,
Fragen
und
Zweifel
sind
unangebracht.“595
Die Ächtung und Verfolgung von Kritikern und Zweiflern und die
Herabsetzung deren menschlicher Würde ist bei Scientology wie auch bei
den Zeugen Jehovas ein wirksames Mittel der Abschreckung. „Um
Gehorsam durchzusetzen, hat jede Gruppe ihre Form der Bestrafung für
Regelverletzung. Wenn Sie kritische Fragen stellen, wird man Sie
lächerlich machen und Sie je nach Gruppenjargon Verräter, Spion, Agent
oder Satan nennen oder sonstwie diffamieren. Es gibt immer eine
gruppeninterne Sprache, um jemanden verächtlich zu machen und
herabzusetzen.“596 Dabei werden die staatlichen Gerichte durch eine
eigene Gerichtsbarkeit umgangen. Bei den Zeugen Jehovas wird diese
Aufgabe vom Rechtskomitee597 bei Scientology vom Kaplansgericht
übernommen.
Die
Durchführung
von
Strafmaßnahmen
kann
bei
Scientology
besonders bedrohliche Ausmaße annehmen, wie es Norbert Potthoff am
Schicksal
der
Mitscientologin
Susan
schildert,
die
wie
ein
Schwerverbrecher in ein sogenanntes Rehabilitierungslager gesteckt
wurde.598
594
Deppe, 63.
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308.
596
Ibid.
597
Zur Arbeit des Rechtskomitees siehe Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 202f.
598
„Susan beginnt zu weinen, und unter Tränen erzählt sie mir ihr Leid. Man schickte sie
damals nach Kopenhagen, aber dort geriet sie sofort ins RPF, in das
Rehabilitierungslager. In einem alten Heizungskeller fristete sie dort mit anderen
Schwerverbrechern ein kümmerliches Leben mit Sprechverbot, Schlafentzug und
schlechter Ernährung. Beate hatte sie zum schweren Ethikfall erklärt, und da sie gar
nicht wußte, was sie überhaupt verbrochen haben sollte, hatte ihr Widerstand gegen
595
193
Bei den Zeugen Jehovas wird intensiv mit Verleumdung gearbeitet, um
Ehemalige oder Kritiker in Verruf zu bringen. Dies schreckt die meisten
Gläubigen davor zurück, Mißstände selbst zur Sprache zu bringen und so
zu ebensolchen Kritikern gezählt zu werden.
Gerd Wunderlich wird nach seinem Ausstieg von einem anderen noch
aktiven Zeugen heftig in Verruf gebracht. Dieser teilt einem Passanten,
nachdem dieser ihn argumentativ widerlegt hat, mit: „Das können Sie doch
nur vom Wunderlich haben! Der ist doch vom Satan besessen.“599
Die überaus starke Autoritätsgläubigkeit und die ständige Angst vor
Zurechtweisung und Diskriminierung aus den eigenen Reihen, bewirken
bei den Gläubigen eine Fremdbestimmung in fast allen Lebensbereichen,
über welche Thaler Singer schreibt: „Wenn Sie Mitglied einer Sekte sind,
dann ist ein großer Teil Ihrer Umgebung und Ihrer Lebensentscheidungen
fremdbestimmt:
Ihre
finanziellen
Ressourcen,
Ihr
Zugang
zu
Informationen, die Wahl Ihrer Arbeit, Ihre Freizeit, Ihr sozialer Umgang,
manchmal sogar Ihr sexuelles Leben stehen unter Kontrolle.“600
3.5 Erschöpfungs- und Verwirrtheitszustände
Der permanente Leistungsdruck führt bei den Mitgliedern der Sekten oft
zu Erschöpfungserscheinungen, die zeitweilig von einer gewissen
Verwirrtheit begleitet werden können. Die in einem normalen Berufsleben
Möglichkeiten der Freizeitgestaltung können nur selten oder gar nicht in
Anspruch genommen werden.601 Im Zusammenhang mit Überlastungsund Erschöpfungszuständen von Sektenmitgliedern bemerken Margaret
diese Behandlung sie tiefer und tiefer in die Strafmaßnahmen hineingezogen.“
(Potthoff, 204f.).
599
Wunderlich, 172.
600
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 309.
601
Über die Folgen einer solchen einseitigen Beanspruchung bei den Zeugen Jehovas
heißt es: „Die Zeugen Jehovas investieren ihr ganzes Leben in einen einzigen
Lebenszweck, nämlich den, der Wachtturm-Organisation zu dienen (nach ihrer
Ansicht handelt es sich dabei um Dienst für Gott), anstatt einer Vielzahl von
Interessen zu folgen, mit denen Erfolg und Belohnung verbunden sind und die eine
Identität begründen. Mißerfolg oder Enttäuschung auf diesem einen Gebiet wirken
sich daher verheerend aus.“ (Borchers-Schreiber, Vermehrtes Auftreten psychischer
Erkrankungen, 8f.).
194
Thaler Singer und Janja Lalich: „Ehemalige sagen, sie hätten das Gefühl
gehabt, als läge ein Schleier über ihren Augen, als hätten sie den Bezug
zur Wirklichkeit verloren. Sie funktionierten wie Roboter. Manche haben
darüber gelacht und gesagt: Der oder die hat glasige Augen. Ja, sie hatten
in der Tat glasige Augen, zum Teil aus reiner Erschöpfung.“602
Diese Überbeanspruchung wird, wie man auch an dem bereits zitierten
Tagesablauf Jutta Elsässers603 erkennen kann, von den Verantwortlichen
der Sekte bewußt eingesetzt, um die Mitglieder von ihrer bisher vertrauten
Umwelt
zu
entfremden
und
eine
unaufhörliche
Indoktrination
sicherzustellen. Hat nämlich das Mitglied Zeit zu Muße und Entspannung,
bietet sich ihm auch die Möglichkeit der Selbstreflexion, was von der
Sekte als Gefahr betrachtet wird; denn der Gläubige könnte auf diese
Weise unter Fremdeinfluß geraten und über sein Leben in der
Organisation nachdenken, was aber möglichst vermieden werden soll.
Daß die Befürchtung der Sektenleitung nicht unbegründet ist, läßt sich bei
Jutta Elsässer erkennen. Sie berichtet hierüber: „Trotz des nach wie vor
sehr
intensiven
Kontakts
zu
Scientology
begann
allmählich
ein
Loslösungsprozeß, der immer dann seinen Höhepunkt erreichte, wenn ich
für einige Tage abwesend gewesen war. Kam ich nach einer knappen
Woche zurück in die Org, um mit meinem Kurs fortzufahren, befremdete
mich die Atmosphäre. Ich empfand eine schwer zu beschreibende
Bedrückung, wenn ich zufällig Vorgesetzte mit ihren Untergebenen ‚in
Komm(unikation)‘ sah.“604
602
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 310.
Siehe oben Punkt 2.2.1.1.
604
Elsässer, 232f.
603
195
4 Verarbeitung der Sektenvergangenheit als
Voraussetzung für die Rückkehr ins „normale
Leben“
Eine
Wiedereingliederung
in
die
Gesellschaft
ist
nach
einem
Sektenausstieg nicht einfach. Dabei müssen verschiedene Problemkreise
ins Auge gefaßt werden. Dazu gehören die berufliche, finanzielle und
soziale Situation des Aussteigers sowie seine psychologische Verfassung.
Margaret Thaler Singer und Janja Lalich bieten in ihrem Buch eine sehr
detaillierte Auflistung der einzelnen zu berücksichtigenden Ebenen, die bei
der Verarbeitung der Sektenvergangenheit beachtet werden sollten.605
Einige dieser Bereiche, die vor allem im Zusammenhang mit dem
Sektenausstieg bei den Zeugen Jehovas und Scientology von Bedeutung
sind, werden im folgenden besonders hervorgehoben.
4.1 Finanzielle und berufliche Situation nach dem
Sektenausstieg
Meist stehen Sektenaussteiger vor dem finanziellen Ruin. Dies gilt vor
allem für ehemalige Scientologen. Der Erwerb der umfangreichen
Sektenliteratur und die zahlreichen zu absolvierenden Kurse zur
Erreichung absoluter geistiger Befreiung stellen eine hohe finanzielle
Belastung dar. Jutta Elsässer berichtet, sie habe der ScientologyOrganisation einen Geldbetrag von ca. 70.000 DM „anvertraut“. Sie
begründet dies mit ihrem Streben, „eine schnelle und unproblematische
‚Transformation‘ zum perfekten Menschen“ zu erreichen.606 Sie weiß sich
hierbei in einer Schicksalsgemeinschaft derer, die dasselbe Ziel erstreben.
Zu spät merkt sie, daß sie sich von den Versprechungen der Organisation
hat „blenden lassen – und als Folge hiervon in den seelischen wie auch
605
606
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 340f.
Elsässer, 247.
196
finanziellen Ruin getrieben worden“ ist. Sie wisse mit Sicherheit, daß sie
kein Einzelfall sei.607
Norbert Potthoff macht ähnliche Erfahrungen. Auch er muß durch seine
Mitgliedschaft bei Scientology erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen
und ist schließlich völlig mittellos. Seine Erfahrungen in der Sekte wecken
in ihm große Energien, die ihm einen Neuanfang ermöglichen. Deshalb
gelingt
es
ihm,
in
seinen
angestammten
Beruf
als
Graphiker
zurückzukehren und sich aus der schwierigen Situation allmählich zu
befreien.608
Bei den Missionseinsätzen werden durch den Verkauf von Literatur oft
enorme Summen erzielt, jedoch fließt alles Geld der Organisation zu. Den
ungeheuren Gewinnen der Organisation steht der kärgliche Lohn, den die
für die Sekte hauptberuflich aktiven Mitglieder ausgezahlt bekommen,
gegenüber. Die Verschuldung der Mitglieder verstärkt die Abhängigkeit
von der Sekte, besonders dann, wenn sie einen sekteninternen Kredit
aufgenommen haben.609
Die Verschuldung der Mitglieder wird von der Sekte bewußt angestrebt.
Wer nach einer Vollzeittätigkeit in der Sekte den Ausstieg wagt, kann
selten in den alten Beruf zurückkehren und ist deshalb von Arbeitslosigkeit
bedroht.610 Die schlechte Arbeitsmarktsituation erschwert die rasche
berufliche
zusätzlich.
Wiedereingliederung
Manche
versuchen
und
die
eine
Abzahlung
wegen
des
der
Schulden
Sektenbeitritts
abgebrochene Ausbildung oder ein unterbrochenes Studium wieder
aufzunehmen, was weitere finanzielle Belastungen mit sich bringt.
Bei den Zeugen Jehovas ist die Lage nach einem Ausstieg für die
Betroffenen
nicht
ganz
so
dramatisch wie
bei den
ehemaligen
Scientologen. Da die meisten Zeugen in der Wachtturm-Organisation
607
Elsässer, 252.
Potthoff, 274.
609
„Geübte Sammler bringen es Tag für Tag auf 1.500 Dollar. Ein Exmitglied sagte, es
habe im Monat 30.000 Dollar mit Blumenverkauf verdient, jemand anders 69.000
Dollar in neun Monaten.“ (Thaler Singer, / Lalich, Sekten, 343).
610
Bei einem beruflichen Neuanfang stellt sich nach einer Vollzeittätigkeit bei der Sekte
das Problem der nicht entrichteten Sozialversicherungsbeiträge. In diesem Fall ist die
Nachversicherung sehr wichtig. (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 166f.).
608
197
keine hauptberufliche Tätigkeit ausüben, verbleiben sie im Gegensatz zu
Scientologen normalerweise in ihrem bisherigen Beruf.
4.2 Psychologisch-emotionaler Bereich
4.2.1 Der belastete Lebenslauf
Die gesellschaftlichen Reaktionen auf Sektenaussteiger sind sehr
unterschiedlich. Aussteiger werden aufgrund ihrer Sektenanfälligkeit von
manchen Menschen als leichtgläubige, unkritische Personen angesehen
und oftmals entsprechend rücksichtslos oder vorwurfsvoll behandelt. Die
Befürchtung, nach einem Ausstieg von Verwandten und Freunden fortan
als unglaubwürdig betrachtet zu werden, äußert sich bei Monika Deppe
beispielsweise schon vor dem offiziellen Ausschluß bei den Zeugen
Jehovas.611 Selbst wenn diese Befürchtungen sich nicht bewahrheiten,
bleibt doch die Angst vor ablehnenden Reaktionen bestehen. Dies kann
vor allem bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle zu unangenehmen
Situationen führen, wenn vor Arbeitgebern der persönliche Lebenslauf und
die Sektenvergangenheit offengelegt werden müssen.612 Viele ehemalige
Sektenmitglieder scheuen sich, bei ihren Bewerbungen dem Arbeitgeber
mitzuteilen, daß sie in einer Sekte waren. Vor allem befürchten sie, daß
man ihnen persönlich die Schuld an dem erlittenen Schicksal geben
wird.613
Die Situation erweist sich dann als besonders schwierig, wenn das
ehemalige Mitglied, wie beispielsweise Norbert Potthoff, innerhalb der
611
„Was würden unsere Nachbarn und vor allen Dingen unsere Familie sagen, wenn wir
unsere Religion noch einmal wechseln würden. Wären wir in ihren Augen nicht völlig
unglaubwürdig?“ (Deppe, 73).
612
Im Zusammenhang mit der Vorgehensweise bei Bewerbungen gibt Heide-Marie
Cammans folgenden Ratschlag: „Arbeitgeber legen bekanntlich Wert auf lückenlose
Lebensläufe. Deshalb ist es bei längeren Sektenzeiten (z. B. als „vollzeitlicher
Mitarbeiter“ oder „Missionar“) ratsam, diesen Sachverhalt wahrheitsgemäß
anzugeben. Bei der sprachlichen Benennung ist einige Sorgfalt zu empfehlen. Das
Wort Sekte ist zu vermeiden. Statt dessen kann vielleicht stehen: Mitarbeiter in einer
religiösen Bewegung. Auch hier kann eine Sektenberatung individuelle Hilfestellung
anbieten.“ (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 167).
613
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 345.
198
Sekte eine Führungsposition innehatte. In einem solchen Fall ist es nicht
einfach, die persönliche Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Für den Aussteiger ist es entscheidend, die in der Sekte erlebten
Manipulationen und Verzerrungen der Wirklichkeit aufzuarbeiten, seine
Biographie entsprechend aufzuwerten und nicht in einer negativen Weltund Gesellschaftsdeutung verhaftet zu verharren.614 Dabei sollte er am
besten auf die Hilfe eines Experten, sei es eines Psychologen oder eines
Seelsorgers zurückgreifen, um sich mit der Situation vor, während und
nach der Mitgliedschaft in Sekte auseinandersetzen.
Die Hilfe von Sektenberatern und Psychologen wird von den meisten
Aussteigern dankbar angenommen, und so kann nach einer längeren
Phase der Aufarbeitung auch eine positive Bewertung des Lebenslaufs
erfolgen.615 Für den Prozeß der Aufarbeitung und der Annahme der
eigenen Lebensgeschichte kann es hilfreich sein, die gemachten
Erfahrungen in einem Bericht niederzuschreiben, wie dies die Aussteiger
in den dargestellten Erfahrungsberichten getan haben.
Das Verfassen eines Erfahrungsberichtes dient der Aufarbeitung und
ermöglicht es dem Aussteiger, eine gewisse Distanz zum Erlebten zu
gewinnen. Dadurch können die Ereignisse gewissermaßen noch einmal
bewußt vor Augen treten und für die Biographie des Betroffenen eine
neue, positive Bedeutung erlangen, was Gerd Wunderlich in seinem
Erfahrungsbericht betont: „Es gibt noch einen weiteren Grund, daß ich
dieses Buch geschrieben habe. Was nämlich jetzt als vergangen und
einfach erscheint, war über mehrere Jahre mit härtesten inneren und
614
Bei der Aufarbeitung zu beachtende Themen sind nach Meinung von Heide-Marie
Cammans auch die Analyse der Beitrittsmotive, die Art der Vereinnahmung und die
Auseinandersetzung mit der Lehre und der Wirklichkeit der Sekte. (Vgl. Cammans,
Betroffen durch Sekten, 159-164).
615
Es wirkt sich in diesem Zusammenhang sehr vorteilhaft aus, wenn die positiven
Ergebnisse der Sektenmitgliedschaft aufgezeigt werden können. Hierzu meint ein
amerikanischer Psychologe, Ex-Mitglied der Moon-Sekte: „Es ist wichtig, daß
Ehemalige ihren Schmerz annehmen und sich mit ihm auseinandersetzen. Sie
müssen die nötige Trauerphase durchmachen. Was dabei offenbar am meisten hilft,
ist, den Leuten zu zeigen, daß sich durchaus auch Positives aus ihrer Mitgliedschaft
ergeben hat und daß sie durch die Erfahrung viel stärker geworden sind.“ (Vgl.
Hassan, Steven, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Psychologische Beratung für
Betroffene und Angehörige, Reinbek 1993, 283).
199
äußeren Auseinandersetzungen verbunden. Ich konnte davon nur
loskommen, wenn ich mir diese Dinge von der Seele schrieb.“616
Norbert Potthoff gelingt es auf diese Weise, seinen bösen Erfahrungen
nachträglich eine recht positive Deutung zu geben. Dabei weist er nicht
nur auf seine eigenen Fehler hin, sondern kritisiert auch, daß die
„moderne Leistungsgesellschaft, wie wir sie heute kennen, in nicht
unerheblichem Maße dazu beigetragen hat“.617
Jutta Elsässer stellt in ihrer Niederschrift vor allem die Notwendigkeit
der Selbstreflexion in den Vordergrund. Sie gesteht: „Ich bin heute sehr
froh, meine Geschichte nicht unter den Teppich gekehrt und versucht zu
haben, sie einfach zu vergessen. Und erst jetzt, kurz vor Fertigstellen
dieses Buchs, wird mir begreiflich, daß ich durch das nochmalige intensive
Eindringen in die Einzelheiten einen weiteren Schritt vorwärts getan
habe.“618 An einer anderen Stelle schreibt sie: „Im Rückblick erscheint mir
meine Geschichte fast unwirklich. Dennoch ist sie Teil meines Lebens,
den ich nicht mehr missen möchte.“619
4.2.2 Schuld und Scham
Die Auseinandersetzung mit eigenem schuldhaften Verhalten während
der Mitgliedschaft ist für die Verarbeitung der Sektenvergangenheit noch
aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung; denn die Werbung
neuer Mitglieder in der Zeit der Sektenzugehörigkeit sowie der unbedingte
Glaube und die Unterwerfung unter die Organisation erfüllen die Opfer
nach dem Verlassen der Sekte oftmals mit Schuld- und Schamgefühlen.
616
Wunderlich, 199. Norbert Potthoff äußert sich in seinem Erfahrungsbericht ähnlich:
„Während ich dieses Buch schrieb und – wenn auch nur im Geiste – dabei noch
einmal meinen Weg durch Scientology ging, war die Herausforderung größer, als ich
angenommen hatte.“ (Potthoff, 287).
617
Potthoff, 287.
618
Elsässer, 245.
619
Ibid., 252.
200
Derartige Gefühle können gegenüber anderen und gegenüber sich selbst
auftreten.620
Gerd Wunderlich beschreibt den Kontrast zwischen dem einstigen
Überlegenheitsgefühl
als
Sektenmitglied
den
übrigen
Menschen
gegenüber und der Einstellung nach dem Ausstieg mit folgenden Worten:
„Heute sind wir weit davon entfernt, uns dieser unserer damaligen
‚Überlegenheit’ zu freuen. Im Gegenteil. Wir haben einsehen müssen, daß
wir im Grunde genauso borniert waren wie die Kirchenchristen. Kannten
diese die Bibel und die Kirchenlehren nicht oder nur ungenügend, so
kannten wir die Bibel nur verzerrt durch die WT-Brille. Dafür konnten wir
aber um so imponierender und unbeugsamer auftreten.“621
Nach seinem Ausstieg und bei seinen späteren Kontakten zu dem einst
so verurteilten Kirchenchristen muß Wunderlich feststellen, daß sich diese
weit besser als die Zeugen Jehovas für das Reich Gottes einsetzen. „Daß
es in den Kirchen viel lebendiger und menschlicher zugeht, als wir Zeugen
behaupteten und wußten, haben wir inzwischen erkannt. Nicht nur
herrscht in den Kirchen eine viel größere Gedankenfreiheit als bei den
WT-‚Sklaven’ (so die Selbsteinschätzung des ehemaligen Zeugen
Jehovas W. J. Schnell), die Kirchen engagieren sich auch in wichtigen
sozialen Werken, die ein glaubwürdiger Ausdruck von Nächstenliebe
sind.“622
Schuldhaftes Verhalten gegenüber der eigenen Person finden wir auch
bei Barbara Waß: „Zwölf Jahre geistige Gefangenschaft kann man nicht
innerhalb von ein paar Monaten ablegen. Man mußte erst lernen, sich
einzugestehen, daß man zwölf Jahre einen falschen Weg gegangen ist,
daß man sich gebrauchen, ja mißbrauchen hat lassen.“623 Nachdem sie
sich mit der Welt und auch mit sich selbst versöhnt hat, kann sie
schließlich auch das Positive ihrer Erlebnisse sehen: „Wir haben
620
Heide-Marie Cammans erwähnt das Auftreten solcher Gefühle sich selbst gegenüber,
Angehörigen gegenüber, deren Warnungen man nicht beachtet hat, seinem Partner
gegenüber, den noch aktiven Mitgliedern der Sekte gegenüber, jenen Menschen
gegenüber, die man selbst der Sekte missioniert und der Sekte zugeführt hat. (Vgl.
Cammans, Betroffen durch Sekten, 153f.).
621
Wunderlich, 201.
622
Ibid., 203.
623
Waß, 235.
201
Menschen kennengelernt, die wir sonst sicher nie kennengelernt hätten,
und wir haben Freunde gefunden, die wir sonst nie gefunden hätten. Allein
daß wir diese Freunde gefunden haben, war es schon wert, dies alles zu
erleben.“624
Bei
Margaret
Selbstannahme,
Thaler
Singer
Vergebung
und
und
Janja
die
Lalich
stehen
Wiedergutmachung
die
des
angerichteten Schadens im Vordergrund, wenn sie von als schuldhaft
erkannten Verhaltensweisen sprechen: „Wenn sie [die Aussteiger] sich mit
der
düsteren
Wirklichkeit
der
Täuschung
und
Unehrlichkeit
des
Sektenlebens konfrontieren, dann ergreift sie oft heftigste Reue über ihre
Taten und das Bedürfnis, Schaden, den sie zugefügt haben, wieder gut zu
machen. Sie können mit dieser Schuld nur fertig werden, wenn sie
akzeptieren, was sie getan haben, sich selbst vergeben und sich dort, wo
es möglich ist, um einen Ausgleich des Schadens bemühen.“625 Von daher
gesehen
kann
die
intensive
Aufklärungsarbeit
ehemaliger
Sektenmitglieder, sei es durch Erzählen ihrer Erfahrungen oder durch ihr
späteres soziales Engagement auch als Teil der Wiedergutmachung von
empfundener Schuld anerkannt werden.
4.2.3 Angst vor sich selbst
Die Abwertung der eigenen Person gegenüber der übermächtigen
Sektenführung führt meist auch unweigerlich zu einer Anhäufung von
gefährlichem und selbstzerstörerischem Potential, welches im Extremfall
im Suizid enden kann.626 Die Überwindung des negativen Selbstbildes ist
bedeutsam für die Selbstvergebung und Selbstannahme. Nur auf diesem
Wege
können
mögliche
zerstörerische
Nachwirkungen
der
Sektenmitgliedschaft überwunden werden. Laut Jutta Elsässer stehen den
624
Waß, 244.
Thaler Singer / Lalich, Sekten, 347.
626
Hugo Stamm äußert sich über die persönlichkeitsverändernden Folgen von
Psychotechniken wie folgt: „Die Tiefenwirkung der Psychomanipulation ist geeignet,
selbstzerstörerische Persönlichkeitsveränderungen herbeizuführen.“ (Stamm, Sekten,
176).
625
202
Fortschritten zeitweilige Rückfälle gegenüber: „Hierzu gehört u.a. auch die
Erkenntnis, daß ich, wie alle Menschen, die eine Verbesserung anstreben,
an mir arbeiten, meine Problemseiten ans Licht kehren und versuchen
muß,
eingefahrene
Verhaltensweisen
durch
Beharrlichkeit
und
Selbstermutigung zu ändern. Manchmal klappt es ganz gut. Oft erlebe ich
jedoch, wie sich alte ‚Programme‘ immer wieder durchsetzen.“627
Die Sektenvergangenheit kann sich wie eine Droge suchtähnlich
auswirken,
wie
Elke
Nietsche
festzustellen
glaubt:
„Trotz
aller
Informationen über die Hintergründe von Scientology kann ich den Sog zu
Scientology nicht leugnen. Es wirkt wie eine Droge, oder?“628 In einem
solchen Fall ist therapeutische Hilfe vonnöten, um eine möglichst große
Stabilität der eigenen Person zu erreichen und die Selbstkontrolle gegen
mögliche Rückfälle zu festigen.
Die Suchttendenz sieht Hugo Stamm auch bei den Zeugen Jehovas,
gegeben. Er schreibt: „Voraussetzung für die Erlösung ist, täglich die
Sünden zu bekennen und Gott um Vergebung zu bitten. Dieses
selbsterniedrigende Ritual frißt sich unheilvoll ins Unbewußte und bewirkt
ein
Grundgefühl
des
Ungenügens
und
Versagens.
Ein
solcher
Gemütszustand richtet den Menschen mit der Zeit seelisch zu Grunde,
weshalb er sich krampfhaft nach Erlösung von diesen permanenten
Demütigungen sehnt.“629
Das von Stamm als persönlichkeitszerstörend dargestellte tägliche
Sündenbekenntnis und dessen Folgen ist von der christlichen oder
kirchlichen Buße zu unterscheiden. Der Christ bittet Gott zwar auch um
Vergebung der Schuld, jedoch ist er sich dessen bewußt, daß Gott ihn
bereits aus Gnade und Liebe verziehen hat. Er kann sich der Vergebung
Gottes gewiß sein, ohne sich diese verdienen zu müssen und sich in
selbsterniedrigender Weise zu demütigen.
627
Elsässer, 248.
Nietsche, 91.
629
Stamm, Sekten, 89.
628
203
4.2.4 Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte
Die Angst vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen der Sekte ist ein oft
anzutreffendes Phänomen während und nach einem erfolgten Ausstieg. In
den Aussteigerberichten kommen diese Befürchtungen und deren
Bestätigung deutlich zur Sprache. Die beliebteste Vergeltungsmaßnahme
ist die Verleumdung der Abtrünnigen. Auch von Telefonterror und
Morddrohungen wird berichtet.
Bei den Zeugen Jehovas lassen sich solche Verleumdungen, durch
welche einer abtrünnigen Person großer Schaden zugefügt werden soll,
eindeutig nachweisen. Abtrünnige sind nach Meinung der Zeugen
Jehovas die „stärksten Verbündeten Satans“, die durch ihren Abfall und ihr
Agieren gegen die Organisation ihre „Mitknechte schlagen“.630 Derartige
Argumente werden als Begründung für die Diffamierung von Zeugen
angeführt, die der Sekte den Rücken kehren wollen oder den Ausstieg
schon geschafft haben.
Wie sich solche Maßnahmen auswirken, kann man bei Monika Deppe
nachlesen:
„Wenn
uns
auf
der
Straße
ehemalige
Geschwister
begegneten, sahen sie starr an uns vorbei, grüßen durften sie uns nicht
mehr. Daran hat sich auch bis heute, zehn Jahre nach unserem
Ausschluß, nichts geändert. Ein mit uns befreundetes Ehepaar aus
unserer Versammlung brach den Kontakt mit uns ab.“631
Dieses Ausmaß von Verleumdungen mußte auch Barbara Waß
erleben.
Nachdem
sie
und
ihr
Mann
aus
der
Versammlung
ausgeschlossen worden sind, versucht die Sekte durch gezielte
Verbreitung von Unwahrheiten zu agieren. „Ein besonders eifriger Zeuge
sagte im Predigtdienst zu einem Arbeitskollegen von meinem Mann, mein
Mann hätte Ehebruch begangen. Als wir davon erfuhren, riefen wir einen
Ältesten an und sagten ihm, wenigstens solche gemeine Lügen müßten
unterbunden werden, doch er sagte nur, das gehe ihn nichts mehr an,
denn sie würden nicht mehr mit uns reden.“632 Die geschilderten
630
Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 155.
Deppe, 76.
632
Waß, 240.
631
204
Maßnahmen stellen bei den Zeugen Jehovas ein wirksames Mittel der
Bestrafung dar und erreichen weitgehend das Ziel, die anderen Anhänger
vor den schädlichen Einflüssen der Abtrünnigen zu bewahren.
Auch
über
Vergeltungsmaßnahmen
bei
Scientology
gibt
es
Zeugenaussagen. Frau Nietsche engagiert sich nach ihrem Ausstieg bei
der Eltern- und Betroffeneninitiative, die ihr selbst geholfen hat, und berät
und begleitet dort durch Sekten zuschaden gekommene Menschen. Diese
Aufklärungsarbeit versucht Scientology mit allen Mitteln zu verhindern.
Über die Maßnahmen der Organisation gegen ihre Person berichtet sie:
„Mir soll unterstellt werden, daß ich nur wegen der Eltern- und
Betroffeneninitiative ausgestiegen bin. Die Fähigkeit und Kompetenz,
Aussteiger beraten zu können, soll mir abgesprochen werden, weil ich
mich noch in der Lebensberatung befinde, also psychologische Hilfe in
Anspruch nehme.“633 Es gelingt Frau Nietsche sich zu behaupten, jedoch
bleibt eine ziemlich große Angst vor ernsteren Vergeltungsaktionen
bestehen.634
Norbert Potthoff weiß im Zusammenhang mit Vergeltungsmaßnahmen
der Scientology-Organisation sogar von Telefonterror und Morddrohungen
als Mittel der Einschüchterung von Kritikern zu berichten. Da er aufgrund
seiner Position in der Sektenhierarchie ein besonders gefährlicher
Mitwisser war, versucht die Organisation sein Schweigen durch ein
Bestechungsgeld zu erkaufen. Da er das Bestechungsgeld ablehnt und
sich auch nicht bereit erklärt, Verschwiegenheit über die Aktivitäten der
Sekte zu bewahren, setzt gegen ihn und seinen Freund Matthias ein
Telefonterror ein, bei dem auch Morddrohungen ausgestoßen werden. 635
633
Nietsche, 92f.
Über die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen meint Steven Hassan: „Da die Sekten
jeden für ihren Feind halten, der ihre Reihen verläßt, besteht für die Abtrünnigen
immer die Gefahr, daß ihnen etwas Böses zugefügt wird.“ (Hassan, Ausbruch aus
dem Bann der Sekten, 292).
635
„Ich lehnte ab, und in der Folge begann der Telefonterror, der in Morddrohungen
gegen Matthias und seine Kinder gipfelte.“ (Potthoff, 284).
634
205
4.2.5 Konflikte wegen verlorener Familienangehöriger und
Freunde
Viele Menschen beklagen den Verlust von Angehörigen und Freunden,
die sie an eine Sekte verloren haben, weil sie den gemeinsamen Ausstieg
aus der Sekte nicht geschafft haben. Besonders schmerzlich ist es, wenn
es sich bei den betroffenen Personen um Ehepartner handelt. Dies ist eine
harte Bewährungsprobe, die oftmals mit der Auflösung der Ehe und dem
endgültigen Verlust des Partners verbunden ist. 636
Am Beispiel von Norbert Potthoff wird diese Problematik besonders
deutlich. Als seine Ehe geschieden und der Verlust seiner Frau für ihn zur
endgültigen Gewißheit wird, ist er von tiefer Trauer erfüllt. Nach den
Anspannungen der vorangegangenen Wochen und Tage verspürt er aber
auch eine gewisses Gefühl der seelischen Befreiung. „Erst als meine
Anwältin mir ein Taschentuch in die Hand drückt, merke ich, wie die
Tränen über mein Gesicht laufen. Tränen der Trauer, aber auch Tränen
der Erleichterung“, schreibt er.637
Ein innerer, von Trauer begleiteter Konflikt tritt auch dann auf, wenn
man keinen Familienangehörigen, sondern Freunde an die Sekte verloren
hat.
Zerbrochene
Freundschaften
stellen wohl eine
der
größten
Enttäuschungen und Verletzungen dar, die Aussteiger erleben.638
636
„Zahlreiche Ehen zerbrechen, weil diejenigen, die gehen wollen, zutiefst erschüttert
sind, wenn sie feststellen müssen, daß Liebe und eheliche Loyalität nichts sind im
Vergleich zur angstbesetzten Bindung des Partners an die Sekte und der Partner die
Loyalität gegenüber dem Sektenführer höher ansetzt als die Loyalität gegenüber dem
Ehepartner.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 362).
637
Potthoff, 282.
638
Vgl. Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 290. Barbara Waß schreibt zu
diesem Thema: „Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man mit jemandem oder gar einer
ganzen Familie noch vor kurzem zusammengesessen hat, mit ihm versucht hat, seine
Probleme zu lösen, wenn man mit den Leuten gefühlt und gekämpft, vielleicht sogar
geweint hat. Wenn man versucht hat, Familien, Ehen zusammenzukitten, weil sie zu
zerfallen drohten oder andere ganz persönliche Dinge besprochen hat.“ (Waß, 238).
206
4.3 Soziale und persönliche Beziehungen
4.3.1 Unkritische Passivität und hyperkritische
Einstellungen
Die Nachwirkungen des in der Sekte geforderten Kadavergehorsams
und die durch psychische Manipulation und Zwänge durchgesetzten Ziele
der Sektenoberen können das Leben der Sektenaussteiger erheblich
erschweren und bei ihnen zu unkritischer Passivität oder hyperkritischen
Einstellungen
führen.
Es
ist
für
die
Zukunft
eines
Aussteigers
entscheidend, die pluralistische Gesellschaft mit ihren unzähligen teilweise
entgegengesetzten
Angeboten
zur
Lebensgestaltung
und
ihren
differierenden Wertvorstellungen nicht pauschal zu verdammen, sondern
eine eigene Lebensweise mit spezifischen persönlichen Überzeugungen
für sich neu zu entwickeln. Dies stellt eine große Herausforderung dar, vor
der manche Aussteiger auch kapitulieren und lieber in die Sekte
zurückkehren, als den schwierigen Prozeß durchzustehen. Steven Hassan
hat diese Gefahr deutlich vor Augen, wenn er schreibt: „Auch haben viele
Sektenanhänger schon lange ohne eine richtige Arbeit oder eine normale
soziale Existenz gelebt, daß es ihnen sehr schwerfällt, sich im Alltag
wieder zurechtzufinden. Manche gehen schon nach kurzer Zeit freiwillig in
die Sekte zurück.“ 639
Über die Schwierigkeit, einen neuen Standort zu finden, äußert sich
auch Monika Deppe. Sie meint: „Bestand sein bisheriges Lebensziel darin,
andere Menschen für die Organisation zu gewinnen und seine eigenen
Aktivitäten mit deren Zielen in Einklang zu bringen, ist nach dem
Ausschluß sein Leben erst einmal ziellos geworden, und er muß lernen,
sich selbst neue Ziele zu stecken.“640
Oft ist nach dem Ausstieg eine große Passivität der ehemaligen
Sektenmitglieder zu beobachten. Diese läßt sich allerdings durch die
Strapazen des Ausstiegs erklären.641 Diese Passivität sollte jedoch nicht
639
Vgl. Hassan, Steven, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 277.
Deppe, 82.
641
„Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so
zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören wollten.“ (Waß, 240).
640
207
zu lange dauern und durch Bemühungen abgelöst werden, sich in die
Gesellschaft zu reintegrieren und ein neues persönliches und soziales
Netz aufzubauen. Gerade der Kontakt mit Menschen außerhalb des
sektiererischen Sozialgefüges ermöglicht es den Aussteigern meist, einen
Ausweg aus ihrer Passivität zu finden. Dadurch können sie die durch die
Indoktrination
geprägten
Verhaltensmuster
überwinden
und
ihr
allgemeines Mißtrauen allmählich abbauen
4.3.2 Nachwirkungen des Sektenvokabulars
Die Übernahme der Sektensprache stellt ein großes Hindernis auf dem
Weg zur Befreiung aus der Sekte dar. Gewöhnliche Begriffe werden durch
eine verschlüsselte Sprache ersetzt, deren wahre Bedeutung von
Außenstehenden nicht erschlossen werden kann.642 Die Sektensprache
bestärkt die Mitglieder zudem in ihrer Überzeugung, einer auserwählten,
alleinseligmachenden Organisation anzugehören. Durch die Schaffung
und die Benutzung einer eigenen Sprache bestimmt die Sekte auch das
Denken der Anhänger, so daß es sich fast nur noch im Rahmen des
eigenen Systems bewegt.643 Diese Feststellung gilt gleichermaßen für
Scientology644 und die Zeugen Jehovas.
Norbert Potthoff spürt die Nachwirkungen der scientologischen Sprache
noch lange nach seinem Ausstieg und seinem beruflichen Neuanfang, so
daß er sich eingestehen muß: „Meine Sprache, so merkte ich damals, und
damit auch mein Denken und Fühlen, war immer noch scientologisch
geprägt.“645 Erst als er beginnt, die Sprache und die Gedankenwelt von
Scientology zu analysieren, gelingt es ihm, eine gewisse Distanz zu
642
„Der Jargon erzeugt in der Gruppe ein Gefühl von Elite, Solidarität und Zugehörigkeit;
gleichzeitig wird die Möglichkeit einer lockeren Unterhaltung mit Außenseitern
abgeschnitten.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 353).
643
„Die mit Begriffsinhalten ‚besetzte‘ Sektensprache durch reale Sprache zu ersetzen,
kann die Rehabilitation beschleunigen.“ (Hassan, Ausbruch aus dem Bann der
Sekten, 288).
644
Stamm erwähnt im Zusammenhang mit der Sektensprache bei Scientology ein fast
achthundert Seiten umfassendes Bedeutungswörterbuch, welches das Ausmaß der
Sprachmanipulation bei Scientology deutlich macht. (Vgl. Stamm, Sekten, 119ff.).
645
Potthoff, 285f. Vgl. auch: Potthoff / Kemming, Scientology Schicksale, 350ff.
208
erreichen. Eine Loslösung von der allein seligmachenden Organisation
gelingt nur, wenn man sich auch von der Sektensprache und den von ihr
vorgegebenen Denkweisen lösen kann. Das kann man unter anderem
daran erkennen, wie Frau Potthoff den lebensgefährlichen Unfall ihres
Mannes als Strafe für seinen Abfall von der Sekte deutet. Dadurch zeigt
sie, wie sehr sie in den Sprach- und Denkmustern von Scientology
verhaftet ist, was ihr unmöglich macht, ihrem Mann bei seinem Ausstieg
zu folgen.646
Einen zentraler Begriff der Sektensprache der Zeugen Jehovas ist das
Wort „Harmagedon“. Dieser Begriff stammt aus der Offenbarung des
Johannes und dient zur Disziplinierung der Sektenmitglieder, da die Angst
vor der Vernichtung durch „Harmagedon“ bei den Mitgliedern stets
geschürt und in Verbindung mit Darstellungen von Vernichtungsszenen
wachgehalten
wird.
Durch
die
Androhung
des
Strafgerichts
„Harmagedons“ sollen die Zeugen Jehovas auch von einem Ausstieg
abgeschreckt werden.647 Selbst nach einem Ausstieg werden Menschen
durch „Harmagedon“ geängstigt. Die Nachwirkungen dieser Vorstellungen
mitsamt den hierfür verwendeten Begriffen lassen sich auch in den
Äußerungen Monika Deppes nachweisen. Sie beschreibt den Zwiespalt
zwischen den immer noch durch die Zeugen Jehovas geprägten
gegenwärtigen Vorstellungen von Aussteigern und der neu gewonnenen
Freiheit nach dem Ausstieg mit folgenden Worten: „So leben sie in einem
ständigen Zwiespalt, einerseits möchten sie jetzt endlich wieder in Frieden
und ohne psychischen Druck leben, andererseits möchten sie aber auch
dem Gericht Gottes entgehen und einmal auf einer paradiesischen Erde
leben. Dieser Zwiespalt kann so gravierend sein, daß ihre seelische
Gesundheit
dadurch
in
Mitleidenschaft
gezogen
wird.“648
Diese
Angstvorstellungen nennt Monika Deppe das „Post-Jehovas-ZeugenSyndrom“.649
646
Potthoff, 271.
Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 158-160.
648
Deppe, 82f.
649
Ibid., 83.
647
209
4.3.3 Aufbau eines neues sozialen Umfeldes und die Angst
vor erneuten Bindungen
Sektenaussteiger lassen ihr bisheriges vertrautes Umfeld bei einem
Austritt aus der Sekte hinter sich. Soll es nicht zur Vereinsamung und
Isolation kommen, muß das ehemalige Sektenmitglied ein neues soziales
Umfeld aufbauen. Hierbei ist zunächst die Überwindung des Mißtrauens
gegenüber der Welt außerhalb der Sekte vordringlich, andernfalls ist die
Schaffung eines neuen Freundes- und Bekanntenkreises nicht möglich.
Dies stellt einen langwierigen und schwierigen Prozeß dar, der viel Mut
erfordert. Ein Aussteiger, der keinerlei Rückhalt in der Familie oder im
Bekannten- und Freundeskreis hat, ist von Einsamkeit und Isolation
bedroht. Doch der Ausstieg kann fast nie allein bewerkstelligt werden.
Hierbei braucht der Aussteiger einen oder mehrere Menschen, die nach
dem Bruch mit der Sekte auch als erste Kontaktpersonen des neuen
sozialen Umfeldes dienen können.
Elke Nietsche hat großes Glück. Sie bleibt stets in Kontakt mit ihren
Eltern und ihrer Tochter, und auch ihr Bruder und ihre Schwägerin spielen
eine zentrale Rolle auf dem Weg, Scientology zu verlassen. Es sind ihre
Angehörigen, die ihr Kontakte zu einer Betroffeneninitiative und zur
Lebensberatung vermitteln, die sie dann zusammen mit ihrer Tochter
besucht.650
So kann sie von Glück sagen, daß während ihrer
sechswöchigen Mitgliedschaft bei Scientology keine totale Trennung von
ihrer bisherigen Umwelt stattgefunden hat. Im Rückblick wird sie sich
allerdings bewußt, daß dieser Trennungsprozeß bereits eingesetzt hatte,
als sie mit Scientology brach.651
Bei Ehepaaren ist es ideal, wenn beide zusammen die Sekte verlassen
können, wie dies den Familien Deppe, Waß und auch Familie Wunderlich
gelungen ist. So können die Eheleute
gemeinsam neue Kontakte
knüpfen. Dabei ist die Angst vor erneuten Bindungen zu beobachten, die
den Prozeß des Aufbaus von Beziehungen grundsätzlich erschwert. Es
dauert lange, bis die Angst vor erneuter Manipulation und Vereinnahmung
650
651
Vgl. Nietsche, 92.
Ibid. 93.
210
allmählich abgebaut werden kann. Demgegenüber gelingt es dem
Ehepaar Deppe, bereits kurze Zeit nach dem Ausstieg, Kontakt zu einer
christlichen Gemeinschaft aufzunehmen. Auch sie sind bei diesem Schritt
anfangs von Angst und Unsicherheit erfüllt. Doch wird dieses Hindernis
relativ schnell überwunden. Wie es gelingen kann, das anfängliche
Mißtrauen zu überwinden, kann man bei Monika Deppe nachlesen:
„Vorgenommen hatten wir uns besonders kritisch zu sein, denn wir wollten
unter keinen Umständen in eine neue Sekte hineinschlittern. Schon beim
Eintritt in das Wohnzimmer waren wir angenehm überrascht. Wir spürten
sofort, hier herrschte eine völlig andere Atmosphäre als bei den
Zeugen.“652 Auf diese Weise begegnen Herr und Frau Deppe zum ersten
Mal einem christlichen Hauskreis, der ihnen den Zugang zu einem
befreiten christlichen Glauben eröffnet. Doch nicht immer sind ehemalige
Sektenmitglieder gewillt, sich nochmals religiösen Gemeinschaften oder
Gruppen anzuschließen. In einem solchen Fall ist es ratsam, soziale
Kontakte ohne einen religiösen Hintergrund herzustellen.653
652
653
Deppe, 79.
„Dies kann durchaus eine gesunde Reaktion sein. Wir, die mit ehemaligen
Sektenmitgliedern arbeiten, raten ihnen zur Zurückhaltung vor jedweder Gruppe, die
Versprechungen auf ein besseres Leben macht, und empfehlen statt dessen normale
Sozialarbeit oder ausbildungsbezogene Aktivitäten, bis die Person die
Sektenerfahrung ganz verarbeitet hat und das Rekrutierungsphänomen besser
versteht.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 364).
211
Kapitel 3: Der Sektenausstieg als Herausforderung
und Chance für eine Beratung und Therapie auf
nichtchristlicher und explizit christlicher Basis
Die Erfahrungsberichte von Aussteigern aus der Sekte der Zeugen
Jehovas und der Psychosekte Scientology haben die Methoden von
Sekten und deren negative psychische Folgen für ihre Mitglieder deutlich
vor Augen gestellt. Der nach einem offiziellen Ausstieg notwendige
Prozeß der Aufarbeitung des erfahrenen Unrechts und der psychischen
Verletzungen stellt für die Beratung bzw. Therapie von Menschen mit
einer Sektenvergangenheit eine große Herausforderung dar. Einzelne, für
die Beratung und Therapie zu berücksichtigende Bereiche, sind bereits
beschrieben worden. Um eine effiziente Hilfe zu gewährleisten, bedarf es
einer qualifizierten Begleitung durch fachlich kompetente Personen, seien
es Psychologen oder Seelsorger. Manche durch Sekten geschädigte
Menschen wünschen dabei ausdrücklich eine nicht religiös geprägte
Beratung, weil sie befürchten, möglicherweise wieder religiös vereinnahmt
zu werden.
Ich
möchte
im
folgenden
zwei
verschiedene
Beratungs-
und
Therapieansätze vorstellen und versuchen, aus diesen mögliche konkrete
Hilfen für die Sektenaussteiger aus Scientology und der Sekte der Zeugen
Jehovas zu entwickeln. Der erste Ansatz auf nichtchristlicher Basis, der
sowohl für durch Scientology geschädigte Menschen als auch für
Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas von Bedeutung sein dürfte,
ist die sogenannte existenzanalytisch ausgerichtete Logotherapie nach
Viktor Frankl. Das zweite Beratungs- und Therapiekonzept, welches
speziell für Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas entscheidende
Hilfen
bieten
dürfte,
ist
das
auf
explizit
christlicher
Grundlage
ausgerichtete Beratungs- und Therapiekonzept des Priesters und
Psychotherapeuten Jörg Müller.
212
1 Die existenzanalytische Logotherapie Viktor
Frankls und ihr Beitrag zur Genesung von
Sektenaussteigern
1.1 Gründe für die Entstehung des logotherapeutischen
Beratungs- und Therapiekonzeptes
1.1.1 Frankls Kritik am Therapiekonzept Sigmund Freuds
Bei
der
Aufarbeitung
leidvoller
Lebenserfahrungen
stellt
sich
unweigerlich die Frage nach Sinn und Zweck des erfahrenen Leids.
Hierbei können die klassischen psychotherapeutischen Verfahren, die im
wesentlichen auf Sigmund Freud und seine Schule zurückgehen, nur
einen ungenügenden Beitrag leisten.
Viktor Frankl, der ein Schüler Freuds ist, hat zahlreiche Defizite der
traditionellen Ansichten und Vorgehensweisen Freuds erkannt und dessen
therapeutische Ansätze weiterentwickelt, um durch die Hervorhebung der
Sinnproblematik und durch das Aufzeigen eines zu entdeckenden tieferen
Lebenssinns eine in die Zukunft ausgerichtete und das eigene Leben
bejahende und verantwortende Hilfe in Form der Logotherapie weiter
auszubauen.
Frankl meint, die bisherige psychologische Schule nach Sigmund
Freud654 habe eine fehlerhafte Sichtweise des menschlichen Wesens
hervorgebracht. Diese werde vor allem am mechanistischen Menschenbild
Freuds deutlich und zeige sich an der Sichtweise von Lust und Wert und
der Verhältnisbestimmung zwischen Trieb und Sinn.655
654
Die drei bedeutendsten psychologischen Richtungen sind die Psychoanalyse nach
Sigmund Freud, die Individualpsychologie Alfred Adlers und die analytische
Psychologie nach Carl Gustav Jung.
655
Vgl. Frankl, Der leidende Mensch, 28ff.
213
1.1.1.1 Das mechanistische Menschenbild Freuds
Freud hat sicherlich entscheidende Verdienste im Bereich der
Psychotherapie erworben, so vor allem die Entdeckung des Einflusses
des Unbewußten auf das menschliche Leben656 . Seine Sicht des
Menschen, die die menschliche Psyche in das „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“
einteilt,657 bleibt
jedoch sehr mechanistisch. Im „Es“ liegen die
naturgegebenen menschlichen Triebe und Bedürfnisse. Das „Ich“
kommuniziert mit der Außenwelt und vermittelt zwischen „Es“ und „ÜberIch“. Dieses „Über-Ich“ kann als Gewissen betrachtet werden und ist durch
erziehungsbedingte Gebote und Verbote geprägt. Dabei sind Störungen
der Psyche auf Fehlfunktionen innerhalb des aus diesen drei Schichten
bestehenden psychischen Apparates zurückzuführen.
Diese naturalistische Sichtweise des Menschen, wie sie auch für Freud
charakteristisch ist, sieht den Menschen im wesentlichen als lust- und
triebdeterminiert an. Frankl hebt dagegen das menschliche Streben nach
Verwirklichung von Werten und das Orientiertsein auf Sinn hervor. Denn
die geistige Dynamik des Menschen kann seiner Meinung nach nicht nur
durch Triebe erklärt werden, weil durch die Beschränkung des Menschen
auf seine Triebe die freie und verantwortliche Entscheidungsfreiheit des
Menschen enorm eingeschränkt wäre. Das Ich des Menschen würde so
zu einer „Marionette“ von Lust- und Triebbefriedigung.
1.1.1.2 Lust und Wert
Für Freud besitzt die menschliche Psyche einen eher sachhaften,
materiellen Charakter, wobei das Ausgleichsprinzip oder sogenannte
„homöostatische
Prinzip“
eine
zentrale
Rolle
spielt.658
Dieses
Ausgleichsprinzip verlangt die Gleichgewichtserhaltung im Bereich des
656
Vgl. Funke, Dieter, Gott und das Unbewußte. Glaube und Tiefenpsychologie,
München 1995, 36ff.
657
Vgl. Federspiel, Krista / Lackinger Karger, Ingeborg, Kursbuch Seele. Was tun bei
psychischen Problemen? Beratung, Selbsthilfe, Medikamente. 120 Psychotherapien
auf dem Prüfstand, Köln 1996, 250.
658
Vgl. Böschemeyer, 38.
214
Körperhaushalts. Dieses physiologische Prinzip hat Freud auch auf die
menschliche
Psyche
übertragen,
welche
demnach
ständig
damit
beschäftigt ist, äußere und innere Reize zu verarbeiten. Freud bezeichnet
die Triebansprüche des Menschen als „Lustprinzip“. Diese Triebansprüche
seien als Ursache des menschlichen Handelns anzusehen. Die Lust wird
so zum zentralen Faktor menschlichen Lebens und Handelns.
Viktor Frankl beschreibt dagegen Lust als Effekt, nicht aber als Objekt
einer gewollten menschlichen Handlung. Er sieht das Scheitern einer
solchen intendierten Lust vorprogrammiert. Je mehr sich der Mensch auf
die Erfüllung einer solchen Lust konzentriere, desto eher werde er ihrer
überdrüssig.659 Handelte der Mensch nur aufgrund des Getriebenseins
durch Lust, so würde er lediglich um sich selbst kreisen und in keiner
angemessenen und verantworteten Beziehung mehr zur Welt stehen.
Dabei blieben auch wesentliche im menschlichen Leben und in der
Gesellschaft zu verwirklichende Werte unberücksichtigt. Ein solcher
Mensch wäre in höchstem Maß egozentrisch und neurotisch.660
1.1.1.3 Trieb und Sinn
Freud läßt die Sinnorientiertheit des Menschen außer acht, statt dessen
sind für ihn das Lustprinzip und die Triebbefriedigung von zentraler
Bedeutung.661 Die kulturellen Errungenschaften des Menschen seien
659
Böschemeyer, 36.
Frankl kritisiert die Auffassung Freuds, Lust sei die entscheidende Triebfeder des
menschlichen Lebens, ja letztlich dessen Sinn. Er führt den Lustbegriff ad absurdum,
wenn er schreibt: „Wollten wir wirklich in der bloßen Lust den ganzen Lebenssinn
sehen, dann müßte das Leben letzten Endes sinnlos erscheinen. Wäre Lust wirklich
der Sinn des Lebens, dann hätte das Leben eigentlich gar keinen Sinn. Denn was ist
Lust schließlich? Ein Zustand. Der Materialist - und der Hedonismus geht mit
Materialismus gewöhnlich einher – würde sogar sagen: Lust ist nichts anderes als
irgendein Vorgang in den Ganglienzellen des Gehirns. Und um der Erreichung eines
solchen Vorganges willen soll es dafürstehen zu leben, zu erleben, zu leiden und
etwas zu tun?“ (Frankl, Ärztliche Seelsorge, 69). Vgl. auch Böschemeyer, 35ff.
661
Dies hat sich in der Ansicht Freuds über die Religion, die er als kollektive
Zwangsneurose bezeichnet, niedergeschlagen. Dieter Funke bemerkt in diesem
Zusammenhang: „Was Freud als Grund für die Neurosenbildung annimmt, das
schreibt er auch dem religiösen Bewußtsein der Gläubigen zu. Dessen tiefere Wurzeln
und unbewußten Motive liegen in der sexuellen und aggressiven Triebnatur des
Menschen, das heißt, in seinen egoistischen und sozial unverträglichen Wünschen,
660
215
aufgrund der Unterbewertung des Geistigen lediglich das Ergebnis
sublimierter Triebe.
Was das Gewissen anbetrifft, behauptet Freud, es sei nichts anderes
als ein durch die Aufnahme frühkindlicher Verhaltensmuster erworbenes
„Über-Ich“, in welchem elterliche und gesellschaftliche Gebote und
Verbote wirksam sind. Auf diese Weise degradiert Freud das eigentlich
Geistige zu einer Randerscheinung.662
Diese von Freud propagierte Sichtweise des menschlichen Geistes
spiegelt sich auch in der Form seines psychotherapeutischen Vorgehens
wieder.
Frankl
Verkennung
der
kritisiert
die
geistigen
durch
den
Dimension
Psychologismus
menschlichen
bewirkte
Lebens.
Ein
Menschenbild, das den Menschen lediglich aus sich heraus verstehen will,
aus seinem „Bios“, seiner Psyche und seinem sozialen Umfeld, bleibt auf
einer rein menschlichen Basis, die das von Frankl aufgezeigte
Sinnlosigkeitsgefühl in unserer Gesellschaft begünstigt.663
1.1.1.4 Frankls Erfahrungen in der Zeit des 2.Weltkriegs und
die Entdeckung der sogenannten „geistig-noetischen
Dimension menschlicher Existenz“
Nachdem Frankl während des zweiten Weltkrieges aufgrund seiner
jüdischen Herkunft in ein Konzentrationslager eingeliefert worden war664 ,
wurde ihm das Ungenügen des Freudschen auf Lust und triebhafte
Regungen reduzierten Menschenbildes deutlich bewußt. Als KZ-Häftling
machte er schließlich eine Entdeckung, welche die Grundlage und der
Bedürfnissen und Neigungen. Weil solche Wünsche zu unbewußten Schuldgefühlen
führen, wird zur Abwehr dieser Schuldgefühle die religiöse Betätigung gesucht.“
(Funke, Dieter, Gott und das Unbewußte, 24f.).
662
Selbstverständlich hat Freud menschliche Werte anerkannt. Frankl wendet sich
allerdings gegen den von ihm betriebenen Psychologismus, alles auf Funktionen bzw.
Fehlfunktionen im psychischen Apparat zurückzuführen.
663
Vgl. Böschemeyer, 44.
664
Vgl. Frankl, Viktor E., Die Sinnfrage in der Psychotherapie, München 1981, 129. Vgl.
auch: Simmerding, Gertrud, Viktor E. Frankl – Mensch und Werk, in: Lukas, Elisabeth,
Geist und Sinn: Logotherapie – die 3. Wiener Schule der Psychotherapie, München
1990, 1-12. Gertrud Simmerding liefert eine detaillierte Lebensbeschreibung Frankls,
216
Motor für seine später als existenzanalytische Form der Psychotherapie
bekannt
gewordene
Logotherapie
menschenverachtenden,
leidvollen
werden
und
sollte.665
hoffnungslos
Inmitten
der
erscheinenden
Lebenssituation, in welcher sich die Häftlinge befanden, fiel Frankl auf,
daß diejenigen, die ihrer Lage einen Sinn abgewinnen konnten, sich nicht
einfachhin dem Schicksal ergaben, sondern aufgrund eines wie auch
immer gearteten „Wofür“ dem Schicksal trotzten und daher eher
überlebten.
Obwohl Frankl während der Naziherrschaft seine gesamte Familie
verloren hatte, verzweifelte er nicht, sondern der Drang nach einer
Überwindung der Situation im Konzentrationslager und die spätere
Aufklärungsarbeit über die Verbrechen der NS-Zeit hielten ihn aufrecht. Er
kam zu der Überzeugung, daß es eine von äußeren Gegebenheiten
unabhängige innere Freiheit gebe, Situationen gegenüber bestimmte
Einstellungen zu verwirklichen.
Der Mensch besitzt also die Freiheit, eine bestimmte Haltung und
Bewertung seiner Lage vorzunehmen, die über seine psychische und
oftmals auch physische Verfassung entscheidet. Frankl war von der
Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz aufs tiefste überzeugt. So überlebte
er das Konzentrationslager und begann nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges, die Psychotherapie um seine neuen Erkenntnisse zu
bereichern.666 Er entwickelte die Logotherapie als psychotherapeutische
Methode, die auf der Grundlage seiner Erkenntnisse arbeitet.667 Erst die
Einbeziehung der sogenannten geistig-noetischen Dimension wird der
menschlichen Existenz gerecht.
In diesem Zusammenhang drängt sich die Sinnfrage als eine für den
Menschen spezifische Problematik auf. Die Beantwortung der Frage nach
in welcher auch die einzelnen Stationen der Entwicklung der Logotherapie sehr gut
veranschaulicht werden.
665
Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 135ff.
666
In bezug auf seine Erfahrungen im Konzentrationslager schreibt Frankl: „Die ganze
Symptomatologie des Konzentrationslagers, die wir vorhin in ihrer scheinbar
schicksalhaften, zwangsläufigen Entwicklung aus körperlichen und seelischen
Ursachen herleiteten, stellt sich als etwas heraus, das vom Geistigen her
gestaltungsfähig ist.“ (Frankl, Ärztliche Seelsorge, 139).
667
Vgl. Schwarzkopf, Wolfgang, Logotherapie im seelsorglichen Kontext. Die
Existenzanalyse und die Logotherapie Viktor E. Frankls als methodische Hilfe für die
begleitende Seelsorge?, Hamburg 2000, 15ff.
217
dem Sinn menschlichen Lebens verlangt Antworten, die über das
Gelingen desselben einen wesentlichen Einfluß ausübt. Der Sinn des
Lebens und der von einzelnen Erlebnissen kann nicht von außen
verordnet
werden,
sondern
er
stellt
eine
übermenschliche,
transzendentale Größe dar. Den Willen zu einem solchen Lebenssinn
trägt jeder Mensch in sich, wobei ihn dieses Verlangen dazu antreibt,
geistig über sich selbst hinauszuwachsen und schließlich zu sich selbst zu
finden.
1.1.2 Zentrale Inhalte und Ziele des von Frankl entwickelten
logotherapeutisch-existenzanalytischen Therapiekonzeptes
1.1.2.1 Bewußtmachen von Freiheit und Verantwortlichkeit
Die Existenzanalyse hebt die Verantwortlichkeit des Menschen für sein
Leben aufgrund seiner Einmaligkeit und zugleich Endlichkeit deutlich
hervor.668
Endlichkeit
Sinnlosigkeit,
sondern
bedeutet
die
aber
zahlreichen
nicht
gezwungenermaßen
Lebenssituationen
müssen
aufgrund der Endlichkeit des Lebens verantwortlich gestaltet werden.
Das Schicksal jedes Menschen besitzt ebenfalls diese Einmaligkeit. „Mit
seinem einzigartigen Schicksal steht jeder einzelne Mensch sozusagen im
ganzen Kosmos einzig da. Sein Schicksal wiederholt sich nicht.“669 Er hat
diesem seinem Schicksal mit Einstellungswerten entgegenzutreten. Die
Freiheit steht mit dem Schicksal in enger Verbindung. Frankl spricht in
diesem
Zusammenhang
Schicksal“.
670
von
einem
„freien
Sich-verhalten
zum
Das Schicksalhafte wird durch biologische Faktoren
bestimmt und durch die Summe einzelner äußerer Situationen. Dieser
Sachverhalt kann auch als Anlage-Umwelt-Problematik bezeichnet
werden. Die beiden genannten Faktoren zusammengenommen bilden die
sogenannte „Stellung des Menschen“, gegenüber der eine Einstellung
668
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 118. Vgl. auch Frankl, Die Sinnfrage in der
Psychotherapie, 97ff. Vgl. auch Lukas, Psychologische Vorsorge, 79ff.
669
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 119.
670
Ibid.
218
erfolgen muß. Diese Einstellung wird durch das Schicksalhafte nicht
beeinträchtigt.671
Die Freiheit des Geistes und die Verwirklichung der verschiedenen
Werte geben dem Menschen die Macht, seinem biologisch, psychologisch
und soziologisch bestimmten Schicksal zu trotzen.
1.1.2.2 Der Aufgabencharakter des Lebens und die
Verwirklichung von Werten
Jeder Mensch hat während seines Lebens eine spezielle Aufgabe zu
erfüllen, für die er Verantwortung trägt. Diese Aufgabe besteht in der
Verwirklichung
situationsbedingter
Werte. Nutzt
der
Mensch
eine
bestimmte Gelegenheit nicht, ist sie unwiederbringlich verloren. Aufgrund
möglicher Zweifel am Daseinssinn oder an der Sinnhaftigkeit von
Teilgeschehnissen ist es vonnöten, Menschen, die am Sinn ihrer Existenz
zweifeln, eine erfüllende Aufgabe aufzuzeigen. „Diese Spezifität der
Aufgabe ist eine doppelte. Denn die Aufgabe wechselt nicht nur von
Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –,
sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder
Situation.“672
Jedes Menschenleben besitzt ein einzigartiges Ziel mit seinem
dazugehörigen Lebensweg, den es zu beschreiten gilt. Auf diesem
Hintergrund existieren keinerlei aussichtslose Situationen.
1.1.2.2.1 Schöpferische Werte
Für Frankl sind es vor allem drei Wertkategorien, die im Leben der
Verwirklichung bedürfen. Es handelt sich hierbei um schöpferische Werte,
671
672
Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 124.
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 91. Frankl verweist in diesem Zusammenhang auf die von
Max Scheler vorgebrachte Unterscheidung zwischen „Situationswerten“ und „ewigen“,
allgemeingültigen und zeitlosen Werten. Die Situationswerte haben ihren eigenen
Zeitpunkt, an dem sie verwirklicht werden müssen, um nicht verwirkt zu werden.
219
Erlebniswerte und Einstellungswerte. „Das Leben verlangt vom Menschen
diesbezüglich eine ausgesprochene Elastizität, eine elastische Anpassung
an die Chancen, die es ihm bietet.“673 Mit diesen Worten kennzeichnet
Frankl die schöpferischen Werte, die dem Menschen gestatten, auch in
scheinbar ausweglosen Lagen noch eine Chance zu erblicken. Er erläutert
seine Vorstellungen anhand einiger Fallbeispiele, bei denen Patienten
aufgrund unbefriedigender Tätigkeiten an dem Sinn ihres Daseins
zweifelten, weil ihnen diese schöpferischen Werte fehlten. 674
In der Existenzanalyse tritt dabei nicht so sehr die Art einer Tätigkeit als
solche in den Blick, als vielmehr das „Wie“, also die Einstellung, mit der
ein Mensch die von ihm geforderten Tätigkeiten erledigt. Frankl schreibt in
diesem
Zusammenhang:
„Wichtig
ist
also
nicht,
wie
groß
sein
Aktionsradius ist; wichtig ist allein, ob er seinen Aufgabenkreis erfüllt.“675
Dabei sei ein einfacher Mensch, der seine beruflichen und familiären
Aufgaben gewissenhaft erfüllt, höher einzuschätzen, als etwa ein Politiker,
der gewissenlose Entscheidungen trifft.676
1.1.2.2.2 Erlebniswerte und Einstellungswerte
Erlebniswerte können verwirklicht werden, indem sich ein Mensch
beispielsweise den Eindrücken der Natur und der Kunst hingibt, ohne
selbst schöpferisch tätig werden zu müssen.677 Auch der Besuch eines
Konzertes kann für Menschen ein tiefes, beglückendes Erlebnis sein,
welches eine sinnstiftende Wirkung haben kann. Ebenso kann die
Besteigung eines Berges ein überwältigendes Ereignis darstellen. Frankl
erklärt dies wie folgt: „Denn wenn es sich auch nur um einen Augenblick
673
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 91.
Ibid. Vgl. auch Lukas, Elisabeth, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie. Logotherapie
in der Beratungspraxis, Freiburg i. Br. 1983, 216ff. Vgl. auch Lukas, Elisabeth,
Psychologische Vorsorge, Krisenprävention und Innenweltschutz aus
logotherapeutischer Sicht, Freiburg i. Br. 1989, 148ff.
675
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 81.
676
Ibid.
677
Ibid. Vgl. auch Lukas, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 217. Sie beschreibt
Situationen, in denen Erlebniswerte verwirklicht werden können, so: „Erlebniswerte
krönen die Freude an den Kindern, sie durchdringen das Abenteuer einer Reise, sie
674
220
handelt – schon an der Größe eines Augenblicks läßt sich die Größe eines
Lebens messen: die Höhe einer Bergkette wird ja auch nicht nach der
Höhe irgendeiner Talsohle angegeben, sondern ausschließlich nach der
Höhe des höchsten Berggipfels.“678 Ebenso sind für ein als sinnvoll zu
bezeichnendes Leben die Höhepunkte desselben entscheidend, nicht
ausschließlich die Tiefen menschlicher Existenz.
Selbst wenn keine zu verwirklichenden schöpferischen Werte und
Erlebniswerte mehr vorhanden sind, behält das Leben des Menschen
seinen Sinn. Dazu verhelfen ihm die Einstellungswerte.679 Sogar in den
größten Entbehrungen menschlichen Lebens, etwa durch Not, Krankheit
oder Alter, kann der Mensch noch Stellung gegenüber seiner Situation
beziehen. „Denn wie der Mensch sich zu einem unabänderlichen
Schicksal einstellt, darauf kommt es hier an.“680 In diesem Fall spricht man
von
Einstellungswerten,
die
dem
Dasein
eines
vom
Schicksal
geschlagenen Menschen einen Sinn geben. Die Verantwortung für die
Verwirklichung dieser Werte bleibt ein Leben lang bestehen.
1.1.2.3 Die Frage nach dem Sinn des Leidens
Die Frage nach dem Sinn des Leidens steht in engem Zusammenhang
mit den zu verwirklichenden Einstellungswerten. Diese drängen dort zur
Verwirklichung, wo negative schicksalhafte Begebenheiten anzutreffen
sind und hingenommen werden müssen. Die Vorstellung eines nur durch
schöpferische Leistungen sinnvoll gestalteten Lebens erfährt auf diese
Weise eine entscheidende Korrektur. Frankl bemerkt hierzu: „Solche
Gedankengänge sind jeder trivialen Erfolgsethik verschlossen.“681
Der Mensch mißt den Lust- bzw. Unlustgefühlen meist eine zu große
Bedeutung bei und zeigt, so Frankl, „eine ungerechtfertigte Wehleidigkeit
klingen an in den Mußestunden der Einkehr und in der Rückschau auf beglückende
Ereignisse.“ (Lukas, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 217).
678
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 82.
679
Ibid., 81f. Vgl. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, 106ff. Vgl. auch Lukas,
Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 218f.
680
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 82f.
681
Ibid., 144.
221
gegenüber dem Schicksal“.682 Auch von Erfolglosigkeit geprägtes Leben
ist sinnvolles Leben und im scheinbaren Scheitern kann Leben seine
Erfüllung
finden.
Frankl
kommt
in
diesem
Zusammenhang
auf
schmerzhafte Liebeserlebnisse zu sprechen und antwortet auf die Frage
nach dem möglichen Sinn und Zweck solcher Erfahrungen: „Im Gegenteil,
im Leiden ist er gereift, an ihm ist er gewachsen, es hat ihm mehr
gegeben als so mancher erotische Erfolg ihm hätte geben können.“683
Die menschliche Sprache verrät einiges über den Grund menschlichen
Leidens. Die Äußerung „etwas oder jemanden nicht leiden mögen“
beschreibt den Grund des Leidens. Der Mensch leidet unter etwas oder
jemandem, weil er dem Gegenstand seines eigenen Leidens keine
Existenzberechtigung zugesteht. Die Auseinandersetzung mit diesem
bewirkt eine gewisse Distanz zwischen der leidenden Person und ihrem
Leid. Durch das Leiden gerät der Mensch in einen Spannungszustand, der
ihm durch die Zumutung des Leids als etwas, was nicht sein soll, dieses
Leid überhaupt erst zu Bewußtsein bringt.684
Dem Schmerz kommt bereits auf der biologischen Ebene eine große
Bedeutung als Warnfaktor und Wächter über den Körper zu. Im geistigseelischen Bereich beugt die Erfahrung des Schmerzes einer seelischen
Erstarrung vor und dient der seelischen Reifung und dem Wachstum. Oft
wird versucht, unangenehme und schmerzvolle Zustände mit Hilfe von
Medikamenten zu beseitigen, um dem Menschen seine Situation
erträglicher zu gestalten; jedoch drängt sich in der Praxis zunehmend der
Verdacht auf, als seien Ärzte und Psychiater oftmals zu schnell dabei,
medikamentös, etwa durch die Verordnung von Psychopharmaka,
einzugreifen. Der Mensch unserer Tage muß lernen, schmerz- und
leidvolle Erfahrungen nicht vorschnell durch Verdrängung oder durch
Verabreichung von Medikamenten zu unterdrücken, sondern sich diesen
zu stellen und durch die Verwirklichung von Werten entgegenzutreten.
„Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der
Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn
682
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 146.
Ibid.
684
Ibid., 147.
683
222
nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden
vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form
nehmen.“685
Notsituation stellen eine Herausforderung dar, sie wollen gestaltet und,
wenn nicht anders möglich, getragen werden.686 Wenngleich Frankl eine
religiöse Sinndeutung innerhalb der Logotherapie nicht in ihrem vollen
Umfang zuläßt, so mißt er dieser dennoch eine große Bedeutung bei. Er
erwähnt in diesem Zusammenhang das Beispiel eines sterbenskranken
Menschen, den der Arzt nicht mehr vor dem Tod retten konnte. Dieser
Mensch wies jedoch eine religiöse Sinndeutung auf, so daß Frankl in
diesem Zusammenhang bemerkt: „Der Patient steht als ein Mensch da,
der dem Schicksal standhält, indem er es in stillem Leiden auf sich nimmt
und damit auf einer metaphysischen Ebene eine echte Leistung vollbringt
–
während
der
Arzt
in
der
physischen
Welt,
im
ärztlichen
Leistungsbereich, soeben versagt.“687
1.1.2.4 Die Frage nach dem Sinn des Todes
Die Einzigartigkeit und Einmaligkeit menschlicher Existenz ist für den
Sinn des Lebens ausschlaggebend. Mit der Frage nach dem Sinn des
Lebens ist aber auch unweigerlich die nach dem Sinn des Todes
verbunden. Wird nicht durch die Tatsache der Endlichkeit menschlichen
Lebens die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens in Zweifel gezogen? Die
Tatsache des Sterben-Müssens zwingt den Menschen, Entscheidungen
zu bestimmten Zeitpunkten verantwortlich zu fällen und diese nicht ins
Unendliche aufzuschieben. Die Lebenszeit will so verantwortlich genutzt
werden. „Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu
verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit
und Einmaligkeit verstanden wird.“688
685
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 150.
Vgl. Lukas, Psychologische Vorsorge, 269ff. Vgl. auch Lukas, Gesinnung und
Gesundheit, 205ff.
687
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 154.
688
Ibid., 109.
686
223
Die Gewißheit des Todes und das Bewußtsein der Endlichkeit des
Lebens werden in der logotherapeutischen Praxis genutzt. Das Nutzen der
Lebenszeit ist wesentlich für ein sinnvolles und verantwortlich gestaltetes
Leben. Durch den Vergleich des menschlichen Lebens mit der Arbeit
eines Bildhauers veranschaulicht Frankl das Moment der Verantwortung
und der sinnvollen Lebensgestaltung angesichts des Todes besonders
treffend. Dem Bildhauer wird für die Fertigstellung seines Werkes eine
bestimmte Zeit zugestanden. Er selbst jedoch kennt in diesem Fall den
Termin der Fertigstellung nicht und ist angehalten, sein Werk in jedem
Moment so gut und vollkommen wie möglich zu gestalten, um jederzeit für
die Präsentation seines Werkes gewappnet zu sein.689 Das Nichtvollenden
seines Werkes würde die Arbeit nicht wertlos machen, sondern auch ein
scheinbar unvollendetes Werk besäße immer noch einen, wenn auch
unsichtbaren qualitativen Wert. Die Länge eines Lebens muß nicht mit
dessen Intensität und Qualität übereinstimmen. Es ist dem Menschen
aufgegeben, im Bewußtsein seiner Endlichkeit und somit begrenzten
Lebenszeit ein möglichst hochwertiges Lebenswerk zu schaffen. Eine weit
verbreitete Auffassung besagt, der Sinn menschlichen Lebens liege in der
Zeugung
von
Nachkommenschaft
und
eines
so
über
den
Tod
hinausreichenden Fortlebens in der eigenen Nachkommenschaft. Frankl
hält dieser Behauptung entgegen, daß auch Nachkommenschaft und
ganze Sippen aussterben können. Er meint: „Entweder das Leben hat
einen Sinn, dann behält es ihn auch unabhängig davon, ob es lang oder
kurz ist, ob es sich fortpflanzt oder nicht; oder das Leben hat keinen Sinn,
dann erhält es auch keinen, wenn es noch so lange dauert oder sich
unbegrenzt fortpflanzen könnte.“690
Das Leben ist also ebenso wie die Fortpflanzung kein Selbstzweck. Der
Sinn des menschlichen Lebens im Angesicht des Todes läßt sich nur aus
nichtbiologischen, transzendenten Bezügen heraus finden.
689
690
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 110.
Ibid., 112.
224
1.1.2.5 Die Bedeutung „wirklicher Liebe“
Die menschliche Existenz mit ihren zu verwirklichenden Werten kommt
nicht nur in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft als ganzer zu ihrer
Entfaltung, sondern besonders in der Form der Zweierbeziehung. Hierbei
stehen nicht schöpferische Werte im Vordergrund, sondern es handelt
sich um einen eher passiven Weg um die Einzigartigkeit und Einmaligkeit
der eigenen Person herauszustellen. Frankl schreibt hierüber: „Dieser
Weg ist der Weg der Liebe – oder, besser gesagt: der Weg des Geliebtwerdens.“691
Hier wird der Mensch als Du wahrgenommen und wird so für den Partner
einmalig und unersetzlich. Auf diese Weise entdeckt er den Wert der
eigenen Persönlichkeit. Das Ergebnis dieser Liebesbeziehung stellt der
biologische Nachwuchs, das Kind, dar. Jedoch reicht Liebe über die reine
Körperlichkeit weit hinaus, was vor allem die Endlichkeit des physischen
Lebens deutlich macht. Der Mensch besitzt eine Seinsform, die nicht mit
seinem physischen Tod beendet ist. Frankl bemerkt im Zusammenhang
mit dem körperlichen Tod eines Menschen: „Damit sei aber noch gar nicht
gesagt, daß die Person selber nicht mehr existiere, vielmehr dürfte man
höchstens behaupten, daß sie sich bloß nicht mehr kundgeben kann;
denn zur Kundgabe bedarf sie der physischen bzw. physiologischen
Ausdrucksvorgänge (Sprache usw.).“692 Die Liebe reicht über die
körperliche Seinsform hinaus. Sie ist zu ihrer Erweckung und Erfüllung
nicht existentiell auf die Körperlichkeit angewiesen, sondern bedient sich
lediglich derselben. Frankl geht in diesem Zusammenhang auch auf die
scheinbar schwierige Situation von körperlich wenig anziehenden
Menschen ein. Das Liebesleben in Form der körperlichen Ausdrucksweise
wird oftmals überbewertet. Die verkrampfte Suche nach Liebesglück
programmiert das Scheitern und die Enttäuschung bereits vor.693
691
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 167. Vgl. auch Lukas, Psychologische Seelsorge, 148 ff.
Frankl, Ärztliche Seelsorge, 175.
693
Ibid., 178.
692
225
1.1.2.6 Schulderfahrung als Umdenkmöglichkeit
Schuld ist eine anthropologische Konstante, die in zahlreichen
Erlösungsmythen immer wieder thematisiert wird. Die Schuldhaftigkeit des
Menschen wird oft als Grund menschlichen Elends angesehen.694
In der Psychologie wird die Möglichkeit des Schuldig-Werdens auf
zahlreiche Abhängigkeiten innerhalb der Gesellschaft zurückgeführt,
wobei jedoch das Moment der eigenen Freiheit und Verantwortung oft zu
kurz kommt. Elisabeth Lukas hebt im Zusammenhang mit der Schuld die
Notwendigkeit von Unterscheidungskriterien hervor, anhand derer sich
echte von unechten Schuldgefühlen trennen lassen. Die Trennung dieser
beiden Arten von Schuldgefühlen ist für die Beratung und Therapie von
Menschen von großer Bedeutung. Unechte Schuldgefühle können ihre
Ursache in einem Irrtum oder einer Krankheit haben, während wirkliche
Schuldgefühle
auf
eine
freiheitlich
verantwortete
Entscheidung
zurückgehen. Eine solche Schuld bedarf zur seelischen Bewältigung der
Wiedergutmachung. Diese kann auf verschiedene Weise vollzogen
werden.
Lukas
erwähnt
in
diesem
Zusammenhang
die
„Wiedergutmachung an dem selben Objekt“, die „Wiedergutmachung an
einem anderen Objekt“ und die „Wiedergutmachung durch Umdenken“.695
Über die Wiedergutmachung in Form des Umdenkens schreibt
Elisabeth
Lukas:
„Besonders
letzteres
ist
eine
ungewöhnliche
psychotherapeutische Idee, die den direkten Schritt hinüber ins Gebiet der
Seelsorge wagt, aber wer wollte ein Verbotsschild aufstellen auf einer
Brücke, die einen Abgrund überspannt?“696
694
Vgl. Lukas, Psychologische Seelsorge, 184.
Ibid., 188.
696
Lukas, Psychologische Seelsorge, 188.
695
226
1.2 Die Verwirklichung logotherapeutischer Inhalte
durch die Sektenaussteiger
Das existenzanalytisch-logotherapeutische Konzept Frankls bietet
meines Erachtens eine Möglichkeit nach der Sekte wieder zu einer
positiven, das Leben bejahenden Lebenseinstellung zu gelangen.
Eine interessante Feststellung ist hierbei, daß einige Personen, deren
Ausstieg bereits dargestellt worden ist, ohne explizite logotherapeutische
Hilfe, etwa durch einen Therapeuten, bereits viele der von Frankl und für
sein
Konzept bedeutsamen
Inhalte
verwirklicht
haben.
Wie dies
geschehen ist, soll an den folgenden Ausführungen verdeutlicht werden.
In allen Aussteigerberichten wird dabei deutlich, daß die von Frankl
zurecht kritisierte auf Lust- und Triebregungen basierende Sichtweise
unzureichend ist. Ein durch eine Sekte geschädigter Mensch strebt nicht
nach Lust, sondern sucht Sinn, er braucht eine geistige Neuorientierung,
die transzendente Bezüge nicht ausschließt.
1.2.1 Die Verwirklichung von Einstellungswerten und
schöpferischen Werten bei Hans-Jürgen Twisselmann
Hans-Jürgen Twisselmann hat kurz vor und vor allem nach seinem
Bruch mit den Zeugen Jehovas die schöpferischen Werte in einzigartiger
Weise verwirklicht. Die Verwirklichung dieser Wertkategorie hat es ihm,
neben seiner intellektuellen und geistigen Stärke, ermöglicht, die Sekte
endgültig zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Die
Aufklärungsarbeit in Form seiner Initiative für ausstiegswillige und
ehemalige Zeugen Jehovas, des sogenannten Bruderdienstes, hat bei
Twisselmann geistige Kräfte wachgerufen, durch die er über sich selbst
hinausgewachsen ist. Er konnte der einst bedrückenden Situation trotzen,
indem er sich nicht mit dem Leben in der Sekte zufriedengegeben, sich
der einstigen Situation gegenüber nicht ergeben und aufgegeben hat,
sondern Stellung bezogen hat. Er hat also zunächst die von Frankl
227
propagierten
Einstellungswerte,
anschließend
die
schöpferische
Wertkategorie verwirklicht.
Um seine schöpferische Tätigkeit genauer zu verdeutlichen, soll an
dieser Stelle der sogenannte Bruderdienst dargestellt werden, ein Projekt
der Beratung und Betreuung ausstiegswilliger und bereits ausgestiegener
Zeugen Jehovas. Nachdem er die Unhaltbarkeit der Lehren und die
Irreführung der Menschen durch die Sekte der Zeugen Jehovas erkannt
hatte, verspürte er den Drang, sich hier einzusetzen und seine Kräfte für
die Aufklärungsarbeit und für durch die Sekte betroffene Menschen zu
verwenden.
1.2.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann und der „Bruderdienst“ –
schöpferische Werte und eine neue Lebensperspektive
1.2.1.1.1 Entstehung des Bruderdienstes
Die Anfänge des Bruderdienstes reichen in das Jahr 1954 zurück.
Anläßlich eines Treffens ehemaliger Zeugen Jehovas, bei welchem auch
Hans-Jürgen Twisselmann anwesend ist, reift durch einen gemeinsamen
Gedankenaustausch mit anderen Aussteigern der Entschluß, noch aktiven
Zeugen durch eine gut organisierte Aufklärungsarbeit zu Hilfe zu kommen.
Durch Verteilen von Handzetteln und Zusendung von die WachtturmGesellschaft kritisch betrachtendem Informationsmaterial sollen aktive
Zeugen erreicht und informiert werden. Es finden sich zahlreiche
Ehemalige,
die
auch
die
notwendigen
finanziellen
Hilfen
zur
Bewerkstelligung dieser Arbeit aufbringen.
Der Bruderdienst will keine neue Religionsgemeinschaft sein, sondern
auf der Grundlage der christlich-biblischen Lehre eine effiziente Seelsorge
an ehemaligen und an noch in der Missionsarbeit aktiven Zeugen Jehovas
leisten. Seit den fünfziger Jahren schlossen sich dem zunächst
bescheidenen Werk immer mehr Ehemalige Zeugen Jehovas an, und bald
wurden die Aktivitäten des Bruderdienstes auch auf Österreich und die
228
Schweiz ausgedehnt.697 Trotz heftiger Kritik und zahlreicher Drohungen
seitens der Wachtturm-Gesellschaft konnte die Arbeit bis in unsere Tage
unbeirrt fortgesetzt werden.
1.2.1.1.2 Grundsätze der Tätigkeit des Bruderdienstes
Die Grundsätze der Arbeit des Bruderdienstes beschreibt Twisselmann
anhand von fünf Thesen, auf welche im folgenden Bezug genommen wird.
Er bezeichnet das Engagement des Vereins als „seelsorgerliche
Apologetik“.698
Damit
meint
er
keine
generelle
Verurteilung
und
Diskriminierung anderer religiöser Anschauungen, sondern er will vor
allem die Notwendigkeit und das Feststehen im eigenen, christlichbiblischen Glauben betonen, wobei die Kenntnis biblischer Lehren und
Zusammenhänge
eine
entscheidende
Rolle
spielt,
um
optimale
Voraussetzungen für eine effiziente Hilfe gegenüber ausstiegswilligen
Zeugen Jehovas gewährleisten zu können.
In seinen ersten beiden Thesen über die Grundsätze der Arbeit des
Bruderdienstes geht Twisselmann auf die Notwendigkeit der Überwindung
historisch bedingter und gewachsener religiöser Feindbilder ein. Er lehnt
eine Übertragung der Verurteilung neutestamentlicher sektiererischer
Gruppierungen auf heutige Sekten, besonders auf die der Zeugen
Jehovas, ab, da solche Verurteilungen oftmals in Polemik enden.
Auch die durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion des
römischen Reiches bedingte Verurteilung und Verfolgung der Heiden und
der als Ketzer bezeichneter Christen hat für ihn einen negativen
Beigeschmack.
Dagegen
begrüßt
Twisselmann
ausdrücklich
die
heutzutage festzustellende Überwindung des alten Gegensatzes zwischen
Kirche und christlichen Sekten, die durch die Ersetzung des Begriffs
697
698
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 115.
Vgl. Twisselmann, Hans-Jürgen, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, in:
Brücke zum Menschen, Nr. 135, 3.Quartal 1998, 15ff.
229
„Sekte“ durch den Begriff „Religionsgemeinschaft“ zum Ausdruck gebracht
wird.699
Der Wahrheitsanspruch des Christentums muß sich seiner Meinung
nach in der Auseinandersetzung mit anderen religiösen Gemeinschaften
innerhalb eines „fairen und freien Gespräches“ jedes Mal neu verifizieren,
denn, so schreibt er: „Nur ein Glaube, der bereit ist, sich in Frage stellen
zu lassen, kann wirklich auch den, der nicht glaubt, was wir glauben,
veranlassen, sich in Frage stellen zu lassen!“700
Es ist für das seelsorgliche Gespräch entscheidend, den einzelnen
Menschen für sich zu betrachten und polemische Verurteilungen seines
bisherigen Umfeldes, mit welchem er sich noch in einem gewissen Maß
identifiziert, zu unterlassen. Der Seelsorger darf daher nicht den Eindruck
erwecken, er oder seine religiöse Gemeinschaft habe den überlegeneren
Glauben, dem sich der Hilfesuchende nun zuzuwenden habe.
In seiner vierten These warnt Twisselmann vor einem Gruppen- und
Vereinsdenken, welches Wahrheiten gegeneinander auszuspielen sucht,
wenn er meint: „Seelsorgerliche Apologetik sucht das Vereinsdenken
ebenso die Neigung, die ‚anderen‘ als Organisation en bloc abzufertigen,
zu überwinden und sieht stattdessen den Einzelnen, der unserer Hilfe
bedarf.“701
Das ehemalige Sektenmitglied und der Seelsorger, der es betreut, sind
beide suchende Menschen vor Gott, weshalb ein Überlegenheitsgefühl
des Seelsorgers unangemessen ist. „Seelsorgerliche Apologetik verzichtet
bei aller Bemühung, dem anderen, soweit er irregeht, zurechtzuhelfen –
auf jeden Anspruch und jede Gebärde der Überlegenheit, sei es in
dogmatischer, ethischer oder in konfessioneller Hinsicht, sondern stellt
sich grundsätzlich auf die gleiche Stufe mit dem Andersdenkenden.“702
699
Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 18. Twisselmann nimmt
hiermit wohl besondere Rücksicht auf die Sensibilität von ausstiegswilligen
Sektenmitgliedern. Da sie sich in der Anfangszeit noch sehr stark mit den Zeugen
Jehovas und deren Lebensweise identifizieren, könnte eine scharfe Verurteilung der
Sekte als persönliche Kritik und Diffamierung aufgefaßt werden und möglicherweise
einen Rückzug in die Sekte bewirken. Aufgrund seiner eigenen Vergangenheit im
System der Wachtturm-Gesellschaft sind ihm die Denkstrukturen und die
Verletzlichkeit der Ausstiegswilligen bestens vertraut.
700
Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 18ff.
701
Ibid.
702
Ibid.
230
1.2.1.1.3 Ratschläge für ein Seelsorgsgespräch
Der Seelsorger muß bei seinem Gespräch zunächst beachten, daß die
Lehre der Sekte und somit auch die Denkweise der Gruppe noch im
Bewußtsein des Aussteigers verankert sind, was Twisselmann zu der
Bemerkung veranlaßt: „Hinter der Rede-Schablone steht eine DenkSchablone.“703
Das Weiterwirken der alten Denkweise erschwert ein freies und offenes
Seelsorgegespräch. Infragestellungen der Lehre und Diskussionen über
Glaubensthemen waren während der Sektenzeit untersagt. Twisselmann
plädiert deshalb für ein behutsames Vorgehen und lehnt es ab, von
„hoffnungslosen
Fällen“
zu
sprechen.
Durch
seine
eigene
Sektenvergangenheit und seinen gelungenen Ausstieg ist ihm die
Erfahrung des Beistands Gottes zuteil geworden. „Gott kann Menschen
umwandeln, mögen sie auch eine Zeitlang in sektiererische Bedingungen,
religiösen Fanatismus und blinde Selbstüberschätzung verstrickt sein.“704
Geduld ist hierbei eine notwenige Tugend. Dabei darf der Seelsorger nicht
vergessen, daß er, auch wenn der Hilfesuchende nur bescheidene
Fortschritte erzielt, einen enormen Einfluß auf seinen Gesprächspartner
ausübt. Vorwürfe und Anschuldigungen haben daher zu unterbleiben.
Trotzdem soll keine Gleichsetzung von Verführern und Verführten
erfolgen, da eine solche dem seelsorglichen Anliegen Schaden zufügt. Es
geht bei den Seelsorgegesprächen darum, die betroffene Person aus der
Umklammerung der Sekte zu befreien, und nicht darum, daß der Berater
seine Position auf Kosten des Betroffenen als überlegen darstellt. Der
Seelsorger hat daher zunächst auch ihm unangenehme und abstrus
erscheinende Äußerungen und Überzeugungen hinzunehmen. Manches
muß er auch schlicht übergehen, um sich die wesentlichen Punkte zu
konzentrieren und eine gemeinsame Basis zu erarbeiten. Erst wenn ein
Vertrauensverhältnis entstanden ist und eine betroffene Person sich in der
rechten Weise verstanden, angenommen und wertgeschätzt fühlt, kommt
der Seelsorger an den Punkt, an dem er versuchen kann, irrige Lehren der
703
Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern 20f.
231
Wachtturm-Gesellschaft durch die Verkündigung der wahren biblischen
Lehre zu korrigieren. Hier bietet sich dem Seelsorger, wie Twisselmann
betont,
eine
große
Chance,
die
es
zu
nutzen
gilt.
„Unser
Gesprächspartner erwartet das von uns. Er erwartet auch ein persönliches
Bekenntnis des eigenen Glaubens. Ein biblisch gefülltes Zeugnis von
dem, was Jesus Christus für uns tat, findet zumeist ein offenes Ohr.“705
Das zwischen dem Seelsorger und dem Aussteiger entstandene
Vertrauensverhältnis kann neben der sachlichen Argumentation über die
Überwindung der sektiererischen Verzerrungen der christlichen Lehre
entscheiden. Der Seelsorger stellt eine wichtige Bezugsperson dar, die
dem Aussteiger einen entscheidenden geistig-religiösen Halt vermittelt.
„Wie unerträglich für ihn die Sekte drinnen gewesen sein mag, draußen
weht ein kalter Wind ihn an.“706
Um den Anforderungen und Schwierigkeiten der neuen Umgebung
standhalten zu können, benötigen die Aussteiger eine neue religiöse
Stärkung. Ein gelebter und erlöster Glaube ist wohl das beste Vorbild für
sie, um neu zu einem echten christlichen Leben zu finden. Nach einer
erfolgreichen seelsorglichen Betreuung wäre es daher wünschenswert,
daß
ehemalige Sektenmitglieder den Zugang zu einer intakten
christlichen Gemeinschaft finden, sei es zu einem christlichen Hauskreis
oder zu einer lebendigen Kirchengemeinde. Die neue Gruppe darf jedoch
die der Sekte Entronnenen nicht erneut vereinnahmen. Sie muß ihnen
vielmehr Raum für freie Entscheidungen lassen, ohne erneute Zwänge
und Druckmittel. „Ziel unserer Bemühungen muß es sein, ihm zu helfen,
in der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ zu leben, zu der uns Christus
befreit hat.“707 Auf diesem Weg stellt die Gemeinschaft von Gläubigen
eine entscheidende Hilfe dar.
Twisselmann wünscht sich in diesem Zusammenhang christliche
Gemeinden, die sich einer solchen Herausforderung stellen und ihre
Mitglieder auf diese neue Aufgabe sorgfältig vorbereiten. Er meint: „Ziel
des Gesprächs ist dann, dem Menschen um Gottes Willen zu dienen, um
704
Ibid.
Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 22.
706
Ibid.
705
232
mit ihm gemeinsam zu ‚wachsen zu dem hin, der das Haupt ist: Christus‘!
Zu einem solchen Gespräch sollte die christliche Gemeinde ihre Glieder
zurüsten.“708
An dieser Stelle wird auch die Bedeutung der von Frankl beschriebenen
und aus transzendenten Bezügen heraus lebendiger wirklicher Liebe
ersichtlich. Twisselmann nimmt seine hilfesuchenden Gesprächspartner
so an, wie sie sind. Aufgrund seiner religiösen Überzeugung sind ihm die
ehemaligen Mitbrüder sympathisch im wahrsten Sinne des Wortes, er
leidet mit ihnen, indem er, allerdings selbst geistig gefestigt, ihnen Trost
und Hilfe spenden kann.
Twisselmann nimmt somit seine Verantwortung dem Leben gegenüber
wahr, er gewinnt seiner einstigen Situation positives ab und setzt sich für
andere verantwortungsvoll ein. Sein Leben hat somit ein „Wofür“, er kann
es nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas als sinnvolles
Leben sehen.
1.2.2 Wirkliche Liebe und Wertschätzung als Ausweg aus
der bedrückenden Situation der Sekte bei Barbara Waß
Barbara Waß lernt während ihrer Mitgliedschaft bei den Zeugen
Jehovas eine Frau kennen, die sie als Frau I. bezeichnet. Statt diese Frau
für die Wachtturmgesellschaft zu werben, entwickelt sich eine tiefe
Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Frau Waß nimmt sich Frau I.
an, deren Sohn schwer behindert ist. Entgegen dem Verbot der WTG
unterhält sie eine Freundschaft mit einer Frau, die nicht den Zeugen
Jehovas angehört.
Frau Waß wird bewußt, daß ein Zitieren von Wachtturm- und
Bibelzitaten nicht die persönliche Zuwendung ersetzen kann, die Frau I. so
dringend benötigt. Dieses gegenseitige Gefühl des Angenommenseins ist
ein entscheidender Schritt hin zum späteren Verlassen der Sekte.
707
708
Ibid., 23.
Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 20.
233
Frankl hebt die Bedeutung wirklicher Liebe deutlich hervor, die sich
besonders in einer Zweierbeziehung verwirklichen läßt, hier zwischen zwei
Frauen. Sie ist somit keine sexuelle, sondern eine sich vor allem auf
transzendente Bezüge gründende Liebe. Barbara Waß nimmt zugleich
Verantwortung für eine andere Person wahr und ihr Leben gewinnt somit
trotz der Sektenmitgliedschaft an sinnvollen Momenten.
Es entwickelt sich aber darüber hinaus noch eine weitere Freundschaft
mit einer Familie, die zwar auch den Zeugen Jehovas angehört, der
Organisation gegenüber aber ebenfalls kritisch eingestellt ist. Herr Waß
nimmt Kontakt zu dieser Familie auf, worüber Frau Waß bemerkt: „In der
Folge wurde zwischen uns Freunden öfters über manche Dinge
gesprochen, die uns zu denken gaben.“709 Gegenseitige Annahme und
Wertschätzung spielen auch bei dieser Beziehung eine entscheidende
Rolle.
Diese Beziehungen helfen Familie Waß dabei, ihrer Situation sinnvolles
abzugewinnen und begünstigen ihren späteren Ausstieg aus der Sekte
der Zeugen Jehovas. Sie beziehen zugleich Stellung ihrer Situation
gegenüber und ergeben sich nicht ihrem Schicksal, sondern ihre
Einstellung gegenüber der Lage führt zu einer Verhaltensänderung.
1.2.3 Die Verwirklichung von Erlebnis- und
Einstellungswerten bei Jutta Elsässer
Jutta Elsässer bietet sich inmitten ihrer bedrückenden Situation
während ihrer Mitgliedschaft bei Scientology die Möglichkeit, die sonst
üblichen arbeitsreichen Wochenenden bei Scientology, für Ausflüge und
Wanderungen mit ihrem Freund zu nutzen. Dabei macht sie bedeutsame
Erfahrungen, die ihre Gedanken beflügeln und eine geistige Distanz zur
Scientology-Organisation
bewirken.
Dies
sind
die
von
Frankl
beschriebenen Erlebniswerte. Jutta Elsässer gibt diese Erfahrungen wie
folgt
709
wieder:
Waß, 203.
„Unsere
gemeinsamen
Spaziergänge
an
der
Isar,
234
Tagesfahrten an den Starnberger See oder an den Ammersee und kleine
Wanderungen in der Münchner Umgebung ließen uns bewußt werden,
was wir in den vergangenen Monaten und Jahren entbehrt hatten. Es war
eine vollkommen neue Erfahrung, an den Wochenenden nicht nur
stundenweise zusammensein zu können.“710
Die Verwirklichung dieser Erlebniswerte gemeinsam mit ihren Freund
wirkt sich sehr positiv auf ihre Gesundheit und auch auf ihre weitere
Lebenseinstellung aus. Jutta Elsässer meint hierzu: „Meine Gesundheit
verbesserte sich von Woche zu Woche, und das erste Mal seit über zwei
Jahren streifte ich mir einen Badeanzug über. Ich hatte ganz vergessen,
wie schön Schwimmen sein konnte:“711
Diese Erfahrungen bewirken eine Veränderung ihrer Einstellung sich
selbst und der Scientology-Organisation gegenüber. Um Positives in der
Welt bewirken zu können, muß sie eine Veränderung ihrer bisherigen
Denkweise vornehmen. „Kopfschüttelnd wurde mir allmählich klar, daß ich
über viele Monate hinweg regelrechten Raubbau an meiner Seele und
meinem Körper betrieben hatte. Ich sah ein, daß Menschen, die an der
Grenze zum psychischen und physischen Wrack stehen, niemals die Kraft
aufbringen würden, etwas tatsächlich Positives in dieser Welt zu
bewirken.“712
1.2.4 Schuldgefühle und das Bewußtmachen von
Verantwortlichkeit bei Elke Nietsche
Elke Nietsche muß für ihre Tätigkeit bei Scientology lange Wege und
Trennungen von ihrer schulpflichtigen Tochter auf sich nehmen.
Neben erheblichen Beeinträchtigungen ihrer eigenen Gesundheit leidet
die Tochter sehr unter der Abwesenheit und schlechten Verfassung der
Mutter, was sich vor allem in den stetig sich verschlechternden
schulischen Leistungen ihrer Tochter Friederike niederschlägt.
710
Elsässer, 230f.
Ibid., 231.
712
Ibid., 234.
711
235
In Gesprächen mit einem Sektenberater erfährt Frau Nietsche die
Hintergründe über Scientology und erkennt damit den Grund ihrer
Befindlichkeit. Dabei wird ihr erst bewußt, in welchem Maß ihre Tochter
unter der Abwesenheit der Mutter gelitten hat, was bei Frau Nietsche
Schuldgefühle weckt. Sie ist fest entschlossen, der Organisation nicht
mehr zu erlauben, künftig noch Macht über ihre Person auszuüben und
Verantwortung für ihre Tochter zu übernehmen. Dies stellt nicht nur eine
Änderung ihrer bisherigen Denkweise dar, sondern führt letztlich auch
zum Bruch mit der Scientology-Organisation.
Das Wahrnehmen der Verantwortung für ihre Tochter gibt ihrer auch nach
dem Sektenausstieg noch schwierigen Situation eine sinnvolle Bedeutung.
Die von Frankl herausgestellte Bedeutung der Schulderfahrung als
Umdenkmöglichkeit kommt hierbei zum tragen denn als Frau Nietsche
bewußt wird, daß sie für ihre Tochter unersetzlich ist, erkennt sie letztlich
durch die schuldhafte Vernachlässigung ihrer Pflichten gegenüber ihrer
Tochter den besonderen Wert dieser Beziehung, entdeckt dabei aber
auch ihren Wert als Mensch, als Person, ganz neu.
1.2.5 Die Verwirklichung von schöpferischen Werten und
Einstellungswerten bei Norbert Potthoff
Norbert Potthoff hat nach seinem Sektenausstieg aus Scientology den
Wunsch, kreativ tätig zu werden. Er äußert sich in diesem Zusammenhang
wie folgt: „Ich muß meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig
von irgendeinem System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten
schreiben, will sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik
schielen oder auf eine schwebende Nadel am E-Meter.“713
Potthoff wird zunächst schöpferisch tätig, indem er die Wohnung, die
ihm von einem Freund zur Verfügung gestellt wird, renoviert. Er hat seine
Frau zwar an die Scientology-Organisation verloren, indem er jedoch
713
Potthoff, 263.
236
diese schöpferischen Werte verwirklicht, wird es ihm möglich, seine
Situation sinnvoll zu gestalten.
Als er seine Frau endgültig an die Sekte verloren hat, wertet er dies
nicht nur als Verlust, sondern kann in die Zukunft gewandt erleichtert
feststellen: „Wenn ich jetzt durch die Tür des Gerichtssaals hinausgehe,
verlasse
ich
endlich
nach
sieben
Jahren
das
Labyrinth
von
Scientology.“714 So bezieht Norbert Potthoff Stellung gegenüber seiner
Situation, wobei seine schöpferische Tätigkeit eine sinnvolle Wertung
seiner Lage unterstützt.
1.3 Mögliche logotherapeutische Hilfen für die
Sektenaussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas
und aus Scientology
Neben der von den Aussteigern selbst schon geleisteten Verwirklichung
zentraler logotherapeutisch relevanter Inhalte, ist es möglich, innerhalb
eines sich an den Sektenausstieg anschließenden logotherapeutischen
Gespräches, den Aussteigern noch entscheidende Hilfestellungen durch
die sogenannte Paradoxe Intention und die Dereflexion zu bieten, die zu
den wichtigsten großen logotherapeutischen Methoden zählen, die sich
auf die sogenannten Therapiebewährungskriterien gründen.
1.3.1 Die drei “Therapiebewährungskriterien“ für das
logotherapeutische Gespräch
Entscheidend für das Gespräch zwischen einem Logotherapeuten und
einem Klienten ist eine offene und wohlwollende Beziehung zwischen
beiden Personen. Elisabeth Lukas nennt Erwartung und Hoffnung als zwei
wichtige Voraussetzungen für eine gelingende Therapie. Der Glaube an
die Wirkung einer Medizin, so Elisabeth Lukas, „macht mindestens schon
714
Potthoff, 282.
237
die Hälfte ihrer Wirkung aus“, ebenso können negative Erwartungen einen
schädlichen Einfluß ausüben.715
Die Hoffnung auf Genesung sowie der eigene feste Wille einer
„Grundentscheidung
fürs
Leben,
sein
716
Wiedergesundung“ sind hierbei bedeutsam.
letztendliches
Ja
zur
Der Therapeut steht vor der
schwierigen Aufgabe, diese Grundentscheidung des Patienten zu wecken.
Hierbei spielt die Liebe eine zentrale Rolle, die sich in der Beziehung
zwischen Menschen verwirklicht. Echte Liebe setzt allerdings Echtheit und
Natürlichkeit voraus. Elisabeth Lukas bemerkt in diesem Zusammenhang:
„Das aber ist genau der Punkt, an dem auch die Psychotechniken an ihre
Grenzen kommen: eingebettet in die Liebe sind sie von großem Wert,
isoliert davon leisten sie nichts.“717 Das Verhältnis zwischen Therapeut
und Klient soll dabei von echter Mitmenschlichkeit bestimmt sein, damit
sich der Patient ihm öffnen und anvertrauen kann. Eine notwendige Frage
hierbei ist nach der Überzeugung des Therapeuten, nach dessen
Wertmaßstäben und Zielen, die seiner therapeutischen Tätigkeit zugrunde
liegen, nach seiner Lebensphilosophie.
Für die Logotherapie ist der sogenannte Logos die Antwort auf diese
Frage. Unter dem Logos versteht sie dabei ein Etwas, das sowohl für den
Therapeuten als auch den Patienten gilt, ein Prinzip, eine letzter
sinngebender Weltgrund, der für beide Therapiepartner ausschlaggebend
ist.
Für die Vorgehensweise der Logotherapie sind also drei Kriterien für
eine gelingende Therapie von Bedeutung, zum einen erzeugt sie eine
Atmosphäre der Hoffnung und positiven Erwartung auf der Seite der
Patienten, der Patient muß selbst von einer Möglichkeit zur Hilfe
überzeugt sein und diese wollen, zum anderen spielt die Beziehung der
Therapiepartner insofern eine zentrale Rolle, als der Therapeut gefordert
ist, eine selbsttranszendierende, liebevolle Haltung gegenüber dem
Patienten einzunehmen, um beim Patienten das Gefühl zu verstärken,
daß sich jemand um ihn sorgt und bemüht und so brachliegende geistige
715
Lukas, Gesinnung und Gesundheit, 166.
Ibid.
717
Ibid., 167.
716
238
Möglichkeiten in ihm zu wecken. Das dritte Kriterium für eine gelingende
Therapie ist der Verweis auf den personenübergreifenden Logos, der den
Geist des Patienten letztlich auf sinnvolle Aufgaben richtet und dessen
persönliche Reife vorantreibt.718
1.3.2 Die drei großen Methodengruppen der Logotherapie
und ihre Bedeutung für eine Therapie an
Sektenaussteigern
Den drei großen Methodengruppen der Logotherapie liegt die
Überzeugung zugrunde, daß jeder Mensch auf etwas hin existiert. Die
erste Methodengruppe ist die sogenannte „Paradoxe Intention“, die zweite
die Dereflexion, die dritte die Einstellungsmodulation“. Die vorgenannten
drei
Therapiebewährungskriterien
sind
wesentlich
für
jedes
logotherapeutische Gespräch und bilden die Grundlage für die drei
Methodengruppen.719
1.3.2.1 Die „Paradoxe Intention“
Durch
die
Methode
der
paradoxen
Intention
sollen
negative
Erwartungen des Patienten abgebaut werden und das Gefühl der
Hoffnung soll die einstigen Angstgefühle mehr und mehr ersetzen. Angst
zieht den Gegenstand der Angst oftmals erst herbei. Die Bedeutung dieser
Behauptung wird ersichtlich, wenn man sich einige Beispiele vor Augen
führt. Das häufige Waschen der Hände aus Angst vor einer Infektion
beispielsweise kann aufgrund der überstrapazierten Hände erst recht eine
Infektion begünstigen. Durch die paradoxe Intention soll die durch Angst
geschaffene Welt ihrer Wirkmächtigkeit entkleidet werden. Durch das
bewußte
Herbeisehnen
einer
angstbesetzten
Situation
und
die
Übertreibung dieser verliert der Gegenstand der Angst allmählich seine
718
719
Gesinnung und Gesundheit, 169.
Ibid., 169.
239
bedrohliche, angsterzeugende Wirkung, wobei dem Humor oftmals eine
Schlüsselfunktion zukommt. Ängste spielen bei Aussteigern aus den
Reihen der Zeugen Jehovas und Scientology eine große Rolle.
Verschiedene Ängste, die solche Menschen bestimmen, sind vor allem die
Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte, die Angst, aufgrund des
durch
die
Sektenmitgliedschaft
belasteten
Lebenslaufes
keine
Arbeitsstelle mehr zu bekommen, die Angst vor sich selbst und die Angst
vor erneuten Bindungen nach dem Sektenausstieg.
Ziel der paradoxen Intention ist die schrittweise Reduzierung bzw.
Aufhebung
der
angstauslösenden
Situationen.
Wie
dies
konkret
geschehen könnte, soll an folgenden Beispielen verdeutlicht werden.
Die Angst vor der Sekte kann schrittweise reduziert werden, indem sich
der Aussteiger bewußt eine für ihn bedrückende, angstauslösende
Situation vorstellt, sich diese regelrecht herbeiwünscht und auf diese
Weise allmählich erfährt, daß ihm die ehemaligen Mitglieder der Sekte
nach seiner Trennung von dieser eigentlich nichts mehr anhaben können.
Hierbei muß allerdings eine wirkliche, endgültige Trennung in Form einer
zeitlichen und auch örtlichen Distanz zur Sekte vorausgesetzt werden, um
eine mögliche reale Begegnung und eine damit verbundene Angst vor den
einstigen Mitgliedern zu gewährleisten. Diese paradoxe Intention soll ja
auf einer geistigen Ebene stattfinden und ist keine Probe am Lebenden
Objekt. Diese Methode kann sowohl von Aussteigern aus den Reihen der
Zeugen Jehovas als auch von Scientology praktiziert werden, jedoch soll
sie keine angstverstärkende Wirkung entfalten, ansonsten wäre sie
tunlichst zu unterlassen bzw. durch eine andere Methode zu ersetzen oder
zu ergänzen.
Hierbei bietet sich die Dereflexion als zweite große logotherapeutische
Methode an. Gegen die Angst, aufgrund des belasteten Lebenslaufes
keine Arbeitsstelle mehr zu bekommen, wäre es im Sinne der paradoxen
Intention sinnvoll, sich eine konkrete Situation vorzustellen, in der ein
etwaiges Bewerbungsgespräch zwischen dem Aussteiger und einem
potentiellen Arbeitgeber stattfindet und der Aussteiger seinen Ängsten
freien Lauf lassen kann, bis er schließlich die Unbegründetheit seiner
240
Angst vor einem solchen Gespräch einsieht und sich mit der Situation
gewissermaßen „anfreunden“ oder vertraut machen kann.
Die zweite Angst, die Sektenaussteiger oft befällt, ist die vor erneuten
Bindungen nach einem vollzogenen Sektenausstieg. Diese Angst entfaltet
meist
eine
sehr
große
Wirksamkeit,
weil
hierbei
zahlreiche
Enttäuschungen und Vertrauensmißbräuche der betroffenen Person durch
die Sekte vorangegangen sind. In diesem Fall, wie auch im Fall der Angst
vor sich selbst, die sich im Auftreten vergangener Verhaltensweisen zur
Zeit der Sektenmitgliedschaft bemerkbar machen können, ist eine
Anwendung der paradoxen Intention schwierig. In einem solchen Fall muß
ein Logotherapeut diese Methode zurückstellen und versuchen die
Therapiebewährungskriterien in den Mittelpunkt zu rücken, allen voran
eine liebevolle selbsttranszendente Haltung gegenüber dem Patienten und
diesem Möglichkeiten aufzeigen, sich wieder neu auf Bindungen, zunächst
vor allem im familiären Bereich einzulassen. Dabei nimmt das vertraute
Gespräch und die positive Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine
nicht zu unterschätzende Beispielfunktion ein.
1.3.2.2 Die Dereflexion
Die Dereflexion kann man mit „einem Fernrohr vergleichen, das dazu
dient, eine durch übermäßige Selbstbeobachtung aus den Augen
verlorene Welt wieder ins Visier zu bekommen“.720 Diese Aussage von
Elisabeth Lukas macht deutlich, warum viele Patienten nicht gesunden.
Eine zu intensive Konzentration auf die eigene Person fördert die
Begrenztheit und Enge der eigenen Lebenswelt. Durch eine zu starke
Selbstbeachtung verliert der Mensch den Blick für die Welt um sich herum,
auf die er einwirken soll. Ziel der Dereflexion ist es, dem Patienten die
Bedeutung der Zurückstellung der eigenen Person zu vermitteln. Elisabeth
Lukas formuliert den Sinn dieser Forderung wie folgt: „Denk nicht an dich,
stell dich etwas zurück, vergiß dich, es gibt noch anderes außer dir, schau
720
Gesinnung und Gesundheit, 178.
241
hin auf das andere, geh auf im anderen, und du wirst dich selber
geschenkt bekommen.“721
Der
Patient
soll
verstehen
lernen,
die
Aufmerksamkeit
und
Wertschätzung, die er selbst vom Therapeuten erfährt, an die Welt
weiterzugeben. Ein solcher Mensch wird sein erfahrenes Leid und seinen
Schmerz nicht zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit machen, sondern
kann durch die Hinwendung nach außen eine Relativierung seiner
Situation vornehmen. Indem der Patient sich nach außen wendet und
nicht in seiner negativen Situation aufgeht, schöpft er zugleich
Hoffnung.722
1.3.2.2.1 Dereflexion bei Hans-Jürgen Twisselmann
Hans-Jürgen Twisselmann hat die Dereflexion im logotherapeutischen
Sinn voll und ganz verwirklicht. Durch seine Hinwendung nach außen,
seinen Einsatz für ehemalige Zeugen Jehovas in Form des von ihm
initiierten Bruderdienstes ist es ihm gelungen von sich wegzuschauen, hin
auf die Sorgen und Nöte anderer. Er nimmt die Betroffenheit von durch die
Zeugen Jehovas geschädigte Menschen ernst, ohne sein eigenes
Schicksal immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Er bezieht Stellung
seiner Situation gegenüber, indem er Verantwortung gegenüber anderen
wahrnimmt, und wird selbst zu einem Berater und Therapeuten, bei dem
die von der Logotherapie geforderte Liebe in Form eines liebevollen
Umgangs mit betroffenen Menschen nicht zu kurz kommt, sondern
wesentliche Voraussetzung für jedes Gespräch ist. Twisselmann schöpft
seine Hoffnung dabei aus explizit transzendenten Bezügen, dem Glauben
und Vertrauen Gott gegenüber.
721
Gesinnung und Gesundheit, 181.
„Sobald er [der Patient] das verstanden hat, daß seine Liebe gebraucht wird, und er
sich deswegen nicht in seinem Schmerz verkriechen und in seinem Kummer total
vergraben darf, hat er zugleich auch schon Hoffnung geschöpft; vielleicht nicht die
Hoffnung auf ein langes, angenehmes und glückliches Leben, aber zumindest die
Hoffnung auf ein sinnvolles Leben, unter welchen Umständen auch immer, und das ist
der Kernpunkt einer jeden Heilung und eines jeden Heil-seins menschlicher Existenz.“
(Gesinnung und Gesundheit, 181).
722
242
1.3.2.2.2 Gerd Wunderlich
Alle Sektenaussteiger haben eine tiefen Vertrauensmißbrauch und viele
Enttäuschungen erfahren. Das durch die Sektenmitgliedschaft erfahrene
Unrecht und Leid hat sich in der Persönlichkeit eingenistet. Verschiedene
Schikanen von Seiten der Wachtturmgesellschaft haben bei Aussteigern
aus der Sekte der Zeugen Jehovas eine oft psychisch zermürbende
Wirkung nach sich gezogen. Das erfahrene Unrecht und das Entsetzen
seiner Frau über die Methoden der WTG schildert Gerd Wunderlich sehr
eindringlich, indem er schreibt, seine Frau habe solche Methoden niemals
für möglich gehalten, wenn sie nicht selber an der Verhandlung vor dem
Rechtskomitee teilgenommen hätte.723 Der tiefe Vetrauensmißbrauch
durch die WTG wird Wunderlichs deutlich, als die Wachtturm-Organisation
als Geschäftsfirma entlarvt wird. Die zahlreichen Schikanen, denen Gerd
Wunderlich auch als Dienstamtsgehilfe ausgesetzt ist, zehren an den
Kräften der Eheleute Wunderlich. Als ihre kritische Haltung der WTG
gegenüber bekannt wird und die Ruhe innerhalb der Versammlung
gefährdet ist, werden Herr und Frau Wunderlich von Seiten der Zeugen
Jehovas durch Nichtbeachtung bzw. Verachtung gestraft. Seine Frau wird
in eine Außenseiterrolle gedrängt, sie wird von anderen Mitgliedern der
Zeugen Jehovas beispielsweise nicht mehr gegrüßt, selbst von solchen
Zeugen
Jehovas,
zu
denen
Familie
Wunderlich
langjährige
Freundschaften unterhalten hat. Die Verwandtschaft, soweit sie Mitglied
der Sekte ist, distanziert sich von ihnen und es kommt zu einer familiären
Zerreißprobe. Die aktiven Zeugen Jehovas führen gegen Familie
Wunderlich auch öffentliche Verleumdungskampagnen durch, so werden
Wunderlichs durch aktive Zeugen auch bei Unterredungen auf offener
Straße in Verruf gebracht.724
Bei der im Rahmen der Logotherapie angewandten Methode der
Dereflexion kommt es nun darauf an, den Vertrauensmißbrauch und die
Verleumdungen durch die WTG zu relativieren, indem durch eine
Konzentration nach außen, etwa durch die Verwirklichung der von Frankl
723
Vgl. Wunderlich, 141.
243
geforderten schöpferischen Wertkategorie der Blick von der eigenen
Person bzw. Familie weggelenkt wird.
Das Aufgehen in einer erfüllenden Aufgabe, die Hingabe an die andere
Person, etwa die der Eheleute Wunderlich untereinander, kann einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, ein Kreisen um das erfahrene Unrecht zu
verhindern. Diese Konzentration auf andere Dinge soll keine Verdrängung
der Negativen Erlebnisse darstellen, sondern gerade durch die Hingabe
an einen anderen Menschen und die Verwirklichung echter Liebe findet
sich der Mensch schließlich selbst. Der Aufbau von Beziehungen
außerhalb der Familie wäre bei Familie Wunderlich sicherlich dringend
erforderlich, um den familiären Rahmen, in dem sich die Ereignisse und
Erfahrungen mit der Sekte abgespielt haben, zu erweitern und auch neue
Gedanken
und
Ideen
aufzunehmen
und
Bekanntschaften
und
Freundschaften nach der Zeit in der Sekte zu schließen.
1.3.2.2.3 Monika Deppe
Monika Deppe und ihr Ehemann hatten während ihrer Mitgliedschaft bei
den Zeugen Jehovas unter zahlreichen Reglementierungen und Verboten
zu leiden, die sie auch nach dem Sektenausstieg noch belasten. Zu den
zahlreichen persönlichen Einschränkungen zählt beispielsweise das
Verbot einen Bart zu tragen, was Herr Deppe als Eingriff in seinen
Intimbereich wertet. Als er sich weigert seinen Bart zu entfernen, wird es
ihm verboten, bei den Zusammenkünften im Königreichssaal weiterhin aus
den Schriften der Zeugen vorzulesen.725 Das Ehepaar Deppe ist nicht
mehr bereit, die Schikanen der Sekte hinzunehmen. Allerdings ist der
Schritt des Ausstiegs mit zahlreichen Ängsten verbunden. Dies bedeutet
vor allem für Monika Deppe eine enorme psychische Belastung. Sie
verleiht ihrer inneren seelischen Zerrissenheit und ihrem seelischen Druck
durch Weinen Ausdruck. Der Sohn der Eheleute Deppe weigert sich
724
725
Ibid., 172.
Vgl. Deppe, 59.
244
angesichts des erfahren Leids seiner Eltern noch Kontakt zu den Zeugen
Jehovas zu halten. Familie Deppe sucht schließlich Zuflucht im Gebet.
Das letzte Druckmittel der WTG, der Ausschluß aus der Versammlung,
kann Familie Deppe letztlich nicht mehr treffen, da der enge familiäre
Zusammenhalt den gemeinsamen und endgültigen Ausstieg aus der
Sekte der Zeugen Jehovas begünstigt und unterstützt.726
Bei einer Dereflexion als logotherapeutischer Methode wäre zunächst
sicherzustellen, inwieweit die Ereignisse aus der Zeit in der Sekte und vor
allem auch die während des Ausstiegsprozesses bei Familie Deppe eine
negative
Lebenseinstellung
bewirkt
haben.
Ist
eine
zu
intensive
Konzentration auf das der Familie und den einzelnen Familienmitgliedern
angetane Unrecht zu verzeichnen, wäre es im Sinne der Dereflexion, den
Blick der einzelnen Familienmitgliedern auf bestimmte Dinge zurichten, die
einem Kreisen um die eigenen negativen Erfahrungen entgegenwirken.
Hier
würde
sich
die
von
Frankl
propagierte
Wertkategorie
der
schöpferischen Werte anbieten, die durch die Ausübung eines Hobbys
verwirklicht werden könnte. Die Familie als ganze könnte die von Frankl
genannten
Erlebniswerte
Spaziergänge
und
verwirklichen,
andere
Ausflüge
indem
sie
unternehmen
gemeinsame
könnte.
Die
Verwirklichung dieser beiden Wertkategorien würde einer zu starke
Konzentration auf die eigene Person entgegenwirken.
1.3.2.2.4 Barbara Waß
Barbara Waß leidet während ihrer Sektenmitgliedschaft bei den Zeugen
Jehovas
unter
mancherlei
körperlichen
und
seelischen
Beeinträchtigungen. Durch die Hinwendung zu Frau I., welche sich um
ihren schwerbehinderten Sohn kümmern muß, entwickelt sich zwischen
Barbara Waß und dieser Frau I. ein freundschaftliches Verhältnis, das ein
entscheidender Faktor für den Sektenausstieg von Frau Waß ist.
726
Vgl. Deppe, 75ff.
245
Diese Freundschaft zwischen Frau Waß als Zeugin Jehovas und Frau
I., welche Barbara Waß für die WTG werben soll, verhindert bereits
während der Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas eine zu starke
Konzentration auf die eigene Person bei Frau Waß. Durch ihre Sorge und
ihre Anteilnahme gegenüber Frau I. wird Frau Waß immer deutlicher, daß
die Lehren und Vorgehensweisen der WTG sich nicht mit den
Forderungen der aktuellen Situation, Frau I. beizustehen, in Einklang
bringen lassen. Frau Waß will Verantwortung für Frau I. und vor allem
auch für ihr eigenes Leben wahrnehmen, indem sie erklärt: „Ich war nun
nicht mehr bereit, mich bei allem bevormunden zu lassen. Ich wollte selbst
die Verantwortung für mein Handeln tragen.“727 Indem sie Verantwortung
für ihr eigenes Handeln und für Frau I. übernimmt, sich einer anderen
Person in freundschaftlicher Weise hingibt, verwirklicht sie die von Frankl
beschriebene echt Liebe und Hingabe und hat somit ein Wofür, für das es
sich einzusetzen gilt und das ihre Situation sinnvoll erscheinen läßt.
Eine Dereflexion im Sinne der Logotherapie ist eigentlich bereits durch
die Hingabe an etwas außerhalb der Sekte im Gange.
Für die Zeit nach der Sekte wäre es auch bei Familie Waß ratsam,
Kontakte
zu
Menschen
außerhalb
der
Sekte
aufzubauen.
Die
Freundschaft zu Frau I. ist hierbei bereits ein günstiger Anfang. Letztlich
bleibt Familie Waß aber auf sich allein gestellt und ist psychisch sehr
ausgezehrt. Dies macht folgende Anmerkung von Frau Waß deutlich: „Wir
wollten unsere Ruhe haben. Wir waren nicht mehr bereit, uns den Dingen
zu unterwerfen. Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch
äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören
wollten.“728
Diese Einstellung darf nicht zur Resignation führen. So wäre dieser
Situation mit den von Frankl geforderten Einstellungswerten und
schöperischen Werten entgegenzutreten, die eine allmähliche Dereflexion
nach sich ziehen könnten.
Wie für Familie Wunderlich ist es auch für Familie Waß vonnöten, durch
eine Hinwendung nach außen, den Rahmen der eigenen Familie und dem
727
728
Waß, 213.
Ibid., 240.
246
damit verbundenen Leid zu sprengen und den eigenen Horizont um neue
Erfahrungen, gegebenenfalls auch Bekanntschaften und Freundschaften,
zu erweitern.
1.3.2.2.5 Jutta Elsässer
Jutta Elsässer hat durch ihre Mitgliedschaft bei Scientology großen
seelischen Schaden erlitten, der sich auch in psychosomatischen
Reaktionen äußert.729 Durch die Verwirklichung von Erlebniswerten
zusammen mit ihrem Freund, bessert sich jedoch ihr seelisches und
körperliches Wohlbefinden zunehmend.
Ihre unerträgliche psychische Situation und ihre finanziell bedrückende
Lage ändern sich mit dem Ausstieg aus Scientology. Sie fordert von der
Scientology-Organisation
nach
ihrem
Ausstieg
eine
finanzielle
Entschädigung für die hohen Geldsummen, die sie in die Organisation
investiert hat.
Da sie auf der Erstattung der Geldbeträge beharrt und rechtliche
Schritte androht, läßt ihr die Organisation tatsächlich einen bestimmten
Geldbetrag als Entschädigung zukommen.
Die Anwendung der Dereflexion bei Jutta Elsässer bestünde wie auch
bei den Aussteigern aus der Sekte der Zeugen Jehovas in einer
Verwirklichung
der
von
Frankl
beschriebenen
Wertkategorien.
Erlebniswerte, beispielsweise durch Besuche von Theatern, Museen
sowie schöpferische Werte, die durch eine Hinwendung und ein Aufgehen
der Person in einer erfüllenden Tätigkeit zum Ausdruck kommen können,
wären für Jutta Elsässe hilfreich. Sie hat während ihres Ausstiegs
erheblich Willensstärke und Entschlossenheit entwickelt, die es ihr
ermöglichen, sich von vergangenen Erlebnissen zu lösen. Die Beziehung
zwischen ihr und ihrem Freund, der ebenfalls Scientology verlassen hat,
bietet darüber hinaus die Chance, gemeinsam die von Frankl propagierten
Werte zu verwirklichen und gemeinsam den Blick nach vorne zu richten.
729
Vgl. Elsässer, 198f.
247
Zu zweit kann eventuellen Rückfällen in vergangene Verhaltensweisen
und in mögliche Grübeleien über die in der Sekte erlittenen Verletzungen
besser vorgebeugt werden, zumindest kann der eine Partner den anderen
auf solche, sich negativ auf das Leben nach der Sekte auswirkende
Verhaltensweisen aufmerksam machen und so korrigierend auf das
Verhalten des anderen einwirken.
1.3.2.2.6 Elke Nietsche
Auch Elke Nietsche erfährt aufgrund ihrer Mitgliedschaft bei Scientology
vielerlei physische und psychische Beeinträchtigungen. Am schwersten
trifft Frau Nietsche die Vernachlässigung ihrer Tochter, um die sie sich
während ihrer zahlreichen Fahrten zur Zentrale nach München nicht mehr
in ausreichender Weise kümmern konnte. Dies wird Elke Nietsche in
besonderer Weise bewußt, als sie Zeit findet, über die ScientologyOrganisation und die Beziehung zu ihrer Tochter nachzudenken. Frau
Nietsche hat nach ihrem Ausstieg aus Scientology entsetzliche Angst vor
eventuellen Vergeltungsmaßnahmen der Sekte. Durch die Hilfe von
Verwandten und Freunden und das Hinzuziehen eines Sektenberaters
schafft sie es, endgültig mit der Sekte zu brechen.
Im Fall von Frau Nietsche wäre eine Dereflexion durchaus hilfreich.
Inwieweit sie ihre Erlebnisse mit der Sekte belasten, wird am Ende ihrer
Ausführungen noch einmal sehr deutlich, wenn sie sich fragt: Wann kann
ich endlich sagen, wirklich draußen, wirklich ausgestiegen zu sein? Es ist
ein langwieriger Prozeß.“730 Bei diesem Prozeß ist es entscheidend, nicht
nur eine örtliche Distanz zur Sekte und den einstigen Bezugspersonen
aufzubauen, sondern auch eine geistige Distanz den Ereignissen
gegenüber zu gewinnen.
Die nach dem Sektenausstieg einsetzende verstärkte Sorge um ihre
Tochter Fredericke ist eine Möglichkeit, um ihre Kräfte jetzt außerhalb der
Sekte sinnvoll einzusetzen, jedoch wäre es erforderlich, verstärkt Kontakte
730
Nietsche, 91.
248
zu Bekannten und Freunden aufzubauen, um sich selbst nicht zu intensiv
in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und immer wieder über die
schmerzvollen Ereignisse während der Zeit in der Sekte nachgrübeln zu
müssen. Der Aufbau von Bekanntschaften und Freundschaften als eine
Hinwendung nach außen dient also der Dereflexion. Die von Frankl
beschriebenen Erlebniswerte in Form von gemeinsamen Unternehmungen
wären eine gute Möglichkeit, um das Verhältnis zu ihrer Tochter wieder zu
intensivieren, die Dereflexion voranzutreiben und ihr Dasein nach der
Sekte als sinnvoll erleben zu können.
1.3.2.2.7 Norbert Potthoff
Aufgrund seiner Funktion als Leiter der Verbreitungsabteilung hat
Norbert Potthoff tiefgreifende Einblicke in die Praktiken der Sekte
gewonnen. Die bedrückende Situation innerhalb der Sekte gestaltet sich
für ihn erträglicher als für andere Mitglieder, weil für ihn die Möglichkeit
besteht, während der Zeit seiner Gebundenheit an die Sekte schöpferisch
tätig zu sein.
Er stellt für sich allerdings deutlich heraus, daß es die Tätigkeit ist, die
er liebt, nicht das System von Scientology. Nach seinem Entschluß die
Sekte zu verlassen, distanziert er sich zusammen mit seiner Frau örtlich
von der Organisation und ihren Anhängern. Jedoch gelingt seiner Frau
dieser Ausstieg nicht, sie nimmt wieder Verbindung zu Scientology auf
und schließlich verliert er sie an die Sekte.
Norbert Potthoff hat der Verlust seiner Frau an die ScientologyOrganisation hart getroffen, jedoch kann er nach der Ehescheidung auch
erleichtert feststellen, damit die Sekte endgültig hinter sich gelassen zu
haben.731
Die Verwirklichung von schöpferischen Werten spielt für Norbert
Potthoff eine entscheidende Rolle. Eine Dereflexion könnte hieran
anknüpfen
und
gerade
nach
seinem
Sektenausstieg
durch
die
249
Verwirklichung schöpferischer Werte erfolgen. Das Verfassen des
Aussteigerberichtes stellt an sich schon eine schöpferische Tätigkeit dar,
die sich zwar mit den Ereignissen in der Sekte intensiv auseinandersetzt,
aber zugleich eine gewisse Distanz den erfahrenen schmerzvollen
Erlebnissen gegenüber bewirken kann. Um den Erfolg einer Dereflexion
zu steigern, wäre es hilfreich, die schöpferischen Werte im künstlerischen
Bereich umzusetzen, was sich bei Norbert Potthoff anbietet, da er von
Beruf Graphiker ist. Eine Hinwendung nach außen wäre durch
Freundschaften außerhalb der Sekte möglich und wünschenswert. Es ist
entscheidend, wieder neues Vertrauen zu Personen außerhalb der Sekte
aufzubauen und sich selbst einer Person oder einer Sache hingeben zu
können.
1.3.3 Grenzen des logotherapeutischen Beratungs- und
Therapiekonzeptes
Das logotherapeutische Beratungs- und Therapiekonzept ist aufgrund
seiner Ausrichtung an der geistig-noetischen Dimension menschlicher
Existenz in der Lage, Sektenaussteigern vielfältige Hilfen bei der Rückkehr
ins „normale Leben“ zu bieten. Die drei großen Methoden der
Logotherapie und die diese unterstützenden Therapiebewährungsfaktoren
können, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt, sowohl für Aussteiger aus
der Scientology-Organisation
als auch für ehemalige Zeugen Jehovas
von Bedeutung sein und in diesen Menschen die Bereitschaft für ein
gelingendes Leben nach der Sekte wecken.
Dabei soll den Aussteigern durch die Verwirklichung der verschiedenen
von Frankl propagierten Wertkategorien und der bereits erwähnten
Methoden und Therapiebewährungsfaktoren ein gangbarer Weg in die
Zukunft gewiesen werden und ihr Leben auf diese Weise an Sinn
gewinnen.
731
„Wenn ich jetzt die Tür des Gerichtssaals hinausgehe, verlasse ich endlich nach
sieben Jahren das Labyrinth von Scientology.“ (Potthoff, 282).
250
Insofern
ist
gutzuheißende
die
Logotherapie
Therapieform,
die
sicherlich
auch
für
eine
hilfreiche
und
Sektenaussteiger
von
Bedeutung ist.
Die Aussteigerberichte von Menschen, die mit der Sekte der Zeugen
Jehovas gebrochen haben, zeigen allerdings, daß das Therapiemodell der
Logotherapie trotz guter Einsatzmöglichkeiten eine ganz entscheidende
Dimension
menschlicher
Wirklichkeit
nur
unzureichend
in
ihre
therapeutische Arbeit mit aufnehmen kann, nämlich die religiöse
Dimension menschlicher Existenz, die sich im Glauben an eine
transzendente Wirklichkeit eines personalen Gottes orientiert und bei
therapeutischen Gesprächen auch ganz gezielt das Gottesbild und die
damit verbundene Gottesbeziehung des jeweiligen Patienten in ihre Arbeit
mit einbezieht.
An dieser Stelle ist also die Frage nach der Abgrenzung der
Logotherapie gegenüber der Theologie zu thematisieren. Viktor Frankl
beschäftigt sich mit diesem Verhältnis in einem seiner zentralen Werke,
der „Ärztlichen Seelsorge“.
Frankl beschreibt dieses Verhältnis zwischen Logotherapie und
Theologie mit den Worten: „Das Ziel der Psychotherapie [die Logotherapie
ist ja eine Form der Psychotherapie, wenn auch eine ganz besondere, wie
in den Ausführungen Sigmund Freud deutlich geworden ist] ist seelische
Heilung – das Ziel der Religion jedoch ist das Seelenheil.“732 Trotz der
Verschiedenheit beider Bereiche entfaltet die Religion nach Meinung
Frankls
eine
entscheidendende
psychohygienische
und
psychotherapeutische Wirksamkeit. Sie bietet dem Menschen die
Möglichkeit einer „Geborgenheit und eine Verankerung sondergleichen“,
nämlich „Geborgenheit und die Verankerung in der Transzendenz, im
Absoluten“.733 Einen ähnlichen Nebeneffekt sieht Frankl auch in der
Psychotherapie, wenn auf Seiten des Patienten die Gläubigkeit neu an
Bedeutung gewinnt, was vom Therapeuten allerdings nicht bewußt
geschehen darf, da sonst eine Grenzüberschreitung stattfindet. Die
psychologische und die religiöse Ebene sind insofern voneinander
732
733
Ärztliche Seelsorge, 271.
Ibid.
251
verschieden, als die Dimension, in die der religiöse Mensch vorstößt eine
höhere, umfassendere ist als die in der sich die Psychotherapie bewegt.
Frankl stellt in diesem Zusammenhang eindeutig klar, daß ein Vorstoß in
die höhere, religiöse Dimension nur im Glauben geschehen kann.734
Auch wenn die Logotherapie nicht ausdrücklich religiös motiviert
vorgeht, beachtet sie religiöse Äußerungen und Bedürfnisse der
Patienten, weil hierbei das Bedürfnis des Menschen nach geistigtranszendenten,
sinnvollen
Bezügen
aufscheint.
Die
Logotherapie
versucht bei den Patienten dabei das „Wofür“ ihres Lebens neu zu
entdecken, das sogenannte „Wovor“ seines Verantwortlichseins bleibt ihm
freigestellt. In der Religion ist er vor jemandem, nämlich der Gottheit
gegenüber, verantwortlich. Die Logotherapie muß sowohl für gläubige
Menschen,
die
diesen
Glauben
im
Sinne
des
christlichen
Offenbarungsglaubens verstehen ein möglicher Weg sein, als auch für
Menschen, die einen Glauben an einen personalen Gott nicht bejahen
können und statt dessen Gläubigkeit als umfassenden Sinnglauben
verstehen. Den Sinn bezeichnet Frankl dabei als „Mauer, hinter die wir
nicht weiter zurücktreten können, die wir vielmehr hinnehmen müssen“.735
734
735
Ärztliche Seelsorge, 272.
Ibid., 274.
252
2 Das psychotherapeutische Vorgehen Jörg Müllers
auf explizit christlicher Basis – ein Beratungs- und
Therapiekonzept für Aussteiger aus der Sekte der
Zeugen Jehovas
Für den christlichen Glauben und die Kirche stellt die Sorge für den
Menschen, besonders für den in Not geratenen und enttäuschten, eine
zentrale Aufgabe dar. Nach dem Verlassen der Sekte ist der Aussteiger
erneut ein suchender Mensch, dessen transzendentes und religiöses
Verlangen von der Sekte mißbraucht worden ist. Das Verlangen nach Sinn
und Orientierung auf transzendent-religiösem Hintergrund liegt in der
Natur des Menschen. Die christliche Tradition beschreibt dieses
Verlangen nach Transzendenz, das letztlich ein Verlangen nach Gott ist,
wie folgt: „Das Verlangen nach Gott ist dem Menschen ins Herz
geschrieben, denn der Mensch ist von Gott und für Gott erschaffen.“736
Das zweite Vatikanische Konzil, dem die Erneuerung des kirchlichen
Lebens ein Herzensanliegen war, betont gerade auch die Verantwortung
und die Sorge der Kirche, und somit jedes Christen, für die Armen und
Benachteiligten, wenn es in der Konstitution „Lumen Gentium“ heißt:
„Christus wurde vom Vater gesandt, ‚den Armen frohe Botschaft zu
bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind (Lk 4,18), zu suchen und
zu retten, was verloren war‘ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die
Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten
sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie
gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich,
deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“737 Der
Dienst am Menschen um Gottes Willen und die Sorge um Arme und
Leidende kann besonders bei der Sorge um durch Sekten geschädigte
Menschen zum Einsatz kommen. Sorge um den Menschen ist zugleich
immer Seelsorge, wobei eine ganzheitliche Seelsorge auch immer die
religiöse Dimension menschlichen Lebens berücksichtigen muß.
736
Katechismus der katholischen Kirche. Taschenbuchausgabe der deutschen Ausgabe,
München 1993, Kapitel 1, Abschnitt 1.
737
Lumen Gentium, 8.
253
Christlich
motivierte
Psychotherapie
und
Seelsorge
versteht
den
Menschen nicht nur als biologisches, psychologisches und soziologisches,
sondern vor allem auch als ein religiöses Wesen.738
Für eine
ganzheitliche, dem Menschen auch in seiner religiösen Dimension
gerechtwerdende Psychotherapie und Seelsorge ist die Sichtweise
Frankls, die aufgrund des wissenschaftlichen Anspruchs die religiöse
Komponente
nur
unzureichend
in
ihr
Konzept
einbezieht,
ergänzungsbedürftig. Der Psychotherapeut, Theologe und Priester Dr.
Jörg Müller vereinigt innerhalb seines therapeutisch-seelsorglichen
Vorgehens in einzigartiger Weise psychologische und theologische
Aspekte menschlicher Wirklichkeit, die speziell für eine Seelsorge und
Therapie
von
Aussteigern
aus
der
Sekte
der
Zeugen
Jehovas
unentbehrlich sind.
Es sollen im folgenden wesentliche Gesichtspunkte des therapeutischseelsorglichen Vorgehens Müllers dargestellt und anschließend dessen
Bedeutung für eine Beratung und Therapie ehemaliger Zeugen Jehovas
herausgearbeitet werden.
2.1 Müllers Kritik an den heutigen Psychotherapien
Es existiert keine wertfreie Form von Wissenschaft. Jörg Müller beklagt
daher die auf psychologischem Gebiet anzutreffende unzureichende
Hilfestellung, die in Not geratene Menschen in der Hoffnung auf
Besserung und Heilung ihres Zustandes in Anspruch nehmen. Die
ganzheitliche, d. h. geistlich-religiöse Dimension menschlichen Lebens
bleibt meist aus Angst vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit einer
738
Vgl. Fraas, 42ff. Fraas beschreibt in diesem Zusammenhang die im Laufe der
abendländischen Geschichte in Theologie, Philosophie und Psychologie
anzutreffenden Sichtweisen über die religiöse Anlage des Menschen. Dabei hat die
dominikanische Mystik wohl den nachhaltigsten Einfluß auf die Theologie ausgeübt.
Fraas bemerkt dazu: „In der dominikanischen Mystik (‚Seelenfünklein’), in der Rede
von der natürlichen Gotteserkenntnis, vom Gewissen als der Stimme Gottes, von der
Unsterblichkeit der Seele spiegelt sich der Gedanke vom Angelegtsein des Menschen
auf Gott wider: Die Gottesidee, der Hang zum Gottesglauben ist dem Menschen
eingestiftet und bleibt lebenslänglich erhalten, wenngleich durch die Sünde verdunkelt
und geschwächt.“ (Fraas, 42).
254
Therapie unberücksichtigt.739 Auch ein Psychologe oder Arzt kommt
jedoch nicht ohne Entscheidungen aus, die subjektiv beeinflußt sind.
Dabei fließen auch immer seine persönlichen Wertvorstellungen und seine
weltanschaulichen Überzeugungen in seine Arbeit mit ein.740 So ist gerade
auch ein Psychotherapeut in seinem Berufsalltag oftmals zur Preisgabe
seiner eigenen weltanschaulichen Position gegenüber seinen Patienten
herausgefordert. Leider ist hierbei oftmals auf Seiten des Therapeuten ein
materialistisch-atheistischer Hintergrund nicht auszuschließen, welcher mit
dem christlich-biblischen Menschenbild unvereinbar ist.741 Jörg Müller
meint in diesem Zusammenhang: „Es ist klar, daß der in seinem Wesen
zutiefst religiöse Mensch auf dieser Basis keine Kern-Gesundheit finden
kann.“742
Er
erwähnt
ausklammernden
hierbei,
daß
Therapien
in
das
vielen
die
Phänomen
religiöse
der
Dimension
Religiosität
des
Menschen als neurotische Erscheinung aufgefaßt wird, welches durch
langwierige
analytische
Gespräche,
oftmals
noch
mit
einer
medikamentösen Behandlung gepaart, wegtherapiert werden soll.743
Zahlreichen Leiden liegt jedoch lediglich eine falsch verstandene
Religiosität zugrunde, die meist in einem bedrohlichen, angsterzeugenden
739
Vgl. Müller, Jörg, Und heilt alle deine Gebrechen. Psychotherapie in christlicher Sicht,
Stuttgart 1989, 7. Vgl. auch Müller, Jörg, Gott ist anders. Das Leiden an den falschen
2
Gottesvorstellungen. Wege zur Heilung, Stuttgart 1994 , 12f.
740
Die Entstehung wissenschaftlicher Theorien und Konzepte ist nicht rein objektiv. Die
Auffassung Sigmund Freuds in bezug auf Religion als kollektive Zwangsneurose ist
heute nicht mehr haltbar. Hierdurch wird auch die Relativität solcher Theorien deutlich.
Was derzeit Aktualität besitzt, kann in kurzer Zeit schon als überholt gelten. Die
Relativität wissenschaftlicher Theorien und Konzepte beschreibt Willem J. Ouweneel
mit folgenden Worten: „So ist es erstaunlich, wie leicht manche sagen: Freud, Jung,
ach, die werden heute von den Therapeuten nicht mehr so ernst genommen. Aber
damals war das, was sie brachten, für Hunderttausende von Menschen die höchste
und tiefste – nahe zu religiöse – Wahrheit. Heute sind es ganz andere Namen, die
angeblich diese höchste Wahrheit vertreten – und in einer Generation werden es
wieder ganz andere sein. So bewegt man sich auch in der Psychotherapie von der
einen zu der nächsten ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘.“ (Ouweneel, Willem J.,
Säkulare Psychologie – eine Ersatzreligion?, in: Utsch, Michael (Hrsg.), Wenn die
Seele Sinn sucht. Herausforderung für Psychotherapie und Seelsorge, Neukirchen –
Vluyn 2000, 46f.).
741
Vgl. Müller, Jörg, Und heilt alle deine Gebrechen, 7.
742
Ibid., 8.
743
„Viele Therapeuten sind der Auffassung, die Religion sei der Grund solcher
neurotischer Denk- und Verhaltensmuster, demzufolge versuchen sie nun, die
Religion wegzutherapieren, dabei das Kind mit dem Bad ausschüttend.“ (Müller, Und
heilt alle deine Gebrechen, 8). Vgl. auch Funke, 24f.
255
Gottesbild ihre Wurzeln hat. „Dabei werden viele Patienten, die ja nur
einen unbeschwerteren und vertrauensvolleren Zugang zu ihrem Gott
suchen, verunsichert und gehen mit größeren Schuldgefühlen aus der
Therapie wieder heraus.“744 Jörg Müller gibt in diesem Kontext den Rat
eines Psychotherapeuten an eine seiner Patientinnen wieder. Als diese
versuchte, ihre Glaubensschwierigkeiten zu thematisieren, meinte dieser,
sie solle eine bestimmte Sorte von Tabletten einnehmen und mit dem
Gebet aufhören.745
Religion und Glaube stellen aber keine krankmachende, sondern eine
heilsame, für die Sinnfindung- und Verwirklichung notwendige Dimension
menschlicher Existenz dar. Christliche Seelsorger und Psychotherapeuten
leiden beide unter den jeweiligen Grenzen ihres Kompetenzbereichs. Der
christliche Seelsorger stößt im psychologischen Bereich schon bald an
seine Grenzen. Umgekehrt erfährt auch der nicht christlich arbeitende
Psychotherapeut im religiösen Bereich ebenfalls schnell seine Grenzen.
Der Ausschluß religiöser Inhalte ist wohl auch eine Ursache für den
mäßigen Erfolg mancher Therapie und erklärt die recht hohen
Rückfallquoten von Patienten, die sich einer solchen Therapie ohne
religiösen Bezug unterzogen haben.
2.2 Ziele christlich motivierter Beratung, Therapie und
Seelsorge
Christlich motivierte Beratung, Therapie und Seelsorge ist biblisch
orientiert. Ihr Grobziel besteht in der Hinführung des Menschen zu einer
befreiten und erlösten Gottesbeziehung, die den Menschen als ein mit
einer verantwortlichen Weltoffenheit und einer von Gott verliehenen
Begabung ausgestattetes religiöses Wesen betrachtet. Die eigentliche
Wurzel vieler Erkrankungen wird hierbei in einem krankmachenden
Gottesbild gesehen, welches als Mißtrauen gegenüber Gott, in Form
744
745
Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 8.
Ibid., 9.
256
zahlreicher Ängste, in religiöser Leistung oder auch der völligen
Ablehnung religiöser Bindungen auftreten kann.746 Ein falsch verstandener
Glaube kann krankmachende Wirkungen aufweisen, erlöster Glaube hat
eine heilende, befreiende Wirkung, wenngleich er keine Garantie für eine
völlig
krisenfreie
Existenz
ist.
Jörg
Müller
schreibt
in
diesem
Zusammenhang: „Wer das lebt, wird innerlich reich. Denn was krank
macht, ist die innere Leere, die gefüllt sein möchte mit sattmachender
Nahrung,
nicht
mit
flüchtigen
Ersatzfüllungen.“747
Herkömmliche
psychologische Methoden haben durchaus ihre Berechtigung, jedoch gilt
für Jörg Müller, daß „Arzt, Psychologe und Seelsorger sich ergänzen“.748
Es sind so vor allem drei Ziele, die eine christlich-biblisch ausgerichtete
Therapie und Seelsorge verwirklichen soll, nämlich die Selbstannahme
des Menschen aufgrund der ihm entgegengebrachten Liebe Gottes, die
allmähliche Hingabe des eigenen Lebens an Gott sowie eine existentiell
erfüllende Sinnfindung.749
2.3 Verschiedene Formen von Lebensangst und deren
Bewältigung
2.3.1 Normale und krankhafte Angstreaktionen
Normale und krankhafte Angstreaktionen unterscheiden sich im
wesentlichen
durch
ihre
Intensität.750
Als
Beispiele
für
normale
Angstreaktionen nennt Müller die Angst vor Spinnen, Flugangst und
Lampenfieber.
anzutreffen
746
Ängste
und
als
sind
fester
in
unterschiedlichen
Bestandteil
Lebensbereichen
menschlichen
Lebens
zu
Vgl. Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 110.
Ibid., 21.
748
Ibid., 22. Müller warnt vor einer Kompetenzüberschreitung des medizinischen
Bereichs, wenn er meint: „Die heutige Medizin hegt einen Versorgungsanspruch, dem
sie nicht gewachsen ist. Sie übt Macht aus und klagt seit Jahren auch den
psychologischen Bereich für sich ein, obwohl sie auf Grund ihrer Ausbildung und
vornehmlich empirischen Ausrichtung dafür wenig kompetent ist.“ (Müller, Gott ist
anders, 12).
749
Ibid., 111. Vgl. auch Müller, Gott ist anders, 23ff. Vgl. auch Veeser, Wilfried,
Lebensfragen. Antworten und Beispiele aus der Beratungspraxis, Moers 2000, 161ff.
750
4
Vgl. Müller, Jörg, Lebensängste und Begegnung mit Gott, Stuttgart 1997 , 15.
747
257
betrachten. Auch Elisabeth Lukas schreibt der Angst eine wichtige Warnund Schutzfunktion zu. Steigern sich jedoch normale Angstreaktionen
über ein erträgliches Maß hinaus, kann es zu Beeinträchtigungen des
Lebens kommen. Eine krankhafte Verdrängung der Angst kann sich in
Form von Zwanghaftigkeit, Depressionen, Aggressionen, Hypochondrie
oder Hysterie zeigen. Wir sprechen dann von neurotischen Ängsten. Jörg
Müller meint im Zusammenhang mit derartigen neurotischen Ängsten:
„Der neurotische Charakter ist krank in seinen zwischenmenschlichen
Beziehungen, aber auch in seiner Beziehung zu sich selbst.“751
2.3.2 Der Einfluß des Gottesbildes
Eine zentrale Bedeutung im Bereich der Angstreaktionen kommt der
Problematik angstbesetzter Gottesbilder zu, über die Jörg Müller bemerkt:
„Fast alle Patienten, die unter irgendeiner neurotischen Erkrankung leiden,
insbesondere Angstneurotiker mit Schuldkomplexen, haben ein verzerrtes
oder fehlendes Gottesverhältnis.“752 Das Gottesbild, welches die religiöse
Dimension des Menschen existentiell beeinflußt, ist im wesentlichen auf
frühkindliche Erfahrungen zurückzuführen. Das erfahrene Elternbild übt
einen
prägenden
Einfluß
auf
das
Gottesbild
aus.
Es
kann
vertrauenerweckend oder aber angstauslösend sein.753
Bereits in der Kindheit gemachte helfende und erlösende Erfahrungen,
etwa die versöhnende Vergebung von Schuld, wirken das gesamte Leben
hindurch weiter nach. Ein schlechtes elterliches Vorbild, etwa die
Erfahrung ständiger Drohungen, um bei Kindern Gehorsam zu erzwingen,
751
Müller, Lebensängste, 16.
Ibid., 43.
753
Müller, Lebensängste, 43. Vgl. auch Fraas, 176. Fraas hebt die Bedeutung des
mütterlichen Geborgenheits- und Vertrauensgefühls für die Übertragung auf die
spätere Gottesvorstellung hervor, wenn er schreibt: „Darum ist das mütterliche
Pflegeverhalten maßgebend für die Vertrauenshaltung und die Lebenshaltung des
Menschen. Angesichts der zwangsläufigen Ablösung von der Mutter, die sich als
fehlbar, als nicht allmächtig, nicht vollbergend zeigen muß (sei es durch Schuld oder
Schicksal), erweist sich die Mutter als frühe Statthalterin eines hinter ihr stehenden
Umgreifenden (in psychologischen Formulierungen hieß es, die Mutter sei der erste
‚Gott‘ des Kindes).“ (Fraas, 176).
752
258
wirkt sich in der Regel auf das Gottesbild verhängnisvoll aus.754
Erziehungsbedingte Einflüsse und Prägungen entbinden einen Menschen
jedoch nicht von der Verantwortung, sein Gottesbild und seine
Gottesbeziehung im Laufe des Lebens immer wieder zu überdenken und
gegebenenfalls mit seelsorglicher Hilfe zu korrigieren. „Sonst läuft er
Gefahr, sich immer weiter von seinem Schöpfer zu entfernen und diese
selbstverschuldete Distanz ihm vorzuwerfen: Wo bist du Gott? Wie kannst
du so etwas zulassen? Du bist kein Gott der Liebe. Warum hilfst du mir
nicht?“755
Wahre Gottesfurcht ist von einer pathologischen Angst vor Gott zu
unterscheiden,
die
eine
mögliche
Folge
der
Übertragung
einer
unbewältigten Vaterbeziehung auf Gott darstellt.756 Hierbei treten die
Folgen einer verdrängten Angst vor der Person eines allmächtigen oder
ohnmächtigen Vaters zutage.757
2.3.2.1 Das rächend-strafende Gottesbild
Viele Menschen leiden unter der Vorstellung, Gott werde ihre
schuldhaften Vergehen nicht vergeben und für schwere Sünden, etwa im
Falle einer Abtreibung, einen Menschen trotz Reue und Buße für diese Tat
auf ewig verdammen. Die Gottesbeziehung ist durch eine solche
Auffassung von einem strafenden und rächenden Gott arg getrübt. Jörg
Müller bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel einer Frau, die vor
vielen Jahren eine Abtreibung hatte vornehmen lassen und aufgrund
dieser Tat und ihres bedrohlichen, strafenden Gottesbildes schwere
psychische Beeinträchtigungen hinnehmen mußte. Ihre Lebensgeschichte
erlaubt einen Einblick in die elterliche Erziehung, die ihr Gottesbild
wesentlich geprägt hat. Müller erwähnt erzieherische Inkompetenz der
754
Vgl. Fraas, 152.
Müller, Lebensängste, 45.
756
Vgl. Fraas, 152.
757
Müller, Lebensängste, 45.
755
259
Eltern, rigoristische und bedrohliche Verhaltensweisen ihres Vaters und
eine versäumte Abnabelung von den Eltern.758
Selbst nach einer Psychotherapie auf christlicher Basis betont Müller:
„Noch heute ängstigt sie sich bei Gewitter, im Glauben, der nächste Blitz
träfe ihr Haus als gerechte Strafe.“759 Das im Elternhaus geprägte
Gottesbild aufgrund des erlebten Vaterbildes hat in diesem Fall zwanghaft
angstneurotische Ausmaße angenommen. Die Auffassung von einem
rächenden und strafenden Gott, der trotz eingestandener Schuld und
Reue auf Rache bedacht ist, kann in vielen Variationen auftreten. Jörg
Müller kommt in diesem Zusammenhang auf angsterzeugende Praktiken
der Kirche zu sprechen, die Gott für pädagogische Zwecke mißbraucht
und ihre Ziele unter Androhung von Höllenstrafen durchzusetzen versucht
habe.760
Der Mißbrauch des Gottesbildes kann nicht selten in Haßgefühle
umschlagen, die sich in aggressiven Verhaltensweisen zeigen.761
Verbotene und unterdrückte negative Gefühle Gott gegenüber können
auch in Form von Verschiebung zum Ausdruck kommen. Sie können
gegen andere Personen oder gegen die eigene gerichtet werden. Werden
solche Gefühle ins Gegenteil verkehrt, kann sich Haß in übertriebener
Freundlichkeit und Zuvorkommenheit äußern, die von einer großen
Aufopferungsbereitschaft begleitet sein können. Über eine hiervon
betroffene Person meint Jörg Müller: „Sie muß lernen, die Andersartigkeit
Gottes zu akzeptieren und ihr jetziges Gottesbild größtenteils als Ergebnis
ihrer eigenen, negativen Projektion zu entlarven.“762
Gleichwohl betont er die Notwendigkeit einer berechtigten Gottesfurcht
als Ehrfurcht, die jedoch frei von Gedanken sein sollte, daß für gewisse
Vergehen keine Vergebung möglich sei. Eine Liebeserfahrung, die stets
durch Angst- und Rachegedanken getrübt wird, muß entzerrt und korrigiert
werden, was durch konkrete positive Erfahrungen in diesem Bereich
758
Vgl. Müller, Lebensängste, 47. Bedrohliche und strafende Verhaltensweisen des
Vaters können die Gottesvorstellung von Gott als einem „Weltraumpolizisten“
bewirken. (Vgl. Fraas, 213).
759
Müller, Lebensängste, 47.
760
Ibid.
761
Vgl. Fraas, 174f.
762
Müller, Lebensängste, 48.
260
verwirklicht werden kann und durch die Einbeziehung neutestamentlicher
Texte, die über die Freundlichkeit und Liebe Jesu zu den Menschen
berichten, unterstützt werden kann. „Die spürbare Anwesenheit Jesu
verwandelt allmählich jeden Menschen, der sein Herz öffnet; nur wer sich
angenommen weiß in einer Gemeinschaft gläubiger Menschen, wird die
Liebe Gottes in sich aufnehmen.“763
2.3.2.2 Das Bild eines abwesenden, ohnmächtigen Gottes
Die in der Kindheit erlebte permanente Abwesenheit eines helfenden
Vaters kann zu der Vorstellung eines abwesenden, schwachen und
ohnmächtigen Gottes führen, was sich häufig in einem deistischen
Gottesverständnis äußert. Man hält zwar an der Existenz Gottes fest,
jedoch wird dessen Wirksamkeit und Sorge um den Menschen verneint,
ebenso die Möglichkeit, durch Gebet eine Beziehung zu diesem Gott
aufnehmen und aufrechterhalten zu können. Jörg Müller spricht hier von
einer „Geborgenheitsunsicherheit“.764
Fällt die Vorstellung von der Ohnmacht und Untätigkeit Gottes mit
eigenem Unvermögen zusammen, kann dieser Mangel an Geborgenheit
und die eigene Beschränktheit durch eine Form von narzißtischer
Selbstsicherung kompensiert werden, was allerdings weitere Ängste und
Unsicherheit nach sich zieht. „Alles ist machbar und geht ohne Gott
scheinbar viel besser und schneller. Der Mensch hat sich zum Gott
erhoben, weil Gott ihm zu menschlich, zu schwach und ohnmächtig
erschien.“765
763
Müller, Lebensängste, 59. Vgl. auch Heise, Irene, Einführung in eine Theologie der
Empathie. Leitfaden für einen einfühlsamen Umgang bei Scheitern, Scheidung und
2
Wiederverheiratung aus Theologie, Psychologie und Philosophie, Wien 2000 , 172.
Heise betont die bei einem Menschen im seelsorglichen Gespräch notwendige
Empathie und Wertschätzung, die wohl auch eine charakteristische Eigenschaft Jesu
war. Sie unterscheidet drei verschiedene Weisen des Auftretens Jesu, zum einen sein
„Auftreten im Streitgespräch“, seine „Verkündigung als Prediger“ und das „Auftreten
als Seelsorger“, welches sich durch Erbarmen und Mitgefühl auszeichnet.
764
Müller, Lebensängste, 49.
765
Ibid., 50.
261
Unsicherheiten und Ängste mit einhergehenden Schuldgefühlen treten
bei vielen Patienten in der therapeutischen Praxis durch überhebliche
Äußerungen
gegenüber
religiösen
Themen
zutage.
Jörg
Müller
verdeutlicht dies am Beispiel einer 34-jährigen Frau, die seit langer Zeit an
epileptischen Anfällen leidet und sich in der Hoffnung auf therapeutische
Hilfe bei ihm in Behandlung begibt. Als er unter anderem auch auf die
religiöse Überzeugung der Frau zu sprechen kommt, reagiert diese
überheblich und aggressiv zugleich, wodurch ihre religiöse Verbitterung in
Erscheinung tritt. „Solche Verbitterung kann dem Menschen zur
Resignation, zum Zynismus oder auch zu einer maßlosen Überschätzung
seiner Möglichkeiten führen, doch stets verbunden mit verdrängten
Schuld- und Angstgefühlen angesichts einer doch für möglich gehaltenen
Gottesexistenz.“766
Ein Leben ohne Gott hat oftmals einen enormen Leistungsdruck zur
Folge, der durch übertriebene Eigenregie gekennzeichnet ist. Ein solches
Leben begnügt sich oftmals mit Süchten und Abhängigkeiten jeder Art als
Ersatzbefriedigung. Der scheinbare Erfolg von Menschen, die ohne Gott
ihr Leben gestalten, läßt gläubige Christen manchmal an ihrem eigenen
Glauben oder an Gott zweifeln. Jedoch ist die für ungläubige Menschen
lächerlich anmutende biblische Aussage, daß Gott Unkraut und Weizen
gleichzeitig wachsen und gedeihen läßt, für glaubende Menschen eine
ungeheuere Ermutigung, da sie das Eingreifen Gottes innerhalb der
menschlichen Existenz, biblisch als Ernte bezeichnet, als eine sichere
Tatsache darstellt, auch wenn der genaue Zeitpunkt ihres Eintreffens dem
Menschen nicht bekannt ist.
2.3.3 Abwehrmechanismen und ihre Symptome
Die Abwehr unangenehmer Empfindungen und Ängste stellt eine
gängige
766
767
Praxis
menschlichen
Verhaltens
dar.767
Viele
Menschen
Müller, Lebensängste, 51.
„Das Leben ist ohne Verdrängung nicht möglich. Wir müssen vieles verdrängen, um
uns zu schützen. Das muß nicht zwangsläufig krank machen; die Kanalisierung dieser
262
verdrängen neben ihren elementaren Gefühlen wie Schuld, Zorn, Wut und
Trauer auch die Angst. Dieser Mechanismus ist jedoch nicht immer leicht
zu
durchschauen.
Die
im
religiösen
Bereich
häufigsten
Abwehrmechanismen sind das Leugnen, der Starrsinn, die Projektion, die
Intellektualisierung und die Privatisierung.
2.3.3.1 Leugnen
Einem leugnenden Menschen schreibt Jörg Müller verdeckte Ängste
zu.768 Um die Wahrhaftigkeit von Aussagen nicht in Frage stellen lassen
zu
müssen,
bestreitet
er
sie,
wobei
im
Falle
von
kritischen
Gegenäußerungen eine besonders unduldsame Form von Rechthaberei
auftreten kann. Bei Menschen mit Tendenz zum Leugnen zeigt sich
mitunter eine Angst vor Bloßstellung ihrer tatsächlichen Gedanken und
Empfindungen sowie die Furcht, ihr instabiles Denkgebäude könnte von
anderen zum Einsturz gebracht werden. Ein solcher Mensch zeigt in
verschiedenen sozialen Bereichen widersprüchliches Verhalten. Jörg
Müller bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel einer Frau, die sich
in einem Teufelskreis von verdrängten Gefühlen und Emotionen befindet.
Sie versucht seit langem ihren Mann zur Teilnahme an kirchlichen
Veranstaltungen zu bewegen, muß jedoch die ablehnende, bisweilen auch
aggressive Ablehnung ihrer Bitten hinnehmen. Auffällig ist bei dieser Frau,
daß sie innerhalb der Kirchengemeinde eine masochistisch anmutende
Aufopferungsbereitschaft
zeigt,
zu
Hause
dagegen
ihrem
Mann
gegenüber vor allem aggressive Verhaltensweisen an den Tag legt. Sie
will die Bekehrung und religiöse Betätigung ihres Mannes als persönlichen
Erfolg verbuchen, wozu Jörg Müller bemerkt: „So aber will sie alles selber
machen; Gott hat keinen Raum in ihrem Alltag, sie sieht in der erhofften
Bekehrung ihrer Familie einen ganz persönlichen Erfolg, der ihre Eitelkeit
Kräfte in die Erfüllung normaler Lebenspflichten reicht für gewöhnlich aus, um die
Spannung solcher Wünsche erträglich zu halten oder gänzlich herabzusetzen.“
(Müller, Gott ist anders, 30). Übersteigt die Verdrängung ein erträgliches Maß, kommt
es zu psychischen Auffälligkeiten und Abwehrmechanismen.
768
Vgl. Müller, Lebensängste, 53.
263
nähren würde. Und da sie nichts ausrichten kann, ist sie verbittert.“769 Als
Jörg Müller ihre Reaktionen aufzudecken bestrebt ist und sie mit ihrem
Haß und Groll auf ihren Mann konfrontiert, leugnet sie diese Gefühle, um
nicht in einen unangenehmen Gewissenskonflikt zu geraten. Da sie ihre
Eitelkeit nicht wahrhaben will, läßt sie sich zu einem solchen Verhalten
verleiten.
2.3.3.2 Starrsinn
Jörg Müller ist der Ansicht, der gläubige, sich Gott gegenüber öffnende
Mensch sei ein lebendiger und dynamischer Mensch.770 Doch die Realität
zeigt oftmals ein anderes Bild. Selbst Menschen, die sich als gläubige
Christen bezeichnen, zeigen mitunter eine Lebensweise, die eher
abschreckend, denn überzeugend wirkt. „Starrgläubige klammern sich
verbissen an überkommene Regeln und Gewohnheiten, bis schließlich
alles Lebendige in einem Korsett von Gesetzen, Verboten, Vorschriften
und
von
Leistungsgläubigkeit
erstickt
ist.“771
Lebendigkeit
und
Spontaneität sind entscheidend für einen lebendigen Glauben, was
zahlreiche Einrichtungen wie etwa Taizé und neue geistliche Bewegungen
innerhalb
der
Kirche
deutlich
machen.
Jörg
Müller
sieht
einen
Zusammenhang zwischen einem Mangel an „religiöser Lebendigkeit und
den antisozialen Verhaltensformen in unserer Gesellschaft“.772
2.3.3.3 Projektion
Das Übertragen eigener Gedanken und Motive auf andere Menschen
ist ein häufig anzutreffendes Phänomen.773 In diesem Zusammenhang ist
beispielsweise die Äußerung zu sehen, die Leute gingen nur zur Kirche,
769
Müller, Lebensängste, 55.
Ibid., 57.
771
Müller, Lebensängste, 58.
772
Ibid.
773
Vgl. Müller, Gott ist anders, 31ff.
770
264
um ihre neue Kleidung oder ihre eigene Person zur Schau zu stellen. Jörg
Müller
sieht
in
Wunschdenkens,
dieser
Äußerung
beispielsweise
versteckte
selber
eine
Motive
solche
eigenen
Modenschau
durchführen zu wollen, es sich jedoch nicht einzugestehen, oder aber
diese Behauptung soll eine Rechtfertigung eigener Bequemlichkeit
darstellen, die das Fernbleiben von der Kirche entschuldigen soll.774
Selbst die Negierung Gottes, die atheistische Behauptung seiner
Nichtexistenz, kann eine Projektion darstellen. Jörg Müller schreibt in
diesem Zusammenhang: „Wem die Existenz Gottes nicht in den Kram
paßt, wird sie rasch verdrängen; er wird den religiösen Glauben ersetzen,
durch den Glauben an die Wissenschaft.“775
Die Projektion eigener Wünsche, Fehler und Schwächen auf andere
Menschen stellt den Versuch dar, diese zu verwirklichen bzw. zu
beseitigen. Dies führt auf Dauer zu einer großen Belastung der
zwischenmenschlichen Beziehung.
2.3.3.4 Intellektualisierung und Privatisierung
Die meisten Pfarrgottesdienste sind Ausdruck deutlich intellektuell
bestimmter Glaubensäußerungen. Dies hat durchaus seine Berechtigung.
Jedoch weist Jörg Müller auch auf eine durch die Verarmung des
Gefühlslebens bedingte Verarmung der religiösen Erlebnisfähigkeit hin.
Die Art des Betens offenbart zuweilen eine Angst vor spontanen religiösen
Gefühlsäußerungen. „Ein Großteil der Christen ist nicht imstande, frei und
laut zu beten; er hält sich lieber an vorformulierte Texte und ist froh, wenn
möglichst Gefühle außer acht gelassen bleiben.“776
Die Überbetonung der intellektuellen Seite hat eine Versachlichung von
Gefühlen zur Folge777 , wodurch im Glaubensbereich die Gefahr der
774
Müller, Lebensängste, 61.
Ibid., 62.
776
Müller, Lebensängste, 65.
777
Die Versachlichung der Gefühle und Verschleierung der eigentlichen Gründe kann
durch Intellektualisierung erfolgen. Diese verhindert eine als unangenehm oder
peinlich empfundene Bloßstellung der eigenen Person. Das Beispiel der Verliebtheit
veranschaulicht dies sehr humorvoll. „Wer kennt nicht jenen Vorgang, wo alle
775
265
Verwaltung des Glaubens gegeben ist. Die Verarmung der emotionalen
Dimension des Glaubens kirchlicherseits läßt die Angebote vieler
neureligiöser Gruppierungen und Sekten attraktiv erscheinen. Hier zeigt
sich der soziale Charakter des christlichen Glaubens und seine den
einzelnen
ermutigende,
gemeinschaftsstärkende
Funktion.
Die
Kurzsichtigkeit von Menschen in bezug auf diese gemeinschaftliche
Tatsache läßt sich so beschreiben: „Sie übersehen die solidarische
Struktur des Christentums, in der Gott anwesend ist, sobald sich zwei oder
drei in seinem Namen versammeln (Mt 18,20).“778
2.3.4 Mögliche Folgen der Angstverdrängung
„Der Mensch ist aufgefordert, über sich nachzudenken und seine
bisherige Lebens- und Denkweise umzukehren.“779 Dies erfordert jedoch
auch eine Auseinandersetzung mit unbequemen, schmerzlichen und
angstvollen Situationen des Lebens. Viele Menschen wollen sich diesem
Prozeß jedoch nicht stellen und verdrängen lange Zeit die notwendige
Auseinandersetzung, was zu psychosomatischen Beschwerden führen
kann.780
2.3.4.1 Vergebungsunfähigkeit
Jahrelang schlummernde seelische Verletzungen und verdrängte Wut
können zur Vergebensunfähigkeit führen. Verborgene Wut und Groll
müssen bewußtgemacht, reflektiert und verarbeitet werden. Da die
emotionale Belastung hierbei meist sehr stark ist, muß eine vorrangig
möglichen Gründe arrangiert oder vorgetäuscht werden, um eine geliebte Person so
oft wie möglich zu treffen? Auf die Frage nach dem Grund des Kommens lassen sich
nun die verschiedensten Argumente nennen, nur nicht das wirkliche, nämlich die
Verliebtheit.“ (Müller, Gott ist anders, 33).
778
Müller, Lebensängste, 68.
779
Ibid., 70.
266
verstandesmäßige Verarbeitung erfolgen. Jörg Müller meint: „Es ist gut zu
wissen, daß oft erst der Verstand dem Herzen vorangehen muß; das
heißt, ich vergebe willentlich: Ich bin bereit, meinem Mitmenschen zu
verzeihen, auch wenn meine verletzten Gefühle noch nicht in der Lage
sind, jene Verzeihung zu begleiten.“781
2.3.4.2 Berechtigte und unberechtigte Schuldgefühle
Abwehrmechanismen
dienen,
wie
bereits
beschrieben,
der
Verdrängung unangenehmer Empfindungen, so auch von Schuldgefühlen.
Es gibt neben berechtigten, auf eine objektive Schuld zurückzuführende
Schuldgefühle auch solche, deren Ursache nicht ersichtlich ist. Ursachen
solcher nicht ersichtlichen Schuldgefühle liegen sicherlich in der Erziehung
begründet. Das stetige Zurückstellen eigener Interessen und Bedürfnisse
zugunsten anderer, der permanente Verzicht und die Unterdrückung
berechtigter Ansprüche und Wünsche können zu solchen unberechtigten
Schuldgefühlen
führen.782
„Während
jeder
normale
Schuldige
im
reumütigen Sündenbekenntnis Vergebung erhält und auch Befreiung
verspürt, gelingt es dem neurotisch Schuldigen nicht, sich jener
Vergebung zu erfreuen.“783
780
Vgl. Müller, Gott ist anders, 78ff. Jörg Müller erwähnt in diesem Zusammenhang
Beschwerden wie Hautausschläge als Folge verdrängten Ärgers, Kopfschmerzen als
Folge von nicht gelösten Konflikten.
781
Müller, Lebensängste, 73. Vgl. auch Veeser, Lebensfragen, 119ff. Veeser beschreibt
die Möglichkeit der schrittweisen Entschärfung und der Beseitigung von Wutgefühlen.
Vgl. auch Grom, Bernhard, Umschau, Forgiveness. Die Bereitschaft zu vergeben. Ein
aufstrebendes Thema psychologischer Beratung und Forschung, in: Stimmen der Zeit
220 (2002), 640-643.
782
Dies soll durch ein Beispiel veranschaulicht werden. Eine Mutter, die ihre Tochter
emotional bindet, ihr existentielle Bedürfnisse nach freundschaftlichen außerfamiliären
Beziehungen untersagt und ihrer Tochter vorhält, sie selbst bedürfe ihrer Zuwendung,
erzeugt auf Dauer bei ihrer Tochter eine Haßliebe, die mit Schuldgefühlen
einhergehen kann. Setzt sich die Tochter über die Verbote der Mutter hinweg, muß sie
Vorwürfe der Mutter über sich ergehen lassen. Dies erzeugt bei der Tochter unechte
Schuldgefühle, aufgrund eines an sich berechtigten natürlichen Vorganges der
Abnabelung, die die Mutter ihrer Tochter jedoch nicht zugestehen will. (Vgl. Müller,
Lebensängste, 73).
783
Müller, Lebensängste, 76. Vgl. Veeser, Lebensfragen, 66ff. Vgl. auch Heise, 178ff.
Heise hebt die Notwendigkeit des Einfühlungsvermögens auf Seiten des Seelsorgers
in Bezug auf das Aufdecken von Schuld hervor.
267
Für einen Seelsorger und Therapeuten ist es nicht immer einfach, den
Unterschied zwischen echten und unrechtmäßigen Schuldgefühlen
festzustellen. Werden diese unrechtmäßigen Schuldgefühle nicht als
solche erkannt, kann die Therapie und Seelsorge nicht in der erwünschten
Weise wirken.
2.3.4.3 Medikamentierung
Bereits bei der Darstellung der existenzanalytischen Logotherapie nach
Viktor Frankl wurde die Bedeutung der geistig-noetischen Dimension für
das therapeutische Gespräch hervorgehoben. Die religiöse Dimension
wurde hierbei allerdings nicht ausführlich genug berücksichtigt. Werden
religiös begründete Konflikte nicht in der rechten Weise erkannt und auf
religiöser Grundlage behandelt, kann sich die Situation für den
betreffenden Patienten verschlimmern, was zu einer vorschnellen
Verabreichung von Medikamenten führen kann. Jörg Müller kritisiert dies
sehr scharf. „Das ärztliche und psychologische Sprechzimmer hat sich in
ein Beichtzimmer verwandelt, die Lossprechung der Schuld erfolgt durch
Wegrationalisieren der Sünde; die Reue bleibt unvollkommen; die Buße
äußert sich in der Einnahme von dreimal täglich zehn Tropfen eines
beliebigen Medikaments mit beliebigen Nachwirkungen.“784
Existentielle Ängste, Schuld, Leid und Tod lassen sich nicht durch
chemische Therapie beseitigen. Medikamente können eine Therapie
begleiten, jedoch nicht ersetzen. Christlich motivierte Psychotherapie ist
immer auch Seelsorge, wenn sie zur Kerngesundheit führen soll, und
bezieht den Glauben und die Gottesbeziehung mit ein. Die in der heiligen
Schrift zu findende Bezeichnung Gottes als Arzt zeugt von dieser
ganzheitlichen
auch
religiös
bestimmten
Dimension
menschlicher
Existenz.785
784
785
Müller, Lebensängste, 78.
„Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen
Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest,
werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe.
Denn ich bin der Herr, dein Arzt.“ (Die Bibel. Einheitsübersetzung, Ex 15, 26).
268
2.3.5 Ersatzglaube und andere Ersatzbefriedigungen als
Ausdruck innerer Sinnleere
Wird die geistlich-religiöse Dimension menschlichen Lebens nicht in
entsprechender
Weise
angesprochen,
fehlt
das
entscheidende
sinnstiftende Element. Nur in Beziehung zu seinem Schöpfer findet der
Mensch
seine
wahre
Bestimmung.
Zunehmende
Haltungen
wie
Verzweiflung, Selbstmordabsichten und Erscheinungen von Sarkasmus,
Zynismus und Fatalismus sind resignative Haltungen und meist Folge
mißlungener Sinnfindung. Sexuelle Ersatzbefriedigungen, Aberglaube,
Okkultismus und die Hinwendung zu sektiererischen Gruppierungen sind
Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Erfüllung und Verwirklichung
religiös-spirituellen Potentials,786 ohne welche eine geistige Leere
zurückbleibt. Der zerstörerische Einfluß solcher Ersatzbefriedigungen liegt
auf der Hand. Am Beispiel der Sektenproblematik ist die Intensität des
Verlangens
nach
hervorgetreten.
verwirklichtes
religiös-spiritueller
Die
religiös-spirituelle
Menschsein,
macht
Erfüllung
Leere,
für
d.h.
sehr
im
sektiererische
deutlich
Kern
nicht
Angebote
empfänglich. Der Mißbrauch fundamentaler menschlicher Regungen wie
Angst, Schuld, Hoffnung, Glaube und Liebe durch Sekten spricht eine
deutliche Sprache. Statt wirkliche Sinnerfüllung zu finden, geraten
suchende Menschen in neue Abhängigkeiten und Ängste und sogar
Versklavung. Der langwierige Ausstiegsprozeß und die meist notwendige
anschließende Therapie und Seelsorge an Sektenopfern stellt für die
christliche Psychotherapie eine enorme Herausforderung dar. Jörg Müller
stellt
in
diesem
Zusammenhang
einige
zentrale
Strategien
der
Angstbewältigung auf der Grundlage christlicher Therapie und Seelsorge
vor.
786
Vgl. Biser, Eugen, Das Christentum auf der Suche nach seiner Mitte. Auf der
Schneide der Zeit – Durchbruch zum Gott der Liebe, in: Schlemmer, Karl, (Hrsg.),
Ausverkauf unserer Gottesdienste? Ökumenische Überlegungen zur Gestalt von
Liturgie und zu alternativer Pastoral, Würzburg 2002, 127ff.
269
2.3.6 Angstbewältigung und Sinnfindung durch
Hinwendung zu Gott
2.3.6.1 Die Angstbewältigung Jesu als Beispiel
Jesu Umgang mit der Angst angesichts seines nahe bevorstehenden
Todes macht deutlich, wie selbst die Todesangst schrittweise besiegt
werden kann. Im Matthäusevangelium heißt es im Zusammenhang mit
dem Angstbekenntnis Jesu: „Da ergriff ihn Angst und Traurigkeit, und er
sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit
mir!“787
Das Eingeständnis der Angst ist der erste entscheidende Schritt zu
deren Bewältigung.788 Der zweite Schritt besteht darin, diese im Gebet vor
Gott
zu
bringen.
Der
Evangelist
Markus
bemerkt
in
diesem
Zusammenhang: „Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde
nieder und betete, daß die Stunde wenn möglich, an ihm vorübergehe.“789
Der dritte und letzte Schritt auf dem Wege der Überwindung der Angst ist
die Konfrontation mit der angstauslösenden Situation. Obwohl seine
Begleiter die Flucht ergreifen, stellt Jesus sich der Lage. Sein Beispiel
kann für Menschen eine große Ermutigung sein, sich ihren eigenen
Ängsten und Schwierigkeiten zu stellen.
Dem Gebet als Ausdruck einer intensiven Gottesbeziehung kommt
dabei eine zentrale Bedeutung zu. Durch die Verdrängung der Angst
beraubt sich der Mensch entscheidender Möglichkeiten der geistigen
Reifung. Das offene Eingeständnis von Angst kann im sozialen Umfeld,
etwa der Familie, zu ablehnenden Reaktionen führen. „Hier fehlt es an der
nötigen Aufklärung und am mangelnden Einfühlungsvermögen, wohl auch
deswegen, weil die Familie ihre eigenen Ängste verdrängt und nicht
wahrhaben will.“790
Trotz allem behält das Eingeständnis von Angst seine wesentliche
Bedeutung. Gelungene zwischenmenschliche Beziehungen sind auf
787
Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 26, 37b.
Vgl. Müller, Lebensängste, 126.
789
Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mk 14, 35.
790
Müller, Lebensängste, 128.
788
270
gegenseitige Akzeptanz und Offenheit angewiesen, was auch das
Eingeständnis belastender Empfindungen und Gefühle, einschließlich der
Angst, einschließt.
2.3.6.2 Ergebnisse erlöster Gottesbeziehung und
Lebenshingabe an Gott
2.3.6.2.1 Vergebungsfähigkeit
Das Vergeben von Schuld ist ein charakteristisches Merkmal des
Lebens Jesu. In seinen Gleichnissen und Begegnungen mit den
Menschen
wird
seine
Vollmacht
zur
Sündenvergebung
deutlich
hervorgehoben. Dabei stellt die Vergebung von Schuld oftmals eine
Voraussetzung für eine spätere körperliche Heilung dar.791
Das Gebot zu vergeben wird auch im „Vater Unser“ deutlich formuliert
und als Voraussetzung für die Vergebung Gottes angesehen. Bei
Matthäus heißt es: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlung
vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr
aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure
Verfehlungen auch nicht vergeben.“792
Vergebung setzt allerdings auch Reue über begangenes Unrecht
voraus, welche durch Einsicht in schuldhaftes Verhalten zustande kommt.
Das Eingeständnis eigener Schuld befähigt dazu, auch anderen
Menschen Verfehlungen nachzusehen. Die Gewißheit, daß Gott alle
Menschen trotz aller ihrer Fehler und ihres Versagens liebt und
bedingungslos annimmt, erleichtert die Vergebungsbereitschaft gegenüber
den Mitmenschen.
791
In der Geschichte von der Heilung eines Gelähmten in Mk 2, 1-12 heißt es in diesem
Zusammenhang: „Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat,
hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage Dir:
Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause! Der Mann stand sofort auf,
nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle außer sich; sie
priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen.“ (Die Bibel.
Einheitsübersetzung, Mk 2, 10ff.).
792
Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 6, 14f.
271
2.3.6.2.2 Sinnfindung und Selbstannahme
Die Sinnproblematik ist bei der Darstellung der existenzanalytischen
Logotherapie Frankls bereits dargestellt worden. Jedoch ist die Frage
nach dem Sinn und Zweck des Lebens und der Welt als ganzer dort als
Reservat
des
Glaubens
bezeichnet
worden.
Der
christliche
Erlösungsglaube läßt die Frage nach dem universalen Sinn des Lebens
und der Schöpfung in einem neuen Licht erscheinen. Zeitliche Werte
können die ungestillte Sehnsucht nach Transzendenz, letztlich nach Gott,
die ja bereits im zwischenmenschlichen Bereich der Liebe deutlich wird,
nicht ersetzen. Die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu ist
für die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz primär. Sinnleere ist Folge
des
Verlustes desjenigen
Wertes,
dem der erste Platz
in
der
Wertehierarchie zukommt. Hierbei kann es sich sowohl um einen
materiellen Wert als auch um Personen handeln.793
Der Verlust eines obersten Wertes und eine dadurch bedingte
Sinnleere stellt in zunehmendem Maße eine Erklärung für Fälle von Suizid
dar. Doch die Krise bietet auch eine große Chance, die vernachlässigte
religiöse Dimension des Lebens wiederzuentdecken. Jörg Müller bemerkt
in diesem Zusammenhang: „Doch kann ein solcher akuter Ausbruch von
Sinnleere und Todessehnsucht auch eine Chance zur Heilung sein,
nämlich
dann,
wenn
er
[der
Mensch]
erkennt,
daß
ihn
der
Schicksalsschlag lediglich aus einer latenten Verzweiflung aufgerüttelt hat.
Dies kann zu einem Gesinnungswandel führen, zu einer Umkehr im
Denken.“794
Gott als Sinn und Ziel des Lebens stellt eine wichtige sinnerfüllende
Größe dar. Auch im Falle durch Menschen erfahrener Ablehnungen und
Enttäuschungen behält das Leben als ganzes seinen Sinn. Der bereits
von Frankl beschriebene Aufgabencharakter des Lebens in Form einer
Suche nach den wahren Werten im Leben kommt im christlichen Kontext
793
794
Vgl. Müller, Lebensängste, 109.
Ibid.
272
besonders in dem von Jesus vorgetragenen Gleichnis von den Talenten
zum Ausdruck.795
Eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Möglichkeiten
spielt die Selbstannahme. Das eigene Leben wird nicht immer als
Geschenk
Gottes
dankbar
angenommen,
sondern
durch
vielerlei
Faktoren, etwa durch ein negatives Selbstbild oder Gottesbild geschädigt.
„Gerade der depressive Charakter tut sich schwer, sein Leben als vor Gott
und den Menschen berechtigt zu erachten, ohne Leistung erbringen zu
müssen. Er fühlt sich durch sein bloßes Dasein schuldig.“796
Eine christlich motivierte und verantwortete Verwirklichung der von Gott
gegebenen Möglichkeiten, ist stets von einem positiven Selbst- und
Gottesbild getragen. Sich selbst ablehnende Menschen zeigen mitunter
zwei auffällige Verhaltensweisen, entweder sie leben ihre negativen
Empfindungen rücksichtslos aus oder aber unterdrücken diese um den
Preis psychischer
Erkrankungen. Die von Jesus verkündete und oft
zitierte Selbsterniedrigung meint keine totale Selbstentwertung der
eigenen Personen. „Er verbietet uns nicht ein selbstbewußtes Auftreten
oder das Bewußtsein um unsere Fähigkeiten und Vorzüge. Er mahnt uns
aber zu einer demutsvollen Haltung, die den Nächsten als den gelten läßt,
der er im positiven Sinn ist oder sein könnte.“797
795
Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 25, 14-30. Wer seine Talente vergräbt und nicht
zum Einsatz bringt, wird folgendermaßen zurechtgewiesen: „Hättest Du mein Geld
wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen
zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn
Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben. Wer
aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den
nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit
den Zähnen knirschen.“ (Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 15, 27-30).
796
Müller, Lebensängste, 112.
797
Ibid., 115. Vgl. auch Müller, Jörg, Stell dein Licht auf den Leuchter. Verständnis und
Mißverständnis christlicher Demut, Stuttgart 1986. In dem zuletzt zitierten Werk zeigt
Müller anhand neutestamentlicher Texte, was mit christlicher Demut gemeint ist. Sie
hat nichts mit Selbstablehnung und Selbsterniedrigung in Form von zerstörerischer
Selbstentwertung zu tun. Die von Jesus geforderte Selbstverleugnung warnt vor der
Verabsolutierung eigener menschlicher Maßstäbe und ihrer Verwirklichung auf Kosten
anderer Menschen. Der Einsatz für Gott erfordert zwar manchmal eine Zurückstellung
eigener Wünsche, jedoch besteht das Ziel darin, durch die eigene Lebensweise
andere Menschen auf Gott hinzuweisen. Dies wird in der Aufforderung Jesu im
Matthäusevangelium deutlich, die Müller als Leitspruch an den Anfang seines Werkes
„Stell dein Licht auf den Leuchter“ (Seite 7) übernimmt: „Auch zündet man nicht ein
Licht an und stellt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, dann leuchtet es
allen, die im Hause sind. So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure
guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Zitat nach Müller).
273
2.3.6.3 Geistliches Leben als Grund erfüllter und sinnvoller
menschlicher Existenz
Die bewußte Lebensgestaltung auf der Grundlage des christlichen
Glaubens bedeutet nicht Lebensfeindlichkeit, Weltfremdheit oder religiöse
Isolation. Für einen geistlich lebenden Menschen hat die Welt als ganzes
einen religiös, von Gott garantierten Wert. Allerdings stellt ein geistliches
Leben auch Forderungen, vor allem diejenige, sein Leben jeden Tag neu
auf Gott auszurichten und das eigene Denken und Handeln an dem Jesu
zu orientieren. In diesem Zusammenhang spielt die Selbsterkenntnis eine
zentrale Rolle, wobei die Frage nach dem Gottesbild für die Art des
Betens
entscheidend
ist.
Voraussetzung
für
eine
geistliche
Lebensgestaltung ist die regelmäßige Lektüre in der Heiligen Schrift,
sowie auch der Umgang mit gläubigen Christen mit dem Ziel, Gedanken
und Erfahrungen auszutauschen. Die Einrichtung fester Gebetszeiten und
die Suche geeigneter Orte für das Gebet erleichtern
Meditation und
Reflexion. Neben diesen Grundlagen geistlichen Lebens sollen einige
positive Merkmale eines hierdurch geprägten Menschen herausgestellt
werden.
Geistliches
Leben
führt
zu
einer
sinnvollen,
erfüllten
menschlichen Existenz. Die Fähigkeit, Konflikte durchzustehen und
Verzicht zu üben, und die Bereitschaft, dem Nächsten zu vergeben, sind
typische Merkmale einer solchen Lebensweise. Jörg Müller skizziert das
Portrait eines geistlichen Menschen wie folgt: „Der geistliche Mensch fühlt
sich für das Reich Gottes verantwortlich; dafür riskiert er etwas. Er hat
keine Angst vor dem Streß des sozialen Engagements, dem er sich mutig
aussetzt. Er denkt, bevor er handelt, und betet bevor er denkt.“798
2.3.6.4 Die therapeutische Bedeutung der „Jesus-Imagination“
Innerhalb
Therapeuten
des
die
psychologischen
Kenntnis
und
Vorgehens
ist
Verwendung
auf
Seiten
des
verschiedenster
274
therapeutischer Vorgehensweisen von Vorteil. Bei gläubigen Menschen
verwendet Jörg Müller auch die Methode der sogenannten „JesusImagination“.799 Bei dieser Behandlungsmethode nimmt ein Patient eine
liegende
Haltung
ein
und
wird
durch
eine
leise
angenehme
Hintergrundmusik zu Ruhe und Entspannung geführt. Dabei produziert
das menschliche Gehirn vielfältige Bilder fiktiver oder tatsächlich
geschehener Situationen. Dies macht sich der Therapeut zunutze, indem
er den Patienten zur Vorstellung biblischer Szenen anhält. „In der
Imagination soll der Patient nicht allein mit der Person Jesu konfrontiert
werden, sondern mit allen Personen, die ihn in besonderer Weise verletzt
haben, gegenüber denen er Zorn und Bitterkeit empfindet.“800 Dabei
kommen verdrängte Gefühle an die Oberfläche, werden dem Therapeuten
offenbar, können so bewußt und unschädlich gemacht werden. Der
Patient soll sich eine Begegnung mit Jesus vorstellen und ihm in der
Überzeugung seiner tatsächlichen Gegenwart alle Verletzungen und
schwierigen Situationen vortragen, was auf den Patienten eine heilende
Wirkung hat. Menschen, bei denen die Jesus-Imagination nicht gelingt,
können
durch
Rollenspiele
und
erneute
Konfrontation
mit
ihren
Verletzungen gegenüber ihren negativen Gefühlen und Empfindungen neu
Stellung beziehen.
2.3.6.5 Ein Vergleich des christlich motivierten
psychotherapeutischen Konzeptes Jörg Müllers mit dem
logotherapeutischen Konzept Frankls
Die christlich motivierte Psychotherapie nach Jörg Müller, auch als
Seelsorge in Form ganzheitlicher Sorge um den Menschen verstanden,
zeigt
eine
mit
christlich-biblischen
Grundsätzen
vereinbare
und
verantwortbare Form der Bewältigung von Lebenskrisen in ihren
vielfältigen Erscheinungsformen auf. Müller erweitert auf diese Weise das
798
Müller, Jörg, Zur Unterscheidung der Geister. Wege zum geistlichen Leben, Hamburg
1995, 93.
799
Vgl. Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 89ff.
800
Ibid.
275
existenzanalytisch-logotherapeutisch orientierte Therapiekonzept Frankls
um einen zentralen Inhalt, bei welchem es sich um die religiös-spirituelle
Dimension menschlichen Lebens handelt. Ihm gelingt es, trotz seiner oft
sehr scharf formulierten Vorstellungen, einen gangbaren Weg christlicher
Psychotherapie als Teil einer ganzheitlichen Seelsorge, aufzuzeigen. Er
bezieht
wesentliche
Realitäten
menschlichen
Lebens
in
seine
therapeutische Tätigkeit mit ein, so die Angst als Ursache vieler
psychischer Störungen und Erkrankungen und die Folgen einer oft
verdrängten und doch obersten Wertkategorie menschlicher Existenz,
nämlich der Sinnfrage als Frage nach Gott. Diese Problematik behandelt
er vor allem auf der Grundlage der christlichen Überzeugung von der
Existenz eines personalen Gottes als Sinn und Ziel menschlichen Lebens.
Müller vereinigt in seiner Person in einzigartiger Weise psychologische
und theologische Überzeugungen, wobei er seine Vorgehensweise stets
biblisch-theologisch zu hinterfragen und bewerten sucht.
2.4 Anknüpfungspunkte für eine Therapie und
Seelsorge an ehemaligen Zeugen Jehovas aufgrund
der christlich motivierten therapeutischen
Vorgehensweise nach Jörg Müller
Jörg Müller bezieht als Theologe und Priester die religiös-spirituelle
Dimension
menschlichen
Lebens
in
seine
therapeutische
und
seelsorgliche Tätigkeit mit ein. Dabei steht die von Frankl aufgeworfene
Sinnfrage für ihn in engem Zusammenhang mit der Gottesfrage und der
Gottesbeziehung des Menschen. In einer negativen, angstbesetzten
Gottesvorstellung liegt nach Meinung Müllers die Ursache vieler
psychischer Störungen und Ängste. Diese Problematik wird besonders an
den Aussteigerberichten ehemaliger Zeugen Jehovas deutlich. Die
gesamte Psychologie der Wachtturm-Gesellschaft ist durchzogen von der
Vorstellung eines bedrohlichen, strafend-rächenden Gottes, der alle NichtZeugen vernichten wird.
276
Der Erfahrungsbericht Monika Deppes schildert eindrucksvoll die Angst
vor einem Verlassen der Wachtturm-Gesellschaft: „Wenn die Zeugen
Jehovas tatsächlich den richtigen Glauben hatten, dann würden wir in
Harmagedon von Gott erschlagen werden, wenn wir uns von ihnen
trennen würden. Dieses Risiko wollten wir auf keinen Fall eingehen.“801
Auf der Furcht vor einem strafenden Gott basiert auch die Motivation
der Zeugen Jehovas für ihre zahlreichen Missionseinsätze. Der als
Leistungsfrömmigkeit zu charakterisierende religiöse Eifer wird bei HansJürgen Twisselmann treffend beschrieben: „Bei uns aber wird der Dienst
als Mittel zur Erlangung der Seligkeit hingestellt: ‚Ohne Felddienst keine
Rettung‘, heißt die Devise.“802
Der Leistungsdruck innerhalb der Sekte und die Abwertung der
restlichen Welt als unglaubwürdig und systemfeindlich, bietet den
Mitgliedern der Sekte die Möglichkeit, eigene Ängste und Unsicherheiten
und
die
der
Glaubensgemeinschaft
als
ganzer
durch
Abwehrmechanismen zu unterdrücken.
Die
von
Jörg
Müller
beschriebenen
Abwehrmechanismen,
das
Leugnen, der Starrsinn und die Projektion, spielen hierbei eine
wesentliche Rolle. Müller meint: „Starrgläubige klammern sich verbissen
an überkommene Regeln und Gewohnheiten, bis schließlich alles
Lebendige in einem Korsett von Gesetzen, Verboten, Vorschriften und von
Leistungsfrömmigkeit erstickt ist.“803
Die Aussteigerberichte ehemaliger Zeugen Jehovas lassen diesen
Starrsinn sehr anschaulich zutage treten. Die Äußerungen von Barbara
Waß
über den der Wachtturm-Gesellschaft geschuldeten absoluten
Gehorsam und das grundsätzliche Verbot jeglicher Kritik und die Ahndung
jedweder Abweichung von der vorgeschriebenen Linie der Organisation,
geben hiervon einen einschlägigen Eindruck. Sie bemerkt in diesem
Zusammenhang: „Sie war alles, ja sie war eigentlich das ‚goldene Kalb‘,
801
Deppe, 72.
Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43.
803
Müller, Lebensängste, 58.
802
277
das angebetet wurde. Man mußte ganz untertan sein, jedwede Kritik war
unmöglich und wurde gleich als Rebellion ausgelegt.“804
Der Starrsinn wirkt sich in dem Augenblick voll aus, als Barbara Waß
die Sekte verläßt; denn nun wird sie das Opfer zahlreicher Schikanen und
Verleumdungskampagnen durch die linientreue Zeugen sie für ihren Abfall
von der Wachtturm-Gesellschaft bestrafen.
Das Leugnen gehört ebenfalls zum Alltag von Sektenmitgliedern. Das
bewußte Verdrängen unangenehmer, den eigenen Glauben gefährdender
Sachverhalte, führt zur Leugnung dieser unangenehmen Dinge. Am
anschaulichsten zeigt sich dies am Verhalten der Begleiterin von Barbara
Waß während eines gemeinsamen Missionseinsatzes. Die Mitschwester
muß sich mit der heftigen Kritik eines Mannes auseinandersetzen, der die
Korrektheit der Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas unter Hinweis auf
die Lutherbibel bezweifelt. Daraufhin leugnet sie die Richtigkeit dieses
Vorwurfes und bestreitet die Korrektheit der Lutherübersetzung, mit der
dieser Mann sie konfrontiert.805 Sie ist absolut nicht bereit, auf seine
Argumente einzugehen, sondern sie bestreitet sie, um nicht die
Schlüssigkeit und Wahrhaftigkeit der eigenen Lehre in Frage stellen zu
müssen.
Die
Projektion
stellt
einen
weiteren
bei
Sektenmitgliedern
anzutreffenden Abwehrmechanismus dar. Um sich die Unschlüssigkeit
und Widersprüchlichkeit des eigenen Sektensystems nicht eingestehen zu
müssen, werden Menschen außerhalb der Sekte unlautere Absichten
unterstellt und soziale und religiöse Gemeinschaften, wie die Großkirchen,
seitens der Zeugen Jehovas als verdammenswerte Einrichtungen
deklassiert. Um sich der Kritik von außen nicht stellen zu müssen, werden
die Fehler und Unvollkommenheiten anderer Gruppen, besonders der
Kirchen, in den Publikationen der Sekte immer wieder thematisiert und in
historisch unkorrekter Weise oftmals verzerrt dargestellt.806
804
Waß, 227.
Vgl. Deppe, 94.
806
Man betrachte in diesem Zusammenhang die Publikationen der Zeugen Jehovas. In
den aktuellen Zeitschriften „Erwachet“ und „Der Wachtturm“ lassen sich immer wieder
Darstellungen finden, die Priester und Bischöfe als Helfer des Satans erscheinen
lassen. Durch eine psychologisch durchdachte Aufmachung, durch kontrastreiche
805
278
Durch
solche
Abwehrmechanismen
überdeckte
Ängste
und
Unsicherheiten können auf Dauer zu psychischen Beeinträchtigungen der
Gesundheit führen. In einem Therapieprozeß müssen diese in Sekten
üblichen psychologischen Mechanismen berücksichtigt werden, um eine
möglichst gute Hilfe zu gewährleisten.
Der Aufbau neuer sozialer Kontakte erfordert ein gewisses Maß an
Offenheit, Vertrauen und Ehrlichkeit gegenüber Menschen, die bisher als
der Sekte Fernstehende und feindlich Gesinnte verachtet worden sind.
Daher muß das durch die Sekte geprägte eigene Denken und Verhalten
kritisch durchleuchtet werden, ehe ein Aussteiger neue Beziehungen zu
anderen
Mitmenschen
knüpfen
kann.
Die
psychotherapeutische
Vorgehensweise Jörg Müllers bietet dabei nicht nur wichtige Hilfen zur
Aufdeckung solcher Zusammenhänge, sondern auch entscheidende, die
Dimension des Glaubens einbeziehende Perspektiven zu einer, den
Menschen in seiner Ganzheit betrachtenden Therapie. Die Möglichkeit
durch eine solche ganzheitliche Therapie zu einer intakten und erlösten
Gottesbeziehung zu finden, macht dabei die Quintessenz der christlich
motivierten psychologischen Vorgehensweise Müllers aus.
Durch die Annahme der eigenen Lebensgeschichte und ihre Einordnung
in einen sinnvollen transzendenten Zusammenhang ist eine Versöhnung
mit der Vergangenheit besser möglich.
Im folgenden sollen konkrete Therapievorschläge für die Aussteiger aus
der Sekte der Zeugen Jehovas entwickelt werden, die auf der von Jörg
Müller angewandten Methode der Jesus-Imagination fußen. Durch die
Bewußtmachung der sich destruktiv auswirkenden Gottesvorstellung der
Zeugen Jehovas und durch eine Konfrontation mit dem Gottesbild Jesu
und dem Vorbild seiner Lebenspraxis kann eine aufbauende und heilende
Korrektur der gestörten Gottesbeziehung vorgenommen werden.
Bilder und Karikaturen wird dort versucht, neben Verurteilungen in Textform auf diese
Weise eine Beeinflussung und Manipulation der Anhänger zu erreichen.
279
2.5 Müllers Methode der Jesus-Imagination und die
Revision eines angstbesetzten Gottesbildes
Die Korrektur eines angsterzeugenden und bedrohlichen Gottesbildes
stellt für die christliche Therapie eine große Herausforderung dar. Durch
die Bewußtmachung der sich destruktiv auswirkenden Gottesvorstellung
der Zeugen Jehovas und durch eine Konfrontation mit dem Gottesbild
Jesu und dem Vorbild seiner Lebenspraxis kann eine aufbauende und
heilende Korrektur der gestörten Gottesbeziehung vorgenommen werden.
2.5.1 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Monika Deppe
Monika Deppe leidet nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen
Jehovas unter ihrem bedrohlichen Gottesbild, das sich in der Angst vor
Bestrafung äußert. Die Revision dieses Gottesbildes und die Annahme
ihrer schmerzvollen Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas sollen im
folgenden durch die von Jörg Müller angewandte therapeutische Methode
der Jesus-Imagination angegangen werden.
Therapeut: Frau Deppe, sie haben mir nun von vielen Erfahrungen mit den
Zeugen Jehovas berichtet, auch von ihren zahlreichen Verletzungen, die
Sie dort erlitten haben. Ich kann mir vorstellen, daß Sie jetzt nach ihrer
Trennung von den Zeugen Jehovas nicht nur Wut auf die
Wachtturmgesellschaft als solche haben, sondern auch auf Gott, der
Ihnen dies alles zugemutet hat.
Frau Deppe: Das können Sie mir glauben! Aber es ist doch verboten Wut
oder Groll gegenüber Gott zu äußern. Sehen Sie, Jehova kann mich dafür
strafen, daß ich ihm gegenüber aufmüpfig bin, er ist doch der absolute
Herr über alles.
280
Therapeut: Sie meinen, Gott könnte in ihr Leben eingreifen und sie mit
Krankheit oder gar Vernichtung schlagen?
Frau Deppe: Sie sagen es. Ich habe immer diese Angst vor dem Gericht
Jehovas, andererseits glaube ich ja, daß er unendlich barmherzig ist und
stets bereit zu verzeihen. Wissen Sie, ich habe mich erst kürzlich von den
Zeugen Jehovas getrennt und es gibt noch so viele Dinge, die ich erst
einmal verdauen muß.
Therapeut: Sie haben sicher viele schmerzliche Erfahrungen mit den
Zeugen Jehovas gemacht?
Frau Deppe: So ist es. Wissen Sie, die ständigen Demütigungen von
Seiten der Wachtturm-Gesellschaft , die permanente Kontrolle und
moralischen Reglementierungen haben ihre Spuren bei mir hinterlassen.
Ich fühle mich oft unfähig freie und von Ängsten losgelöste
Entscheidungen zu treffen. Ich möchte andererseits nicht immer im
Hinterkopf haben, alles was ich möchte sei verboten und wird von Gott
stets kritisch beäugt.
Therapeut: Sagen Sie, Frau Deppe, haben Sie mit Ihrem Mann über diese
Tatsache schon gesprochen?
Frau Deppe: Der Zusammenhalt innerhalb meiner Familie hat es uns
ermöglicht, den Schritt des Ausstiegs aus den Zeugen Jehovas
gemeinsam zu vollziehen. Aber mein Mann leidet unter denselben
Vorstellungen wie ich.
Therapeut: Frau Deppe, wenn Sie einverstanden sind. möchte ich mit
Ihnen folgende Übung durchführen, die ich die Jesus-Imagination nenne.
(Der Therapeut erklärt Frau Deppe die Methode der Jesus-Imagination)
Frau Deppe liegt entspannt auf einer Couch, im Hintergrund läuft leise
Musik.
281
Der Therapeut führt die Methode durch. Es sollen hierbei möglichst viele
der schmerzlichen Erlebnisse zur Sprache kommen, gewissermaßen noch
einmal durchlebt werden. Am Ende steht dann die Begegnung mit der
Person Jesu.
Frau Deppe kommen zahlreiche Erlebnisse und Begegnungen mit einem
der Ältestem der Versammlung und mit anderen Mitgliedern der Zeugen
Jehovas in Erinnerung. Sie durchlebt die schmerzlichen Situationen noch
einmal. Am Ende steht die Begegnung mit Jesus.
Therapeut: Sie befinden sich auf einer großen, bunten Wiese. Sie erfreuen
sich an den Farben und Formen, am Gesang der Vögel, an den
Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der sich gerade auf
einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie eine Begegnung
mit dem Ältesten der Zeugen Jehovas haben, der Sie am meisten verletzt
hat. Sie können ihm alles sagen, was Sie belastet und ärgert.
Da erscheint der Älteste auf der Wiese. Er kommt Ihnen entgegen. Führen
Sie jetzt das Gespräch mit ihm und lassen ihn dann auch zu Wort
kommen. (ca. 5 Minuten Pause)
Das Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus auf Sie zukommt.
Deutlich erkennen Sie seine Gesichtszüge. Er nimmt Sie bei der Hand und
geht mit Ihnen etwas abseits. Er weiß um Ihre Gefühle, um Ihre Ängste,
um Ihren Groll. Er möchte Ihnen etwas sagen. Hören Sie gut zu. (Pause)
Jetzt können Sie ihn bitten, in Ihrem Auftrag auf den Ältesten der Zeugen
Jehovas zuzugehen, der am Rand der Wiese steht. Wenn es Ihrem
innersten Gefühl entspricht, dann tragen Sie Jesus auf, er möge ihm in
Ihrem Auftrag vergeben.
Danach tritt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt Sie und entschwindet
Ihren Blicken. Sie befinden sich jetzt allein auf der Wiese. Nein, nicht
allein. Sie sehen plötzlich neben sich ihre Familie, Ihren Mann und Ihren
Sohn, beide lachen fröhlich. Tun Sie jetzt das, was Sie schon immer tun
wollten. (Pause)
Sie sind wieder allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt.
Öffnen Sie die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen,
können Sie mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben.
282
Frau Deppe berichtet nun dem Therapeuten im Detail ihre phantasierten
Bilder und Gespräche. Dabei können folgende Bemerkungen und
Erkenntnisse berichtet werden:
Frau Deppe: Ich sehe jetzt manches anders. Ich glaube auch, daß der
Älteste der Zeugen Jehovas gar nicht in böser Absicht an uns gehandelt
hat. Er hat Befehle der Wachtturmgesellschaft ausgeführt, er ist ein
verirrtes Schaf, ein Mensch, der noch nicht erkannt hat oder nicht
erkennen will, welcher Organisation er eigentlich dient.
Therapeut: Hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt?
Frau Deppe: Ja, Er sagte: Liebe Monika, alles was man dir und deiner
Familie in meinem Namen angetan hat, schmerzt mich ebenso wie dich
und deine Familie.
Hab’ keine Angst, ich werde dir und deiner Familie immer wohl gesonnen
sein.
Laßt nicht von mir ab, ich werde alles zu einem guten Ende führen und
euch Kraft geben.
Am Ende dieser Jesus-Imagination besteht die Möglichkeit, daß Frau
Deppe befreiter und mit neuer Kraft in den Alltag geht. Die befreiende und
liebevolle Begegnung mit Jesus zeigt ihr, daß Gott ganz anders ist, als Sie
ihn bei den Zeugen Jehovas vermittelt bekommen hat. Gott ist kein
unberechenbarer, straflüsterner Tyrann, sondern ist den Menschen in
Liebe zugewandt und spricht Mut zu. Er straft Frau Deppe und ihre Familie
nicht für das Verlassen der Zeugen Jehovas, sondern spricht ihr im
Gegenteil Kraft und Mut für den weiteren Lebensweg zu.
283
2.5.2 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Gerd
Wunderlich
Auch Gerd Wunderlich und seine Frau haben, wie in dem
Aussteigerbericht ja schon sehr eindringlich geschildert wurde, während
ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas viel Leid erfahren. Als mögliche
therapeutische Methode soll auch in diesem Fall die Jesus-Imagination
zum Tragen kommen.
Therapeut: Herr Wunderlich, Sie haben sicherlich viele schmerzliche
Erfahrungen während ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas gemacht.
Herr Wunderlich: Das kann man wohl sagen. Aber nicht nur ich, sondern
auch meine Frau hat, selbst nach dem offiziellen Austritt aus der
Wachtturm-Gesellschaft, einiges hinnehmen müssen.
Therapeut: Wollen Sie mir hierüber genaueres berichten?
Herr Wunderlich: Sehen Sie, der ständige Widerspruch zwischen den
ethischen Forderungen der Zeugen Jehovas und dem tatsächlichen
Verhalten gegenüber den eigenen Mitgliedern und den Außenstehenden
hat uns oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Als meine Frau und
ich an der Organisation und den ihr verbreiteten Wahrheiten zu zweifeln
begannen, wurde dies der Versammlungsleitung sehr bald bewußt und wir
wurden des öfteren besucht. Als wir in den Augen der Aufseher als
uneinsichtig und als Gefahr für die übrigen Zeugen bloßgestellt wurden,
begannen eine Reihen von Schikanen seitens der WTG.
Therapeut: Inwiefern?
Herr Wunderlich: Als wir zu einem Verhör vor dem Rechtskomitee geladen
wurden und die Ältesten der Versammlung keinerlei Einsicht bei uns
feststellen konnten, wurde ich aus der Versammlung ausgeschlossen,
meine Frau jedoch noch nicht.
284
Aktive Zeugen versuchten mit Rufmordkampagnen gegen mich
vorzugehen, indem sie Bekannten und anderen Leuten von meiner
angeblich kriminellen Vergangenheit berichteten. Daraufhin mieden mich
viele ehemalige gute Bekannte. Die aktiven Zeugen wechselten sogar die
Straßenseite, wenn ich oder später auch meine Frau, auf der Straße
unterwegs waren.
Von der Zerreißprobe im familiären Bereich ganz zu schweigen.
Therapeut: Haben Sie denn auch andere Verwandte, die den Zeugen
Jehovas angehören?
Herr Wunderlich: Ja. Sie haben sich allesamt von mir und meiner Frau
distanziert.
Ich frage mich manchmal, wieso kann eine solche Organisation, die sich
durch göttliche Vollmacht legitimiert, Menschen in einer so
niederträchtigen Weise mißbrauchen?
Therapeut: Fühlen Sie sich mißbraucht?
Herr Wunderlich: Sehen Sie, ich habe jahrelang mitbekommen, wie
Mitschwestern bei den Zeugen Jehovas sich bis zur Erschöpfung für
Jehova und seine Organisation aufgeopfert haben. Der ständige
Leistungsdruck führte bei ihnen zu schwerwiegenden gesundheitlichen
Beeinträchtigungen.
Therapeut: Besteht denn in Reihen der Zeugen Jehovas ein solch
enormer Leistungsdruck?
Herr Wunderlich: Leider ja. Bei uns, ich meine bei den Zeugen Jehovas,
steht ja der Dienst, in Form des Haus-zu-Haus-Dienstes im Vordergrund.
Es geht darum, möglichst viele Menschen vor dem drohenden Gericht
Jehovas beim Eintreffen von Harmagedon zu retten, indem sie sich der
Organisation anschließen. Die Angst vor der Vernichtung durchzieht das
gesamte System der Zeugen. Ich habe ab und an, selbst nachdem ich mit
285
meiner Frau die WTG verlassen habe, noch dieses bedrückende Gefühl,
dem drohenden Gericht entrinnen zu müssen.
Therapeut: Sie sind sich nicht im klaren darüber, ob Ihr Ausstieg aus den
Zeugen Jehovas von Gott mißbilligt werden könnte?
Herr Wunderlich: Warum läßt Gott zu, daß die Wachtturm-Gesellschaft
Menschen zur Verzweiflung treibt und statt der geforderten Nächstenliebe
nicht nur Außenstehenden, sondern auch gerade ihren eigenen
Mitbrüdern und Mitschwestern in einer menschenverachtenden Weise
gegenübertritt?
Therapeut: Herr Wunderlich, sind Sie einverstanden, wenn ich mit Ihnen
die sogenannte Jesus-Imagination durchführe?
(Der Therapeut erklärt Herrn Wunderlich, worum es bei dieser Methode
geht und was das Ziel der Jesus-Imagination ist).
Herr Wunderlich erkärt sich einverstanden.
Herr Wunderlich liegt entspannt auf einer bequemen Couch, im
Hintergrund läuft leise Musik. Der Therapeut führt die Methode durch.
Therapeut: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf einer großen, bunten
Wiese. Sie erfreuen sich an den Farben und Formen, am Gesang der
Vögel, an den Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der
sich gerade auf einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie
eine Begegnung mit dem Versammlungskomitee haben, das Sie und Ihre
Frau in einer solch abscheulichen Weise gedemütigt hat. Sie können den
Ältesten des Komitees alles sagen, was Sie belastet und ärgert. Da
erscheinen die Ältesten auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen.
Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann auch zu
Wort kommen. (ca. 5 Minuten Pause)
Das Gespräch geht zu Ende. Als nächstes kommt die Person auf Sie zu,
die die zahlreichen Verleumdungen über Sie in Umlauf gebracht hat. Sie
können dieser Person alles sagen, was sie belastet und ärgert. Da
286
erscheint diese Person auf der Wiese. Sie kommt Ihnen entgegen. Führen
Sie jetzt das Gespräch mit ihr. (ca. 5 Minuten Pause)
Das Gespräch geht zu Ende. Als letztes erscheinen ihre Verwandten auf
der Wiese. Sie kommen Ihnen ebenfalls entgegen. Sprechen Sie mit
ihnen. (ca 5 Minuten Pause)
Auch dieses Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus schließlich auf
Sie zukommt. Sie können seine Gesichtszüge ganz deutlich erkennen. Er
weiß um Ihre Gefühle, um ihre Ängste, um Ihren Groll. Er möchte Ihnen
etwas sagen. Hören Sie genau hin! (Pause)
Jetzt können Sie ihn bitten in ihrem Auftrag auf die Ältesten der
Versammlung, auf den Verleumder und ihre Verwandten zuzugehen, die
am Rand der Wiese stehen. Wenn es ihrem innersten Gefühl und Wunsch
entspricht, tragen Sie Jesus auf, er möge all diesen Menschen in Ihrem
Namen vergeben. Danach kommt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt
Sie und entschwindet Ihren Blicken. Sie sind jetzt allein auf der Wiese.
Nein, nicht allein, Sie sehen plötzlich neben sich Ihre Frau, sie lächelt
fröhlich. Tun Sie jetzt, was Sie schon immer tun wollten. (Pause)
Sie sind wieder allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt.
Öffnen Sie die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen,
können Sie mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben.
Herr Wunderlich berichtet dem Therapeuten nun im Detail seine
phantasierten Bilder und Gespräche. Dabei könnten folgende
Erkenntnisse berichtet werden:
Herr Wunderlich: Die Ältesten waren so uneinsichtig, sie meinten, sie
verteidigten die Wahrheit, aber Jesus war selbst betrübt über die
Vorgehensweise der Wachtturm-Organisation. Er sagte, es täte ihm leid,
das Menschen in seinem und seines Vaters Namen Dinge täten, die er nie
gepredigt habe.
Die Person, die mich verleumdet hat, ist so stark von den Ältesten
vereinnahmt worden und steht unter solchem Druck, daß sie gar nicht
anders kann, als mich und meine Frau als Abgefallene, unter den Einfluß
des Bösen geratene Kreaturen zu bekämpfen.
287
Therapeut: Hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt?
Wunderlich: Ja. er sagte, ich solle mich nicht irre machen lassen. Er habe
für mich und meine Frau einen besonderen Weg vorgesehen. „Vertrau auf
mich und meine Barmherzigkeit. Ich werde dir und deiner Frau zur Seite
stehen und euch einen neuen Weg zeigen. Hab nur Vertrauen! Habt keine
Angst!“
Am Ende einer solchen Jesus-Meditation sollte auch Herr Wunderlich
befreiter und zuversichtlicher in seinen Alltag gehen können.
2.5.3 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Barbara Waß
Barbara Waß und ihre Familie sind nach dem Bruch mit den Zeugen
Jehovas physisch wie psychisch erschöpft. Frau Waß bemerkt in diesem
Zusammenhang: „Wir wollten unsere Ruhe haben. Wir waren nicht mehr
bereit, uns diesen Dingen zu unterwerfen. Außerdem waren wir durch die
vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts
mehr sehen und hören wollten. Sollten sie doch tun, was sie wollten.“807
Eine mögliche Jesus-Imagination könnte bei Barbara Waß an diesem
letzten Punkt anknüpfen.
Therapeut: Frau Waß, Sie sagen, Sie seien durch Ihre Erfahrungen mit
den Zeugen Jehovas seelisch wie auch körperlich völlig ausgelaugt.
Frau Waß: Das ist richtig. Wissen Sie, was diese Organisation mir und
meiner Familie, ich habe drei Kinder, angetan hat, ist kaum mit Worten zu
beschreiben.
807
Waß, 240.
288
Therapeut: Wollen Sie es mir trotzdem erzählen?
Frau Waß: Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll.
Therapeut: Berichten Sie mir doch zunächst einfach, wie es zu Ihren
ständigen Kopfschmerzen kam.
Frau Waß: Wissen Sie, bei den Zeugen Jehovas muß man alles geben,
ich meine, sie müssen ihre ganze Freizeit, ihre ganze Familie, ihr ganzes
Leben auf die Organisation und deren Ziele ausrichten.
Therapeut: Was sind die Ziele der Organisation?
Frau Waß: Alle Menschen müssen zu Jüngern Jehovas gemacht werden.
Das erfordert viel Einsatz.
Therapeut: Sie meinen, man muß viel Zeit und vor allem Kraft in diese
Aufgabe investieren?
Frau Waß: Man muß, andernfalls wird Jehovas Gott jeden, der sich nicht
den Zeugen Jehovas anschließt, bestrafen. Harmagedon ist eine immer
gegenwärtige Möglichkeit, die diejenigen ereilen wird, die sich nicht
bekehren.
Therapeut: Haben Sie und Ihre Familie Ihren Einsatz für die Organisation
aus Furcht vor einer möglichen Bestrafung Gottes geleistet?
Frau Waß: Ich denke schon, daß dieser Gedanke eine zentrale Rolle bei
unserem Einsatz für die Versammlung gespielt hat. Aber so richtig weiß
ich das nicht, wissen Sie, ich habe die Zeugen Jehovas doch erst vor
kurzem verlassen und es fällt mir sehr schwer über all diese Dinge zu
reden. Es tut sehr weh zu realisieren, wie ich mich habe mißbrauchen
lassen. Wenn ich so zurückblicke, könnte ich vor Schmerz laut weinen.
Eigentlich war mir bis vor kurzem noch alles egal. Aber es tut weh, wenn
289
man von neuem daraufhin angesprochen wird. Wir haben unsere Kinder
sogar im Winter bei größtem Schnee unter wahnsinnigen Strapazen mit zu
den Versammlungen genommen. Als die Mitbrüder und Mitschwestern
aber merkten, daß ich mich um jemand kümmerte, der meine menschliche
Nähe und Hilfe brauchte und diese Person nicht zu den Zeugen Jehovas
bekehren wollte, war es mit der Geschwisterlichkeit in den eigenen Reihen
vorbei.
Therapeut: Wie haben die anderen Zeugen Jehovas reagiert?
Frau Waß: Man teilte mir mit, ich hätte der Organisation Jehovas unter
allen Umständen Gehorsam zu leisten. Eines Tages kamen sogar zwei
Zeuginnen zu uns nach Hause, um unsere Einstellung der Organisation
gegenüber auszukundschaften. Dabei haben sie unser Gespräch auf
Band aufgezeichnet, wie wir erst später erfuhren.
Irgendwann war das Faß voll. Ich konnte und wollte diese üblen Praktiken
nicht mehr länger hinnehmen. Wir haben mit Menschen, von denen wir
glaubten, sie seien unsere Brüder und Schwestern, geweint, zusammen
schwierigste Situationen durchgestanden und auf einmal werden wir wie
Aussätzige behandelt, schikaniert, bespitzelt und schließlich völlig
ignoriert. Das tut sehr weh.
(Frau Waß berichtet dem Therapeuten von zahlreichen Verletzungen und
Schikanen seitens der Zeugen Jehovas).
Therapeut: Sagen Sie, Frau Waß, nachdem Sie mir alle Ihre Verletzungen
und Enttäuschungen berichtet haben, sind Sie da nicht auch sauer auf
Gott, der Ihnen dies alles zugemutet hat?
Frau Waß: Manchmal frage ich mich, was habe ich in meinem Leben bloß
falsch gemacht, daß Gott mich und meine Familie so hart bestraft hat?
Therapeut: Sie meinen, Gott hat Sie und Ihre Familie durch Ihre
Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas für etwas bestraft?
290
Frau Waß: Ich weiß es nicht. Meinen Sie, Gott straft Menschen für ihre
Vergehen?
Die Vorstellung, daß Gott beim Gericht alle, die nicht den richtigen
Glauben haben bestraft, geht mir irgendwie noch immer nach. Ich weiß es
einfach nicht. Ich möchte nur meine Ruhe vor den Zeugen Jehovas
haben. Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll.
Therapeut: Frau Waß, wären Sie damit einverstanden, wenn wir alle Ihre
Erlebnisse vor Jesus bringen?
Frau Waß: Wie wollen Sie das machen?
Therapeut: Ich führe mit meinen Patienten, vor allem mit gläubigen
Menschen, die therapeutische Methode der sogenannten JesusImagination durch.
(Der Therapeut erklärt Frau Waß genau, was sie erwartet und sie willigt
ein).
Frau Waß liegt entspannt auf einer bequemen Couch, im Hintergrund läuft
leise Hintergrundmusik.
Therapeut: Sie befinden sich auf auf einer großen, bunten Wiese. Sie
erfreuen sich an den Farben und Formen, am Gesang der Vögel, an den
Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der sich gerade auf
einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie eine Begegnung
mit denjenigen Zeugen haben, die Sie und Ihre Familie zutiefst verletzt
haben. Zunächst mit den Zeuginnen, die sie zuhause besucht haben, um
sie auszukundschaften. Sie könne ihnen alles sagen, was Sie belastet und
ärgert. Da erscheinen sie auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen.
Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann auch zu
Wort kommen. (Pause von 5 Minuten).
Das Gespräch geht zu Ende. Als nächstes sehen Sie den Kreisaufseher
auf Sie zukommen, der Ihnen die absolute Unterordnung unter die
Organisation befohlen hat. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihm und
291
lassen Sie ihn dann auch zu Wort kommen. (erneute Pause von 5
Minuten).
Das Gespräch geht zu Ende. Nun werden Sie noch eine letzte Begegnung
haben, und zwar mit den Familien, von denen Sie dachten, sie seien ihre
Freunde und die Sie dann bitter enttäuscht haben. Sie können ihnen alles
sagen. Da erscheinen sie auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen.
Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann ebenfalls
zu Wort kommen. (Pause ca 5 Minuten)
Auch dieses letzte Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus auf Sie
zukommt.
Deutlich erkennen Sie seine Gesichtszüge. Er nimmt Sie bei der Hand und
geht mit Ihnen etwas abseits. Er weiß um Ihre Gefühle, um Ihre Ängste,
um Ihren Groll. Er möchte Ihnen etwas sagen. Hören Sie gut zu. (Pause)
Jetzt können Sie ihn bitten, in Ihrem Auftrag auf die Zeuginnen
zuzugehen, die Sie besucht haben, ebenso auf den Kreisaufseher und die
Familien, die sich von Ihnen distanziert haben. Sie alle stehen am Rande
der Wiese. Wenn es Ihrem innersten Gefühl entspricht, dann tragen Sie
ihm auf, er möge ihnen in Ihrem Auftrag vergeben.
Danach tritt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt Sie und entschwindet
Ihren Blicken. Sie befinden sich jetzt allein auf der Wiese. Nein, nicht
allein. Sie sehen plötzlich neben sich Ihren Mann und Ihr Kind, die fröhlich
lachen. Tun Sie jetzt das, was Sie immer schon tun wollten. (Pause)
Sie sind allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt. Öffnen Sie
die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie
mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben.
Frau Waß berichtet im Detail ihre phantasierten Bilder und Gespräche.
Dabei könnten folgende Bemerkungen fallen:
Ich sehe einige Dinge jetzt völlig anders als vorher. Es ist gut, daß ich
noch einmal intensiv mit allen denjenigen Personen konfrontiert worden
bin, die mich und meine Familie verletzt haben. Die beiden Zeuginnen, die
uns zu Hause besuchten, waren dermaßen von den Lehren der WTG
indoktriniert und hatten eine solche Angst vor den Ältesten, daß sie
meinten, richtig gehandelt zu haben. Der Kreisaufseher wollte seine
Organisation vor uns in Schutz nehmen und uns gefügig machen.
292
Eigentlich hätten wir direkt jeglichen Kontakt mit den Zeugen Jehovas
abbrechen sollen. Irgendwie kann ich ihn ja auch verstehen. Die Familien,
von denen wir dachten, sie seien unsere Freunde, sind von der WTG
irregeleitete Menschen, die mir im Nachhinein so richtig leid tun.
Therapeut: Frau Waß, hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt?
Frau Waß: Ja. Er sagte: Sieh, durch diese für Dich und deine Familie sehr
schmerzlichen Ereignisse seid ihr in der Liebe und Verbundenheit
untereinander gewachsen. Es tut mir auch weh, wenn ich mit ansehen
muß, wie Menschen in meinem Namen andere Menschen mißbrauchen.
Schreitet mutig voran und habt Vertrauen. Ich führe Euch in eine gute
Zukunft. Bleibt in meiner Liebe.
Therapeut: Wollen Sie mir sagen, was Sie am Schluß mit Ihrem Mann und
Ihrem Kind besprochen haben?
Frau Waß: Wir haben nichts besprochen. Ich habe beide in meine Arme
genommen.
293
Kapitel 4: Der Sektenausstieg als Herausforderung
für die katholische Kirche und deren Gemeinden
Nachdem zentrale Inhalte der beiden Sekten Zeugen Jehovas und
Scientology dargelegt wurden, die Berichte von Aussteigern auf ihre
Erfahrungen mit diesen Sekten hin untersucht wurden und mögliche
therapeutische Hilfen entwickelt worden sind, soll nun im 4. Kapitel der
Frage nachgegangen werden, ob unsere Kirchengemeinden, und hierbei
möchte ich
beschränken,
mich
in
auf die römisch-katholischen
der
Lage
sind,
Kirchengemeinden
Aussteigern
angemessen
gegenüberzutreten und diese womöglich in ihre Reihen aufnehmen zu
können. Es sei vorweg angemerkt, daß die meisten unserer Gemeinden
keine idealen Orte sind, um diesem Anliegen gerecht zu werden. In einem
ersten Abschnitt sollen zunächst diejenigen Phänomene von Sekten, die
sich aus den Erfahrungen der Aussteiger aus der Wachtturm-Organisation
und aus Scientology ergeben, herausgestellt werden, die zu den
negativen Erfahrungen mit diesen Sekten geführt haben und aus denen
sich Probleme und Fragen von Aussteigern ergeben, denen sich eine
christliche Gemeinde stellen müßte, um solchen Menschen angemessen
zu begegnen und diese eventuell in ihre Reihen aufnehmen zu können,
um ihnen eine neue Heimat zu geben. In einem zweiten Abschnitt erfolgt
eine Darstellung der Situation, wie sie in vielen, wenn auch nicht generell
in allen Kirchengemeinden vorherrschend ist. Dabei erfolgt zunächst ein
kurzer historischer Abriß von Zulehner, der die Entwicklung der Kirche bis
hin zur Auflösung der traditionellen Volkskirche beschreibt und dem sich
einige Gedanken Zulehners für eine mögliche Erneuerung der kirchlichen
Situation
anschließen.
Um
diese
Situationsbeschreibung
konkreter
durchzuführen, bediene ich mich anschließend der Ergebnisse des
Pastoralgesprächs, wie es im Erzbistum Köln 1994 durchgeführt wurde.
Warum die Situation der meisten Gemeinden für eine Begegnung und
eine Aufnahme von Sektenaussteigern nicht ideal ist, soll durch die
Gegenüberstellung der Situation von Aussteigern und deren Bedürfnissen
mit den Ergebnissen des Pastoralgespräches erwiesen werden, das die
294
Situation vieler Kirchengemeinden im Erzbistum Köln, aber auch in
anderen Bistümern, charakterisiert.
Auf diese Weise sollen zugleich entscheidende Punkte herausgestellt
werden, die für eine Gemeindeerneuerung im Hinblick auf die Situation
von Sektenaussteigern hilfreich sein können. In einem weiteren dritten
Abschnitt sollen zentrale Inhalte der Theologie der Befreiung dargestellt
werden, durch welche zahlreiche lateinamerikanische Gemeinden geprägt
sind,
und
es
soll
hier
nach
interessanten
und
hilfreichen
Anknüpfungspunkten gefragt werden, die für die Motivation eines
Einsatzes unserer Gemeinden für Sektenaussteiger im Hinblick auf deren
Situation relevant sein können.
1 Welche Phänomene von Sekten haben zu den
negativen Erfahrungen von Aussteigern geführt?
Die
Gründe
Sektenmitglieder
für
die
sowohl
negativen
ehemalige
Erfahrungen,
Zeugen
die
Jehovas
ehemalige
als
auch
Scientologen gemacht haben, liegen zum einen in der jeweiligen
Organisationsstruktur der Wachtturm-Organisation und der ScientologyOrganisation, zum anderen in dem von der jeweiligen Organisation
vertretenen Lehrsystem und dessen Konsequenzen für das Leben der
einzelnen Mitglieder.
1.1 Eine Leistungsgesellschaft in der
Leistungsgesellschaft
Nach der Überzeugung der Zeugen Jehovas und der Lehre der
Wachtturmgesellschaft ist die WTG eine theokratische Organisation, das
heißt, sie ist kein Menschenwerk, sondern Gottes eigene Schöpfung. Der
theokratische Ursprung der Organisation schließt demokratische Züge
vollends aus. Das Führungsgremium der WTG ist das Sprachrohr Gottes,
295
der „Kanal Jehovas“. In der Zentrale in Brooklyn laufen gewissermaßen
alle
Fäden
der
WTG
zusammen.
Die
Zentrale
ist
allen
Ortsversammlungen weltweit übergeordnet.
Ebenso wie das Führungsgremium an der Spitze der Zeugen Jehovas,
gelten die Ältesten der Versammlungen als von Gott eingesetzte Obere,
deren Anordnungen ohne jegliche Kritik Folge zu leisten ist. Die Gläubigen
sind die Empfänger der göttlichen Botschaften, die durch die Hand der
Organisation und der diese vertretenden Oberen in den einzelnen
Ortsversammlungen, konkret der Ältesten, mitgeteilt werden.
Die überschaubare Größe der einzelnen Versammlungen von 60 bis 70
Gläubigen gewährleistet dabei eine intensive Betreuung und Kontrolle der
Mitglieder.
Die Aufteilung der verschiedenen Ämter innerhalb der Versammlung,
angefangen
von
den
Ältesten
bis
hin
zum
Versammlungsbuchstudienleiter, zeugt von der klaren Struktur und
Hierarchie der Wachtturmgesellschaft.
Die Stellung des einzelnen Zeugen in der Versammlung ist geprägt von
einer völligen Unterordnung unter die Wachtturm-Organisation. Diese
verlangt den Gläubigen neben dem geforderten Gehorsam enorme
Leistungen ab, so daß man von einer Leistungsgesellschaft innerhalb
unserer als Leistungsgesellschaft bezeichneten Gesellschaft sprechen
kann.
Die ständige Präsenz von Harmagedon und die durch ein rächendstrafendes Gottesbild hervorgerufene Motivation für den Einsatz für die
Wachtturmorganisation bewirken eine Leistungsfrömmigkeit, das heißt, die
Gläubigen versuchen durch religiöse Leistungen und einen unermüdlichen
Einsatz für die WTG sich ihres Heils zu vergewissern und den möglichen
Zorn Gottes auf diese Weise zu besänftigen. Dies stellt Hans-Jürgen
Twisselmann deutlich heraus, wenn er im Gespräch mit einem Mitzeugen
bemerkt: „Bei uns aber wird der Dienst als das Mittel zur Erlangung der
Seligkeit hingestellt: ‚Ohne Felddienst keine Rettung’, heißt die Devise.“808
808
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43.
296
Im Leben der Gläubigen läßt sich die Situation folgendermaßen
kennzeichnen: Zur Werktagshektik am Arbeitsplatz kommt die Abend- und
Wochenendhektik. Die zahlreichen wöchentliche Zusammenkünfte der
Zeugen Jehovas müssen regelmäßig besucht werden. Bei Barbara Waß
wirkt sich die Überbelastung in diesem Zusammenhang besonders
drastisch aus, nachdem sie ihr zweites Kind bekommen hat und ihren
Pflichten als Mutter und Ehefrau nachkommen muß. Nach der Geburt des
dritten
Kindes
gestaltet
sich
die
Fahrt
zu
den
verpflichtenden
Zusammenkünften oft wie folgt: „Im Winter passierte es uns, daß wir auch
noch Schneeketten anlegen mußten und oft gerade noch zurechtkamen.
Es konnte auch passieren, daß man gar nicht ganz bis ans Ziel fahren
konnte.“809 .Vor allem aber der Predigtdienst für Jehova, ohne den
niemand das Ende dieses gottfeindlichen Zustandes der Welt überleben
könne, erfordert viel Zeit. Neben dem Dienst von Tür zur Tür müssen die
Zeugen Straßendienst leisten. Darüber hinaus stehen Nachbesuche und
Heimbibelstudien bei interessierten Leuten auf dem Wochenplan jedes
einzelnen Zeugen Jehovas!
Die Fülle der Verpflichtungen führt zur Überbelastung vieler Zeugen, die
sich in physischen und psychischen Beeinträchtigungen äußert.
Die ständigen Leistungsanforderungen verhindern sinnvolle Pausen
und Reflexionen über die eigene Tätigkeit für die Wachtturmorganisation.
Die
Folge
einer
zeitweisen
Befreiung
von
dieser
pausenlosen
Beschäftigung ist eine Reflexion über die eigene Arbeit für die WTG.
Sobald ein Zeuge trotz dem von der WTG geforderten Dauereinsatz für
die Organisation etwas Freiraum hat, beispielsweise indem er die
Versammlung einmal nicht besucht, kann genau das geschehen, was
Barbara Waß schildert, wenn sie schreibt: „Langsam begannen wir unser
Gedankengut zu revidieren. Hatten wir früher immer gedacht, es würde
uns etwas fehlen, wenn wir die Zusammenkünfte nicht mehr besuchten,
so stellten wir jetzt fest, daß es eine Wohltat war, einmal nicht weggehen
zu müssen. Besonders für die Kinder war es eine ganz große
Erleichterung. Endlich konnten sie in Ruhe ihre Aufgaben machen und
809
Vgl. Waß, 143. Die Folgen dieser Strapazen sind körperliche wie seelische
Beeinträchtigungen.
297
auch spielen.“810 Nach dieser positiven Erfahrung ist Familie Waß nicht
mehr bereit, ihre persönlichen Angelegenheiten der WTG wegen weiterhin
zurückzustellen.
Der einzelne Zeuge Jehovas ist stets beschäftigt , sei es mit dem
Studium eines von der WTG neu herausgebrachten Buches, sei es der
Besuch einer Zusammenkunft oder der Rückbesuch bei Menschen, die
Interesse für die Lehre der Zeugen Jehovas gezeigt haben. Es existieren
dabei keine klar abgesteckten Ziele, die regelmäßig überprüft werden
können
und
auch
nicht
sollen.
Neben
dem
Ausbleiben
von
Erfolgserlebnissen leiden viele Zeugen Jehovas unter der Eintönigkeit,
hervorgerufen durch die ständige Wiederholung von bereits bekannten
Inhalten und Tätigkeiten.
An jeder Tür werden Monat für Monat und Jahr für Jahr die gleichen
Gedanken besprochen. Eine Zusammenkunft nach der anderen wird
besucht. Die Gläubigen hören dort im wesentlichen immer dieselben
Grundgedanken. In den beiden gängigen Zeitschriften „Der Wachtturm“
und „Erwachet“ stehen in jeder Ausgabe immer ähnliche Dinge. Die
Eintönigkeit zeigt sich dabei besonders an der sich immer wiederholenden
Verwendung derselben Zitate.811
Ebenso wie die WTG zeichnet sich auch die Scientology-Organisation
durch eine streng hierarchische Struktur aus. Zwar unterscheidet sich die
Scientology-Organisation von der WTG dadurch, daß erstere nicht
göttlichen Ursprungs ist, da sich das System Scientology nicht auf ein
göttliches
Einwirken
zurückführt
wird,
jedoch
müssen
auch
die
Scientologen die Ziele der Organisation, das heißt die Lehre Hubbards
über alles stellen und ihr ganzes Leben an den Zielen und Lehren der
Scientology-Organisation ausrichten. Daß den Mitgliedern von Scientology
enorme Leistungen abverlangt werden, die für die Mitglieder negative
Folgen nach sich ziehen, machen die Aussteigerberichte deutlich. Die
Aussagen von Jutta Elsässer führen diese Tatsache sehr eindringlich vor
Augen, wenn sie bemerkt: „Wieder und wieder wies Hubbard darauf hin,
810
Waß, 234f.
298
daß man sich am Riemen reißen und die vorgegebenen Richtlinien zur
Erhaltung der Scientology mit größter Härte und Unnachgiebigkeit
durchsetzen solle.“812 Die Motivation für die von Scientology geforderten
enormen Leistungen resultiert nicht wie bei den Zeugen Jehovas aus
einem negativen rächend-strafenden Gottesbild, sondern an die Stelle der
Gottesvorstellung tritt hier die Angst, unser ganzer Planet könnte durch
negative Kräfte, vor allem durch die Engramme, wie dies im Lehrsystem
deutlich wird, zerstört werden.
Das Überleben der Scientology-Organisation und deren Mitglieder ist
für den Fortbestand und das Wohl der Welt überlebenswichtig.
Scientology stellt gewissermaßen das rettende Prinzip inmitten einer von
negativen Kräften besetzen und bedrohten Welt dar. Ein ungenügender
Einsatz für die Organisation begünstigt eine Ausbreitung der negativen
Kräfte und gefährdet den Fortbestand unseres Planeten. In den
Ausführungen von Jutta Elsässer kommt diese Vorstellung deutlich zum
Tragen, wenn sie bemerkt: „Denn letztlich komme es darauf an, daß das
Individuum an sich sowie die Scientology-Organisation fortbestehe – und
ohne Scientology und ihre befreiende Technologie gebe es keine Chance,
Planet Erde wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.“813
Welche Folgen dieser unermüdliche Einsatz für die ScientologyOrganisation und das dadurch verursachte Zurückstellen eigener legitimer
Bedürfnisse mit sich bringt, haben die Aussteigerberichte zu genüge
gezeigt. Die gesundheitlichen Folgen der Erfüllung der von Scientology
geforderten Leistungen schildert Elke Nietsche sehr eindringlich, wenn sie
über ihre physischen und psychischen Störungen berichtet. Sie erwähnt in
diesem Zusammenhang Kopfschmerzen, Durchfälle, Übelkeit, Ekzeme
und vieles mehr.814
Wie bei den Zeugen Jehovas, so verhindert auch bei den Scientologen
der Dauereinsatz für die Organisation eine eingehende Reflexion über die
eigene Tätigkeit und somit auch eine Selbstreflexion. Die Scientology811
Monika Deppe aüßert sich über die Eintönigkeit und die Kritik ihres Mannes an diesem
eintönigen Programm der WTG mit den Worten: „Ich verstand ich gut, auch ich konnte
diese ‚Schwarzweißmalerei’ manchmal nicht mehr ertragen.“ (Vgl. Deppe, 53).
812
Elsässer, 123.
813
Ibid., 192.
299
Organisation stellt das oberste Lebensziel dar. Sobald sich ein auch nur
geringer Freiraum für die Erfüllung eigener Bedürfnisse bietet, merkt ein
Scientology-Mitglied bald, welche Verluste und Entbehrungen es bisher
zugunsten der Organisation auf sich genommen hat. Bei Jutta Elsässer
beginnt aufgrund der Nutzung eines geringen Freiraumes der Prozeß der
Selbsterfahrung und Selbstreflexion, der für die spätere Loslösung von der
Sekte ausschlaggebend ist.
1.2 Der Faktor Entmutigung und das Ausbleiben von
Erfolgserlebnissen
Die Tatsache, daß die Tätigkeiten für die Wachtturm-Organisation allen
persönlichen Interessen der Gläubigen übergeordnet sind, die Sache der
WTG also oberstes Ziel und höchster Wert des eigenen Lebens
darstellt815 , und daß Erfolge hierbei in keinerlei Hinsicht anerkannt und
honoriert werden816 , ist dafür verantwortlich, daß jedes Versagen im
Dienst für die WTG zugleich auch als persönliches Versagen betrachtet
wird.
Die Tätigkeit der Zeugen Jehovas ist von Natur aus reich an
Fehlschlägen. Bevor auch nur ein Interessent ein Heimbibelstudium
beginnt, müssen hunderte von Hausbesuchen erfolgen. Viele von denen,
die sich zunächst hierauf einlassen, wenden sich schon bald wieder von
den Zeugen ab. Der enorme Einsatz und der Kraftaufwand für die Sache
der WTG wird also von vielen negativen Erfahrungen begleitet, die ohne
814
Ibid., 198 ff.
Frau Waß bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es bedeutete, daß wir im Lauf der Zeit
unser ganzes zukünftiges Leben mehr und mehr darauf einstellten, daß wir das
Königreich an die erste Stelle setzten und alles andere danach ausrichteten.“ (Waß,
125).
816
Das Nichtanerkennen selbst enormer Leistungen von Gläubigen wird deutlich an den
Aussagen Wunderlichs über zwei Zeuginnen, die sich trotz Krankheit keine Schonzeit
zugestehen, da die WTG aufgrund deren Vollzeittätigkeit keine Vergütung mehr
bezahlt. Wunderlich kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Jetzt verstand ich
auch, warum sehr viele Pioniere aus gesundheitlichen Gründen ihren ‚beglückenden’
Dienst aufgeben mußte. Wahrlich, die ‚Früchte’ der Nächstenliebe stehen bei dieser
Organisation nur auf dem Papier.“ (Wunderlich, 65).
815
300
eine positive Rückmeldung von Seiten der Versammlung, vor allem der
Ältesten, auf Dauer nur schwer zu verkraften sind.
Eine Methode, die die WTG anwendet, um den Gläubigen den Umgang
mit solchen negativen Erlebnissen zu erleichtern, ist die Konditionierung
der Zeugen Jehovas, das heißt, es wird im Vorhinein eine negative
Erwartungshaltung
erzeugt,
die,
wenn
sie
sich
bestätigt, besser
hinzunehmen sein soll. Eine Zeuge Jehovas rechnet damit, daß man ihm
die Tür vor der Nase zuschlägt. Er erwartet, daß die meisten Leute nicht
zuhören
wollen
und
seinen
Worten
nur
ein
geringes
Interesse
entgegenbringen. Doch die Mißerfolge lassen sich mit einer solchen
Methode nicht so einfach in den Griff bekommen, ohne daß die Gläubigen
Schaden nehmen.
Die Enttäuschungen durch negative Erfahrungen im Einsatz für die
WTG
führen
meist
zu
einer
Intensivierung
der
ohnehin
schon
strapazierenden Aktivitäten der Mitglieder der Zeugen Jehovas. Es bleibt
kaum noch Zeit für private Interessen, weder für ein Hobby, noch für
legitime Bedürfnisse innerhalb der Familie und des Berufes außerhalb der
WTG. Das Ausüben von Tätigkeiten außerhalb der WTG wird als
Selbstsucht und Zeitverschwendung für weltliche Dinge abgewertet . Wer
sich dennoch mit solchen weltlichen Dingen abgibt, wird von Seiten der
Versammlung ermahnt, er oder sie solle achtgeben, daß derartige Dinge
nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Statt dessen wird auf einen
vermehrten Einsatz für die Belange der WTG gedrungen.
Ebenso wie bei den Zeugen Jehovas stellt auch bei Scientology der
Einsatz für die Sache der Organisation das oberste Ziel im Leben des
Anhängers dar. Zwar wird Erfolgen der Mitglieder bei Scientology eine
gewisse Anerkennung beigemessen, jedoch sind die Anforderungen, das
Erreichen immer höherer geistiger Zustände, derart unrealistisch, daß
Fehlschläge
und
das
Gefühl
des
eigenen
Versagens
an
der
Tagesordnung sind. Das Versagen in Form des Zurückbleibens hinter den
von der Organisation vorgegebenen Zielen wird dabei auf einen
mangelnden persönlichen Einsatz für die Sache der Organisation
zurückgeführt. Dieses Versagen in Form des Zurückbleibens hinter den
geforderten Leistungen wird von der Scientology-Organisation durch die
301
Androhung
und
das
Ausführen
von
Strafmaßnahmen
geahndet.
Körperlichen und seelische Strapazen wird mit den von Hubbard
angeordneten
Verfahren
des
Ignorierens
und
des
„Handhabens“
entgegengetreten. Eine zu intensive Konzentration oder gar Reflexion
über diese Zustände sei überlebensfeindlich. Diese Vorgehensweise
beschreibt Elke Nietsche in ihrem Aussteigerbericht sehr deutlich.817
1.3 Konformitätsdruck durch das Erzeugen von Schuldund Minderwertigkeitsgefühlen
Der bereits erwähnte Konflikt zwischen den persönlichen Interessen der
Gläubigen, ihren Verpflichtungen in Beruf und Familie, und den
Ansprüchen und Leistungsanforderungen der Wachtturmgesellschaft wird
von dieser zur Einimpfung von Schuldgefühlen genutzt. Ein Zeuge
Jehovas steht so ständig unter einem Gewissensdruck, was zu
erheblichen persönlichen Belastungen und Konflikten führt.
Aufgrund der Schuldgefühle unter denen ein Zeuge Jehovas leidet und
der Priorität der WTG, entscheidet er sich im Zweifelsfall meist für die
Organisation und stellt seine persönlichen Belange zurück.
Die Einhaltung der von der WTG erlassenen Gesetze und Vorschriften
wird von den Kreisaufsehern und den Ältesten der Versammlung rigoros
überprüft und Verstöße werden zügig geahndet818 . Die das Lehrsystem
der WTG durchziehende Vorstellung eines strafend-rächenden Gottes und
die damit verbundene Angst vor einer Bestrafung durch Jehova führt bei
den meisten Zeugen zu der Auffassung, er oder sie sei schuld daran, daß
Gott der Versammlung als ganzer seinen Geist entziehe.
Schon eine geringe Übertretung einer der zahlreichen Vorschriften der
WTG kann so zu einem inneren Schuldgefühl führen. Dieses Phänomen
817
818
Vgl. Nietsche, 60.
Die zügige Reaktion der WTG auf kritische Anfragen und abweichende Ansichten
kommen in den Äußerungen von Gerd Wunderlich deutlich zum Tragen, wenn er
bemerkt: „Doch die Ältesten unserer Versammlung, die inzwischen von der
Pionierschwester Maria H. und deren Freundin Emmy H. informiert worden waren,
waren anderer Meinung. Aufgeschreckt durch diese ‚gefährlichen’ Informationen,
beschlossen sie deren Verbreitung im Keim zu ersticken.“ (Wunderlich, 75).
302
zeigt sich besonders dann, wenn die WTG gerade neue Gesetze erlassen
hat oder Modifikationen bereits bestehender Vorschriften durchgeführt hat.
Ein von der WTG erlassenes Gesetz, das Männern das Tragen eines
Bartes verbietet, führt für Herrn Deppe zum Verbot, in der Versammlung
weiterhin Abschnitte eines Studienartikels von der Bühne aus vorzutragen.
Daneben wird ihm das Privileg einer bisher üblichen Bibelauslegung nicht
mehr gestattet. 819
Die Befolgung und das Erfüllen aller Gesetze und Vorschriften der WTG
ist gar nicht möglich, was das Gefühl der Unvollkommenheit der
Gläubigen verstärken soll und einen intensiveren Einsatz für die WTG
bewirken
soll.
Die
Unzufriedenheit
über
diese
nicht
erfüllbaren
gottgegebenen Ansprüche einerseits und dem Zurückstellen eigener
Bedürfnisse andererseits führt zu einem Schuldgefühl, das sich nach
außen als Aggression bemerkbar machen kann, die sich sowohl innerhalb
der eigenen Reihen als auch außerhalb entladen kann.
Verleiht ein Zeuge Jehovas seinen Gefühlen und eventuellen Zweifeln,
die
auch
oft
existieren,
und
Fragen
in
Bezug
auf
bestimmte
Wachtturmlehren Ausdruck, so wird er von seinen Mitbrüdern als
glaubensschwach oder unreif abqualifiziert. Dies hat zur Folge, daß er
sich niemandem mehr anvertraut, seine Gefühle für sich behält, was zu
einer Entladung der Aggressionen in Form von körperlicher Gewalt,
besonders gegen Familienangehörige, besonders den eigenen Kindern
führen kann.
Dieses Verhalten wird dann oft noch mit der biblischen Aufforderung zur
Züchtigung
der
Kinder gerechtfertigt.
Werden Aggressionen nicht
artikuliert, wenden sie sich nach innen und ein solcher Mensch leidet unter
Nervosität oder Depressionen, die von der Versammlung als dämonische
Einwirkungen ausgelegt werden können.
Der psychisch beeinträchtigte Mensch, der die Anteilnahme und
Fürsorge jetzt besonders nötig hat, wird von seinen Mitbrüdern und
Schwestern gemieden und ausgegrenzt, wodurch sich seine Situation nur
verschlimmert.
819
Vgl. Deppe, 59.
303
Die von der WTG auf diese Weise erreichte Konformität der Gläubigen
wird mit der Gesundheit der Zeugen teuer erkauft.
Die
zahlreichen
Mißerfolge
während
des
Predigtdienstes,
beispielsweise die Zurückweisung an der Haustür und die Ablehnung des
Zeugen durch Freunde und Verwandte bedeutet ein Zurückbleiben hinter
den Vorgaben der WTG und begünstigt das Gefühl der Minderwertigkeit.
Der
ständige
Vergleich
mit
anderen
führt
zu
einem
religiös-
leistungsmäßigen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Zeugen. Für
ein Zurückstehen hinter den Anforderungen werden die Gläubigen von
Seiten der Ältesten, aber auch von Mitbrüdern und Mitschwestern
getadelt.
Um sich selbst gegenüber anderen aufzuwerten, kommt es unter den
Zeugen Jehovas sehr schnell zu Geschwätz. Hierdurch gewinnt der
Schwätzer an Ansehen, denn er erweckt den Anschein, auf dem
Laufenden zu sein und zum inneren Führungskreis zu gehören.
Die Ältesten der Versammlungen sind über die durch das Geschwätz
hervorgerufenen Verleumdungen und Gehässigkeiten zwar informiert, sie
versuchen diesem jedoch durch weitere Verbote entgegenzuwirken,
wodurch sich die Situation weiter zuspitzt. Die auf diese Weise
verleumdeten und gedemütigten Personen versuchen, durch eine
intensivere Leistung und bessere Ergebnisse beim nächsten Einsatz, die
anderen zu übertrumpfen und der Kreislauf der Abwehrmechanismen, vor
allem der der Verdrängung und Herabsetzung anderer, beginnt von
neuem.
Im Falle von kritischen Äußerungen gegen die WTG äußert sich die
Demütigung durch die Versammlung nicht nur im Geschwätz und in einer
damit verbundenen Herabsetzung von anderen Menschen, sondern in der
Vorladung vor das Rechtskomitee der Versammlung, das die Aufgabe hat,
den Abweichler durch Demütigungen wieder konform zu machen. Die
Vorladung vor das Rechtskomitee ist ein in den verschiedenen
Aussteigerberichten
Versammlungsleitung
häufig
den
anzutreffendes
Argumenten
Phänomen.
Wunderlichs
Als
nichts
die
mehr
entgegenzuhalten vermag, wird er kurzerhand aus der Versammlung
ausgeschlossen und er wird jetzt sowohl innerhalb der Versammlung als
304
auch außerhalb verleumdet, indem die Zeugen Jehovas die Tatsache
einer verbüßten Gefängnisstrafe publik machen, die er allerdings für die
WTG in Kauf genommen hatte, da er keinen Wehrdienst und keinen
Ersatzdienst leisten durfte. Den Grund seiner Inhaftierung verschweigen
die Zeugen dabei aus taktischen Gründen.820
Auch bei Scientology wird der Konflikt zwischen persönlichen
Interessen, beispielsweise den Verpflichtungen gegenüber der eigenen
Familie und den Leistungsanforderungen der Organisation von der Sekte
genutzt, um eine Person intensiver an die Sekte zu binden.
Der
Gewissenskonflikt
wird
meist
zugunsten
der
Scientology
entschieden, allerdings nicht ohne Schuldgefühle. Erfolgt eine zu starke
Konzentration
auf
persönliche
Belange, besteht
ein
Schuldgefühl
gegenüber der Organisation. Anhand der Ausführungen von Elke Nietsche
wird dieser Konflikt greifbar. Der ständige Einsatz für Scientology und die
damit einhergehende Überforderung von Frau Nietsche führt zu einer
Vernachlässigung der mütterlichen Pflichten ihrer Tochter gegenüber.
Kümmert sie sich um ihre Tochter, hat sie Schuldgefühle der Organisation
gegenüber. Sie entscheidet den Konflikt zunächst zugunsten von
Scientology, bis der Leidensdruck derart wächst, daß sie sich schließlich
für ihre Tochter entscheidet und das System Scientology verläßt.
Der innere Zwang, auf den Stufen des Erreichens der vollkommenen
geistigen Freiheit voranzuschreiten zu müssen und die immer wieder
gemachte Erfahrung hinter den propagierten Zielen zurückzubleiben,
führen
zu
einem
bei
vielen
Scientologen
anzutreffenden
Minderwertigkeitsgefühl, das zu einem verstärkten Engagement des
Scientologen führt. Die als vorbildhaft gerühmten Leistungen und das
Erreichen höherer geistiger Zustände einiger weniger Scientologen
werden
den
übrigen
vor
Augen
gehalten,
was
die
eigenen
Minderwertigkeitsgefühle verstärkt, aber ganz im Sinne der Scientology
ein vergrößertes Engagement bewirkt.
820
Vgl. Wunderlich, 172.
305
Neben
den
von
Minderwertigkeitsgefühlen
Scientology
sollen
die
bewußt
Anhänger
erzeugten
durch
persönliche
Demütigungen systemkonform gemacht und gehalten werden.
Die ständige Furcht vor einer möglichen Internierung in eines der von
Scientology eingerichteten Straflager oder das Überwachen der eigenen
Tätigkeit durch Ethikoffiziere garantieren die vom System geforderte
Konformität der Mitglieder und ermöglichen eine relativ große und
reibungslose Funktion des Systems Scientology.
Die Überprüfung der eigenen Tätigkeit durch Ethikoffiziere und die
mögliche Internierung in eines des Straflager verstärken zum einen das
Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und Minderwertigkeit, zum anderen
bewirken sie eine erhöhte Motivation der Mitglieder. Auf die Überwachung
durch zwei Ethikoffiziere und die Konfrontation mit zwei Scientologinnen,
die in einem Straflager interniert waren, reagiert Norbert Potthoff mit
Bestürzung. Über die Überwachung seiner Tätigkeit bemerkt er: „Dunkle
Erinnerungen an ein Wahrheitsministerium, die allgegenwärtige Kontrolle
eines militärischen Systems, kommen in mir hoch.“821 Ein weiteres Mittel
der Zurechtweisung und Demütigung besteht in der Vorladung vor das
Kaplansgericht, ähnlich dem Rechtskomitee bei den Zeugen Jehovas.
Diese erfahrenen Zurechtweisungen und Demütigungen, zumindest aber
die Angst vor diesen Maßnahmen, bleiben für die Mitglieder der
Organisation auf Dauer nicht ohne Folgen, wie die bereits in den
Aussteigerberichten
beschriebenen
physischen
und
psychischen
Störungen deutlich gemacht haben
1.4 Das Überlegenheitsgefühl und die Kluft zwischen
Anspruch und Wirklichkeit
Je länger ein Zeuge Jehovas in und für die Organisation lebt und
arbeitet, desto ärger leidet er unter dem sich immer wieder zeigenden
Widerspruch zwischen dem, was von der WTG in den zahlreichen
821
Potthoff, 206.
306
Vorträgen, Gesprächen und Schriften mit vielen paradiesischen Bildern
ausgestaltet wird und der tatsächlichen, alltäglichen Wirklichkeit. Diese
rauhe Wirklichkeit zeigt sich nicht nur außerhalb der WTG-Organisation,
sondern diese müssen die Zeugen auch innerhalb den eigenen Reihen
immer wieder erfahren. Als Frau Waß aufgrund des Verkaufs von alten
Wachtturmjahrgängen einem Ältesten der Versammlung ihren Unmut über
diese Praxis kundtut, wird sie von diesem schroff zurechtgewiesen und
zum Gehorsam der WTG gegenüber ermahnt. Der Älteste teilt ihr mit, sie
habe seinen Anordnungen als Vertreter der WTG selbst dann Folge zu
leisten, wenn diese irrtümlich seien. Diese Reaktion des Ältesten
erschüttert Barbara Waß tief.822 Die WTG gilt als Kanal Jehovas, als
göttliche Einrichtung, ihre Lehren und Gesetze sind damit göttlichen
Ursprungs,
sie
selbst
ist
eine
unfehlbare
Einrichtung,
deren
Entscheidungen unhinterfragbar sind. Völlig im Widerspruch zu dieser
Vorstellung steht die Realität, mit der die Zeugen tagtäglich konfrontiert
werden. Die Abgrenzung gegenüber allen Nicht-Zeugen, die bei
Harmagedon umkommen werden, führt zu einem Überlegenheitsgefühl,
zu der Vorstellung, die Zeugen seien die reinen, moralisch einwandfreien
Menschen. Die Unzutreffendheit dieser Vorstellung wird Herrn und Frau
Waß bewußt, als sie entgegen der Vorschrift der WTG keine Beziehungen
und Freundschaften zu Außenstehenden zu unterhalten, eine Einladung
von Verwandten annehmen, die keine Zeugen Jehovas sind. Barbara
Waß meint: „Nun stellten wir fest, daß diese Menschen bestimmt nicht
anders waren als die Brüder.“823 Damit wird den Gläubigen von Seiten der
WTG eine schwere Last aufgebürdet, die zu tragen auf Dauer unmöglich
ist. Um diese Vorstellung aufrechterhalten zu können, bleibt oft nur eine
Flucht in die Selbstlüge und Heuchelei als Abwehrmechanismus oder das
Verfallen in Depressionen nicht aus.824 Diese Flucht in die Selbstlüge und
Heuchelei kann und will Barbara Waß nicht länger tragen. Als sie sich um
eine Frau kümmert, die sie eigentlich für die WTG werben soll, unterstützt
sie diese ohne Hintergedanken, das heißt, ohne die Absicht, sie zu einer
822
Vgl. Waß, 204.
Ibid., 216.
824
Ibid., 219.
823
307
Zeugin Jehovas zu bekehren, im Gegenteil, sie teilt dieser Frau sogar
negative Erfahrungen mit der WTG mit, weil sie aufgrund der
bedrückenden Situation von Frau I. nicht mehr zur Selbstlüge und
Heuchelei, also zum Vorspielen falscher Tatsachen fähig ist.
Auch einem Scientologen bleiben die zahlreichen Wiedersprüche
zwischen den hehren Zielen der Organisation und der alltäglichen
Wirklichkeit nicht verborgen.
Die negative Seite der Organisation wird besonders drastisch und
anschaulich in den Worten von Norbert Potthoff, wenn er davon spricht,
daß
Scientology
selbst
„ihre
eigenen
Kinder
frißt“.825
Der
menschenverachtende Umgang mit den eigenen Mitscientologen ist für
Potthoff in keiner Weise mit dem von Hubbard verkündeten Ideal der
vollkommenen geistigen Freiheit zu vereinbaren.
Auch
Jutta
Elsässer muß diesen
Widerspruch zwischen
dem
verkündeten Ideal und der Realität schmerzlich erfahren. Sie kommentiert
die Unfaßbarkeit ihrer Erfahrungen mit den Worten: „Das konnte nicht
Scientology sein! Nein, ganz unmöglich, diese Verhaltensweise konnte mit
dieser Philosophie nicht das geringste zu tun haben!“826
Ein weiteres Phänomen ist das Überlegenheitsgefühl der Scientologen.
Da sich alle Scientologen mit Hilfe des Auditing darum bemühen, immer
höhere Stufen hin zur vollkommenen geistigen Freiheit zu erklimmen,
fühlen sie sich anderen Menschen, besonders Außenstehenden, die diese
Notwendigkeit des Erreichens der totalen geistigen Freiheit und der damit
verbundenen Rettung des Planeten Erde nicht einsehen, aber auch den
eigenen Mitscientolgen, die noch nicht eine so hohe Stufe wie sie selbst
erreicht haben, überlegen. Daß diese Vorstellung innerhalb der eigenen
Reihen zu einem Leistungs- und Elitedenken führt, liegt auf der Hand.
825
826
Vgl. Potthoff, 228.
Elsässer, 191.
308
1.5 Mangelndes Verantwortungsbewußtsein und die
Ablehnung von Gewissensfreiheit
Das Eingebundensein der Zeugen Jehovas in das System der
Wachtturmorganisation
zieht
ein
schwach
ausgeprägtes
Verantwortungsbewußtsein und eine mangelnde Verantwortungsfähigkeit
der Gläubigen nach sich.
Die zahlreichen Gesetze und Verordnungen der WTG, vor allem der
vorgegebene Moralkodex nehmen den Gläubigen viele selbständige
Entscheidungsfindungsprozesse ab. Genau diese Vorschriften und die
damit verbundene Bevormundung sind für Monika Deppe und ihren Mann
auf Dauer unerträglich. Sie schreibt hierüber: „Wir störten uns daran, daß
versucht wurde, durch unzählige Verordnungen das Verhalten der
Mitglieder, selbst in deren ganz persönlichen Lebensbereichen, zu
beeinflussen.“827 Da die Wachtturm-Organisation für die Zeugen schon
alle Entscheidungen getroffen hat, ist es nur selten notwendig, moralische,
ethische oder andere Fragen selbständig zu entscheiden. Der einzelne
Zeuge braucht nur herauszufinden, welche Lösung eines Problems die
WTG vorsieht. Der Gläubige braucht ein bestimmtes Konzept nur zu
übernehmen und danach zu handeln. Die WTG hält für alle theoretischen
und praktischen Fragen Antworten und Konzepte bereit. Dies gilt sowohl
für den bereits erwähnten Moralkodex als auch für das richtige
Verständnis von biblischen Aussagen. Diese Tatsache stellt für HansJürgen Twisselmann ein enormes Problem dar, als er selbständig, ohne
Anleitung durch die Literatur der WTG die Bibel studiert. Er erkennt auf
diese Weise zahlreiche Irrtümer der WTG hinsichtlich der Wiedergabe und
der Interpretation von biblischen Aussagen.828 Auch Monika Deppe und ihr
Mann erkennen die Unkorrektheit einiger Aussagen der Bibelübersetzung
der WTG. Frau Deppe fragt sich deshalb zurecht: „Wie konnte wir uns
führen
lassen
von
Schriftaussagen,
die
unser
gesunder
Menschenverstand anzweifelte? Wir konnten doch unseren eigenen Geist
827
828
Deppe, 56.
Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 45ff.
309
nicht vergewaltigen?“829 Die Vorausentscheidung der WTG gilt auch für
die praktische Frage nach der richtigen Berufswahl.
Man braucht sich keine Sorgen wegen der Berufslaufbahn zu machen,
denn man sollte keine andere haben, als sich für die WTG zu engagieren.
Die Frage einer sinnvollen Freizeitgestaltung entfällt ebenfalls, weil der
Einsatz für die WTG immer Vorrang vor privaten Interessen besitzt. Der für
viele Menschen entscheidende verantwortliche Umgang mit den Medien
und deren Informationsflut stellt für Zeugen Jehovas ebenfalls kein
Problem
dar,
da
organisationsexterne
das
Fernsehen
Literatur.
Statt
ebenso
zu
meiden
dessen
wird
eine
ist,
wie
intensivere
Beschäftigung mit organisationsinterner Literatur empfohlen. Lesenwerte
Themen aus organisationsexterner Literatur wird die WTG nach Meinung
der Zeugen schon in ihr Repertoire aufnehmen und die Gläubigen
hierüber in gebotener Kürze informieren. Die Folge einer solchen
Abnahme von selbständigen Entscheidungen in den verschiedenen
Lebensbereichen ist ein unreifer, unmündiger geistiger Zustand bei vielen
Gläubigen. Ein solcher Zustand verhindert oder beschränkt eine
Ausbildung und Entfaltung entscheidender menschlicher Fähigkeiten und
blockiert
eine
individuelle
Persönlichkeitsentwicklung
und
ein
eigenständiges reflektiertes und kritisches Denken. Auf der einen Seite ist
diese Tatsache für viele Menschen eine Erleichterung und es ist bequem,
nicht selbständig denken zu müssen. Daß dieser Zustand gerade für
intellektuell rege Menschen aber auf Dauer unerträglich werden kann,
machen neben den Aussagen von Twisselmann besonders auch die
Aussagen von Monika Deppe deutlich, wenn sie sich fragt: „Wieso durften
wir keine Kritik äußern? Warum wurden unser persönliches Gewissen und
unsere eigene Meinung bei allen Anordnungen völlig übergangen?“830
Das Eingebundensein der Scientologen in das System von Scientology
zieht ähnlich wie bei den Zeugen Jehovas ein schwach ausgeprägtes
Verantwortungsbewußtsein und eine mangelnde Verantwortungsfähigkeit
nach sich. Die Einordnung in das hierarchisch strukturierte System von
Scientology verlangt von den Mitgliedern einen Gehorsam, der sich mit
829
830
Deppe, 65.
Deppe, 63.
310
dem Begriff Kadavergehorsam bezeichnen läßt. Die Tatsache der
Straflager und die Bezeichnung der Überwacher als Ethikoffiziere macht
dabei die militärische Prägung der Sekte deutlich. Die persönliche
Meinung des einzelnen oder gar ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein sind
hinderlich und störend. Der einzelne hat seine Arbeitskraft für die Belange
der Scientology-Organisation zur Verfügung zu stellen. Als Norbert
Potthoff sich innerlich schon von Scientology entfernt hat, bemerkt er in
diesem Zusammenhang: „Ich kann mein Selbstbewußtsein nicht länger
davon abhängig machen, wie ich zu diesem System Scientology stehe.
Ich muß meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig von
irgendeinem System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten
schreiben, will sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik
schielen oder auf eine schwebende Nadel am E-Meter.“831 Norbert
Potthoff will also wieder Verantwortung für sein Leben übernehmen,
selbständig Entscheidungen treffen und seine Persönlichkeit entwickeln.
Daß dies innerhalb der Sekte bisher überhaupt nicht, beziehungsweise
nur sehr eingeschränkt möglich gewesen ist, machen seine Aussagen
deutlich.
Bei Elke Nietsche äußert sich das durch Scientology hervorgerufene
mangelnde Verantwortungsbewußtsein in der Vernachlässigung ihrer
Tochter. Sie ist dermaßen mit dem Einsatz für die Organisation
beschäftigt, daß sie gar nicht mehr wahrnimmt, wie sehr ihre Tochter unter
der ständigen Abwesenheit der Mutter leidet, was sich nicht zuletzt in den
abnehmenden schulischen Leistungen der Tochter widerspiegelt.
Frau Nietsche entscheidet sich letzten Endes für ihre Tochter und
gestattet Scientology nicht mehr Macht über sie auszuüben, das heißt, sie
läßt sich nicht mehr länger durch Scientology bevormunden und
übernimmt Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Tochter.832
831
832
Potthoff, 168.
Vgl. Nietsche, 86ff.
311
2 Die Situation der Kirchengemeinden
2.1 Die Auflösung der traditionellen Volkskirche und der
diese bestimmenden Versorgungsseelsorge
Der
von
Thomas
Luckmann
beschriebene
Rückgang
kirchlich
gebundener Religiosität ist Teil eines vielschichtigen, im ersten Kapitel
bereits dargestellten, gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Die
Auswirkungen dieses Prozesses machen auch vor dem religiösen Bereich
nicht halt.833 In unserer pluralistischen Gesellschaft existieren, wie bereits
erwähnt, vielfältige Wert- und Orientierungsmuster.
Doch inmitten dieser Fülle von Angeboten zur Lebensorientierung
erhebt das Christentum den Anspruch, allgemeingültige und verbindliche
Wert- und Orientierungsmaßstäbe zu besitzen, die in der Lehre Christi
verankert sind. Der Ort der Weitergabe des Glaubens und seiner
Maßstäbe ist dabei die Kirchengemeinde. Hier ist jedoch der Rückgang
der Kirchenbesucherzahlen und die Abwanderung von Menschen von der
Kirche eine schmerzliche Tatsache. Eine existentielle, sinnerfüllende und
erlösende Begegnung mit dem Gott des Christentums findet offenbar trotz
vielfältiger gemeindlicher Aktivitäten immer seltener statt.
Der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner bezeichnet dieses
Phänomen als Kirchenkrise und bemerkt in diesem Zusammenhang:
„Vielfach herrscht bei Verantwortlichen eine arge Beklommenheit ob der
unaufhaltsamen
kirchlichen
Entwicklung.
Gebannt
werden
Krisensymptome wahrgenommen: der Rückgang an Pfarrern und
Kirchgängern,
das
lautlose
Verdunsten von
Glaubenswissen,
die
Schwierigkeit, modernes Leben evangeliumsgemäß zu gestalten.“834 Die
traditionelle Seelsorgskonzeption war nach Meinung Zulehners auf die
sogenannte „Leutereligion“ ausgerichtet. Zulehner versteht hierunter die
„verbreitete
Religiosität
der
Leute“,
wie
sie
für
die
traditionelle
gesellschaftliche Situation typisch war, als die Kirchen noch eine
Monopolstellung
833
834
innehatten.
Hier
gaben
sich
die
Menschen
Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 170.
Vgl. Zulehner, Paul Michael, Grundkurs gemeindlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch,
Düsseldorf 1992, 9.
im
312
wesentlichen mit Ritualen zufrieden, die für sie eine schützende und
beruhigende Wirkung ausübten.
Die traditionell enge Verschmelzung von Staat, Kirche und Gesellschaft
begünstigte die Auffassung von der Überlegenheit und legitimen
Herrschaft der Kirche. „Die Leute hatten es mit einer religiösen, einer
geistlichen Obrigkeit zu tun, (die vielmehr identisch war mit der weltlichen
Obrigkeit). Auch war die Seelsorge in Europa tendenziell flächendeckend.
In den Missionsländern war die Arbeit von kolonialistischen Interessen
stark durchsetzt. Deshalb betrieb die Kirche eine Art ‚obrigkeitliche
Pastoral’.
Kurz:
Die
christentümlichen
Gesellschaften
der
nachkonstantinischen, der mittelalterlichen, der nachreformatorischen
Gesellschaft waren ein guter situativer Boden für die überkommene
Grundkonzeption der Versorgungsseelsorge. Seelsorge hatte sozusagen
‚funktioniert’. Es gab lange keinen Grund, das Konzept zu bezweifeln oder
gar zu ändern.“835 Mit der Ausdifferenzierung der verschiedenen
gesellschaftlichen Bereiche ging zugleich auch eine Auflösung der
traditionellen
Volkskirche
und
der
diese
bestimmenden
Versorgungsseelsorge einher. Diese Entwicklung konnte auch die bereits
auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil herausgestellte Mitverantwortung
der Laien für die Kirche und den christlichen Glauben nicht verhindern.
Aus dieser Situation ergibt sich die Forderung einer notwendigen
Erneuerung der Kirche und der Kirchengemeinden.
2.2 Die Notwendigkeit einer Kirchen- und
Gemeindereform
„Der eigenen Berufung ‚auf der Spur’ zu sein, sie ‚aufzuspüren’, dieser
Vorgang muß allen bisherigen Bemühungen, das Volk zu fördern, noch
hinzugefügt, oder noch genauer, zugrundegelegt werden.“836 Mit diesen
Worten betont Paul Michael Zulehner die Notwendigkeit, den Gläubigen
835
Zulehner, Paul Michael, „Denn du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor …“
Zur Theologie der Seelsorge heute. Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner,
2
Düsseldorf 1984 , 36f.
313
ein Fundament für ihr Leben und Wirken als Christen in der Welt zu
vermitteln. Die Verantwortung für die Gemeinde und die Welt soll ihnen
dabei neu bewußt gemacht werden. In diesem Zusammenhang betont
Zulehner die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung von der Basis her,
die in einigen österreichischen Gemeinden bereits mit Erfolg durchgeführt
worden sei. Bei der Erneuerung des Glaubenslebens einer Gemeinde
spielen Mystik, Geschwisterlichkeit und Politik eine zentrale Rolle.837 Dies
seien
drei
bedeutende
Merkmale
für
eine
Kirchen-
und
Gemeindeerneuerung.838 Was Zulehner unter diesen Begriff versteht, soll
in den folgenden Abschnitten dargelegt werden.
2.2.1 Mystik
Die Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz und letztlich nach
Gott ist eine nicht zu leugnende, durch die christliche Glaubenstradition
erhärtete Tatsache. Die Erlösungstat Gottes durch Jesus Christus ist
Grundlage und Anknüpfungspunkt unseres Fragens nach Gott. Das Leben
Jesu
besitzt
für
die
Menschen
einen
Vorbildcharakter.
„Unsere
Bestimmung, unser Schicksal wird an Jesus, dem Christus, anschaulich.
Noch mehr: Er wird zum Weg für uns. Wer mit ihm (mystisch) eins wird,
gelangt auf diesem Weg an das Ziel seiner wahren Sehnsucht.“839 Die
Kirche hält diese Verbindung zu Christus in jeder Zeit lebendig. Sie macht
den Menschen ihre Bestimmung und ihre Verantwortung für das Reich
Gottes bewußt und versteht die Gläubigen als Volk Gottes, unter dem er
selbst anwesend sein will und auch anwesend ist. Die Sehnsucht des
Menschen nach Gott ist heute jedoch bei vielen Menschen verschüttet, so
836
Vgl. Zulehner, Sie werden mein Volk sein, 78.
Vgl. Zulehner, Paul Michael, Das Gottesgerücht. Bausteine für eine Kirche der Zukunft
mit Texten von Josef Fischer und einer Meditation von Rolf Zerfaß, Düsseldorf 1987,
62.
838
„Drei Aufgaben werden genannt, zu denen Gott sein ganzes Volk erwählt hat, drei
Merkmale werden beschrieben, welche die Kirche von morgen schmücken werden:
Sie wird eine Kirche der Mystik sein, und deshalb eine geschwisterliche und eine
politische Kirche.“ (Zulehner, Das Gottesgerücht, 31).
839
Vgl. Zulehner, Das Gottesgerücht, 38.
837
314
daß viele Menschen ihr Heil in Ersatzbefriedigungen suchen. Zulehner
charakterisiert die gesellschaftliche Situation, in der die religiöse Suche
des Menschen heute stattfindet besonders drastisch, wenn er schreibt:
„Es ist auch unbestritten, daß in unserer Alltagskultur die Themen der
Religion (wie auch andere menschliche Themen wie Alter, Tod, Leid) nicht
ausdrücklich vorkommen, diese Kultur somit als ‚gottfrei’, ‚gottlos’,
‚atheistisch’ gelten kann.“840
Auch Christen sind nicht von der Versuchung frei, ihre religiösspirituelle Sehnsucht durch Ersatzbefriedigungen zu stillen und auf diese
Weise ihre religiöse Veranlagung verkümmern zu lassen. Der christliche
Glaube der Gegenwart Gottes tritt besonders in der Gemeinschaft der
Gläubigen, der Kirche als Volk Gottes, deutlich zutage. Eine Kirche, die in
der Gewißheit der Gegenwart Gottes lebt, nennt Zulehner eine „mystische
Kirche“.841 Indem die Kirche am Mysterium Gottes teilhat, wird sie selbst
zum Mysterium, zu einer nie vollkommen ergründbaren transzendenten
Größe innerhalb der Welt und der menschlichen Gesellschaft. Das Leben
der Gläubigen muß von der Gewißheit der Anwesenheit Gottes getragen
sein. Dieser Glaube muß sich auch im gegenseitigen Umgang mit den
Mitmenschen, den Nächsten, zeigen. „Gottes menschenfreundliche Praxis
soll nämlich in der Praxis der Kirche vorkommen und durchkommen. Eine
Lehre von der Kirche gibt es daher nicht ohne eine Lehre von Gott:
Ekklesiologie ist Theologie.“842
2.2.2 Geschwisterlichkeit
Der Begriff Geschwisterlichkeit wird von Zulehner in Anlehnung an den
auf
dem
Zweiten
Vatikanum
bedeutsamen
Begriff
Brüderlichkeit
gebraucht.843 Das Wort Geschwister schließt beide Geschlechter ein und
ist nach Meinung Zulehners die zutreffende Anrede für Brüder und
840
Zulehner, Das Gottesgerücht, 39.
Ibid., 65.
842
Ibid.
843
Ibid., 66.
841
315
Schwestern. So betont er die Sehnsucht vieler Menschen nach einer
geschwisterlichen statt einer nur brüderlichen Kirche.
2.2.2.1 Die Sehnsucht des Menschen nach dauerhafter
Gemeinschaft
Die Sehnsucht nach freundschaftlichen Beziehungen zu seinen
Mitmenschen und die Suche eines Lebenspartners kennzeichnen den
Menschen laut Zulehner als soziales Wesen. Jeder Mensch bedarf der
Anerkennung und der Wertschätzung durch andere, um sich in der
rechten Weise als Mensch entfalten zu können. Doch die moderne
pluralistische Gesellschaft mit ihrer Ablehnung eines verbindlichen
Wertekanons höhlt Werte wie Verläßlichkeit und Treue zunehmend aus.
Die
Fähigkeit
einzugehen,
des
wird
Selbstverwirklichung
heutigen
immer
Menschen,
mehr
erschwert.
durch
Zulehner
dauerhafte
das
Beziehungen
erstrebte
charakterisiert
Ziel
der
dieses
Phänomen so: „Was im Umkreis dieses kulturell antrainierten Strebens
nach materieller und sozialer Belohnung gewachsen ist, ist ein verbreiteter
Individualismus, der sich in Sätzen äußert wie ‚auf andere kannst Du Dich
nicht verlassen’ oder ‚Jeder muß für sich selber sorgen’.“844 Diese Defizite
im gesellschaftlichen Beziehungsnetz treten besonders in den hohen
Scheidungsraten zutage. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch eine
echte und dauerhafte Gemeinschaft oder Partnerschaft erfährt, ist sehr
gering geworden.
Dennoch sieht Zulehner in diesem Sachverhalt für die Kirche die
einmalige Chance, den Menschen geschwisterliche Lebensorte zu
schenken. „Wenn Kirche ist, was sie zu sein berufen ist, kann sie für die
Menschen auf ihrer Suche nach Gemeinschaft, Treue, Verläßlichkeit,
Verbindlichkeit und Verbundenheit, nach Solidarität ein Hoffnungsort
werden.“845 Durch den Rückgriff auf die Bibel, vor allem durch die
844
845
Zulehner, Das Gottesgerücht., 67.
Ibid., 69.
316
Betrachtung der zahlreichen Begegnungen Jesu mit den Menschen, läßt
sich verdeutlichen, daß dort, wo Menschen dem Ruf Gottes folgen, sich
ihnen
auch
echte
Chancen
für
eine
tragfähige
und
dauerhafte
Gemeinschaft bieten. Die ersten Christengemeinden sind anschauliche
Beispiele, wie derartige tragfähige geschwisterliche Gemeinschaft im
Glauben entstanden sind. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
bleiben jedoch nie konfliktfrei, wie sich bereits im Neuen Testament (1.
Kor) erkennen läßt. Zulehner hält es daher für unbedingt notwendig, eine
christlich geprägte Kultur zum Austragen von Konflikten und ihrer Lösung
zu finden. In dieser Beziehung gibt es in den christlichen Gemeinden
allerdings noch viel zu tun.
2.2.2.2 Die „Volk-Gottes-Geschwisterlichkeit“
Eine
mögliche
kirchliche
Strukturreform
muß
zugunsten
einer
geschwisterlich ausgerichteten Kirche ausfallen und stellt eine große
Herausforderung dar. Geschwisterlichkeit sieht Zulehner dort, wo sich
Menschen unter den Augen Gottes zum Fest versammeln (vgl. Dtn 16, 912). Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen und in
allen möglichen Lebensphasen kommen bei der gottesdienstlichen Feier
zusammen. Die Geschwisterlichkeit verlangt, daß es im Gottesdienst
keine Trennung oder Diskriminierung durch soziale Barrieren geben sollte.
Doch die Wirklichkeit belehrt uns häufig eines anderen. Zulehner meint,
daß es in den Gemeinden häufig Auseinandersetzungen zwischen
Gläubigen aus verschiedenen sozialen Schichten gebe und daß Arbeiter
von akademisch gebildeten Pfarrangehörigen oft als Gläubige zweiter
Klasse angesehen und entsprechend behandelt würden. Ein solches
Verhalten sei mit der in der Taufe grundgelegte Würde jedes Christen
unvereinbar.
Auch in Art der Ausübung der kirchlichen Ämter sucht Zulehner den
Volk-Gottes-Gedanken und die damit verbundene Geschwisterlichkeit
häufig vergeblich. Im Zusammenhang mit der Ausübung der kirchlichen
317
Amtsgewalt und der Wahrnehmung ihrer Autorität bemerkt Zulehner:
„Heute, auf dem Boden der biblischen Volk-Gottes-Theologie und der
daran orientierten Kirchen-Theologie des II. Vatikanischen Konzils kann
die Regel nicht mehr lauten: Das Volk gehört dem Amt, sondern: das Amt
gehört dem Volk. Und beide gehören Gott.“846
Die Würde des Christen und das Prinzip der Geschwisterlichkeit dürfen
durch die Ausübung der kirchlichen Amtsgewalt keinen Schaden erleiden.
Die Geschwisterlichkeit sollte in den christlichen Gemeinden eine
„lebensmäßige Verbindlichkeit“ besitzen, damit aus Kirchenbesuchern
„Kirchenbewohner“ werden können.847 Wenn diese Voraussetzungen
erfüllt sind, wird ein Christ auch seine wirkliche Heimat in der Gemeinde
haben und sich durch diese in allen Lebenssituationen unterstützt und
getragen wissen. Diese geschwisterliche Geborgenheit in der Gemeinde
gestattet
den
Gläubigen
dann,
auch
schwierige
Situationen,
beispielsweise eine Ehekrise, zu meistern. „Und wenn Christen, die in Ehe
leben, vom Seilakt ihrer Ehe abstürzen, werden sie vom geschwisterlichen
Netz aufgefangen.“848
2.2.3 Die politische Gemeinde
Die Verbindung von Gott, Kirche und Politik stellt für viele Menschen
unserer Zeit eine inakzeptable Konstellation dar. Eine politische Kirche
erweckt Anstoß, vor allem wegen der zum Teil folgenschweren
Auswirkungen der Verbindung von Staat und Kirche im Verlauf der
abendländischen Geschichte. Als Beispiel nennt Zulehner Inquisition und
Hexenverfolgungen, die das Bild der Geschichte im Mittelalter und der
frühen Neuzeit trüben. Viele Zeitgenossen kennen derartige Ereignisse,
und sie machen den Mißbrauch religiöser und politischer Macht hierfür
verantwortlich. Dies bewirkt vielfach einen Argwohn gegenüber jeglicher
religiöser Einmischung in die Gesellschaft und in staatliche Belange.
846
847
Zulehner, Das Gottesgerücht, 74.
Ibid., 76.
318
Diese Auffassung verkennt jedoch zutiefst die Tatsache, daß Christen
als Bürger auch ihre Vorstellungen, vor allem ethischer Art, in Staat und
Gesellschaft artikulieren und ihre Verantwortung für die Kirche und die
Welt wahrnehmen wollen. Politik im Hinblick auf eine Erneuerung der
Kirche und der Gesellschaft meint daher nicht mehr eine Verschmelzung
von Kirche und Staat, sondern einen gegenseitigen Austausch und Dialog
zwischen diesen beiden Institutionen.
Für die Kirche bedeutet dies, sich um eine gerechte Ordnung, eine
gerechte Verteilung
der begrenzten Lebenschancen
in der Welt
einzusetzen, die sowohl geistige als auch materielle Güter umschließt.
„Die Sehnsucht nach einer gerechteren Verteilung der Lebenschancen
wächst innerhalb der heutigen Menschheit, immer mehr Menschen
werden von ihr gepackt. Dies hat seinen Grund darin, daß ein Meer von
Ungerechtigkeit heute das Überleben der ganzen Menschheit bedroht.
Hier ist besonders die Ausbeutung der armen Länder der dritten Welt zu
nennen, wobei eine Minderheit über die natürlichen Ressourcen und
finanziellen Mittel verfügt. Aber auch in unseren Breitengraden machen
sich zahlreiche soziale Probleme bemerkbar, für welche zum großen Teil
die
politische
Arbeitslosigkeit
Mißwirtschaft
bei
verantwortlich
gleichzeitigem
technischen
ist.“849
Eine
Fortschritt
hohe
bedroht
zunehmend die Existenz vieler Menschen in unserem Land. Angesichts
unzähliger weltweiter Ungerechtigkeiten und Verbrechen kann die Kirche
als Trägerin des christlichen Glaubens nicht schweigen. Paul Michael
Zulehner meint in diesem Zusammenhang: „Wieder kann gezeigt werden,
daß die Kirche, wenn sie wahrhaft Volk jenes Gottes ist, mit dem uns die
Bibel bekanntgemacht hat, ein Hoffnungsort sein kann für die Opfer einer
ungerechten Verteilung von Lebenschancen.“850 Die Kirche ist dem
Vorbild Jesu entsprechend dazu aufgerufen, den Menschen ein Anwalt zu
sein, der ihnen bei der Linderung und Beseitigung ihrer bedrückenden
Lage zur Seite steht.
848
Ibid., 77.
Zulehner, Das Gottesgerücht, 78.
850
Ibid., 81.
849
319
Daß die Auflösung der traditionellen Volkskirche im vollen Gange ist
und welche Probleme sich hierbei konkret für die Kirchengemeinden
stellen,
spiegelt
sich
besonders
in
den
Ergebnissen
des
Pastoralgespräches wider, das 1994 im Erzbistum Köln durchgeführt
wurde. Ich möchte ergänzend zu der allgemeinen Situationsbeschreibung
Zulehners aus den Ergebnissen diese Pastoralgespräches vor allem
diejenigen Probleme herausgreifen, die deutlich machen, warum die
meisten Gemeinden, zumindest momentan noch keinen idealen Ort für
eine mögliche Aufnahme von Sektenaussteigern sind. Hierin finden sich
auch
die
von
Zulehner
genannten
Forderungen
nach
Mystik,
Geschwisterlichkeit und Politik wieder, die für eine Kirchen- und
Gemeindeerneuerung zentral sind.
2.3 Die Situation der katholischen Kirchengemeinden
nach dem Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im
Erzbistum Köln
Diejenigen, die zu den Mitgliedern des Pastoralgespräches gehörten,
sind Menschen, die in den Gemeinden und Verbänden der Kirche aktiv
tätig sind. Im Vorwort zu den Ergebnissen des Pastoralgespräches heißt
es in diesem Zusammenhang: „Vielmehr haben sich jene Katholiken zu
Wort
gemeldet,
die
in
Gemeinden,
Dekanaten,
Verbänden
und
Einrichtungen die Säulen sind und sich selbst einbringen in die Kirche vor
Ort, sie zusammen mit anderen lebendig und erfahrbar machen.“
2.3.1 Mangelhafte Seelsorgssituation und mangelndes
Verantwortungsbewußtsein der Gläubigen
In den Voten zum Thema Seelsorge kommt die „Sehnsucht nach
Seelsorge“
deutlich
zum
Ausdruck.
Die
Gläubigen
in
den
Kirchengemeinden möchten eine echte Beziehung zu Christus aufbauen
320
und dabei von Seelsorgern, möglichst von Priestern begleitet und
unterstützt werden. Die Teilnehmer des Pastoralgesprächs kritisieren eine
zu große Organisation und Verwaltung der Kirche, die sich zulasten der
Seelsorge auswirkt.
In den Kirchengemeinden sollten Seelsorger anwesend sein, die nicht
durch unzählige Verwaltungsaufgaben überlastet sind. Die Gläubigen
erwarten von ihren Priestern, daß diese ein offenes Ohr für sie haben und
auf ihre Sorgen und Nöte eingehen. Das Gefühl des Alleingelassenseins
in religiösen Dingen und in den täglichen Sorgen und Nöten des Alltags
führt bei vielen Gläubigen zum Rückzug und zu Resignation. Die vom
Bistum eingerichteten Pfarrverbände und Seelsorgebereiche bieten hierfür
keine adäquate Lösung, weil sie zu neuen Problemen, wie beispielsweise
einem
Konkurrenzdenken
zwischen
den
verschiedenen
bisher
selbständigen Pfarreien führen und der Seelsorger keinen intensiven
Kontakt zu den Gläubigen aufbauen könne. Viele Gläubige erleben ihre
Seelsorger, vor allem ihre Pfarrer als völlig überlastet, „als Funktionäre,
die Dinge tun oder tun müssen, die sie davon abhalten, mit offenen Ohren
und Herzen für die Anliegen, Themen und Sorgen der Gemeindemitglieder
dazusein“.851 Die nötige Verbundenheit mit einer Gemeinde geht auf diese
Weise verloren, beziehungsweise kommt erst gar nicht zustande. Die
Überforderung der Seelsorger, besonders der Pfarrer wird von den
Gläubigen als schmerzliche Entfremdung wahrgenommen.
Die
Mitglieder
Zusammenhang
des
von
Pastoralgespräches
einer
sprechen
„Notversorgung“852 ,
der
in
durch
diesem
neue
Zugangswege zu den kirchlichen Ämtern und „wirklichen Verantwortungsund Mitbestimmungsstrukturen für Laien“ Abhilfe geschaffen werden
könnte. Da Seelsorge die gesamte Gemeinde betrifft und jeder Getaufte
und gefirmte Christ Verantwortung für die Gemeinde übernehmen sollte,
kann die Lösung von Problemen nicht allein von der Kirchenleitung, von
Bischöfen oder den Priestern der Gemeinden erwartet werden. Seelsorge
851
Presseamt des Erzbistums Köln, Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im
Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut not“, zitiert aus:
http://www.kath.de/svpk/1/pastoral.html vom 18.3.2005 / 21.15 Uhr.
852
Vgl. Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut
not“.
321
beschränkt sich nicht nur auf Priester und andere Hauptamtliche. Auch
Laien nehmen bereits vielfältige Möglichkeiten wahr, die Menschen auch
außerhalb der Gemeinde zu erreichen. Diese Kontakte sind dabei für viele
Menschen außerhalb der Kirche die einzigen Kontakte mit Kirche
überhaupt. Die Form des Wirkens wird als „Geh-Hin-Kirche“853 bezeichnet,
für
die
es
auch
beispielsweise
zahlreiche
den
Beispiele
Pfarrbesuchsdienst,
Krankenhausbesuchsdienst.
Der
Pfarrer
in
den
den
Gemeinden
Pfarrbrief
oder
die
gibt,
und
den
Pastoral-
und
Gemeindereferenten nehmen auch die Möglichkeit von Hausbesuchen
von Gemeindemitgliedern zu bestimmten Anlässen wahr. Die Gemeinden
bieten den Gläubigen darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, Kontakte
zu knüpfen und sich über Lebens- und Glaubensdinge auszutauschen. Es
existieren
vielfältige
Angebote
wie
Erstkommunion-
und
Firmvorbereitungen, Einladungen zu Kinder- und Jugendgottesdiensten,
Jugendarbeit. Es gibt in vielen Gemeinden Bibelgesprächskreise,
Gespräche bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen.
Es existieren Kontakte zu Schulen, ja sogar kirchliche Schulen und
vieles mehr. Diese Angebote haben sicherlich ihren Wert und tragen das
Ihre zu einem ebendigen Gemeindeleben bei. Sie sind jedoch zu stark auf
die jeweiligen Hauptamtlichen konzentriert. Sobald diese ihren Dient nicht
mehr in der vorgesehenen Weise ausüben können, bricht vieles
zusammen. In den Ausführungen zum Pastoralgespräch wird deshalb ein
neues Bewußtsein für die Wahrnehmung der eigenen Verantwortung
gegenüber der Gemeinde gefordert und wie folgt begründet: „Alle
Getauften haben Teil am Lebensreichtum, mit dem Gott uns beschenkt.
Diese fundamentale Gleichheit aller Getauften ist ein grundlegendes
Prinzip der kirchlichen Verfassung. Jeder Christ ist Empfänger der Gnade
Gottes und Träger des kirchlichen Lebens.“854 Diese Überzeugung läßt
keinen Raum für Machtausübung oder Manipulation. Diese sind negative
Elemente von Seelsorge und kirchlicher Beratung.
853
Vgl. Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut
not“.
854
Ibid.
322
Es soll in der Seelsorge bewußt auf Belehren und Moralisieren
verzichtet werden. Beratung meint nicht Indoktrination und Bevormundung
von Gläubigen, sondern ein begleitendes Mitwirken, bei dem die Freiheit
des anderen respektiert werden muß.
Dem Menschen darf kein Konzept aufgedrängt werden. Das Interesse
am einzelnen Menschen sollte somit größeres Gewicht haben als das
„Beharren auf Grundsätzen“.
Dies erfordert von einem Seelsorger besondere Qualitäten. Nur so kann
unseren Gemeinden gelingen lebendige Zellen des Glaubens zu werden.
In den Ausführungen des Pastoralgespräches heißt es in diesem
Zusammenhang: „Wo unsere Gemeinden im Seelsoremanagement
ersticken, verlieren sie von selbst ihre Ausstrahlung als lebendige Oasen
des Glaubens in den geistlichen Wüsten unserer Städte.“855 Die
Amtskirche habe sich sehr weit von den Gläubigen entfernt. Dies äußere
sich darin, daß jeder Gläubige mit religiösen und alltäglichen Problemen
allein zurecht kommen müsse. Die wenigen Priester, die hier Hilfe bieten
können, seien völlig überlastet, überfordert und von den Bischöfen allein
gelassen. Alle Gläubigen müssen sich hier engagieren. Die Kirche gehe
zu wenig zu den Menschen, dies müsse sich ändern.
2.3.2 Zu geringe „Sprachfähigkeit im Glauben“, zu wenig
Glaubensgespräche, zu geringe Reflexion über den
eigenen Glauben
Es existieren in vielen Gemeinden Bibelgesprächskreise und sich daran
anschließende Glaubensgespräche, allerdings beklagen die Telnehmer
des Pastoralgespräches die zu geringen Möglichkeiten Jugendlicher, ihren
Glauben zur Sprache zu bringen. Hier wird ein Bruch mit der
Glaubenstradition der Kirche sichtbar, der sich durch ein mangelndes
Glaubenswissen auszeichnet. Um diesem Mißstand abzuhelfen, sollte die
Einrichtung von Glaubensgesprächskreisen verstärkt werden. Hierzu
855
Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut
not“.
323
eignen sich besonders kleine Gebets- und Glaubensgesprächskreise, in
denen die Teilnehmer sich gegenseitig austauschen und auch gegenseitig
bestärken können. Dabei soll den Teilnehmern die Bedeutung der Bibel
durch eine zeitgemäße Erschließung derselben zugänglich gemacht
werden. Wenn auch nicht alle Mitglieder einer Gemeinde sich von diesem
Angebot ansprechen lassen, so sollten doch zumindest die aktiven
Gruppen einer Pfarrei über ein ausreichendes Glaubenswissen verfügen,
um anderen Hilfestellung geben zu können.
Um die Sprachfähigkeit im Glauben und die damit verbundenen
Glaubensgespräche zu fördern, muß die oftmals unzureichende religiöse
Bildung der Gläubigen dringend verbessert werden, was durch Seminare
und
Glaubensschulung
Pastoralgespräches
geschehen
sehen
in
der
soll.
Die
Einrichtung
Teilnehmer
einer
des
offenen
Gesprächsgruppe in der Gemeinde als Dauereinrichtung eine Möglichkeit,
aktuelle Glaubenserfahrungen sowie Kritik zur Sprache zu bringen. Um
möglichst intensive Glaubensgespräche führen zu können, müssen die
Mitarbeiter aus- und weitergebildet werden, um kleine Gruppen begleiten
zu können.856
2.3.3 Mangelnde Glaubwürdigkeit
Die Glaubwürdigkeit der Kirche umfaßt verschiedene Bereiche, wie
beispielsweise den Umgang mit der Macht aufgrund der kirchlichen
Strukturen und den mit dem Geld sowie den Umgang mit der Sexualität.
Ein Mangel an Glaubwürdigkeit wird hierbei vor allem begünstigt durch
die Diskrepanz zwischen der frohen Botschaft des Evangeliums, das heißt
dem Lehren und Handeln Jesu und dem Verhalten der Kirche. Dieses
negative Verhalten der Kirche bezieht sich dabei vor allem auf moralische
Verfehlungen der Gläubigen. Die Morallehre der Kirche wird von vielen
Gläubigen als abgehoben und lebensfern angesehen, was einen Bruch
zwischen den Anforderungen und der Lebenspraxis der Gläubigen nach
324
sich zieht. Ein weiterer Kritikpunkt besteht in einem unehrlichen und
verdrängenden Umgang mit sich selbst und den eigenen Fehlern und
Unvollkommenheiten.
Gehorsamsforderung
Des
der
weiteren
Kirche
wird
gegenüber
Kritik
den
geübt
an
der
Gläubigen.
„Die
Menschen unserer Gesellschaft haben oft zwiespältige Bedürfnisse: Auf
der einen Seite die Sehnsucht nach Geborgenheit, Halt und Orientierung
und auf der anderen Seite ein starkes individuelles Freiheitsbewußtsein
verbunden mit einer ausgesprochenen Scheu vor Bindungen. Eine
religiöse
Gemeinschaft,
die
blinden
Gehorsam
erwartet,
ihr
Autoritätsverlangen nicht begründet und auf die individuellen Bedürfnisse
kaum eingeht, ist bei ihnen ohne Chance.“857 Die Kirche kann an
Glaubwürdigkeit nur gewinnen, wenn sie sich am Denken und Handeln
Jesu orientiert, sich Schwächen und Unvollkommenheiten eingesteht und
dementsprechend auch den Menschen begegnet, das heißt, sie auch als
Person in ihrer Individualität ernst nimmt. „Kirche muß glaubwürdig sein in
ihrem Handeln, in ihren Vertretern den Christen gegenüber, weil diese
Glaubwürdigkeit eine große Auswirkung auf die gesamte Pastoral hat.“858
2.3.3.1 Zu geringe Option für die Armen als Folge zu wenig
gelebten Glaubens
Die Teilnehmer des Pastoralgespräches konstatieren einen zu geringen
Einsatz der Kirche für arme und benachteiligte Menschen und fordern ein
verstärktes
Engagement
im
sozialen
Bereich.
In
den
Verkündigungszusammenhang gehört unbedingt die Caritas als eine
wesentliche Lebenssäule der christlichen Gemeinde.
Die Kirche unterhält zwar zahlreiche caritative Einrichtungen, jedoch
sollte diese Einheit von Heilsdienst und Weltdienst in den Gemeinden
stärker zum Ausdruck kommen. Unter diesen Armen und Benachteiligten
856
Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Den Glauben
bezeugen“.
857
Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“.
858
Ibid.
325
sind nicht nur Menschen zu verstehen, die materielle Not leiden, sondern
auch solche mit seelischen Nöten.
Daß ein Engagement in diesem Bereich bisher zu wenig erfolgt ist,
machen die Ausführungen des Pastoralgespräches an mehreren Stellen
deutlich, besonders aber die Forderung: „Wir als Kirche müssen sensibler
werden für die Nöte unserer Mitmenschen. Wir sollten noch bewußter die
versteckte Armut in unserem Umfeld aufspüren. Wir als Christen, aber
auch Priester, sollten sich mehr Zeit für in Not geratene Mitmenschen, sei
es seelischer oder finanzieller Art, nehmen, mit ihnen reden und zuhören
können, um dann gezielter Hilfe anbieten zu können.“859 Jeder einzelne
Christ ist letztlich gefordert sich in seinem Umfeld sozial zu engagieren,
sei es in der Betreuung alter Menschen, sei es durch Krankenbetreuung,
durch Nachbarschaftshilfe, durch die Betreuung Suchtkranker, durch
Kinderbetreuung und vieles mehr.
2.3.3.2 Zu wenig Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz
Die Glaubwürdigkeit der Kirche leidet unter einer ungenügenden
Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz. Glaubwürdigkeit erleben die
Gläubigen, wenn der einzelne Mensch persönlich ernst genommen und
damit in seinem Inneren angesprochen wird, wo er respektiert wird und
sich angenommen weiß, nicht zuletzt dort, wo er durch diese erfahrene
Annahme seiner selbst eine positive Gotteserfahrung machen kann. Die
Teilnehmer des Pastoralgespräches charakterisieren eine
geschwisterliche, von Offenheit und Toleranz geprägte Kirche als „eine
geschwisterliche Gemeinschaft von Frauen, Männern, Jungen, Alten,
Laien und Amtsträgern, damit Menschen in den Gemeinden Heimat
finden.“860 Die Gemeinden haben sich bisher zu wenig durch diese
Merkmale ausgezeichnet. Ein durch diese Merkmale bewirktes
glaubwürdiges Zeugnis kann mehr bewirken als sämtliche
organisatorische Maßnahmen. Die Kirche verwaltet nach Meinung der
859
Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“.
326
Teilnehmer des Pastoralgespräches zu sehr einen Mangel und ist mit dem
Flicken von Mangelsituationen beschäftigt, statt sich den längst
notwendigen Veränderungen zu stellen. Ein Hindernis für die Entwicklung
zu einer solchen geschwisterlichen und von Offenheit und Toleranz
geprägten Kirche ist das Verharren in patriarchalisch-autoritären
Strukturen, das heißt es entstehe der Eindruck, im Mittelpunkt des
kirchlichen Interesses stünden lediglich die Aufrechterhaltung von
Herrschaftsansprüchen und die Furcht vor einem möglichen Machtverlust.
Viele Menschen haben den Eindruck, die Kirche sei nicht bereit, auf die
Bedürfnisse der Gläubigen einzugehen und sie entziehe sich vor allem
einem Dialog mit Andersdenkenden.
Die Teilnehmer des Pastoralgespräches sehen den Ausweg aus dieser
besorgniserregenden
Geschwisterlichkeit
Situation
statt
in
einem
Hierarchie,
in
Anstreben
einer
von
Befreiung
„mehr
statt
Unterdrückung, in einer Offenheit statt Abgrenzung, Konfliktfähigkeit statt
Verdrängung, Förderung von Charismen statt Be- oder Verhinderung,
Dialog statt Diktat, Einheit in der Vielfalt“861 . Die Lebenszusammenhänge
der Menschen heute seien zu komplex, um durch einfache Lösungen
geregelt zu werden, die von der kirchlichen Hierarchie vorgegeben
werden. Sich aufgrund der Unterschiedlichkeit der Menschen ergebende
Interessengruppen innerhalb der Gemeinde sollen sich gegenseitig
tolerieren und offen über anstehende Schwierigkeiten diskutieren.
„Abweichlern und Nonkonformisten“862 solle mit Achtung begegnet
werden. Als abschließende Bemerkung zu diesem Punkt findet sich die
Forderung: „Insgesamt muß die Kirche in unserer Zeit einen einladenden
Charakter und nicht eine ausgrenzende Botschaft ausstrahlen.“863 Vor
einfachen
fundamentalistischen
Lösungen
wird
dabei
ausdrücklich
gewarnt.
Der
Frage
inwieweit
die
dargestellten
Schwächen
und
Verbesserungsvorschläge der kirchlichen Situation für das Problem der
Aufnahme von Sektenaussteigern relevant sein können, soll im folgenden
860
Ibid.
Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“.
862
Ibid.
861
327
nachgegangen werden. Können Gemeinden, die die in den Ausführungen
des
Pastoralgespräches
aufgezeigten
Schwächen
und
Probleme
aufweisen Sektenaussteiger aufnehmen? Für die Beantwortung dieser
Frage ist es notwendig, die bereits dargelegten Phänomene von Sekten
mit der Situation der Kirchengemeinden zu konfrontieren.
863
Ibid.
328
2.4 Die Situation der Kirchengemeinden und die
Probleme und Fragen von Sektenaussteigern
In welcher Situation befinden sich Sektenaussteiger, was brauchen sie
und welchen Problemen und Fragen von Aussteigern müßten sich
Kirchengemeinden stellen, um diesen angemessen begegnen und diesen
Menschen eine neue Heimat bieten zu können?
Die Phänomene von Sekten, die zu den negativen Erfahrungen von
Aussteigern geführt haben, zeigen zunächst deutlich, was diese
Menschen bei einer Begegnung mit Christen aus Kirchengemeinden auf
keinen Fall benötigen. Einige Phänomene von Sekten finden sich in
ähnlicher Weise auch in der Kirche wieder, was für Aussteiger nicht
unproblematisch sein dürfte. Ein zentraler Punkt ist hierbei die
Organisationsstruktur der Kirche, die durch einen streng hierarchischen
Aufbau gekennzeichnet ist. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den
Kirchengemeinden wieder. Der Existenz des Papstamtes, die Bischöfe
und Priester sind ein Ausdruck eben dieser hierarchischen Verfassung der
katholischen Kirche. Daß katholische Christen mit bestimmten, durch
diese hierarchische Verfassung bedingten Verhaltensweisen von Papst,
Bischöfen und Priestern negative Erfahrungen gemacht haben, zeigen die
Voten des Pastoralgespräches, wenn sie das Verharren der Kirche in
patriarchalisch-autoritären Strukturen beklagen und dem Papst und der
Kirchenleitung ein zu großes Interesse für die Aufrechterhaltung von
Herrschaftsansprüchen vorwerfen, die sich in der Furcht vor einem
Machtverlust äußert. Statt der Hierarchie wird mehr Geschwisterlichkeit
gefordert, statt einer Abgrenzung von den Gläubigen eine Offenheit der
Kirchenleitung für die Belange der Gläubigen. Diese hierarchische
Ordnung wird kirchlicherseits durch die Bibel und die Tradition der Kirche
legitimiert. Dabei steht der Papst in der besonderen Nachfolge des
Apostels Petrus. Parallelen gegenüber dem Anspruch der WachtturmOrganisation sind hier nicht zu verkennen. Auch Scientology stellt ein
hierarchisch straff organisiertes System dar. Einem Sektenaussteiger
werden hier gewisse Parallelen wohl kaum verborgen bleiben.
329
Die Lösung dieses Problems ist sowohl dogmatischer Natur, das heißt,
es müßten dem Aussteiger die biblischen und durch die Tradition der
Kirche bedingten Hintergründe dieser Struktur erläutert werden. Die
Lösung dieses Problems steht also im Zusammenhang mit dem
Lehrsystem. Daß diese Tatsache der hierarchischen Verfassung der
Kirche nicht automatisch zu den negativen Erfahrungen führen muß, wie
sie der Aussteiger in der Sekte gemacht hat, kann sich weniger in einem
Gespräch mit dogmatischen Erläuterungen, als vielmehr in den positiven
Konsequenzen dieser Tatsache für das Leben der Gemeindemitglieder
erweisen.
Ein
wohlwollender,
geschwisterlicher
Umgang
zwischen
Amtsträgern und Gläubigen kann in der Praxis Zeugnis davon ablegen,
daß eine hierarchische Struktur nicht zwangsweise eine Unterdrückung
von Menschen zur Folge haben muß, die sich etwa im Verbot von
Meinungs- und Gewissensfreiheit äußert. Anfängliche Vorbehalte gegen
eine hierarchische Struktur, die in den negativen Erfahrungen der
Aussteiger mit der Sekte stehen, können nur durch ein positives
persönliches Lebenszeugnis ausgeräumt werden.
Die Schwierigkeit dieses Unterfangens wird in den Aussteigerberichten
deutlich, wenn Aussteiger nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen
Jehovas oder der Scientology große Ängste davor äußern, sich beim
Aufbau neuer sozialer Beziehungen wieder einer religiös geprägten
Gemeinschaft anzuschließen, die insbesondere eine solche hierarchische
Struktur aufweist.
Sektenaussteiger benötigen im Zusammenhang mit dem Aufbau neuer
sozialer Kontakte nach dem Sektenausstieg den Kontakt zu Menschen,
die ihnen neben einer religiösen Anbindung zunächst vor allem das Gefühl
vermitteln, als Mensch, als Person, wertgeschätzt, angenommen und
ernstgenommen zu werden. In den Voten des Pastoralgespräches zeigt
sich, daß unsere Kirchengemeinden hiervon noch zu wenig geprägt sind.
Anstatt sich für die Menschen und deren Fragen und Probleme zu öffnen
und sich auf sie einzulassen betreibt die Kirche vielerorts eine
Notseelsorge.
zahlreichen
Die
Priester,
als
eigentliche
Seelsorger,
Verwaltungsaufgaben
überlastet
und
nur
sind
noch
mit
sehr
eingeschränkt für die Menschen in den Kirchengemeinden erreichbar. Als
330
Konsequenz
dieses
Zustandes
fordern
die
Votanten
des
Pastoralgespräches eine größere Mitsprache und Mitbestimmung von
Laien und betonen das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und deren
Mitverantwortung
Sektenaussteiger
Gemeinschaft,
für
ihre
sich
etwa
Gemeinden.
längerfristig
der
Unabhängig
gesehen
katholischen
davon,
einer
Kirche,
ob
religiösen
konkret
einer
Kirchengemeinde anschließen wollen, müssen Gemeindemitglieder ganz
bestimmte
Voraussetzungen
aufweisen,
um
diesen
Menschen
angemessen begegnen und mit diesen in Dialog treten zu können.
Sektenaussteiger können ihre Vorbehalte und Ängste vor einer
erneuten
religiösen
Bindung
nur
überwinden,
wenn
die
neue
Gemeinschaft ihnen mit Achtung, Offenheit und Ehrlichkeit begegnet.
Werden sich möglichst viele Gläubige ihrer Verantwortung als Christen
bewußt und nehmen diese wahr, können sie sowohl innerhalb ihrer
Gemeinde
als
auch
außerhalb
Zeugnis
von
der
Botschaft
des
Evangeliums geben und auch in ihrem Alltag, in Familie, Freundes- und
Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz auf Menschen
aufmerksam werden, die aus Sekten ausgestiegen sind. Es kommt
äußerst selten vor, daß ein ehemaliger Zeuge Jehovas oder ein
ehemaliger Scientologe von sich aus die Initiative ergreift und sich beim
Pfarrer einer Gemeinde meldet, um in die Kirche und die Pfarrei
aufgenommen zu werden, vorausgesetzt, daß nach einem Ausstieg
überhaupt noch Interesse an religiösen Fragen und Angeboten besteht.
Um kirchlicherseits mit Sektenaussteigern in Kontakt zu kommen und
mit solchen Menschen ins Gespräch zu kommen, sind meist nicht die
sogenannten
Hauptamtlichen,
beispielsweise
die
Pfarrer,
von
entscheidender Bedeutung, sondern jedes Gemeindemitglied, das durch
seine gesellschaftlichen Kontakte im Beruf, also am Arbeitsplatz, im
Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft mit zahlreichen
Menschen, gerade auch außerhalb des Lebensraumes Gemeinde in
Kontakt steht.
Die Kirchengemeinde ist und bleibt zwar der wichtigste Ort der
Weitergabe des Glaubens, die Anwendung des in der Gemeinde
erworbenen Glaubenswissens und die christliche Lebenspraxis zeigen
331
sich aber in den verschiedenen Bereichen des Alltags. Der Christ lebt in
der Kirche und in der Welt. Er trägt somit auch eine doppelte
Verantwortung für Kirche und die Welt außerhalb der kirchlichen
Lebensraumes.
Die christliche Verantwortung für den Glauben und der Einsatz für das
Reich Gottes betrifft jeden getauften Christen. Diese Tatsache bietet die
einmalige Chance, dort, wo ich als Christ im Leben stehe, sei es am
Arbeitsplatz,
sei
es
im
Freundes-
und
Bekanntenkreis,
in
der
Nachbarschaft usw., für meinen Glauben Zeugnis abzulegen und offen zu
sein, für die Nöte und Sorgen der Menschen um mich herum. Vielleicht
ergibt sich gerade in den alltäglichen Bereichen des Lebens die
Möglichkeit, in Kontakt mit Menschen zu treten die negative religiöse
Erfahrungen in Form von Mißbrauch durch eine Sekte gemacht haben.
Haben sich Kontakte zu einem Aussteiger ergeben, so darf das
primäres Ziel der Kirchengemeinde nicht die Absicht der Bekehrung des
aus der Sekte ausgestiegenen und von deren Vorstellungen ja immer
noch irgendwie geprägten Menschen sein, da dieser aufgrund seiner
Sensibilität für Manipulationen und Indoktrination den Kontakt mit solchen
Gemeindemitgliedern rasch abbrechen würde. Die Erfahrungen, die
Sektenaussteiger gemacht haben, dürfen dabei nicht durch überhebliche
Äußerungen,
etwa
Sektenaussteigers
durch
als
eine
leichtgläubige
mögliche
und
Verurteilung
sektenanfällige
des
Person,
herabgestuft und negativ bewertet werden. Dies widerspräche der
Wertschätzung der Person des anderen. Gemeindemitglieder, die sich
Aussteigern annehmen wollen, müssen ein hohes Maß an persönlicher
und
religiös-spiritueller
Reife
und
Empathie
aufweisen,
um
Sektenaussteigern angemessen begegnen, diese beraten und ihnen
Hilfestellungen anbieten zu können. Menschen, die sich in der Gemeinde
um Sektenaussteiger bemühen, müssen ein fundiertes Glaubenswissen
besitzen, da Aussteiger, besonders ehemalige Zeugen Jehovas, dringend
auf klärende Gespräche über Glaubensfragen angewiesen sind. Sie
haben, wenn auch durch die WTG verzerrte, so doch fundierte
Bibelkenntnisse und damit einhergehende Probleme und Fragen, denen
sich Gesprächspartner aus den Kirchengemeinden stellen müßten. Daß
332
es um das Glaubenswissen in vielen Gemeinden nicht sehr gut bestellt ist,
machen die Ergebnisse des Pastoralgespräches deutlich, wenn dort über
eine oftmals unzureichende religiöse Bildung der Gläubigen geklagt wird
und zur Behebung dieses Mißstandes die Einrichtung von Seminaren und
Glaubensschulungen gefordert wird. In einer Kirchengemeinde sollte es
mindestens ein bis zwei Ansprechpartner geben, die über solche
Fähigkeiten im besonderen Maß verfügen, die für das Gespräch mit
Aussteigern unerläßlich sind. Bei Aussteigern aus Scientology ist das
Bedürfnis nach religiöser Anbindung und Klärung von biblischen Fragen
meist viel geringer, was vor allen Dingen auf das Lehrsystem der
Scientology-Organisation zurückzuführen ist, in dem biblische Lehren
keine Rolle spielen. Ein weiteres akutes Problem von Aussteigern, dem
sich eine Kirchengemeinde stellen müßte, ist das Verhältnis zwischen der
eigenen Organisation und der Welt, also den Menschen außerhalb der
eigenen Reihen. Während der Zeit der Sektenmitgliedschaft erfolgte eine
strikte Trennung der beiden Bereiche, was sich sowohl bei den Zeugen
Jehovas als auch bei Scientology deutlich gezeigt hat.
Dies kommt vor allem in der von der Sekte propagierten negativen
Weltsicht zum Ausdruck. Die Welt außerhalb der WTG gilt als böses,
gottfeindliches, dem Einfluß Satans unterworfenes System. Dagegen stellt
die eigene Organisation die ideale, Gott wohlgefällige und durch ihn
legitimierte perfekte Gesellschaft dar, der sich jeder anzuschließen hat.
Für die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern stellt sich
daher die entscheidende Frage nach der Bewertung der eigenen Gruppe
und der übrigen Menschen. Hierbei ergibt sich für ein Gespräch mit
Sektenaussteigern ein zentrales Problem: Wie sollen religiöse und
weltliche Vorstellungen, die sich für die meisten Christen innerhalb der
Kirchengemeinden nicht ausschließen, zusammengebracht werden? Die
Weltzugewandtheit der katholischer Christen stellt Sektenaussteiger vor
enorme Probleme, was sich am eindringlichsten am Beispiel des Feierns
von Karneval aufzeigen läßt. Bei der Lösung dieses und anderer
Probleme muß ein Christ über ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen
und
Fingerspitzengefühl
verfügen.
Pauschale
Verurteilungen
der
333
Sektenlehre sind nicht ratsam, da sich der Aussteiger immer noch in
einem gewissen Maß mit dieser identifizieren kann.
Viele Probleme und Fragen von Aussteigern beruhen auf dem von der
Sekte vermittelten Gottesbild und der damit verbundenen negativen
Einstellung zur Welt.
Ein rächend-strafendes Gottesbild, wie es für die meisten Zeugen
Jehovas charakteristisch ist, bedarf daher unbedingt einer Korrektur.
Dies kann durch spezielle therapeutische Maßnahmen geschehen, wie
das therapeutische Vorgehen von Jörg Müller in Form der Methode der
Jesus-Imagination gezeigt hat, aber mehr noch ist darüber hinaus die
konkrete Kirchengemeinde aufgefordert, den Gedanken eines liebenden,
fürsorglichen
und
versöhnlichen
Gottes
durch
ihr
persönliches
Lebenszeugnis zu verkünden. Daß die Motivation der Christen in den
Kirchengemeinden nicht auf einer Furcht vor dem Eingreifen Gottes
beruht, können die Aussteiger im Umgang der Mitglieder untereinander
erfahren. Verkündigung, Predigt und persönliches Lebenszeugnis bilden
also eine nicht zu trennende Einheit.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem
Umgang mit Konflikten. Sektenaussteiger haben in diesem Bereich sehr
viele negative Erfahrungen gemacht. Ein notwendiges Austragen von
Konflikten wurde bisher durch Verordnungen und Gesetze verhindert. Da
die Sektenmitglieder über ihre Tätigkeit und negativen Erlebnisse nicht
ausreichend reflektieren können und persönliche Bedürfnisse allen
Tätigkeiten für die Sekte unterzuordnen sind, ist das Konfliktpotential sehr
groß. Die nicht erfolgte Austragung von Konflikten führt zu deren
Verdrängung
und
ist
die
Hauptursache
für
psychosomatische
Beschwerden.
Der Umgang mit Enttäuschungen, mit Kritik, mit eigenen Schwächen
und Fehlern, kann nur dort zufriedenstellend ausgetragen werden, wo
Menschen sich diesen Dingen offen und ehrlich stellen. Sektenaussteiger
müssen dabei erfahren, daß der Wert und die Annahme der eigenen
Person durch Gott nicht auf religiösen Leistungen beruht. Das persönliche
Heil
kann
man
sich
nicht
durch
Leistungsfrömmigkeit
erkaufen.
334
Persönliches Versagen stellt in diesem Zusammenhang keine Minderung
des Persönlichkeitswertes dar.
Die Fehlerhaftigkeit, die sich in der Kirche und deren Gemeinden zeigt,
darf nicht überspielt oder verdrängt werden.864 Die WTG und Scientology
werden als perfekte, ideale Systeme dargestellt, die die Mitglieder mit
überhöhten Leistungsanforderungen nicht nur motivieren, sondern auch
entmutigen, um sie um so stärker an die Sekte zu binden. Die
Überforderung der Mitglieder und die damit verbundene Unmöglichkeit
des
Erreichens
bestimmter
Ziele
zieht
ein
Ausbleiben
von
Erfolgserlebnissen nach sich. Bei einem Gespräch mit Aussteigern
müssen Christen der Kirchengemeinde Aussteigern vermitteln, daß das
Erfüllen von Gesetzen und Vorschriften, die ja auch in der Kirche
existieren, nicht zu einem krankmachenden, durch Leistungen geprägten
Verhalten führen dürfen. Gott fordert keine perfekten Leistungen, der
Mensch steht nicht innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden, um im
Konkurrenzkampf mit anderen irgendwelche fragwürdigen Gesetze und
Vorschriften zu erfüllen. Lebendiger Glaube erfordert vielmehr eine
zeitweise Reflexion über das eigene Leben, dabei spielen das Bemühen
des Menschen und vor allem das persönliche Gewissen eine zentrale
Rolle. Das persönliche Gewissen ist letztlich die Instanz, vor der ein Christ
seine Entscheidungen rechtfertigen muß. Die Furcht vor möglichen
Sanktionen, wie bei den Sekten sollte in der Kirchengemeinde keine Rolle
spielen. Sektenaussteiger benötigen also ein Umfeld, das auf ihre
persönlichen Fragen und Problemen angemessen reagieren kann und
Hilfestellung bieten kann. Dies bedeutet für die Kirchengemeinden eine
große Herausforderung. Die von Zulehner aufgeworfenen und von den
Votanten des Pastoralgesprächs aufgegriffenen Elemente für eine
Gemeindeerneuerung sind hilfreiche Anregungen, um dem Ziel der
angemessenen
Begegnung
und
eventuell
einer
Aufnahme
von
Sektenaussteigern in unsere Kirchengemeinden näher zu kommen. Ob
unsere Gemeinden Aussteigern letztlich eine neue Heimat bieten können,
864
Auch in den Voten des Pastoralgespräches wird das Verdrängen von Fehlern in den
kirchlichen Reihen beklagt. Dies trägt nach Meinung der Votanten zur
Unglaubwürdigkeit der Kirche nach außen hin bei.
335
hängt neben der Lösung der dargelegten Fragen und Probleme von
Aussteigern und der Reaktion der Gemeinden auf diese nicht zuletzt von
der
für
den
Glauben
entscheidenden
Gnade
Gottes
ab.
Die
Kirchengemeinden können auf jeden Fall einiges tun, um diesen Prozeß
voranzubringen.
Neben den von Zulehner empfohlenen und von den Votanten des
Kölner Pastoralgespräches geforderten Veränderungen innerhalb der
Kirche und den Kirchengemeinden soll in einem letzten Abschnitt auf die
Kirche Brasiliens und die diese prägende Theologie der Befreiung
eingegangen werden. Die Kirche Brasiliens wird oft als eine Kirche auf
dem Weg zu den Menschen bezeichnet und verwirklicht den für unsere
Gemeinden
notwendigen
Gedanken
der
in
den
Voten
des
Pastoralgespräches mit dem Begriff „Geh-Hin-Kirche“ bezeichnet worden
ist.
Nach
einer
Darlegung
zentraler
Gesichtspunkte
des
befreiungstheologischen Konzeptes soll anschließend auch hier nach
Anknüpfungspunkten gefragt werden, die für eine Gemeindeerneuerung
im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern
relevant sein können sowie für die grundlegende Frage nach der
Motivation eines solchen Anliegens.
3 Die Kirche Brasiliens als Beispiel für eine Kirche
auf dem Weg zu den Menschen
Indem sich die Kirche für eine gerechte Verteilung von Lebenschancen,
für
Menschenwürde
und
Gerechtigkeit
einsetzt,
erfüllt
sie
einen
entscheidenden Teil ihres missionarischen Auftrags. Dies geschieht
jedoch nie losgelöst vom Evangelium Jesu Christi, welches das
Fundament ihrer Existenz und die Richtschnur für die Evangelisierung der
Kirche und der Welt darstellt.
Am Beispiel der Kirche Brasiliens wird deutlich, wie sich ein
Bewußtseinswandel
der
Armen
und
Unterdrückten
innerhalb
der
Gesellschaft und der Kirche vollzogen hat. Diese im folgenden
336
dargestellten Veränderungen hin zu einer Kirche für die Menschen wären
ohne die Theologie der Befreiung nicht denkbar. Deshalb sollen einige
Grundzüge
der
Befreiungstheologie,
wie
sie
für
Lateinamerika
charakteristisch ist, aufgezeigt werden und anschließend danach gefragt
werden, welche Bezugspunkte es im Hinblick auf eine Veränderung der
kirchlichen Situation in Deutschland gibt, um auch bei uns der Kirche
einen neuen Weg zu den Menschen aufzuzeigen.
3.1 Die Befreiungstheologie als Begriff
„Befreiung“
ist
der
zentrale
und
namengebende
Begriff
der
Befreiungstheologie. Doch wovon soll befreit werden? Es existieren vor
allem drei Ebenen auf denen eine Befreiung stattfinden kann.
Die erste Ebene stellt eine Befreiung von politischer, wirtschaftlicher
und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit dar. Dabei geht es um die
Befreiung der Menschen von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung.
Ungerechte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen
sollen
aufgedeckt
und
verändert
werden.
Die
Abhängigkeit
und
Unterdrückung der Länder der dritten Welt sind hierfür ein gutes Beispiel.
In Hinblick auf diese Länder läßt sich sagen: „Befreiung hieße hier
konkret, Strukturen zu schaffen, die eine Abhängigkeit möglichst
ausschließen, so daß die eigenständige Entwicklung eines jeden Landes
gewährt wäre [...].“865
Die
alleinige
Veränderung
von
Strukturen
wäre
jedoch
nicht
ausreichend, um eine wirkliche Verbesserung der Lebensqualität und ein
Ende von Ausbeutung und Unterdrückung zu gewährleisten. Die
Veränderung des menschlichen Denkens muß ebenfalls erfolgen. „Da den
Strukturen menschliches Denken und Handeln zugrunde liegt und die
Strukturen umgekehrt die in ihnen lebenden Menschen beeinflußt, also
eine
865
Wechselwirkung
vorhanden
ist,
müssen
die
Vgl. Kinzel, Klaus-Michael, Befreiungstheologie in Deutschland?
(Religionspädagogische Perspektiven, Bd. 23), Essen 1995, 13f.
Befreiung
von
337
ungerechten Strukturen und die Befreiung des Menschen zeitgleich
verlaufen [...].“866
Die Veränderung des menschlichen Denkens und Handelns stellt also
die zweite Ebene für eine Befreiung dar. Schließlich ist das getrübte
Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen zu nennen. Eine wesentliche
Sünde besteht im eigenen Egoismus, der nur auf den eigenen Vorteil auf
Kosten der anderen Menschen bedacht ist.
Die Theologie der Befreiung bezieht alle drei genannten Ebenen in ihr
Blickfeld ein und versucht, sündhafte Verhaltensweisen und ungerechte
Strukturen aufzudecken und ihnen auf der Grundlage des christlichen
Glaubens entgegenzutreten.
3.2 Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie
Mit der Eroberung des südamerikanischen Kontinents durch Spanier
und Portugiesen begann auch die Missionierung der einheimischen
Bevölkerung und ihre Bekehrung zur katholischen Kirche. Die Eroberer
waren die neuen Herren der unterjochten Völker und auch viele
Missionare machten sich die militärische und vermeintlich kulturelle
Überlegenheit der europäischen Kultur zunutze, um die Urbevölkerung der
katholischen Kirche zuzuführen. Es kam allerdings immer wieder zu einem
Aufbegehren
gegen
das
unmenschliche
und
von
Brutalität
gekennzeichnete Vorgehen der Eroberer, dem christliche Missionare wie
der Dominikaner Bartolomé de Las Casas entgegentraten. Über die
persönliche Bekehrung des Bartolomé de Las Casas von einem
Plantagenbesitzer zu einem Verteidiger der Rechte der indianischen
Bevölkerung
Südamerikas
berichtet
Leonardo
Boff,
einer
der
bekanntesten Vertreter der Befreiungsstheologie: „Bevor Bartolomé de
Las Casas (1484 – 1566) Dominikaner, Bischof von Chiapas und großer
Verteidiger der Urbevölkerung wurde, war er selbst in Hispaniola (heute
Dominikanische Republik) Besitzer einer Kommende mit zahlreichen
866
Kinzel, 14.
338
Sklaven gewesen. 1502 kommt Las Casas nach Hispaniola. Dort hört er
1510 Fray Pedro de Córdoba seine berühmte Predigt über die Lage der
Ureinwohner halten. Die Predigt legt in ihm das Samenkorn zu seiner
Bekehrung. Vier Jahre später verzichtet er auf die Kommende und
entwickelt sich fortan zu einem großen Verteidiger der einheimischen
Bevölkerung.“867
Doch im großen und ganzen blieb die Kirche Lateinamerikas eine
Kirche
der
Herrschenden.
Urbevölkerung,
jedoch
Es
blieben
erfolgten
die
zwar
Massentaufen
Menschen
meist
ohne
der
eine
angemessene Seelsorge sich selbst überlassen und pflegten weiterhin
ihre traditionellen religiösen und kulturellen Bräuche.
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschah dann eine
einschneidende
Veränderung
des
Denkens
und
Handelns
der
katholischen Kirche Südamerikas. Ursachen dieser Veränderung war vor
allem die in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts
erfolgte Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Lage
Brasiliens. Die Welt wurde der wirtschaftlichen Situation entsprechend in
eine erste, zweite und dritte Welt eingeteilt, zu welcher auch der
südamerikanische Kontinent zählt.
Die Drittweltländer gerieten in eine zunehmende finanzielle und
wirtschaftliche
Abhängigkeit
der
Erstweltländer.
Einer
kleinen,
vermögenden und unterdrückenden Oberschicht stand zunehmend die
Masse
der
gegenüber.
verarmten
Dies
unterdrückten
veranlaßte
einige
und
rechtlosen
Bischöfe,
die
Bevölkerung
Ursachen
der
bedrückenden Entwicklung zu erforschen. Auch christliche Gruppierungen
und Vereine, allen voran die „Katholische Aktion“, engagierten sich für die
Belange der verelendeten Menschen. „Diese [= Katholische Aktion], und
das ist für das richtige Verständnis von Befreiungstheologie wichtig,
beschränkte ihr Wirken ebenfalls nicht auf den kirchlichen Binnenraum,
sondern war vorwiegend in den Landarbeitergewerkschaften tätig [...].“868
Doch die gesellschaftliche und politische Lage verschlechterte sich derart,
867
Vgl. Boff, Leonardo, Gott kommt früher als der Missionar. Neuevangelisierung für eine
Kultur des Lebens und der Freiheit, Düsseldorf 1991, 131ff.
868
Vgl. Kinzel, 20.
339
daß immer mehr Priester und Bischöfe sich mit den Armen und
Unterdrückten solidarisierten und das die Mächtigen unterstützende
System kritisch hinterfragten. Mit dem Interesse und dem Einsatz vieler
Priester und Bischöfe für das arme Volk wuchs zugleich der Einfluß und
das Engagement der einfachen Menschen in und für die Kirche. Man kann
daher sagen: „Die Theologie der Befreiung ist also nicht eine am
Schreibtisch von Theologen entstandene Theologie, die ein Konzept für
die Unterstützung der Armgemachten darstellen soll, sondern eine
Theologie, die als Reflexion auf den Befreiungskampf der unterdrückten
Massen aus der Sicht des Evangeliums der Armen gesehen werden muß
[...].“869
Die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erfolgten Reformen
innerhalb der Kirche ließen auch die Theologie der Befreiung in höherem
Maß als bisher zum Gegenstand des Interesses der Kirche werden. In den
Jahren 1968 und 1979 fanden Generalversammlungen der Bischöfe
Lateinamerikas statt, bei denen die Befreiungstheologie im Mittelpunkt
stand. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es jedoch
zunehmend zu Spannungen mit dem Vatikan, wobei die Nähe der
Befreiungstheologie zum Kommunismus für den Vatikan ein wesentlicher
Stein des Anstoßes war. Diese Auseinandersetzungen hatten eine
Besetzung wichtiger Bischofsstühle Lateinamerikas mit Bischöfen zur
Folge,
die
die
Befreiungstheologie
ablehnten.
Auf
der
vierten
Generalsynode in Santo Domingo führten die Auseinandersetzungen über
die
Befreiungstheologie
schließlich
zu
einer
Spaltung
dieser
Versammlung. Das damals herrschende frostige Klima läßt sich wie folgt
beschreiben: „Zwei Richtungen der lateinamerikanischen Kirchen standen
sich dort gegenüber: die befreiungstheologische Richtung mit ihrer Option
für die Armen und eine Richtung, die die vatikanischen Positionen
vertrat.“870
Diese beiden Richtungen kennzeichnen bis heute
lateinamerikanischen Kirche.
869
870
Kinzel, 21.
Ibid., 22.
die Situation der
340
3.3 Charakteristika der Theologie der Befreiung
3.3.1 Entwicklung und Gesellschaft
Die Entwicklungstheorie sieht die Armut der Entwicklungsländer als
unterste Stufe auf dem Weg zu einer entwickelten und fortschrittlichen
Industriegesellschaft an. Durch Entwicklungshilfe sollten die Länder der
dritten Welt nach und nach den Lebensstandard der Erstweltländer
erreichen. Auf diesem Wege wolle man allen Menschen zu Wohlstand
verhelfen.
Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Befreiungstheologie
übernahm daher die Dependenztheorie (Theorie der Abhängigkeit der
dritten Welt von den Industrieländern), die die Hauptursache aller
Ungerechtigkeit in einem „Ungleichgewicht zwischen Erster und Dritter
Welt“
sieht.
Deshalb
macht
auch
die
Befreiungstheologie
das
Weltwirtschaftssystem für die politischen und wirtschaftlichen Mißstände
Lateinamerikas verantwortlich.871
3.3.2 Option für die Armen
Hunger und Armut in der Welt sind nach Überzeugung der
Befreiungstheologen nicht gottgewollt. Armut wird hierbei nicht nur als
materielle
Armut
gesehen,
sondern
meint
auch
gesellschaftliche
Diskriminierung in Form von rassischer, ethischer und sexueller
Unterdrückung. Armut ist in Beziehung zum ganzen Menschen zu sehen.
„So gehören zu den Folgeerscheinungen von Armut oftmals auch z.B.
zerrüttete Familien, weil sie durch die zusätzlichen Belastungen
auseinandergebrochen sind.“872
Kirchliche Hilfe für Arme und Unterdrückte ist meist Hilfe zur Selbsthilfe.
Die moralische Aufrichtung, die geistige Unterstützung in Form eines
neuen Selbstbewußtseins ist ein entscheidender Schritt zur Verbesserung
871
872
Kinzel, 25.
Ibid., 27.
341
der Situation. Christliche Selbsthilfegruppen und Gewerkschaften stärken
das
Zusammengehörigkeitsgefühl
und
stellen
den
Menschen
ein
gemeinsames Ziel vor Augen. Doch die Veränderungen sollen vor allem
auch auf der Grundlage des Evangeliums erfolgen. „Eine Option für die
Armen ist nach Ansicht der Befreiungstheologen nicht allein durch eine
ethisch begründete Betroffenheit
und auch nicht allein durch ein
bestimmtes Glaubensverständnis gedeckt, sondern auch durch die Bibel
selbst.“873 Denn Gott ist es, der die Armen letztlich befreit und ihnen ein
neues, freies und selbstgestaltetes Leben ermöglicht.
3.3.3 Die Bedeutung der lateinamerikanischen
Basisgemeinden und ihre Stellung gegenüber den
Pfarreien und der Gesamtkirche
Die Basisgemeinschaft kann als „organisatorische Form“ des konkreten
„brüderlichen Lebens in Jesus Christus“ in der Welt verstanden werden.874
Die
in
Brasilien
und
anderen
lateinamerikanischen
Ländern
anzutreffenden Basisgemeinden sind ein solidarischer Zusammenschluß
derjenigen Menschen, die von ungerechten wirtschaftlichen, politischen
und
gesellschaftlichen
Zusammenschluß
der
Strukturen
Betroffenen
betroffen
findet
in
sind.
den
„Dieser
einzelnen
Basisgemeinden, die in der Regel aus 20-30 Familien bestehen und
vornehmlich auf dem Land und den Favelas der Städte zu finden sind,
seine Konkretisierung [...].“875 Die Theologie der Befreiung kommt in den
Basisgemeinden praktisch zur Anwendung. Die Mitglieder der kleinen
überschaubaren Gruppen dieser Gemeinden tragen dasselbe Schicksal.
Sie leiden unter Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Unterbezahlung. Der
Zusammenschluß
zu
einer
Basisgemeinde,
die
auch
eine
Lebensgemeinschaft einschließt, geschieht aus gemeinsamer Not heraus,
wobei der christliche Glaube die innere Antriebskraft und die Garantie
873
Kinzel, 29.
Vgl. Piepke, Joachim G., Die Kirche auf dem Weg zum Menschen. Die Volk-GottesEkklesiologie in der Kirche Brasiliens, Immensee 1985, 210.
875
Vgl. Kinzel, 31.
874
342
hierfür darstellt, ja noch mehr: „Die Basisgemeinschaft stellt die eigentliche
Hauskirche dar, wie sie seit den Anfängen des Christentums bekannt ist,
weil sie sich auf das Fundament der Familiengemeinschaft und ihrer
Solidarität gründet.“876 Die Überforderung der Einzelfamilie in bezug auf
eine Erstevangelisierung aufgrund der allgemeinen Wertediffusion fordert
alternative
Strukturen,
um
Menschen
aus
ihrer
Anonymität
der
Massengesellschaft und aus ihren Nöten zu befreien. Die Schaffung neuer
gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens in der Gestalt von
Basisgemeinden, in welchem auch der Glaube wachsen und reifen kann,
vermittelt eine neue Art der Sinngebung und dient der Wahrnehmung der
eigenen Verantwortung für Kirche und Welt. Der eigentliche Grund für die
Entstehung der Basisgemeinschaften liegt in der pastoralen Notsituation
Brasiliens begründet. Der immer akuter werdende Priestermangel als
Symptom einer Überforderung der traditionellen Kirchenstruktur führte in
Brasilien zu einem vermehrten Engagement der Laien, um die pastorale
Betreuung auch weiterhin gewährleisten zu können. „Die Aktivierung der
Basisgemeinschaften bedeutet für die kirchliche Hierarchie eine aktuelle
pastorale Antwort auf die allmähliche Entfremdung des Volks von der
Kirche
und
eine
neue
konkrete
Möglichkeit,
die
Botschaft
des
Evangeliums im Alltag der modernen Gesellschaft einzupflanzen.“877
Durch die Schaffung von Basisgemeinden als Ergänzung zur
traditionellen
Pfarrei
wird
die
Pfarrei
wesentlich
entlastet.
Die
Basisgemeinschaft schlechthin existiert allerdings nicht. Jede dieser
Gemeinschaften muß auf die spezifischen Probleme, auf das Suchen und
Fragen, an das jeweilige Umfeld ihrer Mitglieder angepaßt sein. Trotz ihrer
Unterschiedlichkeit ist jede Basisgemeinschaft eine Kirche im eigentlichen
Sinne. Sie bleibt mit dem hierarchischen Amt der Kirche, das heißt mit
Priestern und Bischöfen, eng verbunden. Durch die Nähe zu allen
Menschen, durch die Teilnahme am Leben der Kirche und der Welt, wird
eine Abkapselung und einem Sonderdasein entgegengewirkt. Die
Solidarität untereinander bewirkt auch eine Stärkung des einzelnen
Menschen, der innerhalb der Gruppe ein neues Selbstbewußtsein und
876
877
Vgl. Piepke, 210.
Ibid., 211.
343
Selbstwertgefühl entwickeln kann. Vor allem aber kommt hier die
gemeinschaftliche solidarische Sichtweise des christlichen Glaubens und
des Evangeliums zum Tragen, indem Gottes Wort im Alltag erfahr- und
erlebbar wird.
Der Glaube bekommt eine verändernde und aktuelle Bedeutung für das
Alltagsleben. „Damit wird ein Glaubensverständnis, das eventuell mehr auf
das Jenseits bezogen war, auf das Diesseits verlagert. Durch die
regelmäßigen Treffen und das gemeinsame Angehen von Problemen
verbessert sich auch das Miteinander. Es entsteht eine Solidarität der
Basisgemeindemitglieder, die sich auch auf die weitere Umgebung
übertragen kann [...].“878
Die Beurteilung der gesellschaftspolitischen Situation aus der Sicht der
Bibel bewirkt ein Politisierung des Glaubens, wodurch der christliche
Glaube zu einem entscheidenden Faktor in der Gesellschaft wird. Die
gegenseitige Durchdringung von Glaube und Leben verringert die Distanz
zwischen Priestern und Gläubigen, die in Deutschland beispielsweise
oftmals als hinderlich empfunden wird. Verglichen mit der Gesamtkirche
Brasiliens sind die Basisgemeinden nur eine Minderheit innerhalb der
katholischen
Kirche
Brasiliens,
Repressionsmaßnahmen
der
jedoch
mit
Regierung
großer
und
die
Wirkung.
Die
zahlreichen
lateinamerikanischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts lassen die Gefahr
dieser Gemeinden für die Herrschenden und ein auf Ausbeutung und
Unterdrückung gegründetes System deutlich werden. „Das Ideal der
Heiligkeit, das in der Basisgemeinschaft angestrebt wird, besteht in der
sich aufopfernden Hingabe für die Brüderlichkeit, welche Verfolgung,
Verlust des Arbeitsplatzes, Verzicht auf ein bequemes Leben, sogar
Gefängnis und Folter auf sich nimmt.“879
Die gelebte Brüderlichkeit läßt die Katholizität der Basisgemeinschaften
besonders deutlich werden, da durch sie alle Bevölkerungsgruppen, vor
allem aber die Masse des armen Volkes erreicht werden. „Das Reich
Gottes mit seiner Forderung zur Umkehr und zur Hinkehr zu den Werten
878
879
Vgl. Kinzel, 32.
Vgl. Piepke, 213.
344
des Evangeliums wird gleichermaßen allen angeboten.“880 Durch die
Einheit von Glaube und Leben werden auch nicht religiös gebundene oder
religiös anderweitig orientierte Menschen erreicht. Hierbei steht weniger
der Glaube in Form der Lehre im Vordergrund, als vielmehr die
Übereinstimmung des Geglaubten mit der eigenen Lebenspraxis.
Innerhalb der Gesamtkirche sind die Basisgemeinschaften in ihrer
Verbindung zu den geweihten Amtsträgern der Priester und Bischöfe ein
authentisches Glaubens- und Lebenszeugnis der Kirche. „Auch die kleine
Gemeinschaft
der
Gläubigen
gibt
Zeugnis
der
Einheit,
der
Mitverantwortung, des Sich-verstehens, der Mitarbeit, der Integration und
des organischen Wachstums auf allen Ebenen kirchlicher Existenz und
Dienstes.“881
Der
im
Neuen
Testament
geforderte
Einsatz
der
verschiedenen Charismen kann in der Basisgemeinde in einzigartiger
Weise verwirklicht werden. Die Kirche ist hier nicht bloß in statischinstitutioneller Weise vorhanden, etwa durch den bloßen Vollzug der
offiziellen Liturgie, sondern „sie wird zum Ereignis, sie geschieht in der
Zelebration des alltäglichen Lebens des Volks, das in Wort und Sakrament
Gottes Menschwerdung und Christi Auferstehung als Zeichen der
Hoffnung einer besseren Welt und der Verpflichtung auf ein brüderliches
Hier und
Heute inmitten einer anonymen Masse einpflanzt, um die
Nachfolge Christi im radikalen Dienst am Mitmenschen zu vollziehen.“882
880
Piepke, 213.
Ibid., 214.
882
Ibid., 215.
881
345
3.4 Befreiungstheologische Anknüpfungspunkte für eine
Verbesserung der kirchlichen Situation in Deutschland
im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit
Sektenaussteigern sowie eine mögliche Integration von
Aussteigern in Kirchengemeinden
Das zentrale Anliegen der Theologie der Befreiung stellt die Befreiung
des Menschen von politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Ungerechtigkeit dar. Dabei spielt die Befreiung von Armut, Unterdrückung
und Ausbeutung eine zentrale Rolle.
Dieses Anliegen konkretisiert sich besonders in der Option für die
Armen, wobei unter Armut nicht nur ein Mangel im materiellen Bereich zu
verstehen ist, sondern Armut wirkt sich auf den ganzen Menschen aus
und schließt auch schwierige Lebenssituationen von Menschen in Form
von seelischen und religiösen Nöten mit ein. Diese umfassende
Sichtweise von Armut bietet einen entscheidenden Anknüpfungspunkt für
die Frage, welche möglichen Aspekte der Theologie der Befreiung hilfreich
sein können, um eine Verbesserung der Situation unserer deutschen
Kirchengemeinden im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit
Sektenaussteigern zu erzielen, um diese eventuell in eine
Kirchengemeinde aufnehmen zu können. Sektenaussteiger sind
Menschen, die auch nach einem Ausstieg vielfältige Probleme und Fragen
mit sich herumtragen. Die Situation von Aussteigern ist dabei manchmal
von materieller Not geprägt, besonders, wenn ein ehemaliges Mitglied
innerhalb der Sekte eine Vollzeittätigkeit ausgeübt hat, aber mehr noch ist
sie geprägt von seelischen und religiösen Nöten, von Problemen und
Fragen, denen sich eine Kirchengemeinde im Falle des Kontaktes mit
Aussteigern stellen muß. Welchen Beitrag für eine Motivation sich um
Aussteiger zu bemühen und welche möglichen Hilfen für ein fruchtbares
Gespräch beziehungsweise für eine eventuelle Aufnahme von Aussteigern
in eine Gemeinde lassen sich anhand der Theologie der Befreiung
entwickeln?
Bei der Option für die Armen stellt neben der materiellen Unterstützung
die moralische Aufrichtung, die geistige Unterstützung in Form eines
346
neuen Selbstbewußtseins einen entscheidenden Schritt zur Verbesserung
der Lage von in Not geratenen Menschen dar. Grundlage für jeglichen
Einsatz für solche Menschen ist das Evangelium, denn nach christlicher
Überzeugung ist es letztlich Gott, der die Armen befreit und das
menschliche Leben von Grund auf erneuert. Daß dies durch konkrete
Menschen geschieht, liegt auf der Hand. Ungerechte Zustände, Leiden
und Not sind keine gottgewollten Zustände und erfordern daher den
Einsatz der Christen für in Not geratene Menschen um des Evangeliums
willen. Unerläßlich für eine effiziente Hilfe ist neben der materiellen
Unterstützung eine Veränderung des menschlichen Denkens und
Handelns und ein daraus erwachsendes neues Verhältnis zu Gott und den
Mitmenschen. Gerade Sektenaussteiger als Menschen, denen diese
Option für die Armen gelten soll, sind auf die Hilfe von aktiven Christen
angewiesen. Das Bewußtsein, das die ganze Gemeinde Träger des
Geistes Gottes ist, daß sie somit als ganze Verantwortung für die Kirche
und die Welt trägt, ist die Voraussetzung für eine solche Forderung einer
Option für die Armen, das heißt, eines konkreten Einsatzes für diese
Menschen. Die Verbindung von Glaube und Leben, das heißt die positiven
Auswirkungen des Glaubens in den Situationen des Alltags, die in den
Ausführungen über die Theologie der Befreiung und die Basisgemeinden
deutlich wird, ist ein entscheidender Faktor, um für die Not von Menschen
in allen Lebensbereichen sensibel zu sein, in der Verwandtschaft, im
Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz.
Da Sektenaussteiger in den seltensten Fällen auf den Pfarrer, Diakon,
Pastoralreferenten oder andere Gläubige zugehen, um von diesen
Hilfestellungen in Bezug auf Glaubens- und Lebensfragen zu erbitten,
muß die Kirche, im Sinne einer Geh-Hin-Kirche auf die Menschen
zugehen und in den alltäglichen Begegnungen offen sein für die Anliegen,
Sorgen
und
Nöte
der
Mitmenschen.
Dies
erfordert
von
Gemeindemitgliedern neben einem religiösen Wissen ein hohes Maß an
geistig-spiritueller Reife, man könnte sagen, eine Spiritualität des Alltags,
eine Sensibilität für das Wirken Gottes, für Gotteserfahrungen inmitten des
alltäglichen Miteinanders in sämtlichen Lebenssituationen. Der von der
Theologie der Befreiung ausgehende Gedanke der Einheit von Glaube
347
und Leben, einem Glauben, der mit Verantwortung für die Kirche und die
Welt einhergeht, und für dessen Glaubwürdigkeit eine Option für die
Armen wesentlich ist, kann sich gerade im Einsatz für Sektenaussteiger
konkretisieren. Eine angemessene Begegnung mit Aussteigern, ein
fruchtbares Gespräch mit diesen im Hinblick auf eine mögliche Integration
solcher Menschen in eine Kirchengemeinde kann nur gelingen, wenn eine
Gemeinde sich mit diesen Menschen solidarisiert, das heißt, wenn sie
diese Menschen ernstnimmt, wenn sie diese trägt, wenn Aussteiger
erfahren können, daß eine Gemeinde ein Ort ist, an dem offene
Begegnungen und positive Gotteserfahrungen möglich sind, daß eine
Gemeinde glaubwürdig ist durch das Wahrnehmen von Verantwortung,
durch ihr konkretes Handeln. Auf diese Weise können auch unsere
Kirchengemeinden
zu
Orten
des
Glaubens
werden,
die
ihren
missionarischen Auftrag im Sinne eines Hin-Gehens zu den Menschen
glaubwürdig erfüllen.
4 Ausblick: Christliche Spiritualität des Alltags auf
der Grundlage des „Dreifachen Weges“ nach Henri
J. M. Nouwen – ein bedenkenswerter Ansatz für
unsere Kirchengemeinden im Hinblick auf Probleme
und Fragen von Sektenaussteigern und ihre
mögliche Integration in unsere Gemeinden
Um Sektenaussteigern angemessen begegnen zu können, sich ihren
Problemen und Fragen zu stellen, ist es entscheidend, ihnen zunächst das
Gefühl des Angenommenseins, des Willkommenseins zu vermitteln, man
kann mit Henri Nouwen sagen, ihnen ein guter Gastgeber zu sein. In
seinem Buch „Der dreifache Weg“ beschreibt Nouwen mit spiritueller Tiefe
und Klarheit einen dreifachen Weg geistlichen Lebens: von der Einsamkeit
zur stillen Einkehr, von der Feindseligkeit zur Gastfreundschaft, von der
Illusion zum Gebet. Nouwen ist der Ansicht, daß dieser von ihm
dargelegte dreifache Weg notwendig ist, um zu einem wirklichen
geistlichen Leben zu finden, das sich zeigt in der Kenntnis und Annahme
348
der eigenen Person, in der Liebe zu unseren Mitmenschen und in einer
Beziehung zu Gott, die durch das Gebet getragen wird. Ich möchte hier
besonders
den
herausgreifen
Gedanken
und
ihn
in
der
Liebe
Beziehung
zu
unseren
setzen
zur
Mitmenschen
Situation
von
Sektenaussteigern.
Die Liebe zu den Mitmenschen kommt besonders dort zum Ausdruck,
wo
wir
unseren
ausschlaggebend,
Mitmenschen
gute
inwieweit
als
wir
Gastgeber
Christen
in
sind.
der
Dabei
Lage
ist
sind,
Feindseligkeit in Gastfreundschaft zu verwandeln.
Fremde Menschen und Dinge lösen beim Menschen oft ein Gefühl der
Unsicherheit, der Angst und daraus resultierende Feindseligkeit aus, die
eine Abwehr des unangenehmen Gefühls der Unsicherheit und Angst ist.
Fremdheit schließt dabei ebenso den Prozeß der Entfremdung mit ein. Die
Feindseligkeit aufgrund von Entfremdung und deren Folgen für das
menschliche Leben beschreibt Nouwen wie folgt: „In unserer Welt mit ihrer
Fülle von Fremden, die ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Kultur und ihrer
Heimat, ihren Nachbarn, Freunden und Verwandten, ja, sogar ihrem
eigenen Ich und ihrem Gott fremd geworden sind, können wir beobachten,
wie man unter Schmerzen nach gastlichen Stätten sucht, an denen man
ohne Furcht sein kann.“883 Die Pflicht eines Christen besteht nach Nouwen
darin, diesen Fremden eine Tür zu öffnen und ihnen ein Heim und eine
Heimat zu bieten. Dies geschieht nach Nouwen durch das Ablegen der
Fremdheit, wodurch die anderen zu unseren Mitmenschen werden. Diese
Aussagen von Nouwen bieten eine hilfreiche Anknüpfungsmöglichkeit im
Hinblick
auf
die
Situation
von
Sektenaussteigern.
Auch
der
Sektenaussteiger ist für die Christen einer Gemeinde zunächst einmal ein
Fremder, ein Mensch, der aufgrund des Lebens in und für die Sekte auch
nach seinem Ausstieg von den Erfahrungen mit der Sekte und bestimmten
Verhaltensweisen geprägt ist. Ebenso sind die Christen für den
Sektenaussteiger Fremde, denen nicht zuletzt durch die Herabsetzung der
Kirchenchristen durch die Sekte, besonders der Zeugen Jehovas, in den
Augen des Aussteigers mit Vorsicht zu begegnen ist. Um einem
883
Nouwen, Henri J. M., Der dreifache Weg, Freiburg i. Br. 1984, 58.
349
Sektenaussteiger angemessen begegnen zu können und ihm womöglich
eine neue Heimat bieten zu können, muß zunächst die gegenseitige
Fremdheit abgebaut werden. Obwohl das Bemühen um Fremde nach
Meinung Nouwens zum Wesen christlicher Spiritualität gehört, ist dies
nicht immer leicht zu verwirklichen. Um auf andere Menschen offen
zugehen zu können, muß sich ein jeder über seine eigenen Fehler, seine
Ecken und Kanten im klaren sein. Selbsterkenntnis und die Annahme der
eigenen Person sind Voraussetzungen für einen angemessenen, offenen,
freundlichen und letztlich freundschaftlichen Umgang mit anderen
Menschen. Gerade Sektenaussteiger sind auf einen solchen offenen,
freundlichen und freundschaftlichen Umgang angewiesen. Daß einem
Sektenaussteiger
von
Seiten
einer
Gemeinde
nicht
mit
besserwisserischen, überheblichen Verhaltensweisen begegnet werden
darf, ist bereits des öfteren erwähnt worden. Aktive Christen, die zu
solchen Menschen Kontakte unterhalten, dürfen dies nicht mit der Absicht
der Bekehrung tun und dem Wunsch, einen solchen Menschen möglichst
rasch der eigenen Gemeinde zuzuführen. Einem solchen Menschen muß
vielmehr mit Gastfreundschaft im Sinne von Nouwen begegnet werden.
Dabei besteht diese Gastfreundschaft nicht darin, „Menschen zu
verändern, sondern darin, ihnen den Raum zur Verfügung zu stellen, in
dem Veränderung vor sich gehen kann. Sie besteht nicht darin, Männer
und Frauen auf unsere Seite zu ziehen, sondern darin, eine Freiheit
anzubieten, die von Parteigrenzen nicht beeinträchtigt wird.“884 Für die
Begegnung
und
das
Gespräch
von
aktiven
Christen
mit
Sektenaussteigern bedeutet dies nicht, daß ein Christ einem Aussteiger
seine Glaubensüberzeugung nicht kundtun darf, im Gegenteil, Aussteiger
haben ja Probleme und Fragen, denen sich eine Gemeinde stellen muß,
aber der eigene Standpunkt darf einem Aussteiger nicht aufgedrängt
werden. Nouwen spricht im Zusammenhang mit der Darlegung der
eigenen Position von Kompromißlosigkeit.
„Dem Fremdling gegenüber gastfrei zu sein, heißt nicht, daß wir zum
neutralen Niemand werden müßten.“885 Beziehungen zeichnen sich nach
884
885
Nouwen, 65.
Ibid., 93.
350
Nouwen
sowohl
durch
Gastfreundschaft
als
auch
durch
Kompromißlosigkeit aus, zwischen denen ein Mensch, gerade ein
gläubiger Christ abwägen muß. Als eine gute Schule der Gastfreundschaft
bezeichnet Nouwen die Armut.
Unter Armut versteht er dabei die Abwesenheit des eigenen Verlangens
nach völliger Erfüllung, um für andere Menschen leer zu sein.
886
Der
Gedanke der Armut verhindert die Vorstellung etwas verteidigen zu
müssen und begünstigt so die Fähigkeit, anderen angstfrei, offen und
ehrlich begegnen zu können. Dabei unterscheidet Nouwen zwei Formen
von Armut, Geistesarmut und Herzensarmut. Geistesarmut ist für ihn die
Voraussetzung um für andere offen zu sein und ihnen zuhören zu können.
Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Unschwer kann man sehen, wie
diejenigen, die schon alles wissen, ein Gespräch abwürgen und einen
Gedankenaustausch verhindern können.“
887
Die Geistesarmut ist eine
geistliche Haltung, die das eigene Nichtwissen nicht aus den Augen
verliert. Nouwen spricht in diesem Zusammenhang von einer „docta
ignorantia“, einer „Gelehrsamkeit, die nichts weiß“.888 Auf diese Weise wird
der Gesprächspartner ernst genommen und hat nicht den Eindruck
bevormundet oder gar beschämt zu werden. Diese Haltung müssen sich
Christen, die mit Sektenaussteigern umgehen, unbedingt zu eigen
machen, denn auf eine Bevormundung, wie sie in der Sekte erfolgt ist,
reagieren Aussteiger sehr sensibel, was zu einem Hindernis für eine echte
Begegnung und ein fruchtbares Gespräch werden kann, beziehungsweise
die Beziehung zwischen beiden Gesprächspartnern beenden kann. Die
zweite Form der Armut ist die Herzensarmut. Nouwen meint, es gebe bei
vielen Christen zwar ein inneres Erlebnis, eine Gotteserfahrung im Herzen
des Menschen, jedoch kritisiert er, daß einige meinen, ihr Weg der
persönlichen Gotteserfahrung sei der einzig wahre und für alle
verbindliche.
886
Vgl. Nouwen, 97.
Ibid., 98f.
888
Ibid., 99.
887
351
Dies kann anderen gegenüber zu Belehrung und Bevormundung
führen. Ein solches Herz bezeichnet er als „aufgeblasen“.889 Um diese
geistliche Haltung der Herzensarmut zu verdeutlichen, zitiert Nouwen
einige Sätze von Johann Baptist Metz, der in diesem Zusammenhang
meint, der andere könne in seiner Einmaligkeit nur wirklich bei uns
ankommen,
wenn
wir
uns
ganz
vergessen
können,
uns
völlig
zurücknehmen können.890 Für die Begegnung und das Gespräch mit
Sektenaussteigern sind meines Erachtens neben der von der Theologie
der Befreiung geforderten Option für die Armen auch diese beiden von
Nouwen beschriebenen geistlichen Haltungen der Geistesarmut und der
Herzensarmut
für
unsere
Kirchengemeinden
notwendig,
um
Sektenaussteigern mit ihren Problemen und Fragen in einer von dieser
Gastfreundschaft geprägten Atmosphäre begegnen zu können und ihnen
vielleicht auch eine neue Heimat in der Gemeinde bieten zu können.
889
890
Vgl. Nouwen, 102.
Ibid.
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