Dissertation Michael Markus Hann - Philosophisch
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Dissertation Michael Markus Hann - Philosophisch
Philosophisch-Theologische Hochschule SVD St. Augustin Doktorarbeit Thema: Ausstieg aus der Sekte – Schritt in ein neues Leben? Das Problem des Sektenausstiegs am Beispiel der Zeugen Jehovas und der Psychosekte Scientology. Eine Herausforderung für Kirche und Gemeinden Autor: Michael Markus Hann Moderator: Prof. Dr. Joachim Piepke SVD St. Augustin im April 2005 I Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG .......................................................................................................1 KAPITEL 1: DIE GESELLSCHAFTLICHE SITUATION UND DAS SEKTENPHÄNOMEN..........................................................................................4 1 GESELLSCHAFTSANALYTISCH RELEVANTE GESICHTSPUNKTE AUS DEM BEREICH DER SOZIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE ......................................................................4 1.1 SOZIOLOGISCHER BEREICH ..............................................................................4 1.1.1 Der Prozeß der Individualisierung ...............................................................4 1.1.2 Religion, Kirche und Soziologie...................................................................5 1.1.3 Sozialstruktur und Partizipation an der kirchlich institutionalisierten Form von Religion .........................................................................................................6 1.1.4 Die Entstehung von Sinnsystemen und der „Heilige Kosmos“ .....................8 1.2 PSYCHOLOGISCHER BEREICH .........................................................................10 1.2.1 Persönlichkeitsstrukturen in einer Gesellschaft der unbegrenzten Möglichkeiten .....................................................................................................10 1.2.1.1 Umgang mit der Erfahrung von Entgrenzungen......................................12 1.2.1.2 Zwang zu ständiger Selbstreflexion........................................................13 1.2.1.3 Zwang zur Selbstdefinition .....................................................................13 1.2.2 Die Bedeutung des Schamgefühls ............................................................14 2 SEKTENDEFINITION ...........................................................................................16 2.1 ETYMOLOGIE DES BEGRIFFS „SEKTE“..............................................................16 2.2 VERWENDUNG DES BEGRIFFS „SEKTE“ UND ANDERE BEZEICHNUNGEN .............16 2.3 SPEZIELLE BESCHREIBUNGEN DES SEKTENPHÄNOMENS ..................................17 2.4 DAS SEKTENPHÄNOMEN IN KIRCHENGESCHICHTE UND THEOLOGIE ...................19 3 ZWEI SEKTEN ALS BEISPIEL ..............................................................................21 3.1 DIE ZEUGEN JEHOVAS ...................................................................................21 3.1.1 Das religiöse Umfeld in den USA am Ende des 19. Jahrhunderts .............21 3.1.2 Der Gründer der Zeugen Jehovas Charles Taze Russell (1852 - 1916) ....23 3.1.3 Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin Rutherford ......................27 3.1.4 Die Entwicklung der Zeugen Jehovas in Deutschland ...............................30 3.1.4.1 Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich ....................................................30 3.1.4.2 Von 1945 bis heute ................................................................................33 3.1.5 Der Begriff der sogenannten „Theokratischen Organisation“ .....................35 3.1.6 Die Zentrale in Brooklyn (USA) und die Stellung der Ortsversammlungen 37 3.1.7 Das Lehrsystem ........................................................................................39 3.1.7.1 Das Bibelverständnis und seine Folgen .................................................39 3.1.7.2 Gottesverständnis ..................................................................................43 3.1.8 Die Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber dem Staat und den Kirchen 45 3.1.9 Ergebnisse psychologischer Untersuchungen im Zusammenhang mit der Sozialstruktur der Zeugen Jehovas ....................................................................47 3.1.9.1 Isolations- und Kontrollmechanismen .....................................................47 3.1.9.2 Das Führerprinzip bei den Zeugen Jehovas ...........................................49 3.1.9.3 Auswirkungen der Sektenstruktur im gesellschaftlich-familiären Bereich 50 3.1.9.4 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte ............................53 3. 2 SCIENTOLOGY ..............................................................................................55 3.2.1 Biographie des Gründers Lafayette Ronald Hubbard (13. 3. 1911 – 24. 1. 1986) .................................................................................................................55 3.2.2 Die Entstehungsgeschichte der Scientology..............................................60 II 3.2.2.1 Die Bedeutung der Science-Fiction-Literatur ..........................................60 3.2.2.2 Der Einfluß von Science-Fiction auf Lafayette Ronald Hubbard .............61 3.2.2.3 Etappen auf dem Weg zu einer festgefügten Organisation.....................62 3.2.2.3.1 „Dianetic“ und „Scientology“ .................................... 62 3.2.2.3.2 Die Anfänge ............................................................ 62 3.2.2.3.3 Weitere Ausbreitung der Organisation .................... 65 3.3. MACHTVERLUST DES GRÜNDERS UND RÜCKZUG AUS DER ÖFFENTLICHKEIT .....71 3.4 ORGANISATIONSSTRUKTUR ............................................................................74 3.4.1 Scientology als Kirche und Religion ..........................................................74 3.4.2 Scientology als hierarchisch strukturiertes globales Netzwerk...................75 3.4.3 Darstellung einiger zentraler Organisationen.............................................76 3.4.3.1 Das „Religious Technology Center“ (RTC) .............................................77 3.4.3.2 Das „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE) ........................77 3.4.3.3 Die Association for Better Living and Education (ABLE).........................79 3.4.3.3.1 Die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM) ...................................................... 80 3.4.3.3.2 Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ (ZIEL) ..................................................................................... 81 3.4.3.3.3 Das Office for Special Affairs (OSA)........................ 86 3.5 DAS LEHRSYSTEM VON SCIENTOLOGY ............................................................89 3.5.1 Das Menschenbild Hubbards ....................................................................90 3.5.1.1 Der dreigeteilte Mensch .........................................................................90 3.5.1.1.1 Der „Thetan“............................................................ 90 3.5.1.1.2 Der „Mind“ (Sinn oder Verstand) ............................. 92 3.5.1.1.3 Der „reaktive Verstand“ ........................................... 93 3.5.1.2 Die „Dianetic-Auditingtechnik“ ................................................................95 3.5.2 Scientology und die Stufen des „Operating Thetan“ (OT) ..........................97 3.5.3 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte über die ScientologyOrganisation .................................................................................................... 100 KAPITEL 2: DER SEKTENAUSSTIEG ........................................................... 102 1 DER AUSSTIEG ALS PROBLEM ODER: WARUM IST ES SO SCHWER, DIE SEKTE ZU VERLASSEN?..................................................................................................... 103 1.1 SOZIALISATION DURCH INDOKTRINATION ....................................................... 103 1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann als Beispiel für die Zeugen Jehovas ............. 103 1.1.2 Jutta Elsässer als Beispiel für Scientology .............................................. 110 1.2 ZUSAMMENFASSUNG .................................................................................... 116 2 MOTIVE FÜR EINEN SEKTENAUSSTIEG .............................................................. 117 2.1 SEKTENAUSSTIEG BEI DEN ZEUGEN JEHOVAS ................................................ 118 2.1.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen ............. 118 2.1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann ................................................................... 118 2.1.1.2 Gerd Wunderlich .................................................................................. 123 2.1.1.3 Monika Deppe ...................................................................................... 128 2.1.1.4 Barbara Waß........................................................................................ 132 2.1.2 Konkrete Schritte aus der Sekte.............................................................. 138 2.1.2.1 Hans-Jürgen Twisselmann ................................................................... 138 2.1.2.2 Gerd Wunderlich .................................................................................. 140 2.1.2.3 Monika Deppe ...................................................................................... 144 2.1.2.4 Barbara Waß........................................................................................ 146 2.1.2.5 Zusammenfassung............................................................................... 148 2.1.2.6 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu einem Bruch mit den Zeugen Jehovas geführt haben ...................................... 150 III 2.1.2.6.1 Theologisch – intellektuelle Ebene ........................ 150 2.1.2.6.2 Soziologisch-psychologische Ebene ..................... 151 2.1.2.6.2.1 Durch Bekanntschaften und Freundschaften mit Nicht-Zeugen-Jehovas hervorgerufene Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas ......................................................... 151 2.1.2.6.2.2 Persönlich erfahrene Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Glaubenspraxis ................................. 152 2.1.2.6.2.3 Übergroßer physischer und psychischer Leidensdruck .................................................................... 152 2.2 AUSSTIEG AUS DER PSYCHOSEKTE SCIENTOLOGY ......................................... 153 2.2.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen ............. 153 2.2.1.1 Jutta Elsässer ...................................................................................... 153 2.2.1.2 Elke Nietsche ....................................................................................... 160 2.2.1.3 Norbert Potthoff.................................................................................... 167 2.2.2 Konkrete Schritte aus der Sekte.............................................................. 175 2.2.2.1 Jutta Elsässer ...................................................................................... 175 2.2.2.2 Elke Nietsche ....................................................................................... 176 2.2.2.3 Norbert Potthoff.................................................................................... 178 2.2.2.4 Zusammenfassung............................................................................... 181 2.2.2.5 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu einem Bruch mit Scientology geführt haben ..................................................... 182 2.2.2.5.1 Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis........................................................................ 183 2.2.2.5.2 Bewußtseinsveränderung und Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls aufgrund zeitweiser Distanz zur Scientology-Organisation.................................................. 184 2.2.2.5.3 Physische und psychische Erschöpfungszustände184 2.2.2.5.4 Kontakte zu und Aufklärung durch Familienangehörige und andere der Sekte fernstehende Menschen............................................................................. 185 2.2.2.5.5 Finanzieller Ruin.................................................... 186 3 DEN SEKTENAUSSTIEG ERSCHWERENDE PSYCHOLOGISCHE FAKTOREN ............ 186 3.1 ÜBERZEUGTSEIN VON DER HEILSLEHRE DER SEKTE ....................................... 186 3.2 ANSTAND UND LOYALITÄT ............................................................................. 189 3.3 GRUPPENDRUCK UND INFORMATIONSMANGEL ............................................... 190 3.4 ÜBERSTEIGERTE AUTORITÄTSGLÄUBIGKEIT UND ANGST VOR BESTRAFUNG ..... 191 3.5 ERSCHÖPFUNGS- UND VERWIRRTHEITSZUSTÄNDE ......................................... 193 4 VERARBEITUNG DER SEKTENVERGANGENHEIT ALS VORAUSSETZUNG FÜR DIE RÜCKKEHR INS „NORMALE LEBEN“ .................................................................... 195 4.1 FINANZIELLE UND BERUFLICHE SITUATION NACH DEM SEKTENAUSSTIEG.......... 195 4.2 PSYCHOLOGISCH-EMOTIONALER BEREICH ..................................................... 197 4.2.1 Der belastete Lebenslauf ........................................................................ 197 4.2.2 Schuld und Scham .................................................................................. 199 4.2.3 Angst vor sich selbst ............................................................................... 201 4.2.4 Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte ......................................... 203 4.2.5 Konflikte wegen verlorener Familienangehöriger und Freunde................ 205 4.3 SOZIALE UND PERSÖNLICHE BEZIEHUNGEN ................................................... 206 4.3.1 Unkritische Passivität und hyperkritische Einstellungen .......................... 206 4.3.2 Nachwirkungen des Sektenvokabulars.................................................... 207 4.3.3 Aufbau eines neues sozialen Umfeldes und die Angst vor erneuten Bindungen........................................................................................................ 209 IV KAPITEL 3: DER SEKTENAUSSTIEG ALS HERAUSFORDERUNG UND CHANCE FÜR EINE BERATUNG UND THERAPIE AUF NICHTCHRISTLICHER UND EXPLIZIT CHRISTLICHER BASIS ......................................................... 211 1 DIE EXISTENZANALYTISCHE LOGOTHERAPIE VIKTOR FRANKLS UND IHR BEITRAG ZUR GENESUNG VON SEKTENAUSSTEIGERN ........................................................ 212 1.1 GRÜNDE FÜR DIE ENTSTEHUNG DES LOGOTHERAPEUTISCHEN BERATUNGS- UND THERAPIEKONZEPTES ........................................................................................ 212 1.1.1 Frankls Kritik am Therapiekonzept Sigmund Freuds ............................... 212 1.1.1.1 Das mechanistische Menschenbild Freuds .......................................... 213 1.1.1.2 Lust und Wert....................................................................................... 213 1.1.1.3 Trieb und Sinn...................................................................................... 214 1.1.1.4 Frankls Erfahrungen in der Zeit des 2.Weltkriegs und die Entdeckung der sogenannten „geistig-noetischen Dimension menschlicher Existenz“............... 215 1.1.2 Zentrale Inhalte und Ziele des von Frankl entwickelten logotherapeutischexistenzanalytischen Therapiekonzeptes ......................................................... 217 1.1.2.1 Bewußtmachen von Freiheit und Verantwortlichkeit ............................. 217 1.1.2.2 Der Aufgabencharakter des Lebens und die Verwirklichung von Werten ........................................................................................................................ 218 1.1.2.2.1 Schöpferische Werte ............................................. 218 1.1.2.2.2 Erlebniswerte und Einstellungswerte..................... 219 1.1.2.3 Die Frage nach dem Sinn des Leidens................................................. 220 1.1.2.4 Die Frage nach dem Sinn des Todes ................................................... 222 1.1.2.5 Die Bedeutung „wirklicher Liebe“.......................................................... 224 1.1.2.6 Schulderfahrung als Umdenkmöglichkeit.............................................. 225 1.2 DIE VERWIRKLICHUNG LOGOTHERAPEUTISCHER INHALTE DURCH DIE SEKTENAUSSTEIGER .......................................................................................... 226 1.2.1 Die Verwirklichung von Einstellungswerten und schöpferischen Werten bei Hans-Jürgen Twisselmann............................................................................... 226 1.2.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann und der „Bruderdienst“ –schöpferische Werte und eine neue Lebensperspektive ................................................................... 227 1.2.1.1.1 Entstehung des Bruderdienstes ............................ 227 1.2.1.1.2 Grundsätze der Tätigkeit des Bruderdienstes ....... 228 1.2.1.1.3 Ratschläge für ein Seelsorgsgespräch .............................................. 230 1.2.2 Wirkliche Liebe und Wertschätzung als Ausweg aus der bedrückenden Situation der Sekte bei Barbara Waß ............................................................... 232 1.2.3 Die Verwirklichung von Erlebnis- und Einstellungswerten bei Jutta Elsässer ........................................................................................................................ 233 1.2.4 Schuldgefühle und das Bewußtmachen von Verantwortlichkeit bei Elke Nietsche........................................................................................................... 234 1.2.5 Die Verwirklichung von schöpferischen Werten und Einstellungswerten bei Norbert Potthoff................................................................................................ 235 1.3 MÖGLICHE LOGOTHERAPEUTISCHE HILFEN FÜR DIE SEKTENAUSSTEIGER AUS DER SEKTE DER ZEUGEN JEHOVAS UND AUS SCIENTOLOGY ........................................ 236 1.3.1 Die drei “Therapiebewährungskriterien“ für das logotherapeutische Gespräch ......................................................................................................... 236 1.3.2 Die drei großen Methodengruppen der Logotherapie und ihre Bedeutung für eine Therapie an Sektenaussteigern........................................................... 238 1.3.2.1 Die „Paradoxe Intention“ ...................................................................... 238 1.3.2.2 Die Dereflexion..................................................................................... 240 1.3.2.2.1 Dereflexion bei Hans-Jürgen Twisselmann ........... 241 1.3.2.2.2 Gerd Wunderlich ................................................... 242 1.3.2.2.3 Monika Deppe ....................................................... 243 1.3.2.2.4 Barbara Waß......................................................... 244 V 1.3.2.2.5 Jutta Elsässer........................................................ 246 1.3.2.2.6 Elke Nietsche ........................................................ 247 1.3.2.2.7 Norbert Potthoff ..................................................... 248 1.3.3 Grenzen des logotherapeutischen Beratungs- und Therapiekonzeptes... 249 2 DAS PSYCHOTHERAPEUTISCHE VORGEHEN JÖRG MÜLLERS AUF EXPLIZIT CHRISTLICHER BASIS – EIN BERATUNGS- UND THERAPIEKONZEPT FÜR AUSSTEIGER AUS DER SEKTE DER ZEUGEN JEHOVAS .............................................................. 252 2.1 Müllers Kritik an den heutigen Psychotherapien......................................... 253 2.2 ZIELE CHRISTLICH MOTIVIERTER BERATUNG, THERAPIE UND SEELSORGE ....... 255 2.3 VERSCHIEDENE FORMEN VON LEBENSANGST UND DEREN BEWÄLTIGUNG ........ 256 2.3.1 Normale und krankhafte Angstreaktionen ............................................... 256 2.3.2 Der Einfluß des Gottesbildes................................................................... 257 2.3.2.1 Das rächend-strafende Gottesbild ........................................................ 258 2.3.2.2 Das Bild eines abwesenden, ohnmächtigen Gottes.............................. 260 2.3.3 Abwehrmechanismen und ihre Symptome .............................................. 261 2.3.3.1 Leugnen ............................................................................................... 262 2.3.3.2 Starrsinn............................................................................................... 263 2.3.3.3 Projektion ............................................................................................. 263 2.3.3.4 Intellektualisierung und Privatisierung .................................................. 264 2.3.4 Mögliche Folgen der Angstverdrängung .................................................. 265 2.3.4.1 Vergebungsunfähigkeit......................................................................... 265 2.3.4.2 Berechtigte und unberechtigte Schuldgefühle ...................................... 266 2.3.4.3 Medikamentierung................................................................................ 267 2.3.5 Ersatzglaube und andere Ersatzbefriedigungen als Ausdruck innerer Sinnleere ......................................................................................................... 268 2.3.6 Angstbewältigung und Sinnfindung durch Hinwendung zu Gott............... 269 2.3.6.1 Die Angstbewältigung Jesu als Beispiel ............................................... 269 2.3.6.2 Ergebnisse erlöster Gottesbeziehung und Lebenshingabe an Gott ...... 270 2.3.6.2.1 Vergebungsfähigkeit.............................................. 270 2.3.6.2.2 Sinnfindung und Selbstannahme........................... 271 2.3.6.3 Geistliches Leben als Grund erfüllter und sinnvoller menschlicher Existenz ........................................................................................................... 273 2.3.6.4 Die therapeutische Bedeutung der „Jesus-Imagination“ ....................... 273 2.3.6.5 Ein Vergleich des christlich motivierten psychotherapeutischen Konzeptes Jörg Müllers mit dem logotherapeutischen Konzept Frankls ............................ 274 2.4 ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR EINE THERAPIE UND SEELSORGE AN EHEMALIGEN ZEUGEN JEHOVAS AUFGRUND DER CHRISTLICH MOTIVIERTEN THERAPEUTISCHEN VORGEHENSWEISE NACH JÖRG MÜLLER ............................................................. 275 2.5 MÜLLERS METHODE DER JESUS-IMAGINATION UND DIE REVISION EINES ANGSTBESETZTEN GOTTESBILDES ...................................................................... 279 2.5.1 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Monika Deppe .............................. 279 2.5.2 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Gerd Wunderlich........................... 283 2.5.3 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Barbara Waß ................................ 287 KAPITEL 4: DER SEKTENAUSSTIEG ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE KATHOLISCHE KIRCHE UND DEREN GEMEINDEN .................................... 293 1 WELCHE PHÄNOMENE VON SEKTEN HABEN ZU DEN NEGATIVEN ERFAHRUNGEN VON AUSSTEIGERN GEFÜHRT ? .................................................................................. 294 1.1 EINE LEISTUNGSGESELLSCHAFT IN DER LEISTUNGSGESELLSCHAFT ................ 294 1.2 DER FAKTOR ENTMUTIGUNG UND DAS AUSBLEIBEN VON ERFOLGSERLEBNISSEN ........................................................................................................................ 299 1.3 KONFORMITÄTSDRUCK DURCH DAS ERZEUGEN VON SCHULD- UND MINDERWERTIGKEITSGEFÜHLEN ......................................................................... 301 VI 1.4 DAS ÜBERLEGENHEITSGEFÜHL UND DIE KLUFT ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT ................................................................................................... 305 1.5 MANGELNDES VERANTWORTUNGSBEWUßTSEIN UND DIE ABLEHNUNG VON GEWISSENSFREIHEIT ......................................................................................... 308 2 DIE SITUATION DER KIRCHENGEMEINDEN ......................................................... 311 2.1 DIE AUFLÖSUNG DER TRADITIONELLEN VOLKSKIRCHE UND DER DIESE BESTIMMENDEN VERSORGUNGSSEELSORGE ....................................................... 311 2.2 DIE NOTWENDIGKEIT EINER KIRCHEN- UND GEMEINDEREFORM ...................... 312 2.2.1 Mystik...................................................................................................... 313 2.2.2 Geschwisterlichkeit ................................................................................. 314 2.2.2.1 Die Sehnsucht des Menschen nach dauerhafter Gemeinschaft ........... 315 2.2.2.2 Die „Volk-Gottes-Geschwisterlichkeit“ .................................................. 316 2.2.3 Die politische Gemeinde ......................................................................... 317 2.3 DIE SITUATION DER KATHOLISCHEN KIRCHENGEMEINDEN NACH DEM ARBEITSERGEBNIS DES PASTORALGESPRÄCHS IM ERZBISTUM KÖLN ................................. 319 2.3.1 Mangelhafte Seelsorgssituation und mangelndes Verantwortungsbewußtsein der Gläubigen....................................................... 319 2.3.2 Zu geringe „Sprachfähigkeit im Glauben“, zu wenig Glaubensgespräche, zu geringe Reflexion über den eigenen Glauben .................................................. 322 2.3.3 Mangelnde Glaubwürdigkeit .................................................................... 323 2.3.3.1 Zu geringe Option für die Armen als Folge zu wenig gelebten Glaubens ........................................................................................................................ 324 2.3.3.2 Zu wenig Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz ......................... 325 2.4 DIE SITUATION DER KIRCHENGEMEINDEN UND DIE PROBLEME UND FRAGEN VON SEKTENAUSSTEIGERN ........................................................................................ 328 3 DIE KIRCHE BRASILIENS ALS BEISPIEL FÜR EINE KIRCHE AUF DEM WEG ZU DEN MENSCHEN ....................................................................................................... 335 3.1 DIE BEFREIUNGSTHEOLOGIE ALS BEGRIFF .................................................... 336 3.2 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER BEFREIUNGSTHEOLOGIE .............................. 337 3.3 CHARAKTERISTIKA DER THEOLOGIE DER BEFREIUNG ..................................... 340 3.3.1 Entwicklung und Gesellschaft.................................................................. 340 3.3.2 Option für die Armen ............................................................................... 340 3.3.3 Die Bedeutung der lateinamerikanischen Basisgemeinden und ihre Stellung gegenüber den Pfarreien und der Gesamtkirche.............................................. 341 3.4 BEFREIUNGSTHEOLOGISCHE ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR EINE VERBESSERUNG DER KIRCHLICHEN SITUATION IN DEUTSCHLAND IM HINBLICK AUF DIE BEGEGNUNG UND DAS GESPRÄCH MIT SEKTENAUSSTEIGERN SOWIE EINE MÖGLICHE INTEGRATION VON AUSSTEIGERN IN KIRCHENGEMEINDEN ......................................................... 345 4 AUSBLICK: CHRISTLICHE SPIRITUALITÄT DES ALLTAGS AUF DER GRUNDLAGE DES „DREIFACHEN WEGES“ NACH HENRI J. M. NOUWEN – EIN BEDENKENSWERTER ANSATZ FÜR UNSERE KIRCHENGEMEINDEN IM HINBLICK AUF PROBLEME UND FRAGEN VON SEKTENAUSSTEIGERN UND IHRE MÖGLICHE INTEGRATION IN UNSERE GEMEINDEN ...................................................................................................... 347 LITERATURVERZEICHNIS............................................................................. 352 1 Einleitung „Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, daß Kirche und Gemeinde sich nicht in einem von der übrigen Gesellschaft abgeschlossenen Raum auf Zukunft hin bewegen, sondern stets in einen konkreten gesellschaftlichen Kontext mit seinen Gesetzmäßigkeiten je eigenen eingebunden sind.“1 Lebensbedingungen Dies wird vor allem und im Zusammenhang mit der Auflösung der traditionellen Sozialform der Großfamilie deutlich. Diese Sozialform der Familie, in welche der einzelne einst eingebunden war und worin er seine ihm spezifischen Rechte und Pflichten zugewiesen bekam, besonders aber auch Schutz und soziale Integration erfuhr, existiert in unseren Breitengraden nicht mehr. In unserer von vielen als Postmoderne bezeichneten Zeit ist eine Pluralität von Wertmaßstäben und Orientierungsmustern sowie eine sich ambivalent auswirkende Individualisierung vorherrschend.2 Einige der traditionellen Wertmaßstäbe und Orientierungsmuster haben ihre für die Gesellschaft entscheidende Stabilisierungsfunktion eingebüßt. Strukturen lockern sich in zunehmendem Maß oder sind bereits vollends in Auflösung begriffen. Es gibt eine Überflutung mit verschiedensten Angeboten für die persönliche Lebensgestaltung. Erwähnt seien hier beispielsweise die immer raffinierter werdenden Werbeslogans, die patentrezeptartige Lösungen zur Erlangung des Lebensglücks bieten und suggerieren, man könne in einer Art Konsum Glück und Lebensfreude erlangen.3 Durch die Vielzahl der Angebote wird es zugleich immer schwieriger, sie bezüglich ihrer Qualität und Seriosität genau zu unterscheiden. Dies kann bis zur völligen Resignation führen, da immer neue Situationen und 1 Kochanek, Hermann, Spurwechsel. Die Erlebnisgesellschaft als Herausforderung für Christentum und Kirche, Frankfurt a. M. 1998, 11. 2 Vgl. Rivinius, Karl Josef, Sekten und neureligiöse Bewegungen, in: Stimmen der Zeit 215 (1997), 534-544. 3 Vgl. Ernst, Heiko, Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert, München 1996, 137. Ernst spricht von sogenannten „Lifestyle-Lösungen“, welche beim Konsumenten den Eindruck erwecken, das Leben könne ästhetisch und sorgenfrei gestaltet werden, wenn bestimmte Produkte gekauft werden. Er schreibt: „Durch eine banale Magie könne er so sein Leben transformieren und seine Probleme – Verhaltensunsicherheit, Entfremdung, Bindungslosigkeit – doch noch lösen.“ 2 Herausforderungen ein hohes Maß an Flexibilität und Arbeitsleistung verlangen. Diese Entwicklungen greifen auf alle menschlichen Lebensbereiche über, gerade auch auf den der Religion. Die beiden traditionellen Großkirchen in Deutschland bekommen die Folgen dieser rasanten gesellschaftlichen Veränderungen besonders deutlich zu spüren. Sie werden als lediglich ein Angebot unter vielen betrachtet und haben ihre einstige Monopolstellung längst eingebüßt. Die Menschen unserer Tage scheinen sich von der Religion zu verabschieden, so könnte man meinen. Wie läßt sich aber der zum Teil nicht geringe Mitgliederzuwachs in vielen von der offiziellen Kirche getrennten Gemeinschaften und Sekten erklären? Ist der Mensch etwa doch hoffnungslos religiös, wie der Philosoph und Religionskritiker Friedrich Nietzsche einmal meinte? In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung einem Sektenausstieg für die Aussteiger selber zukommt und welche Herausforderung ein solcher Sektenausstieg für die katholische Kirche und ihre Gemeinden bedeutet, sowohl im Hinblick auf eine angemessene Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern als auch auf eine mögliche Integration solcher Menschen in unsere Kirchengemeinden. In einem ersten Kapitel soll der Blick dabei zunächst auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation gelenkt werden und eine kurze Charakterisierung dieser Situation anhand von soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten erfolgen, die in einem Zusammenhang mit der Sektenproblematik stehen. In einem zweiten Abschnitt des ersten Kapitels werden verschieden Definitionsversuche des Phänomens „Sekte“ dargelegt und eine eigener Definitionsversuch unternommen. Der dritte Abschnitt bietet eine Darstellung der Organisations- und Lehrsysteme zweier Sekten, der Zeugen Jehovas und der Scientology-Organisation. Das zweite Kapitel bietet eine Auswahl mehrerer Aussteigerberichte, in denen die Erfahrungen von Menschen mit den Zeugen Jehovas und mit Scientology dokumentiert werden. Dabei kommen sowohl die Motive für den erfolgten Ausstieg zur Sprache als auch den Ausstieg erschwerende psychologische Faktoren. 3 In einem dritten Kapitel wird nach konkreten therapeutischen Hilfen gefragt, die Sektenaussteigern bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen mit der jeweiligen Sekte helfen können. Das abschließende vierte Kapitel befaßt sich mit der Herausforderung, die sich aufgrund des Sektenausstiegs für die katholische Kirche und ihre Gemeinden ergibt. Sind unsere Gemeinden in der Lage, Sektenaussteigern angemessen zu begegnen, in einen fruchtbaren Dialog mit ihnen einzutreten, indem sie sich den Problemen und Fragen solcher Menschen stellen? Können sie Sektenaussteigern letztlich vielleicht sogar eine neue Heimat bieten, indem sie diese in ihre Reihen aufnehmen? 4 Kapitel 1: Die gesellschaftliche Situation und das Sektenphänomen 1 Gesellschaftsanalytisch relevante Gesichtspunkte aus dem Bereich der Soziologie und Psychologie 1.1 Soziologischer Bereich 1.1.1 Der Prozeß der Individualisierung In unserer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft sind traditionell gewachsene Sozialstrukturen zusehends in Auflösung begriffen. Bisher entfaltete sich Religion innerhalb einer konkreten Gemeinde. Sie hatte ihren festen Ort in einem Lebensumfeld, an dem nahezu alle ihre Mitglieder partizipierten. Dies gewährleistete für breite Bevölkerungsgruppen eine weitgehende Sicherheit für den Bereich der Sinnstiftung, mit welchem Lebensführungskonzepte, die Problematik Kontingenzbewältigung der Identitätsfindung, und das gesamte 4 Themengebiet Staat, Gesellschaft und Kultur verwoben sind. Trotz aller Auflösungserscheinungen, denen Traditionen unterworfen sind, schwinden diese jedoch nicht gänzlich. Es gibt ein Nebeneinander von mehr oder weniger verbindlichen und verpflichtenden Vorgaben. Der Endbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags von 1998 bemerkt hierzu: „Man muß hier freilich den tiefreichenden Bedeutungswandel von Traditionen beachten, von für den einzelnen mehr oder minder verbindlichen und verpflichtenden Vorgaben zu Gegebenheiten von Wahl und Option. Was an dieser Entwicklung als Verlust empfunden wird, ist nicht der Verlust der Tradition selbst, aber der Verlust an sozialer Transzendenz und Erwartungssicherheit, also an verbindlicher Reichweite der jeweiligen Traditionen und der durch sie geforderten Normen für das alltägliche, gesellschaftliche Leben und Handeln. Dies wird in der Soziologie mit dem Begriff der Individualisierung 4 Vgl. Deutscher Bundestag Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Endbericht der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998, 40. 5 bezeichnet.“5 Zum einen hat die gesamtgesellschaftliche Prägekraft von allgemeinen Orientierungsmustern abgenommen, zum anderen ist das Individuum auf Orientierungsbereiche wie die eigene Familie, den Bekannten- und Freundeskreis aber dringend angewiesen. wenn auch diese sozialen Bereiche eine weit geringere soziale Reichweite besitzen.6 1.1.2 Religion, Kirche und Soziologie In seinem Buch „Die unsichtbare Religion“ weist Thomas Luckmann auf die in der Religionssoziologie lange vorherrschende Gleichsetzung von Kirche und Religion hin. Die neuere Religionssoziologie liefert entsprechend dieser Gleichsetzung fast ausschließlich Beschreibungen des Niedergangs kirchlicher Institutionen.7 In den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts bestand der Trend, Religion als System von Glaubensüberzeugungen anzusehen, die in primitiven Gesellschaften vorkam und dort eine integrative Funktion erfüllte. Luckmann äußert sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Die 30er und 40er Jahre waren unfruchtbare Jahre für die Religionssoziologie. Eine ganze Soziologengeneration wuchs in einem intellektuellen Klima auf, in dem Religion als ein System von Glaubensüberzeugungen angesehen wurde, das in primitiven Gesellschaften - wenn nicht sogar bloß während einer prähistorischen Phase in der Evolution der Vernunft bestimmte integrative Funktionen erfüllt hatte [...].“8 In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg hielt die Soziologie zunehmend Einzug in die Kirchen, unterstützt durch Pastoraltheologen, Sozialethiker und nicht zuletzt von kirchlichen Verwaltungsexperten. Die Religionssoziologie entwickelte sich zu einer Hilfswissenschaft9, deren Inhalte und Problemstellungen von den Interessen religiöser Institutionen bestimmt und konfessionell geprägt waren. Dieses konfessionelle Eingebundensein der Religionssoziologie 5 Deutscher Bundestag, Endbericht der Enquete-Kommission, 41. Ibid., 42. 7 3 Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1996 , 51. 8 Ibid., 53. 9 Ibid. 6 6 erschwerte die Entwicklung einer systematischen Theorie. Durch einen Mangel an Theorie sowie die völlige Ausklammerung von Glaubensfragen, wurden zwar handhabbare, jedoch unangemessene Forschungsmethoden angewendet, die zur Erfassung nichtkirchlicher Institutionen dienten. Die Anwendung von Befragungstechniken aus dem Bereich der Meinungsforschung ließ den Befragten oft nicht mehr Spielraum als zustimmend oder ablehnend zu antworten. Sie erschwerten überdies den Erhalt von differenzierten Forschungsergebnissen für ein so komplexes Gebiet wie das der Religion. Eine enge, positivistisch ausgerichtete Methodologie erwies sich ebenfalls als unzureichend für das Erfassen religiöser Phänomene. 1.1.3 Sozialstruktur und Partizipation an der kirchlich institutionalisierten Form von Religion Aus der Gleichsetzung von Kirche und Religion folgt, daß Religion nur insoweit erfaßbar ist, als sie organisiert und institutionalisiert ist. Die Institutionalisierung von Religion findet ihren Niederschlag in ebenfalls institutionalisierten religiösen Verhaltensweisen in Form von Ritualen und eines Wissens in Form einer bestimmten Lehre. Luckmann zeigt auf, daß eine solche Definitionsweise zu kurz greift, um die verschiedenartigen Gebilde außerkirchlicher Formen von Religion adäquat zu erfassen. Er erklärt die Forschungsergebnisse der Religionssoziologie aber nicht für überflüssig, indem er bemerkt: „Im Bemühen um eine Theorie der Religion in der modernen Gesellschaft kann man sich den Luxus nicht leisten, so emsig gesammeltes Material beiseite zu schieben – auch wenn es, wie bereits angedeutet, nur eine Seite der Medaille zeigt.“10 Geht man von den Kirchenbesucherzahlen aus, so ist in eher ländlichen Gebieten eine höhere Besucherzahl festzustellen. Im städtischen Bereich scheinen die Menschen dagegen weniger religiös zu sein. Doch auch in eher 10 Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 62. Die Auswertung des Datenmaterials ist vor allem auch für die Erstellung einer Theorie der Religion in der modernen Gesellschaft hilfreich. 7 ländlichen Gebieten machen sich zunehmend städtische Eigenheiten bemerkbar. Mögliche Ursachen hierfür liegen vor allem in der in den letzten Jahrzehnten erfolgten ökonomischen Verflechtung von Stadt und Land, in einer fortschreitenden Technisierung und in der Verbreitung der städtischen Kultur auf dem Land, vor allem durch die Massenmedien. Außerdem scheint die Kirchlichkeit geschlechtsspezifisch zu sein und ist in verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. „Man kann wohl sagen, daß die ökologische Struktur der Gemeinde und die Verteilung der sozialen Klassen, sowie Berufsgruppen innerhalb der Pfarrei die wichtigsten Faktoren sind, die für diese Unterschiede verantwortlich gemacht werden können.“11 Religion ist nach Meinung vieler Menschen in Europa nur noch eine Randerscheinung, die im Verlauf des Prozesses einer immer weiter voranschreitenden Technisierung mehr und mehr zurückgedrängt wird. Doch weshalb, so könnte man einwenden, ist beispielsweise in den USA, in einem der hochtechnisiertesten Länder der Welt, die religiöse Praxis größer als in europäischen Ländern? Zum Verständnis dieses Phänomens bedarf es eines kurzen Rückblicks in die Sozial- und Kirchengeschichte der USA. Es existierte dort keine feudalistische Gesellschaftsstruktur, wie sie für Europa charakteristisch war. Die Geschichte des Kontinents ist geprägt von zahlreichen Einwanderungswellen, die eine ethnische und konfessionelle Vielfalt mit sich brachten. Die Verstädterung ging rasch vonstatten, wobei sich eine im wesentlichen mittelständische Weltanschauung und Lebensart durchsetzte. Weitere Faktoren wie der Puritanismus, die frühe Trennung von Kirche und Staat sowie eine zeitweilig enge Verbindung beider Institutionen, die Erweckungsbewegungen und andere Einflüsse, trugen das ihre zu einer im Unterschied zu Europa andersartigen soziopolitischen und religiösen Entwicklung bei. Eine breitgefächerte Mittelklasse partizipiert in den USA aktiv an der kirchlichen Religion. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt in der Übernahme einer weltlichen Version der protestantischen Ethik durch die Kirchen, die 11 Luckmann, Die unsichtbare Religion, 65. 8 durch die einzigartige Konstellation von Faktoren in der Sozial- und Religionsgeschichte entscheidend mitgeformt wurde. Auf die amerikanischen Verhältnisse soll im folgenden nicht weiter eingegangen werden. Doch bieten die Einblicke in diese Verhältnisse einige interessante Gesichtspunkte. Der für die USA seit je her typische Pluralismus kommt auch in Europa immer stärker zum Durchbruch. Viele in unserem Land anzutreffende Sekten, so die Sekte der Zeugen Jehovas und Scientology, sind zudem aus den USA zu uns gekommen. 1.1.4 Die Entstehung von Sinnsystemen und der „Heilige Kosmos“ „Sinnsysteme fallen nicht vom Himmel“, so könnte man schlagwortartig die Tatsache ausdrücken, daß die Entstehung dieser Systeme eine Leistung vieler Generationen darstellt. Im Lauf des menschlichen Sozialisierungsprozesses wird immer eine gesellschaftlich vorgegebene Ordnung mit ihren jeweils typischen Orientierungs- und Wertmaßstäben vermittelt. Für Luckmann besitzt dieser Sozialisierungsprozeß zugleich einen religiösen Charakter. Er bemerkt hierzu: „Diese Prozesse, deren formale Struktur oben beschrieben wurde, vermitteln zugleich eine geschichtlich vorgegebene gesellschaftliche Ordnung. Wir sagten vorhin, daß das Transzendieren der Natürlichkeit ein grundlegender religiöser Vorgang ist. Wir können nun hinzufügen, daß Sozialisation, also der Vorgang, in dem solches Transzendieren stattfindet, grundsätzlich einen religiösen Charakter hat.“12 Die geschichtliche Vorgabe von Sinnsystemen bezeichnet Luckmann als „Heiligen Kosmos“13. Der Sinnzusammenhang, der einer geschichtlichen Ordnung innewohnt, kann mit dem Begriff „Weltsicht“14 charakterisiert werden. Diese Weltsicht resultiert aus der subjektiven 12 Luckmann, Die unsichtbare Religion, 88. Vgl. auch Fraas, Hans-Jürgen, Die 2 Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1993 , 75f. 13 Vgl. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 98. 14 Ibid., 92. 9 Aneignung eines Sinnsystems durch den Menschen. Die Stabilität der Weltsicht ist ausschlaggebend dafür, daß viele einzelne Situationen als sinnvolles Ganzes, als biographische Einheit, gesehen werden können. Diese Weltsicht ist eine grundlegende Sozialform von Religion, die in allen menschlichen Gesellschaften zu finden ist. Ihr Kennzeichen ist eine ihr innewohnende Bedeutungshierarchie. Der sogenannte „Heilige Kosmos“ ist ebenfalls ein Teil der Weltsicht. Er ist zwar jenseits der alltäglichen Wirklichkeit angesiedelt, bedient sich aber allgemeiner anthropologischer Gegebenheiten, die ihren Ausdruck in Symbolen, Bildern und in der Sprache finden. Diese haben im profanen Bereich eine überwiegend pragmatische Funktion, sind aber auf eine transzendente Wirklichkeit bezogen. Die ungleiche Verteilung religiöser Repräsentationen in unserer Gesellschaft stellt ein großes Problem dar, denn es gelingt dem Heiligen Kosmos nicht mehr, seine integrierende Funktion für die Gesamtgesellschaft zu erfüllen. Das traditionelle religiöse System mit zumeist einheitlichen Formen ist durch einen religiösen Auflösungsprozeß Pluralismus begünstigt. Die ersetzt worden, Großkirchen der stellten diesen in der abendländischen Geschichte einen einzigartigen Fall von Religion dar. Der Pluralismus und vor allem auch die Privatisierung von Religion machen den Bruch mit dieser Tradition deutlich. Luckmann bietet neben Peter L. Berger15 eine der umfassendsten Theorien zu Religion und Gesellschaft. Die Sichtweise von Luckmann und Berger wurde von Fischer und Marhold zurecht unter der Überschrift „Unsichtbare Religion und heiliger Baldachin“ zusammengefaßt.16 Durch diese Benennung wird der gemeinsame soziologische Gesamtrahmen deutlich. Ihre Forschung ist stark wissenssoziologisch orientiert. Fischer 15 Peter L. Berger war ein bedeutender Soziologe. Er wurde 1929 in Wien geboren, war seit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts Professor an der New School for Social Research in New York und in den 70er Jahren an der Universität von New Jersey tätig. Er verfaßte unter anderem die Bücher „Einladung zur Soziologie“, „Auf den Spuren der Engel“ und zusammen mit Thomas Luckmann „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“. 16 Vgl. Fischer, Wolfram / Marhold, Wolfgang, Das Konzept des symbolischen Interaktionismus in der deutschen Religionssoziologie, in: Daiber, Karl-Fritz / Luckmann, Thomas (Hrsg.), Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, München 1983, 162ff. 10 und Marhold bemerken in diesem Zusammenhang treffend, daß die beiden Autoren Berger und Luckmann ein wissenssoziologisches Konzept entwickelt haben, das die Konstitution von Gesellschaft in dialektischen Prozessen von Individuierung und Sozialisation beschreibt.17 Auf die Unterschiede zwischen Luckmann und Berger soll hier nicht näher eingegangen werden. Für Luckmann liegt der Kern der Religion darin, daß der Mensch seine biologische Natur transzendiert. Dies geschieht durch den Aufbau des „sozialen Selbst“18 und der Gesellschaft. Diese Sichtweise Luckmanns bietet wichtige Gesichtspunkte, die die komplexen Zusammenhänge von Gesellschaft, Individuum, Sozialisation und Transzendenz aus soziologischer Perspektive darlegen. Diese werden im folgenden durch psychologische Gesichtspunkte ergänzt, wobei sich die Bereiche gegenseitig ergänzen und zum großen Teil ineinander übergehen. 1.2 Psychologischer Bereich 1.2.1 Persönlichkeitsstrukturen in einer Gesellschaft der unbegrenzten Möglichkeiten Der Mensch unserer Tage hat eine enorme Reizüberflutung zu bewältigen. Um sich selbst nicht vollkommen darin zu verlieren, muß er Taktiken entwickeln, die ihm bei der Verarbeitung dieser Reize und der Abgrenzung seiner eigenen Person und seinen Überzeugungen gegenüber den vielfältigen Angeboten zur Lebensgestaltung behilflich sind. Diese Strategien, die auch als Lebensstile bezeichnet werden können, besitzen wichtige Funktionen, vor allem sollen sie Stabilität und Zusammenhang gewährleisten, um die physische und psychische Gesundheit zu bewahren. Heiko Ernst charakterisiert das Ich des modernen Menschen in Anlehnung an Robert Lyfton19 als proteisch. Unter 17 Fischer / Marhold, 162 ff. Ibid. 19 Vgl. Ernst, Psychotrends, 21. 18 11 diesem Begriff versteht er, daß der moderne Mensch in der Lage ist, sich an immer neue Situationen rasch anzupassen und Flexibilität und zugleich Beharrungsvermögen aufzubringen. Es gelingt jedoch nur wenigen Zeitgenossen, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Die negativen Folgen dieser Situation sind nicht zu übersehen. Es existieren aber viele Möglichkeiten, sich über die eigene Überforderung, zum Teil auch Verzweiflung und Leere des eigenen Ich hinwegzutäuschen. Viele Menschen sind von einer Art Selbstlosigkeit befallen, indem sie ihr Selbst im wahrsten Sinne des Wortes los sind. Erich Fromm beschreibt den Zustand unserer Gesellschaft in seinem bekannten Werk „Die Kunst des Liebens“ folgendermaßen: „Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen sollen, sich ihres Alleinseins nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, daß sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz und Einheit bewußt werden.“20 Um die geistige Verfassung des Menschen in unserer Multioptionsgesellschaft zu beschreiben und eine Eingrenzung des Problems vorzunehmen, ist es entscheidend, vor allem drei Gesichtspunkte zu beachten, die ich in Form von drei Fragen ansprechen möchte: 1. Wie werden Erfahrungen von Entgrenzungen in sämtlichen Bereichen des Lebens bewältigt? 2. Wie geht der einzelne damit um, ständig über sich selbst nachdenken zu müssen? 3. Wie gelingt es, zu einer angemessenen Selbstdefinition zu gelangen? Auf diese drei Fragen möchte ich im folgenden genauer eingehen. 20 Fromm, Erich, Die Kunst des Liebens, Frankfurt a. M. 1990, 98. Neben der Routine der bürokratischen Arbeit ist für Fromm die Routine des Vergnügens von Bedeutung, die sich im Konsum von den durch die Vergnügungsindustrie dargebotenen materiellen wie immateriellen Konsumgütern äußert. 12 1.2.1.1 Umgang mit der Erfahrung von Entgrenzungen Erfahrungen von Entgrenzung erstrecken sich auf sämtliche Lebensbereiche. Das Ich eines Menschen, das Teil seines seelischen Lebens ist, geht aufgrund seiner Instabilität oder Ich-Schwäche nicht selten in der Außenwelt auf. Es liegt in diesem Fall oftmals eine Identitätskrise vor. Die Abgrenzung der eigenen Person gegenüber anderen und der Umwelt als ganzer gelingt oft nicht mehr. Ein Schwinden von Grenzen macht sich dann auch dort bemerkbar, wo Menschen gefordert sind, so vor allem in Arbeitsbereichen, in denen Menschen ihre Person für die Gesellschaft einbringen, vor allem auf dem Gebiet von Wissenschaft und Forschung. Grenzen innerhalb der Wissenschaft schwinden und zusammen mit diesen traditionelle ethische und religiöse Maßstäbe. Eine Anpassung an die Meinung der Mehrheit oder deren Handlungen wird oft unbewußt vollzogen. Mit dem Schwinden solcher Grenzen ist innerhalb der Gesellschaft der Verlust an Zufriedenheit über das Erreichte verbunden. Daher sind Wünsche und Erwartungen ins Maßlose gestiegen.21 Folgen dieser Entwicklung sind die Unfähigkeit zu Verzicht und Genügsamkeit und nicht zuletzt ein immer häufiger auftretender Realitätsverlust.22 Diese Entgrenzungen wirken sich im Bereich der Bioethik besonders gravierend aus. Es sei an dieser Stelle an die Diskussion um den Embryonenschutz oder auch die aktive Sterbehilfe erinnert. In Zusammenhang mit dieser Problematik kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Mensch selbst die letzten Grenzen der Entscheidung über Leben und Tod allmählich durchbricht. 21 Vgl. Ernst, Psychotrends, 23. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Reiseintensität und den Konsum von Luxusgütern als Beispiele für gestiegene Ansprüche und zur Selbstverständlichkeit gewordene Erwartungen: „Grenzenlos sind aber auch unsere Erwartungen und Wünsche geworden. Nie zuvor in der Geschichte sind so viele Menschen gereist, haben so viele Luxusgüter konsumiert und so hohe Ansprüche an Sicherheit, Glück, Zufriedenheit und Erfüllung artikuliert.“ 22 Dieser Realitätsverlust wird an dem Beispiel eines jungen examinierten Arztes deutlich, der sich aufgrund einer Fernsehsendung bei einem in der Realität nicht existierenden Krankenhaus beworben haben soll. 13 1.2.1.2 Zwang zu ständiger Selbstreflexion Aufgrund des Fehlens allgemeinverbindlicher Orientierungs- und Verhaltensmuster ist der einzelne aufgefordert, seinen Standort innerhalb der Gesellschaft immer wieder neu zu bestimmen und sich zu definieren. Diese Tatsache muß jedoch nicht in jedem Fall Krisensituationen nach sich ziehen, jedoch haben die äußeren und inneren Entgrenzungen zu einer Art Hyperreflexivität geführt. Das Individuum kann sich nicht mehr auf Prinzipien und Traditionen stützen, welche ihm übermäßige Entgrenzungserfahrungen ersparen würden und ist so in fast neurotischer Weise damit beschäftigt, sich mit anderen zu vergleichen und zu profilieren. Dies kann bis zum Narzißmus führen. Michael Lewis23 beschreibt den Narzißmus als ein Charakteristikum unserer Zeit, wenn er bemerkt: „Die Zunahme des Narzißmus und verwandter Störungen ist kein Zufall. Narkissos, der von der Betrachtung seines Spiegelbilds in einem Teich nicht loskam, ist ein angemessenes Symbol für unsere Zeit.“24 1.2.1.3 Zwang zur Selbstdefinition Soll das Individuum angesichts der Wertepluralität und zahlreichen widersprüchlichen Sinnangeboten nicht zugrunde gehen, müssen neue Grenzen konstruiert werden. Die Selbstdefinition hat aber nicht nur Bedeutung für das Individuum, sondern gerade auch für Gemeinschaften im religiös-weltanschaulichen Bereich. Für eine Glaubensgemeinschaft wie die Kirche stellt sich dieses Problem besonders gravierend dar. Die Kirche besteht aus einer Fülle von Individuen, besitzt jedoch für alle gleichermaßen vorgegebene Orientierungsmuster. Der Soziologe Peter Berger setzte sich mit diesen Problemen bereits in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts auseinander. In seinem Buch „Auf den Spuren der Engel“ schreibt er: „Der 23 Michael Lewis ist Professor für Psychiatrie, Psychologie und Kinderheilkunde an der Universität von New Jersey, USA. 24 Lewis, Michael, Scham. Annäherung an ein Tabu, München 1995, 351. 14 Pluralismus stellt uns nicht nur vor die Wahl, er zwingt uns zu wählen. Die Kehrseite der Medaille ist die Gefährdung jeder religiösen Gewißheit.“25 Die Selbstdefinition und die Bestimmung der eigenen Identität sind von der Wahl der Werte und des Lebenskonzeptes abhängig, welche der einzelne oder eine Gruppe zu verwirklichen sucht. Auf alle Fälle besteht ein „Zwang zur Häresie“26, d.h., indem ich eine bestimmte Sache auswähle und mich für diese entscheide, muß ich andere ausschließen. 1.2.2 Die Bedeutung des Schamgefühls Scham spielt im menschlichen Leben eine größere Rolle, als vielfach angenommen wird. Sie ist kein Relikt aus vergangenen Zeiten, sondern eine allgegenwärtige Konstante innerhalb der Gesellschaft. Sie wird nicht zu Unrecht als Grund- oder Schlüsselfigur bezeichnet, die in den verschiedensten Lebensbereichen einen breiten Raum einnimmt. Über die Bedeutung der Scham schreibt Heiko Ernst: „Sie beherrscht und durchdringt unser Leben weit mehr als beispielsweise Aggression oder Sexualität.“27 Scham tritt nicht immer in reiner Form zutage, da es zahlreiche Möglichkeiten gibt, sie zu verdrängen oder auch zu überspielen. Laut Ernst ist die Scham ein „soziales Gefühl“, welches sich bis zur Entstehung der menschlichen Gesellschaft zurückverfolgen läßt. Michael Lewis rechnet das menschliche Schamgefühl zu den sogenannten „Ich-bewußten, bewertenden Emotionen“28. Es wacht über den Bereich des Inneren des Menschen und garantiert den Schutz der Persönlichkeit in Bezug auf Identität und Integrität. Worauf ein Mensch mit dem Gefühl von Scham reagiert, richtet sich nach dem Gegenstand, der 25 Berger, Peter L., Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt a. M. 1970, 70. Berger betont, daß jede Religionsgemeinschaft eine Häresie darstellt, weil sie zur Auswahl steht, was ja auch die Bedeutung des Wortes Häresie verdeutlicht. 26 Vgl. Berger, Peter L., Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Hamburg 1980. 27 Ernst, Psychotrends, 100. 28 Zu diesen Ich-bewußten, bewertenden Emotionen zählen nach Lewis auch Verlegenheit, Stolz und Schuld. 15 für das Selbstbild und das Selbstwertgefühl von Bedeutung ist. Kinder sind für Beschämungen besonders sensibel. Ihre Persönlichkeit erleidet in dem Maß Schaden, wie das durch die Erziehung mitbedingte Selbstwertgefühl verletzt wird, sei es in offener oder verdeckter Weise. Normen und Wertvorstellungen wirken auf das Kind ein, sobald die Umgebung Einfluß auszuüben beginnt. In der Phase der primären Sozialisation sind bekanntlich die Eltern und die nächsten Verwandten die ersten Vorbilder. Im Elternhaus wird unter anderem die Grundlage für das das gesamte Leben hindurch so bedeutsame Urvertrauen29 geschaffen. Versagensangst ist bei Kindern ab dem zweiten Lebensjahr zu beobachten. Beim Kind laufen ab diesem Alter feststellbare Bewertungsprozesse ab.30 Löst ein Kind eine ihm gestellte Aufgabe, die es selbst als schwierig bewertet hat, so ist es stolz auf das Erreichte, andernfalls zeigt es Trauer. Versagt es jedoch bei einer leichten Aufgabe, so reagiert es mit dem Gefühl von Scham. Mit dem Empfinden von Scham eng verknüpft ist das Schuldgefühl.31 Welches von beiden zuerst auftritt ist von der Art des Selbst eines Menschen abhängig, also von Mensch zu Mensch verschieden. Diese Überlegungen, die am Beginn der Sektenproblematik stehen, sind für das Verständnis von Sozialisationsprozessen innerhalb von Sekten und deren Vorgehensweisen von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. 29 14 Vgl. Erikson, Erik H., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1994 , 62ff. Erikson versteht unter dem Urvertrauen das Fundament einer gesunden Persönlichkeit. Er charakterisiert dies auf folgende Weise: „Als erste Komponente der gesunden Persönlichkeit nenne ich das Gefühl des Ur-Vertrauens, worunter ich eine auf die Erfahrungen des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt verstehen möchte.“ 30 Vgl. Lewis, Scham, 155. 31 Es gab vor einigen Jahren eine breite Diskussion über die Frage, welches Gefühl zuerst auftritt. Lewis stellt drei mögliche Modelle vor. Das erste setzt das Gefühl der Scham vor das der Schuld. Ein weiteres sieht Scham als Folge von Schuld an, letzteres nimmt eine Gleichzeitigkeit beider Regungen an. (Vgl. Lewis, Scham, 160). 16 2 Sektendefinition 2.1 Etymologie des Begriffs „Sekte“ Das deutsche Wort „Sekte“ leitet sich vom Mittelhochdeutschen „secte“32 ab, das dem Lateinischen „secta“ entlehnt ist und dem mehrere Bedeutungen zukommen, wie „befolgter Grundsatz“, „Richtlinie“, „Partei“, „philosophische Lehre“. Das Substantiv „secta“ wird mit dem Wort „sequi“ bzw. „secutum“ in Verbindung gebracht, welches „folgen“, „nachfolgen“ bedeutet. Die Ableitung vom Lateinischen „secare“ (abschneiden, abtrennen) scheint im ersten Moment plausibel, ist jedoch philologisch nicht einwandfrei geklärt.33 2.2 Verwendung des Begriffs „Sekte“ und andere Bezeichnungen Es existieren zahlreiche Gruppierungen, vor allem im protestantischen Bereich, die großen Wert auf eine begriffliche Abgrenzung ihrer Gruppe von den als Sekten bezeichneten Vereinigungen legen. Sie wehren sich gegen die Stigmatisierung, die mit dem Begriff „Sekte“ verbunden ist. Im Englischen wird daher die neutralere Bezeichnung „denomination“ für alle Gruppen, auch für die im Deutschen als Sekten bezeichneten, verwendet. Im deutschsprachigen Raum werden religiöse Gruppierungen, die außerhalb der offiziellen Kirchen stehen als „Sondergemeinschaften“, seit den 1970er Jahren auch als „Neureligionen“ oder „Neureligiöse Bewegungen“ begrifflich erfaßt. Um das zum Teil zerstörerische Potential, 32 Vgl. Stichwort „Sekte“, in: Duden-Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen 2 Sprache, Bd. 7, Drosdowski, Günther u. a. (Hrsg.), Mannheim 1989 . 33 Vgl. Hemminger, Hansjörg, Was ist eine Sekte? Erkennen - Verstehen - Kritik, Stuttgart 1995, 14. Laut Hemminger ist die Ableitung von lat. „secare“ (abschneiden, trennen) nicht korrekt, auch wenn sie den Wortsinn stark beeinflußt hat. 17 welches einige Gruppen besitzen, deutlich zu machen, wird manchmal auch von „Kultbewegungen“ gesprochen.34 2.3 Spezielle Beschreibungen des Sektenphänomens Kurt Keinath definiert „Sekte“ als ein von „religiösen Gehalten mitbestimmtes und in soziologischen Kategorien faßbares Gebilde“35, wobei zwei Grundgesetze der Sektenbildung besonders deutlich werden, zum einen die sogenannte „Abfallstheorie“, nach welcher der Stamm, von dem sich eine Sekte abgespalten hat, sich dauernd von seinem ursprünglichen Leitbild entfernt. Zum anderen erwähnt Keinath den Gegensatz, in dem Sekten zur ursprünglichen Gemeinschaft (der Kirche) stehen, wobei Grundinhalte der Lehre dieser ursprünglichen Gemeinschaft uminterpretiert oder gar völlig eliminiert werden. Die Sekte schlechthin, als Zusammenfassung einzelner Teile, existiert nicht. Es gibt lediglich konkrete Erscheinungsformen von Sekten, in denen sich verschiedenste Elemente in unterschiedlich starker oder schwacher Ausprägung aufzeigen lassen. Keinath zieht bestimmte Kriterien zur Bestimmung einzelner Sektenformen heran. Eines dieser Kriterien betrachtet die Kirche als Großverband, dem die Sekte als kleine Gemeinschaft gegenübersteht. Dies nennt Keinath das „Numerische Kriterium“. Das zweite, das sogenannte „Historische Kriterium“, sieht das Wesen der Sekte in der Neuerung und diese als Abkehr von der „alten Lehre“, demzufolge sich allerdings eine prekäre Situation ergeben würde: Das Christentum wäre so eine jüdische, der Protestantismus eine katholische Sekte. Als drittes wird das „Sozial-Soziologische Kriterium“ angeführt. Bei einer Sekte handelt es sich diesem dritten Kriterium zufolge oftmals um eine Protestform gegenüber einer verbürgerlichten Kirche, wobei dem einzelnen mehr 34 Vgl. Langel, Helmut, Destruktive Kulte und Sekten. Eine kritische Einführung, München 2 1995 , 23: „ Aus der Situation der Betroffenheit und der erfahrenen Schädigung entstand in Amerika der Begriff des destructive cult, des destruktiven Kults.“ 18 Beachtung und persönliche Zuwendung zuteil wird. Das „Psychologische Kriterium“ macht die Bezeichnung „Sekte“ für eine Gruppe an bei Sektengründern und Mitgliedern vorkommenden Abnormitäten fest. Zusammenfassend stellt Keinath die Sekte dar als ein religiös-soziales Gebilde, das weder das Glaubensbekenntnis der Kirche als verbindlich anerkennt, noch an ökumenischen Kontakten Interesse zeigt. Am Ursprung der Sekte steht eine Gründerperson,36 oder sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluß von Menschen gleicher Gesinnung. Eine andersartige Beschreibung des Phänomens Sekte liefert HansDiether Reimer in einer Publikation der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen aus den siebziger Jahren, worin er sich sehr vorsichtig äußert: „Aber heute nimmt man als nachdenklicher Mensch diese abschätzige und damit verletzende Wort ‚Sekte‘‚ ,Sektierer‘, nur mit einem Gefühl der Unsicherheit und des Unbehagens in den Mund.“37 Reimer betrachtet die von der Religionswissenschaft gegebene Definition, die in der Sekte eine religiöse Minderheit sieht, welche sich von einer Mutterreligion getrennt hat, als ungenügend. Hinter der Gegenüberstellung Kirche – Sekte steht seiner Meinung nach ein ganz bestimmtes Kirchenverständnis, dem ein entsprechendes Sektenverständnis folgt. Angesichts der verwirrenden Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Sekte“, die mehr Unklarheit als Klarheit bringt, soll in dieser Arbeit, im Hinblick auf die Gruppierungen der Zeugen Jehovas und Scientology, folgende Definition gelten, um den Sektenbegriff sinnvoll gebrauchen zu können: Unter Sekten verstehe ich philosophisch–religiös bestimmte Gruppierungen, die außerhalb der Großkirchen stehen, das christliche Glaubensbekenntnis nicht anerkennen und keinerlei Interesse an 35 Vgl. Keinath, Kurt, Sekte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br. 2 1964 , 613f. An dieser Stelle ist absichtlich die Ausgabe von 1964 zu Rate gezogen worden, da die hier gegebene Definition sehr anschaulich ist. 36 Vgl. Hemminger, Was ist eine Sekte?, 15. Hemminger geht in den meisten Fällen von charismatischen Gründerpersönlichkeiten aus. Er betont die anfängliche Gutwilligkeit dieser Person. Diese denkt nicht immer an eine Trennung von einer Gruppe, sondern verlangt eine Reform der jeweiligen Religion oder Gemeinschaft. Zum Sektierer wird man dann erst aufgrund des Widerstands der institutionalisierten und organisierten Kirchen oder anderer Gemeinschaften, deren Reform angestrebt wird. 37 Reimer, Hans-Diether (Hrsg.), Stichwort Sekten. Glaubensgemeinschaften außerhalb der Kirchen, Stuttgart 1977, 7f. 19 ökumenischen Kontakten zeigen. Sie stehen anderen weltanschaulichen Überzeugungen ablehnend bis feindlich gegenüber, sind auf die eigene Führergestalt fixiert, verabsolutieren die eigene Lehre und dulden keinerlei Kritik von innen wie von außen. Das Leben der Sektenmitglieder ist geprägt durch gegenseitige Kontrolle, um die Stabilität des Systems zu gewährleisten. 2.4 Das Sektenphänomen in Kirchengeschichte und Theologie Die Geschichte sektiererischer Gruppen läßt sich bereits am Beginn der christlichen Gemeinden, wie sie uns in der Heiligen Schrift begegnen, feststellen.38 Der Apostel Paulus beispielsweise setzt sich immer wieder gegen Personen zur Wehr, die die überlieferte Lehre verfälschen. In den übrigen Schriften des Neuen Testaments finden sich hierzu ebenso zahlreiche Beispiele, wie in 2 Petr 2, 1, wo von Irrlehrern die Rede ist.39 Die Dogmengeschichte ist ebenfalls ein Zeugnis für den Kampf der Kirche gegen die Ketzer und die dogmatische Abgrenzung gegenüber ihren Irrlehren. Der Kirchenvater Tertullian charakterisiert im 2. Jh. zur offiziellen Kirche in Widerspruch stehende Gruppierungen als „durch Irrtum und Lüge verkommene Gebilde“.40 Das griechische Wort „hairesis“ entspricht dem lateinischen „secta“ in seinem Gebrauch als Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Dieses wird im Neuen Testament an bestimmten Stellen gebraucht, wie an der bereits zitierten in 2 Petr 2, 1, wo von 38 Vgl. Valentin, Friederike, Sekten, in: Gasper, Hans / Müller, Joachim / Valentin, Friederike (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, 4 Freiburg i. Br. 1996 , 980. Friederike Valentin bemerkt: „Das Verhältnis Kirche-Sekte ist von Anfang an spannungsgeladen. Bereits im Neuen Testament ist von ‚verderblichen Sekten’ (2 Petr 2,1) die Rede.“ 39 „Aber genauso wie im Volk Israel falsche Propheten aufgetreten sind, werden auch unter euch falsche Lehrer auftreten, die gefährliche Irrlehren verkünden. Durch ihre Lebensführung werden sie den erhabenen Herrn verleugnen, der sie freigekauft hat. Damit werden sie sehr schnell ihren eigenen Untergang herbeiführen.“ (2 Petr 2, 1), zitiert nach: Die Bibel. Gute-Nachricht-Bibel mit Einführungen und Bildern und den Spätschriften des alten Testaments, Deutsche Bibelgesellschaft (Hrsg.), Stuttgart 1998. 40 Vgl. Segl, Peter, Sekte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i. Br. 3 2000 , 414. 20 Irrlehrern die Rede ist. Im Griechischen wird von „verderblichen Irrlehren“ (haireseis apoletas) gesprochen.41 In Zusammenhang mit der Dogmengeschichte sei an die Irrlehre des Arianismus erinnert, ferner die Gnosis, den Donatismus oder den Montanismus. Der bekannte nordafrikanische Bischof Augustinus faßte sämtliche ihm geläufigen Irrlehren in seinem Werk „De haeresibus“ zusammen. Dieses bildete von einigen Erweiterungen abgesehen das ganze Mittelalter hindurch eine Art Leitfaden zur Beurteilung aller möglichen Ketzerbewegungen. Als Ketzer wurden im Mittelalter auch die Katharer und Waldenser verfolgt. Die Reformation zog zu Beginn der Neuzeit ebenfalls zahlreiche sektiererische Abspaltungen nach sich, deren radikalste und wohl bekannteste die Täuferbewegung war. Im Zeitalter der Reformation wurden die Protestanten von den Katholiken als Ketzer bezeichnet. Die Wiedertäufer wurden von Katholiken und Protestanten gemeinsam als gefährliche Sektierer bezeichnet, weshalb ihnen der Augsburger Religionsfriede von 1555 die reichsrechtliche Anerkennung versagte. Die verschiedenen Definitionsversuche lassen die Schwierigkeiten bei einer eindeutigen Bestimmung des Begriffs „Sekte“ erkennen. Sie zeigen aber auch die Dringlichkeit einer allgemein anerkannten Definition des Begriffs auf. In einigen der heutigen Sekten treten wieder längst vergessene und von der katholischen Kirche verworfene Irrlehren in neuem Gewand auf. Zu diesen Irrlehren zählt etwa der Adoptianismus42 bei den Zeugen Jehovas, wovon noch zu sprechen sein wird. Daher ist trotz aller ablehnenden oder gar abwertenden Aspekte, die im Sektenbegriff mitschwingen, eine Abgrenzung der Kirche gegenüber Sekten, wie die der im folgenden zu behandelnden Zeugen Jehovas und Scientology, unerläßlich. 41 Vgl. Dietzfelbinger, Ernst, Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch6 Deutsch, Neuhausen / Stuttgart 1998 . 42 Die Anhänger dieser Lehre betrachteten Jesus Christus als reinen Menschen, der bei der Taufe im Jordan von Gott adoptiert wurde. 21 3 Zwei Sekten als Beispiel 3.1 Die Zeugen Jehovas 3.1.1 Das religiöse Umfeld in den USA am Ende des 19. Jahrhunderts Die Mehrzahl der Auswanderer, die im 18. und 19. Jahrhundert vor allem auch aus religiösen Gründen Europa verließen und nach Nordamerika, in die sogenannte „Neue Welt“, aufbrachen, gehörte überwiegend reformierten Glaubensgemeinschaften an, die wesentlich von der Theologie Johannes Calvins durchdrungen waren.43 Ein wesentlicher Aspekt der Theologie Calvins ist der Gedanke der Verherrlichung Gottes als Endziel der Welt und die doppelte Prädestination des Menschen. Diese Vorherbestimmung kann zur Seligkeit wie zur Verdammnis führen. Aber selbst die Verdammung des Menschen gereicht zur Verherrlichung Gottes, denn die Verwerfung unterstreicht die Erlösung aus reiner Gnade. Die theologische Auffassung von der Verherrlichung Gottes als Endziel der Welt hat darüber hinaus weitreichende Konsequenzen für das Alltagsleben. Frömmigkeit im calvinistischen Sinn zeichnet sich durch strikte Enthaltsamkeit und Fleiß im Berufsleben aus. Von den reformierten Kirchen wurde auch der in alttestamentlichen Prophetenworten auftauchende Begriff „Heiliger Rest“44 aufgegriffen. Dieser „Heilige Rest“ sollte inmitten einer vom Glauben an den alleinigen Gott Jahwe abgefallenen Gesellschaft ein besonders Gott wohlgefälliges Leben führen. Ferner spielte der Gedanke der asketischen Lebensweise und der Heiligung des Alltags durch Arbeit eine große Rolle. Die für das Mönchtum klassischen evangelischen Räte der Armut und der Keuschheit wurden nicht übernommen, wohl aber der Rat des Gehorsams, wobei der Beschluß der Gemeinde als nicht zu hinterfragender Wille Gottes interpretiert wurde, der besonders in der Heiligen Schrift zu erkennen ist.45 43 Vgl. Hägglund, Bengt, Geschichte der Theologie. Ein Abriß, München 1983, 201ff. Vgl. Jer 23, 3; 31, 7; 40, 11f; 50, 20. 45 Vgl. Weber, Herbert / Valentin, Friederike, Zeugen Jehovas. Zwischen Bewunderung 2 und Befremdung. Ein Ratgeber, Freiburg i. Br. 1994 , 15. 44 22 Die ursprünglichen Hoffnungen der Auswanderer, in der Neuen Welt eine Gesellschaft gemäß der Bibel und den Geboten Gottes aufzubauen, wurden durch den Rationalismus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts enttäuscht. Die Entwicklungen auf philosophischem Gebiet und die Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaften bildeten die Grundlage für neues modernes Denken und Handeln. Hägglund beschreibt diese tiefgreifenden Veränderungen wie folgt: „Hinter dem neuen Weltbild steht die Überzeugung von der Kompetenz der menschlichen Vernunft, das Dasein zu überblicken und zu beherrschen und die Gesetze für das Geschehen des Daseins wie auch die Regeln für das menschliche Zusammenleben zu erkennen. Als Konsequenz der neuen Einstellung, die auch eine fortschrittliche Entwicklung in Erkenntnis und Ethik des Menschen annimmt, bilden sich eine rationalistische Naturerklärung und Morallehre heraus.“46 Als Gegenströmung zu dem naturwissenschaftlichen Denken entstanden die sogenannten „Erweckungsbewegungen“47, deren Prediger eine apokalyptisch-endzeitliche Stimmung erzeugten. Aus einer dieser Erweckungsbewegungen bildete sich um 1840 die Gruppe der Adventisten heraus, als deren Gründer William Miller (1782-1849) gilt.48 Miller predigte die kurz bevorstehende Ankunft Jesu Christi und errechnete anhand biblischer Zahlenangaben verschiedene Zeitpunkte, an denen dieses Ereignis stattfinden sollte. Er setzte die Wiederkunft Christi zunächst für den 21. März 1844, später für den 21. Oktober 1844 fest. Das Ausbleiben der Parusie an den von ihm errechneten Terminen zog eine tiefgreifende Enttäuschung auf Seiten der Anhänger Millers nach sich. Eine Aufsplitterung der Gemeinde in zahlreiche adventistische Einzelgruppen war die Folge. Jede dieser Gruppen bemühte sich in der folgenden Zeit darum, durch Neuinterpretation der Parusievorstellungen Millers das Problem der nicht eingetroffenen Erscheinung Christi zu 46 Hägglund, Geschichte der Theologie, 262. Dieser Terminus ist ein im protestantischen Bereich angesiedelter Begriff zur Charakterisierung verschiedener Erneuerungsbewegungen, die sich außer in Europa vor allem in Nordamerika verbreiteten. 48 Vgl. Obst, Helmut, Adventbewegung, in: Gasper, Hans / Müller, Joachim / Valentin, Friederike, Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg i. 4 Br. 1996 , 19ff. 47 23 bewältigen. Die bedeutendste Gemeinschaft blieb die der Sieben-TagsAdventisten.49 Diese Gemeinschaft berechnete zunächst weitere Termine und verlegte die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1874. Alle Jahreszahlen erwiesen sich jedoch wie ehedem als unzutreffend. Weitere Abspaltungen waren die Konsequenz. Hierbei spielte N. H. Barbour eine entscheidende Rolle. Er war der Herausgeber einer Zeitung mit dem Titel „The Herold of the Morning“.50 Barbour war der Meinung, die richtige Übersetzung des griechischen Wortes „parousia“ sei „Gegenwart“. Man deutete das Jahr 1874 von nun an als das Jahr der unsichtbaren Gegenwart Jesu Christi. Diese Interpretation bot einen doppelten Vorteil. Zum einen war die vorherige Panne bei den Berechnungen geschickt überspielt worden, zum anderen konnte das Jahr 1874 immer noch als korrekt bezeichnet werden. Diese neue Sichtweise ließ alle vorherigen Berechnungspannen rasch vergessen. 3.1.2 Der Gründer der Zeugen Jehovas Charles Taze Russell (1852 - 1916) Der Gründer der Sekte der Zeugen Jehovas – zunächst unter dem Namen „Ernste Bibelforscher“ auftretend – war der Amerikaner Charles Taze Russell. Er hatte irisch-schottische Vorfahren und wurde in Allegheny, in der Nähe von Pittsburgh, geboren. Als Neunjähriger verlor er seine Mutter, mit fünfzehn Jahren machte ihn sein geschäftstüchtiger Vater zum Teilhaber an einer Vielzahl von Herrenbekleidungsgeschäften.51 Der junge Charles Taze beschäftigte sich sehr früh mit Themen des christlichen Glaubens, was möglicherweise durch den frühen Tod seiner Mutter mitbedingt war, aber besonders auf seine presbyterianische 49 Vgl. Reimer, Hans-Diether, Die Adventisten, in: Reimer, Hans-Diether / Eggenberger, Oswald, ...neben den Kirchen, Konstanz 1979, 179f. 50 Twisselmann, Hans-Jürgen, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, Gießen / 8 Basel 1987 , 88ff. 51 Vgl. Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Deutscher Zweig e.V. (Hrsg.), Jehovas Zeugen. Verkünder des Königreiches Gottes, Selters / Taunus 1993, 42 f. 24 Erziehung zurückzuführen ist.52 Zwei religiöse Probleme gewannen für ihn dabei besondere Bedeutung: die Prädestinationslehre und damit die Frage nach dem Freiheitsgrad des Menschen sowie das Problem der Reprobation, der ewigen Verwerfung bzw. Verdammung, der bösen Menschen.53 Diese beiden Probleme ließen ihn im Verlauf seines Lebens nicht wieder zur Ruhe kommen: „Beruflich ging es ihm zwar gut, doch was seinen Glauben betraf, war er sehr beunruhigt.“54 Als er von der Kirche der Presbyterianer keine zufriedenstellende Antwort auf seine drängenden Lebensfragen bekam, wechselte er in die sogenannte „Kongregationalkirche“ über, wo ihn allerdings eine ähnliche Enttäuschung erwartete.55 Die Folge war, daß er sich mit siebzehn Jahren völlig von den Kirchen und ihren Glaubensbekenntnissen lossagte. Wie die Zeugen Jehovas anmerken, beruhte dieser Entschluß Russels auf seiner Erkenntnis, die Glaubenskenntnisse der christlichen Kirchen seien irreführend und widersprächen dem Worte Gottes, auch wenn er ihnen gewisse Elemente der Wahrheit zugesteht.56 Dies wird von der Wachtturm-Gesellschaft wie folgt kommentiert: „Ja, in den Glaubensbekenntnissen der Kirchen waren ,Bestandteile der Wahrheit’ in einem Morast heidnischer Lehren verborgen, die während des jahrhundertelangen Abfalls in die befleckte Christenheit eingedrungen waren.“57 Im Jahr 1870 trat eine Wende im Leben Russells ein. In diesem Jahr kam er zum ersten Mal in Kontakt mit einer Gruppe von Adventisten, bei der er mit der Vorstellung einer nahe bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi vertraut gemacht wurde. Dieser Gedanke beschäftigte ihn derart, daß er 52 Die Wachtturm – Organisation bemerkt hierzu: „Seine Mutter starb, als er erst neun Jahre alt war, aber schon von früher Kindheit an war er von seinen frommen Eltern religiös erzogen worden. Ein späterer Gefährte C.T. Russells drückte es so aus: ,Sie pflegten den kleinen Zweig und er wuchs in der Richtung des Herrn’.“(Jehovas Zeugen, 42). 53 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 88ff. 54 Jehovas Zeugen, 43. 55 Vgl. Reimer, Hans-Diether, Jehovas Zeugen, in: Reimer / Eggenberger, ...neben den Kirchen, Konstanz 1979, 220f. 56 „Schritt für Schritt erkannte ich, daß, obwohl jedes der verschiedenen Glaubensbekenntnisse Bestandteile der Wahrheit enthielt, sie doch als Ganzes irreführend und mit dem Wort Gottes im Widerspruch waren.“ (Jehovas Zeugen, 43). 57 Jehovas Zeugen, 43. 25 sich dazu entschloß, mit Freunden und Verwandten zum regelmäßigen Studium der Heiligen Schrift zusammenzukommen. Bald darauf lernte er die von Barbour herausgegebene Zeitung „Herold of the Morning“ kennen, und nach einem persönlichen Gespräch mit Barbour übernahm Russell die Lehre von der Ankunft des Herrn im Jahr 1874. Er beteiligte sich von nun an finanziell und mit persönlichem Engagement an der Herausgabe der Zeitschrift Barbours. Russell gab sogar seinen Beruf als Geschäftsmann auf, um sich ganz der Aufgabe der Verkündigung der für 1874 erwarteten Wiederkunft Christi widmen zu können. Er erweiterte diese Lehre, indem er die Jahre von 1874 bis 1914 als eine „vierzigjährige Erntezeit" bezeichnete, an deren Abschluß 1914 das Königreich Christi anbrechen werde und alle anderen Reiche einer universalen Vernichtung anheimfallen würden. Es dauerte aber nicht lange, da trennte sich Russell unerwartet von Barbour. Grund war die von diesem betriebene Kritik biblischer Texte, die bis hin zu Zweifeln an der zentralen Bedeutung des Erlösungstodes Jesu Christi führte. In einem Brief an Barbour vom 3.Mai 1879 machte Russell ihn auf sein falsches Verständnis der Bedeutung des Todes Jesu aufmerksam und legte seine Gründe für die Trennung von Barbour dar.58 Mit Russell verließen eine Reihe Anhänger ebenfalls die Gruppe und schlossen sich ihm an. Die Lehre von der unsichtbaren Gegenwart Jesu Christi wurde allerdings beibehalten und erweitert. Um die weitere Verbreitung dieser Lehre zu gewährleisten, und um trotz der Trennung von Barbour mit der Verkündigung des Königreiches Gottes fortfahren zu können und vor allem die Lehre vom Loskaufopfer Jesu im Gegensatz zu Barbour zu verkündigen gründete Russell am 1. Juli 1879 eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence“.59 Diese Zeitschrift erfuhr aufgrund des unermüdlichen 58 „Die Abweichungen erscheinen mir so gravierend, daß die enge Verbundenheit und Harmonie, wie sie zwischen Herausgebern und Redakteuren eines Blatts oder einer Zeitschrift bestehen sollte, zwischen Dir und mir nicht mehr existiert, und deshalb bin ich der Meinung, daß wir unsere Verbindung abbrechen sollten.” (Jehovas Zeugen, 48). 59 Die Wachtturm-Gesellschaft gibt dies heute wie folgt wieder: „C.T. Russell war allerdings der Meinung, daß es nicht reichte, sich vom Herald zu distanzieren; die Lehre vom Lösegeld mußte verteidigt und Christi Gegenwart verkündigt werden. 26 Engagements der Anhänger Russells eine enorme Verbreitung, und somit war der erste Schritt für ein internationales Werk vollzogen. Neben dieser Zeitschrift sind die sogenannten „Schriftstudien“ Russells zu nennen, in denen er seine wesentlichen theologischen Gedanken niederschrieb. Russell gründete im Jahr 1881 eine Traktat-Gesellschaft, die sich die Verbreitung der Schriften zur Aufgabe machte und die er „Zion's Watch Tower Tract Society“ nannte. Die Gesellschaft wurde 1884 in Pennsylvanien gesetzlich eingetragen und 1896 in Watch Tower and Bible Tract Society umbenannt.60 Diese Gesellschaft und die Gruppe der Bibelforscher, wie sich die Anhänger Russells auch nannten, waren anfangs von einem harmonischen Verhältnis untereinander geprägt. Alles schien sich optimal zu entwickeln, bis sich dann eine Krise in Russells Eheleben abzeichnete. 1906 erfolgte die Scheidung der Ehe61, was nicht ohne Folgen für die von Russell gegründete Gesellschaft blieb, da seine Frau innerhalb der Organisation einen bedeutenden Einfluß ausübte; wegen hinzukommender Lehrstreitigkeiten kam es zu mehreren Abspaltungen.62 Russell ließ sich von diesen Krisen nicht entmutigen. Er sagte für das Jahr 1914 bahnbrechende Ereignisse für die Zukunft der Menschheit voraus, so die Zerstörung aller Reiche dieser Welt und die Errichtung eines tausendjährigen Reiches Jesu Christi. Der heiligen Stadt Jerusalem werde besondere Ehre zuteil, alle Heiligen des Alten Bundes würden auferstehen und als sichtbare Herrscher über die Erde eingesetzt werden, die Juden würden die Gnadenstellung wiedererlangen, die sie einst innehatten.63 So werde Gott sein Reich für alle Menschen unübersehbar aufrichten. Daher gab Russell im Juli 1879 Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence (Zions Wacht-Turm und Verkündiger der Gegenwart Christi) heraus.” (Jehovas Zeugen, 48). 60 „Zion’s Watch Tower Tract Society. Gegründet 1881 und gesetzlich eingetragen am 15. Dezember 1884 im Staat Pennsylvanien. 1896 wurde ihr Name auf Watch Tower Bible and Tract Society abgeändert.” (Jehovas Zeugen, 229). 61 Die Ehescheidung wird von der WTG als gegen den Willen Jesu gerichtet gewertet (vgl. Jehovas Zeugen, 177ff.), die Scheidung der Ehe Russells wird daher in der WTG-Literatur bewußt übergangen. 62 Vgl. Gassmann, Lothar, Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Beurteilung, Neuhausen / Stuttgart 1996, 30f. 63 Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 91f. 27 Keine dieser Voraussagen traf ein. Statt dessen kam der Erste Weltkrieg und alle Hoffnungen wurden zunichte gemacht. Russell verschob nach diesen Enttäuschungen den Termin der erwarteten Wiederkunft Christi von 1916 auf 1918. Das Nichteintreten der von ihm berechneten Ereignisse schrieb er dem geheimnisvollen Wirken Gottes zu und zog sich somit aus der Verantwortung. Um seine Anhänger zu beschwichtigen schrieb er: „Brüder, wer von uns Gott gegenüber die rechte Einstellung hat, der ist über keine seine Handlungsweisen enttäuscht.”64 Russell starb am 31.Oktober 1916, ohne erleben zu müssen, daß auch das neue Datum falsch war. Sein Tod hatte den Ausbruch extremer Spannungen innerhalb seiner Anhängerschaft zur Folge. Erst kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges wurde es nach schwierigsten Machtkämpfen möglich, das Problem seiner Nachfolge zu lösen.65 3.1.3 Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin Rutherford Unter der Präsidentschaft J. F. Rutherfords wehte ein neuer Geist in der Wachtturm-Organisation.66 Am 8. November 1869 in Morgan County (Missouri) als Kind baptistischer Eltern geboren, kam er mit sechzehn Jahren aufs College, um Rechtswissenschaften zu studieren, und wurde 1892 Rechtsanwalt einer Firma in Missouri. Zeitweise wirkte er sehr erfolgreich als Staatsanwalt und Sonderrichter, was ihm den Beinamen „Richter“ einbrachte.67 1894 kam er durch zwei Anhängerinnen Russells mit der Organisation in Kontakt, ließ sich 1906 „taufen“ und wirkte bereits ab 1907 als Rechtsberater der Wachtturm-Gesellschaft. Darüber hinaus vertrat er Russell bei öffentlichen Auftritten und Diskussionen. Seine Position als Rechtsbeistand der Wachtturm-Organisation lieferte ihm alle nötigen 64 Jehovas Zeugen, 62. Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 42f. 66 Vgl. Kaiser, Eva-Maria / Rausch, Ulrich, Die Zeugen Jehovas. Ein Sektenreport, München 1998, 126f. 67 Vgl. Jehovas Zeugen, 67. 65 28 Voraussetzungen für eine Übernahme der obersten Führungsgewalt. Er setzte kurzerhand sämtliche Konkurrenten vor die Tür. Die in Konkurrenz zu ihm stehenden und ihres Amtes enthobenen Mitglieder des Führungsgremiums waren laut WTG zwar von Russell ernannt worden, hatten jedoch auf der Jahresversammlung der Gesellschaft nie eine offizielle Bestätigung erhalten. Dies kam Rutherford jetzt, bei der Begründung ihrer Amtsenthebung, zugute. Er erwies sich so als der einzig legitime Nachfolger Russells. Er wollte sie vor allem wegen ihrer Kritik an seinem Führungsstil ausschalten. Seine Ausübung der Regierung innerhalb der Organisation wurde von ihnen als „bestehende Tyrannei“ empfunden. Die WTG bezeichnet seine Konkurrenten auch heute noch als Unruhestifter.68 Rutherford gehörte zu einem mehrköpfigen Direktorium, dem er lange vor Russells Tod angehörte, gelangte an die Spitze des Komitees zur Herausgabe der Zeitschriften und war mit der Arbeit und den Strukturen bestens vertraut. Am 6. Januar 1917 wurde er bei der Wahl innerhalb des Führungsgremiums offiziell bestätigt. Es galt, in der nächsten Zeit schwierigste Aufgaben zu bewältigen, denn die von Russell für 1914 vorhergesagten Ereignisse waren nicht eingetreten. Rutherford verstärkte die Werbearbeit. Als weitere Maßnahmen wurden die bisher nur lose miteinander verbundenen einzelnen Versammlungen, also die Ortsgemeinden, zentralisiert und über die Zentrale in Brooklyn verwaltet. Dies hatte eine bessere Überschaubarkeit und Kontrolle zur Folge und führte nicht zuletzt zu einem rapiden Mitgliederzuwachs innerhalb kürzester Zeit. Das Ausbleiben der angekündigten Parusie für 1914 wurde durch Umdeutungen der Aussagen Russells vertuscht.69 Entscheidend bei dieser neuen Interpretation der alten Vorhersagen war ein von Rutherford und seinen Mitarbeitern herausgegebener siebter Band der „Schriftstudien“ mit den theologischen Gedanken Russells, der zwar von diesem begonnen, aber von Rutherford und seinen Mitarbeitern vollendet und somit auch verändert wurde. Er wurde aber bei seinem Erscheinen 68 69 Vgl. Jehovas Zeugen, 67f. Vgl. Twisselmann, Hans-Jürgen, Der Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas, Gießen 1995, 78f. 29 als authentischer Band Russells ausgegeben.70 Ab den zwanziger Jahren ließ Rutherford den Druck der Schriften Russells völlig einstellen, um möglichst seine eigenen Gedanken und Lehren unter den Anhängern zu verbreiten. 1917 traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Rutherford und seine Anhänger lehnten aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen sämtliche Kriegshandlungen ab. Sie waren davon überzeugt, als einzige religiöse Gemeinschaft das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern, und verachteten alle politischen und kirchlichen Systeme, weil diese sich an den Kriegshandlungen beteiligten und somit ihre Gottfeindlichkeit eindeutig unter Beweis stellten. Rutherford scheute selbst vor öffentlicher Polemik gegen den Staat und die Kirchen nicht zurück. Dies brachte ihn in eine schwierige Situation. Lothar Gassmann bemerkt hierzu: „Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die Ernsten Bibelforscher genau beobachten.“71 Bald darauf wurden Rutherford und einige der führenden Köpfe der Bibelforscher verhaftet.72 Kurz vor Ende des Krieges kamen die verhafteten Bibelforscher jedoch wieder frei. Die Inhaftierung Rutherfords steigerte dessen Ansehen innerhalb der Organisation erheblich. Rutherford veröffentlichte 1920 eine Zeitschrift mit dem Titel „Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben“. Darin sagte er ähnlich wie einst Russell bahnbrechende Ereignisse voraus, die er jedoch für 1925 ansetzte. Zu diesen Ereignissen zählte unter anderem die Rückkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob auf diese Erde. Als diese Geschehnisse ausblieben, verzichtete Rutherford auf weitere Voraussagen. Er führte statt dessen weitere Neuerungen ein, so die Verpflichtung des Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Gründung 70 „Geschäftsführende Vorstandsmitglieder der Gesellschaft überprüften das fertige Manuskript und genehmigten die Veröffentlichung, [...].“ (Vgl. Jehovas Zeugen, 67). 71 Gassmann, Zeugen Jehovas, 56. 72 Unter der Überschrift „Opfer einer von Geistlichen angezettelten Verfolgung“ macht die WTG hierfür aber allein die Vertreter der Kirchen, die mit dem Staat paktiert hätten, verantwortlich. (Vgl. Jehovas Zeugen, 70). 30 eigener Rundfunkstationen und die Abschaffung der für ihn als heidnisch geltenden Feiertage wie Weihnachten und Ostern und der christlichen Symbole, vor allem des Kreuzes. Die Mitglieder der Bibelforscher wurden zu legitimen Nachfolgern des Alten Israel und der christlichen Kirchen erklärt, die ihre Chance auf die Erlangung des Heils verwirkt hatten. Die Wachtturm-Organisation war somit zur auserwählten endzeitlichen Heilsgemeinde geworden. Von nun an führten sie die bis heute beibehaltene Bezeichnung „Zeugen Jehovas“. Dies wurde im Jahr 1931 öffentlich bei einem Kongreß bekanntgegeben. Gleichzeitig wurde die Entwicklung der Sekte zu einem totalitären religiösen System eingeleitet. 3.1.4 Die Entwicklung der Zeugen Jehovas in Deutschland 3.1.4.1 Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich Die Ausbreitung der Zeugen Jehovas in Deutschland wurde durch die Übersiedlung des Deutsch-Amerikaners Otto Kötitz eingeleitet, der sich im Jahr 1903 in Elberfeld niederließ und dort ein Zentrum der Organisation eröffnete.73 Die Ernsten Bibelforscher gründeten in den folgenden Jahren zunächst kleinere Versammlungen, die sich rasch vergrößerten. Ab dem Jahr 1904 erschienen die ersten Ausgaben der Zeitschrift „Der Wachtturm“ in deutscher Sprache. Russell, der bei einer Europareise 1891 schon einmal Deutschland besucht hatte, kehrte in den Jahren von 1909 bis 1911 zu mehreren Predigtveranstaltungen wieder hierhin zurück.74 Sein Nachfolger Joseph Franklin Rutherford kam 1913 aus dem gleichen Grund nach Deutschland. In der Zeit des Ersten Weltkrieges gestaltete sich die Situation für die Organisation in Deutschland wie in den USA aufgrund ihrer staats- und kirchenfeindlichen Einstellung äußerst schwierig, was die Inhaftierung vieler Mitglieder zur Folge hatte. Nach dem 73 Vgl. Weber / Valentin, Die Zeugen Jehovas, 32f. Vgl. auch Köppl, Elmar, Die Zeugen 2 Jehovas. Eine psychologische Analyse, München 1990 , 39. 74 Vgl. Weber / Valentin, Die Zeugen Jehovas, 32f. 31 Tod Russells im Jahr 1916 brach in Deutschland, ebenso wie in Amerika, eine schwere Krise innerhalb der Anhängerschaft der Zeugen Jehovas aus. Infolge des Austritts des Schweizers Alexander Freytag verließen auch in Deutschland zahlreiche Anhänger die Organisation. Alexander Freytag gehörte den Ernsten Bibelforschern zwanzig Jahre lang an, trennte sich aber von ihnen aufgrund von Lehrstreitigkeiten. Ein Hauptstreitpunkt war hierbei die Frage nach der Heiligung des Menschen durch Gott und nach dem Maß seiner Abhängigkeit von ihm. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Bedingungen für einen Neuanfang aufgrund der Wirren des Krieges und der bedrückenden Situation, in der sich die deutsche Bevölkerung befand, äußerst günstig.75 Bereits ein Jahr vor Großveranstaltung, ein Kriegsende wurde sogenannter in Leipzig „Kongreß“ eine abgehalten. erste Die Mitgliederzahl stieg nach Kriegsende auf einige Tausend an. 1923 wurde in Magdeburg eine Druckerei eröffnet, wohin 1926 auch das Büro für Deutschland verlegt wurde. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten (1933), brach eine schwere Zeit der Verfolgung und des Leides für die bekenntnistreuen Sektenmitglieder an.76 Ein Konflikt der Zeugen Jehovas unausweichlich. mit Der dem der nationalsozialistischen Organisation von Regime Rutherford war verliehene Charakter eines totalitären religiösen Systems, das alle kirchlichen und staatlichen Einrichtungen als widergöttlich brandmarkte und deren Untergang androhte, forderte geradezu Reaktionen von seiten des ebenfalls totalitären Systems des Nationalsozialismus heraus. Hans-Jürgen Twisselmann, ein renommierter Kenner der Sekte, bemerkt hierzu: „Nicht nur die zur Macht drängende Nazipartei war ja nach damaliger offizieller Lehre der WTG ‚vom Teufel’, sondern alle Regierungen dieser Welt.“77 Die Organisation verstand sich als göttliches, allen anderen Systemen feindlich gegenüberstehendes Gebilde. Die Naziregierung 75 sah in der Sekte eine Institution, die sich der Vgl. Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1966, 113. Vgl. Köppl, Die Zeugen Jehovas, 40. 77 Twisselmann, Hans-Jürgen, Filmkritik. Jehovas Zeugen im „Dritten Reich“ – Zwischen Anpassung und Martyrium, in: Brücke zum Menschen Nr. 130. 2. Quartal 1997, 7. 76 32 Gleichschaltung widersetzte und die angestrebte Einheit der „Volksgemeinschaft" gefährdete.78 Diese Gefahr wurde in den Augen des Regimes durch die weiterhin äußerst eifrige Missionstätigkeit der Zeugen Jehovas noch verstärkt. Der tiefste Beweggrund für die Verfolgung der Zeugen Jehovas lag in der Verwendung alttestamentlichen und damit jüdischen Gedankengutes. Ein von Rutherford herausgegebenes Buch mit dem Titel „Trost für die Juden“79 trug allein durch dessen Titel ein Übriges dazu bei. Die Verweigerung des Militärdienstes für das Vaterland war für die Nationalsozialisten ein weiterer Beweis für die Staatsfeindlichkeit der Zeugen Jehovas, Organisation eine die aufgrund große des Gehorsams Risikobereitschaft gegenüber zeigten. der Hans-Jürgen Twisselmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Die Bereitschaft einer so großen Zahl von Zeugen Jehovas, in dieser bedrohlichen Situation des Jahres 1933 Rutherfords Anweisungen zu folgen und in der Folgezeit an der einmal getroffenen Entscheidung festzuhalten, ist auch das Ergebnis der systematischen Bindung an die WTG.“80 1933 wurde die Magdeburger Druckerei der Zeugen Jehovas beschlagnahmt, und in Sachsen, der damaligen Hochburg der Sekte, wurde die Organisation vollends aufgelöst.81 In einem Schreiben aus dem Jahr 1934 versuchte Rutherford, die deutsche Reichsregierung zur Tolerierung der Sekte zu bewegen, und drohte bei einer Ablehnung seiner Forderung dem Naziregime die endgültige Vernichtung durch Harmagedon82, das Strafgericht Gottes, an. Das Nazi-Regime ließ sich weder durch die Drohung Rutherfords noch durch den Mut der Anhänger beeindrucken und ging mit gnadenloser Härte gegen die Sekte vor. Viele Zeugen Jehovas starben infolge von Mißhandlungen, andere kamen in Konzentrationslager oder wurden 78 Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 139. Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern, 139. 80 Twisselmann, Jehovas Zeugen im „Dritten Reich“, 9. Vgl. auch Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, 95. 81 Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern, 143. 82 Vgl. Grabner-Haider, Anton (Hrsg.), Harmagedon, in: Praktisches Bibellexikon, Neuausgabe, Freiburg i. Br. 1994, 466. 79 33 einfach umgebracht. Die Verantwortung für diese Verfolgung weist die Wachtturm-Gesellschaft noch heute der katholischen Kirche zu. Diese habe sich stets der Hilfe des Staates bedient, um ihre Feinde zu unterdrücken, die es wagten, „die Lehren und Praktiken der Kirche in Frage zu ziehen”. Als Begründung für diese These nennt die WTG die Inquisition, die sich des Staates bedient habe, um ihre Ziele durchzusetzen. In diesem Zusammenhang spricht sie vom Abschluß des Konkordates vom 20.7.1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan. Sie deutet das Konkordat in dem Sinne, daß die Kirche in Adolf Hitler „einen willigen Verbündeten gefunden“ habe, ein Werkzeug, „um die Zeugen Jehovas in Deutschland zu vernichten”.83 3.1.4.2 Von 1945 bis heute Nach dem Tod Rutherfords wurde Nathan Homer Knorr84 1942 dessen Nachfolger. Er führte die Gesellschaft von 1942 bis 1977. Knorr war ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann und leitete den Wachtturm-Konzern nach den Prinzipien moderner Wirtschaftsunternehmen, wobei er sich um neue Absatzmärkte für die Organisation bemühte.85 Eine seiner wesentlichen Neuerungen war, daß er eine spezielle Schulung der Mitarbeiter einführte.86 Jeder sollte dazu befähigt werden, mit gekonnten Reden und psychologischem Geschick die Zeitschriften der Gesellschaft abzusetzen. 1943 errichtete er die sogenannte „Gileadschule“87 in New York, die bis heute der besonderen Ausbildung von Mitarbeitern dient. Im Unterschied zu seinem Vorgänger Rutherford verzichtete Knorr auf eine Konfrontation mit den staatlichen Autoritäten und fand auch zu einer 83 „Wo es jedoch möglich war, bediente sich die katholische Geistlichkeit wie zur Zeit der Inquisition des Staates, um jeden zu unterdrücken, der es wagte, die Lehren und Praktiken der Kirche in Frage zu ziehen [..]. In Adolf Hitler hatte die Geistlichkeit einen willigen Verbündeten. 1933, im gleichen Jahr, in dem ein Konkordat zwischen dem Vatikan und dem nationalsozialistischen Deutschland unterzeichnet wurde, setzte Hitler eine Kampagne in Gang, um Jehovas Zeugen in Deutschland zu vernichten. 1935 waren sie im ganzen Land verboten.” (Jehovas Zeugen, 659). 84 Vgl. Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten, 84. 85 Vgl. Gassmann, Lothar, Zeugen Jehovas, 65. 86 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 134. 87 Ibid.,134. 34 toleranteren Einstellung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften; denn die Zeiten hatten sich geändert, und es gab keine existentielle Bedrohung der Organisation mehr, wie zur Zeit der beiden Weltkriege. Die gemäßigtere Position Knorrs ist auch in Zusammenhang mit der Geschäftstaktik eines Geschäftsmannes zu sehen, der versucht, durch geschickte Strategien das Beste für seine „Firma“ herauszuholen. Die öffentlichen Angriffe auf die Kirchen wurden abgemildert zugunsten der Behauptung, die Zeugen Jehovas besäßen die einzig wahre Religion. Innerhalb der Organisation herrschte Knorr unumschränkt. Offiziell gab es zwar ein Führungsgremium, das sich „leitende Körperschaft“ nannte. Dieses existierte allerdings nur dem Namen nach. Präsident Knorr regelte sämtliche Angelegenheiten persönlich und duldete keinen Widerspruch. Bedingt durch Proteste anderer in hohen Positionen befindlicher Mitarbeiter, erfolgte 1975 eine Umgestaltung des beschlußfassenden Gremiums, die für die Durchsetzung von Beschlüssen eine Zweidrittelmehrheit vorsah.88 Bereits zu Lebzeiten Knorrs übte Frederick W. Franz (1893-1992) einen enormen Einfluß auf die Organisation aus. Er war Geisteswissenschaftler und wollte ursprünglich Prediger der Presbyterianischen Kirche werden. Durch das Studium der Literatur der Ernsten Bibelforscher entschied er sich 1913 für die „Taufe“.89 1945 wurde er Vizepräsident und übernahm am 22.7.1977 das Amt des Präsidenten. Im Zusammenhang mit der Wahl von Frederick Franz zum Präsidenten der Organisation hebt die WTG seine Verdienste besonders lobend hervor.90 Franz wußte um die Fehler bei der Berechnung der Endzeit von 1914 und 1925, wagte es aber trotzdem, für 1975 weitere endzeitliche Spekulationen anzustellen. Als seine Vorhersagen sich ebenfalls als unzutreffend erwiesen, versuchte er 88 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 137. Ibid., 138f. Die sogenannte Taufe besitzt bei den Zeugen Jehovas keinen sakramentalen Charakter wie in den Großkirchen, sondern sie ist ein Zeichen für die bedingungslose Unterwerfung gegenüber der Wachtturm-Gesellschaft, die als Sprachrohr Gottes fungiert. 90 „Sein Ruf als bedeutender Bibelgelehrter und seine unermüdliche Arbeit zur Förderung der Königreichsinteressen haben ihm das Vertrauen und die loyale Unterstützung der Zeugen Jehovas überall eingetragen.“ (Jehovas Zeugen, 109). 89 35 ihnen eine neue Deutung zu geben. Er starb 1992 im Alter von 99 Jahren.91 Seitdem liegt die Führung der Zeugen Jehovas in den Händen von Milton G. Henschel (*1920). Er ist der erste Präsident, der in diese Organisation hineingeboren wurde.92 Henschel war längere Zeit Sekretär Knorrs, ab 1976 auch Mitglied des Verlagskomitees und des Vorsitzenden-Komitees. Er vertrat stets einen konservativen, Reformen ablehnenden Standpunkt, den er bis heute beibehalten hat. 3.1.5 Der Begriff der sogenannten „Theokratischen Organisation“ Kurt Hutten, ein renommierter Kenner der Zeugen Jehovas, macht deutlich, daß die Organisation nach Meinung der Zeugen Jehovas von Gott selbst ins Leben gerufen worden sei. Er schreibt: „Die ganze Menschheit wird in Harmagedon untergehen – mit einer einzigen Ausnahme: das ist die Theokratische Organisation. [...] Ihre Würde rührt daher, daß sie kein Menschenwerk, sondern Jehovas eigene Schöpfung ist.“93 Diese Überzeugung der Zeugen Jehovas wird in den Publikationen der WTG stets betont. Die Legitimierung der Organisation durch Jesus und die Apostel soll durch die Bezeichnung der Jünger Jesu als „Zeugen Jehovas“ plausibel gemacht werden.94 Der Begriff „Theokratische Organisation“ wurde von den Nachfolgern Russells eingeführt. Russell wollte kurz vor seinem Tod Versetzungen innerhalb des oberen Mitarbeiterstabes vornehmen. Er erreichte dieses Ziel jedoch nicht mehr, so daß es erst unter Rutherford verwirklicht wurde. Mit dieser Reorganisation der Sekte zog sich Rutherford die Feindschaft der Direktionsmitglieder zu, und diese weigerten sich in der 91 Vgl. Pape, Günther, Zeugen Jehovas, in: Gasper / Müller / Valentin, Lexikon der Sekten, 1180f. 92 Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 74. 93 Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, 95. Vgl. auch Schnell, William J., Falsche Zeugen stehen wider mich. 30 Jahre Sklave des Wachtturms, Konstanz 1986, 60f. 94 „Tatsächlich erhielten Jesu Jünger ein beispielloses Vorrecht - Zeugen sowohl von Jehova als auch von Jesus zu sein. Als treue Juden waren Jesu erste Jünger bereits Zeugen Jehovas (Jes. 43: 10-12).“ (Jehovas Zeugen, 26). 36 folgenden Zeit, seinen Anweisungen nachzukommen. Sie forderten einen bloßen Repräsentationscharakter des Präsidentenamtes, die Entscheidungen sollten von einem Gremium vorgenommen werden. Gegen Rutherford konnten sie sich aber nicht durchsetzen. Günther Pape bemerkt hierzu: „Als sie Rutherford stürzen wollten, mußten die vier Direktionsmitglieder die Erfahrung machen, daß sie vier Flaschenkorken glichen, die gegen den Felsen von Gibraltar sprangen.“95 Durch eine geschickte Interpretation der Organisationssatzungen bestritt Rutherford die Rechtmäßigkeit der Forderungen der Direktionsmitglieder mit der Konsequenz, daß sie ihre Posten verloren und aus der Organisation ausgeschlossen wurden.96 Durch das Ausschalten der Konkurrenten habe Rutherford, so sehen es die Zeugen Jehovas, die „Reinigung des Tempels“, wie einst Jesus, vorgenommen.97 Dieser Machtkampf zeigt, daß die theokratische Struktur der Zeugen Jehovas demokratische Züge vollends ausschließt.98 Zur Zeit Russells gab es das Prinzip der Wahl von Ältesten durch die Gemeinde. Doch dies widersprach Rutherfords Vorstellungen, so daß er in jeder Versammlung einen Dienstleiter einsetzte. Im Jahr 1932 schaffte er das System der Ältestenwahl ganz ab99 und tilgte selbst die Begriffe „Gemeinde“ und „Kirche“ aus dem Sprachgebrauch der Sekte. Die endgültige Durchsetzung dieses Zieles konnte allerdings erst im Jahr 1938 erfolgen.100 Diese Unterwerfung der Sekte unter den Willen des Präsidenten ist das wichtigste Merkmal der „Theokratischen Organisation“. Seitdem ist die Theokratische Organisation das „Sprachrohr Gottes“ und gilt als der „Kanal Jehovas“, durch den Gott seinen Anhängern seine Befehle kundtut. Diese Vorstellung ist bis heute unverändert die gängige Lehrmeinung bei den Zeugen Jehovas. Die Regierung der Theokratie obliegt der „Watch-Tower-Bible-And-Tract-Society“, Verantwortlicher der Präsident ist. 95 8 Pape, Günther, Ich war Zeuge Jehovas, Wien 1987 , 60f. Ibid. 97 Ibid. 98 Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 60f. 99 Vgl. Twisselmann, Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas, 121. 100 Ibid. 96 deren oberster 37 3.1.6 Die Zentrale in Brooklyn (USA) und die Stellung der Ortsversammlungen Die Zentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn versteht sich als „Kanal Jehovas“ und gibt die Befehle Gottes an die Anhänger weiter. Den Ortsversammlungen kommt dabei eine empfangende und ausführende Funktion zu. Getaufte Zeugen Jehovas werden als „Verkündiger“101 bezeichnet. Jeder Verkündiger gehört einer Ortsversammlung an, mit der er in ständigem Kontakt zu stehen hat. Zu einer Versammlung zählen 60 bis 70 Mitglieder; wird die Zahl überschritten, so erfolgt eine Aufteilung der Versammlung, um eine optimale Betreuung der Gläubigen und eine bessere Kontrolle durch die Ältesten zu gewährleisten. Dem Unterhalt der Versammlung dient ein Spendenkasten, der für alle sichtbar im Versammlungsgebäude, dem Königreichssaal, aufgestellt ist.102 Die Ältesten sind die Aufseher der Ortsversammlungen. Ihre Ernennung erfolgt ausschließlich durch die Zentrale, welche zu diesem Zweck ein Schreiben an den jeweiligen vorsitzenden Aufseher richtet, das öffentlich verlesen wird. Das sogenannte „Versammlungsdienstkomitee“103 ist die oberste Entscheidungsinstanz einer Ortsversammlung. Es setzt sich zusammen aus dem vorsitzenden Aufseher, dessen Sekretär und aus dem den Predigtdienst leitenden Dienstaufseher. Der WachtturmStudienleiter, der ebenfalls dem Ältestenkreis angehört, ist für die Vorbereitung und Leitung des wöchentlich stattfindenden Studiums verantwortlich. Bei Streitfällen innerhalb der Versammlung wird aus dem Kreis der Ältesten ein sogenanntes „Rechtskomitee“ zusammengestellt.104 Eine weitere Untergliederung der Sekte liegt mit dem Amt des „Versammlungsbuchstudienleiters“ vor, welcher dem Dienstaufseher untergeordnet ist. Bei Bedarf erfolgt die Ernennung eines „Dienstamtsgehilfen“, dessen Aufgabe darin besteht, die Aufseher zu 101 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 241. Ibid., 215. 103 Ibid., 37f. 104 Ibid., 193. 102 38 unterstützen. In Großstädten, in denen mehrere Versammlungen existieren, ist der „Stadtaufseher“ die führende Persönlichkeit am Ort. Ansonsten obliegt dem Kreisaufseher die Verantwortung für mehrere Kreise, welche zusammen einen „Bezirk“ bilden, an dessen Spitze ein „Bezirksaufseher“ steht. Die Sekte der Zeugen Jehovas besitzt also eine überaus gut durchorganisierte Struktur, welche eine effiziente Leitung und Kontrolle der Mitglieder ermöglicht. Dem Präsidenten direkt untergeordnet ist die „Leitende Körperschaft“, die sich aus 12 Männern zusammensetzt. Die Bezeichnung der apostolischen Christengemeinden als „Versammlung“ sowie die Bezeichnung der Gemeinschaft der Jünger Jesu und der Presbyter und Episkopen als „Leitende Körperschaft“ soll dabei den Eindruck erwecken, die Wachtturm-Organisation stünde in direkter Verbindung zur apostolischen Zeit.105 Unter der Leitenden Körperschaft stehen die „Zonenaufseher“, die im unmittelbaren Auftrag der Wachtturm-Gesellschaft agieren. Es gibt noch viele weitere Komitees, deren Erwähnung es aber an dieser Stelle nicht bedarf. Die Mehrzahl der „einfachen Gläubigen“, die nicht in die höheren Ämter gelangen, müssen sich mit Sonderdiensten, wie dem des „Sonderpioniers“, des „Allgemeinen Pioniers“ oder dem des „Hilfspioniers“ begnügen. Einem Hilfspionier wird die Predigtleistung von 60 Wochenstunden pro Monat abverlangt, bei einem allgemeinen Pionier erhöht sich die Stundenzahl entsprechend seiner Aufgabe.106 Der Schulung der Pioniere dient eine eigens dafür errichtete Schule, für Anwärter höherer Positionen sind entsprechende Bildungseinrichtungen vorhanden. Jeder Anhänger der Sekte ist lediglich ein winziges Rädchen im Getriebe einer weltweit expandierenden Organisation, dem bei Unbotmäßigkeit oder Ungehorsam der Ausschluß aus dieser allein seligmachenden Theokratischen Organisation droht. 105 „Die leitende Körperschaft überwachte unter der Führung des heiligen Geistes die Ernennung von Aufsehern und ihren Helfern, den Dienstamtsgehilfen, die sich alle um die einzelnen Versammlungen kümmerten.“ (Jehovas Zeugen, 29). 106 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 183. 39 3.1.7 Das Lehrsystem Am Beginn der Ausführungen zum Lehrsystem der Zeugen Jehovas soll eine Äußerung Friederike Valentins stehen, die eine erste Einführung in die Problematik des Lehrsystems bieten soll. Sie betont: „Jeder Zeuge Jehovas handelt aus der Überzeugung, daß er die ‚wahre Religion’ hat oder ‚in der Wahrheit’ ist und daher seine Gemeinschaft nicht zu prüfen braucht. Nur die anderen Religionsgemeinschaften müssen ihre Lehren anhand der Bibel überprüfen.“107 Diese Auffassung führt meiner Meinung nach konsequenterweise zur Immunisierung des Lehrsystems der Zeugen Jehovas gegen Kritik von außen, wie im folgenden dargelegt werden soll. 3.1.7.1 Das Bibelverständnis und seine Folgen Nach kirchlicher Auffassung ist die Bibel das Zeugnis des sich in der Geschichte offenbarenden Gottes, welches von den Verfassern durch Inspiration unter dem Beistand des Heiligen Geistes, niedergeschrieben wurde. Die Auslegung des Wortes Gottes obliegt zunächst der Kirche, welcher Christus den Heiligen Geist bis ans Ende der Zeiten zugesichert hat. Hierbei werden unterschiedliche exegetische Methoden angewendet, die die sozio-kulturellen und damit geschichtlichen Hintergründe der biblischen Texte erhellen, um das Wort Gottes für jede Zeit jeweils neu auszulegen und zu interpretieren. Bei der Interpretation der Schrift ist der „Geist der Schrift“ entscheidend. Es geht also nicht um eine fundamentalistische Bibelauslegung, sondern um eine Aktualisierung in der Gewißheit, so in der Tradition der Gemeinden der Anfangszeit zu stehen. Die Evangelien waren ursprünglich Predigten, die auf die aktuelle Situation der damaligen Gemeinden hin verfaßt worden sind. In der Notwendigkeit einer Aktualisierung der Evangelien zeigt sich die Dynamik, 107 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Päpstliche Bibelkommission. Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Bonn 1993, 26f. 40 welcher das Wort Gottes unterworfen ist. Diese Dynamik widerspricht jeder fundamentalistischen Bibelinterpretation. Die Zeugen Jehovas nutzen die Bibel als „Argumentationssteinbruch“.108 Es werden sämtliche Texte gewaltsam an das bereits vorhandene Lehrgebäude der Wachtturm-Organisation angepaßt. Hierzu wurde eine eigene Bibelübersetzung geschaffen, die sogenannte „Neue-WeltÜbersetzung“. Diese erschien im Jahr 1963 zum ersten Mal als Gesamtausgabe. Im Jahr 1986 erfolgte die Herausgabe eines revidierten Textes mit Studienverweisen.109 Die Notwendigkeit einer neuen Bibelübersetzung, obwohl sie bereits in „190 Sprachen“ und in Teilen in zahlreichen weiteren Sprachen und Dialekten vorlag, begründet die WTG mit dem Argument, daß alle bereits vorhandenen Bibelübersetzungen „überwiegend von Geistlichen und Missionaren der Religionsgemeinschaften der Christenheit angefertigt“ und darüber hinaus heidnische Philosophien und „unbiblische“ Überlieferungen übernommen worden seien. Ferner wird angeführt, daß „die griechische Sprache des ersten Jahrhunderts“ durch neue archäologische Entdeckungen besser verständlich geworden sei.110 Bei den Zeugen Jehovas darf ein Studium der Bibel ausschließlich begleitend zu den beiden Schriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“ erfolgen. Ein selbständiges und eigenmächtiges Erforschen des Bibeltextes ist untersagt. Diese beiden Zeitschriften, vor allem „Der Wachtturm“, untermauern die Lehren der Organisation durch biblische Zitate. 108 Vgl. Baur, Wolfgang, Die Bibel der Zeugen Jehovas, Katholisches Bibelwerk (Hrsg.), Stuttgart 1986, 10. 109 Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas. Geschichte, 86-89. 110 „War eine andere Übersetzung wirklich notwendig? Zu jener Zeit war die gesamte Bibel bereits in 190 Sprachen übersetzt, und zumindest Teile davon waren in 928 weiteren Sprachen und Dialekten erhältlich. Jehovas Zeugen haben zu verschiedenen Zeiten von den meisten dieser Übersetzungen Gebrauch gemacht. Es ist jedoch eine Tatsache, daß diese Übersetzungen überwiegend von Geistlichen und Missionaren der Religionsgemeinschaften der Christenheit angefertigt wurden und mehr oder weniger von den heidnischen Philosophien und den unbiblischen Überlieferungen, die diese Religionsgemeinschaften aus der Vergangenheit übernommen haben, beeinflußt sind, aber auch von den Vorurteilen der Bibelkritik. Außerdem standen immer mehr ältere und zuverlässigere Bibelhandschriften zur Verfügung. Archäologische Entdeckungen trugen zu einem besseren Verständnis der griechischen Sprache des ersten Jahrhunderts bei.“ (Jehovas Zeugen, 608). 41 Die Auslegung der Heiligen Schrift erfolgt nach dem Prinzip des sogenannten „Rösselsprungs“.111 Bei dieser Methode werden biblische Texte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgetrennt und mit alt- und neutestamentlichen Bibelstellen beliebig kombiniert, wobei der Text in 2 Tim 3, 16 „Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert“ als Legitimation zur gleichberechtigten Verwendung von alt- und neutestamentlichen Aussagen mißbraucht wird. Durch dieses Prinzip des „Rösselsprungs“ kamen die sich immer wieder als falsch herausgestellten Berechnungen über das Ende der Welt zustande. Russel sagte für das Jahr 1914 den Untergang aller Reiche dieser Welt voraus. Zustande gekommen war diese Jahreszahl durch die falsche Annahme der Zerstörung Jerusalems im Jahr 607 v. Chr. Die Zeitspanne von 607 vor bis 1914 nach Christus deutete Russell als die in Lk 12, 24 genannten „bestimmten Zeiten der Nationen“. Nach Dan 4,16.32 seien dies sieben Zeiten. Durch Off 12, 6.14 wüßten wir, daß eine solche Zeit 360 Tage dauert. Nach Num 14, 34 stehe ein Tag für ein Jahr. Aus der Kombination dieser Angaben errechnete Russell eine Dauer dieser „Zeiten der Nationen“ von 2.520 Jahren. Schließlich addierte er diese 2.520 Jahre zu der Jahreszahl 607 v. Chr. hinzu und errechnete so 1914 als das Jahr des Weltuntergangs. Die symbolische Bedeutung biblischer Zahlenangaben spielt für die Zeugen Jehovas nur eine Rolle, wenn es gilt, dadurch eine Lehre der eigenen Sekte zu untermauern.112 Daher werden Einschübe und Wortsubstitutionen am Bibeltext vorgenommen, die den Sinn zahlreicher Aussagen völlig verdrehen. Die einschneidenste Veränderung dieser Art ist die Ersetzung des griechischen Wortes „Kyrios“ durch „Jehova“. Im Neuen Testament wird „Jehova“ selbst an solchen Stellen verwendet, an denen von Jesus Christus die Rede ist, so in Röm 14, 8, wo es heißt: „Leben wir, so leben wir dem Herrn“. Daraus macht die „Neue-Welt-Übersetzung“: „Denn wenn wir leben, so leben wir Jehova“. Ein weiteres Beispiel ist Lk 23, 43, wo es 111 112 Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 80f. Vgl. Weis, Christian, Zeugen Jehovas - Zeugen Gottes? Eine Hilfe zur kritischen 3 Auseinandersetzung mit der Lehre der Wachtturmgesellschaft, Salzburg 1991 , 15f. 42 heißt: „Jesus antwortete ihm: Amen ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Daraus macht die Bibel der Zeugen Jehovas: „Und er sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir heute: Du wirst mit mir im Paradiese sein.“113 Durch diese Übersetzung wird die christliche Überzeugung von einem direkten Hingang der menschlichen Seele zu Gott nach dem Tode geleugnet. Stattdessen wird die Zusage Jesu auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben, auf die Zeit des Paradieses, welches erst nach der Zerstörung dieser Erde von Gott geschaffen werden wird. Die Fehlübersetzung der Zusage Jesu dem Verbrecher am Kreuz gegenüber und die damit einhergehende Leugnung einer unsterblichen Seele verwendet die Wachtturm-Gesellschaft zugleich als angeblichen Beweis dafür, daß die christlichen Kirchen eine unbiblische, falsche Lehre verbreiten. Zur Stützung der Behauptung es gebe keine unsterbliche Seele, weist die Wachtturm-Gesellschaft auf divergierende Auffassungen christlicher Theologen hin. Im Wachtturm wird diese Thematik unter der Überschrift „Ein theologisches Dilemma“ diskutiert, wobei die Zeugen Jehovas zu dem Schluß kommen, sie vertreten hierbei die wahre biblische Lehre.114 Die bei „sogenannten Christen“ vorkommenden sich oft widersprechenden Bibelauslegungen schreiben die Zeugen Jehovas der „Verschleierung durch eigene Vorstellungen“ zu.115 Die Verheißung Jesu an den Verbrecher am Kreuz widerspricht der Lehre der Zeugen Jehovas, denn ihrer Meinung nach, gibt es nur für ihre Glaubensgenossen Hoffnung auf das Paradies, das auf der Erde wieder errichtet werden wird, nachdem alle Ungläubigen durch Harmagedon vernichtet sein werden. Diese Einblicke in die Verfälschung biblischer Aussagen mögen genügen, um zu zeigen, daß es sich bei der Sekte der 113 Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, New York 1971. Vgl. auch Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholisches Bibelwerk Stuttgart (Hrsg.), 2 Stuttgart 1998 . 114 Vgl. Wachtturm vom 1. März 1995, 29ff. 115 „Daß es heute unter sogenannten Christen eine Vielzahl widersprüchlicher Auslegungen der Bibel gibt, ist weder ein Fehler ihres Autors, noch ihrer Schreiber. [...] Es ist der Fehler der Bibelleser, die versäumen, der Führung des Geistes Gottes zu folgen und Gott zu gestatten, sein eigenes Wort auszulegen. Sie lassen ihr Verständnis dessen, was der Autor der Bibel sagt, durch eigene Vorstellungen verschleiern.“(Wachtturm vom 15. Dezember 1988, 4). 43 Zeugen Jehovas um eine Organisation handelt, die selbst vor der Manipulation des Wortes Gottes nicht zurückschreckt. 3.1.7.2 Gottesverständnis Das Gottesverständnis der Zeugen Jehovas führt zur Ablehnung der christlichen Kirchen mitsamt deren Glaubensbekenntnissen. Die zentrale christliche Lehre von der Trinität wird als Vielgötterei diskreditiert und daher aufs heftigste bekämpft.116 Parallelen zum Arianismus in der Alten Kirche, dessen Anhänger der Ansicht waren, Jesus Christus sei ein Gott Vater untergeordnetes Geschöpf, sind hier unverkennbar. Die Tatsache, daß der Begriff der Trinität in der Heiligen Schrift nicht vorkommt, bestärkt die Zeugen Jehovas in der Annahme, es handle sich bei diesem christlichen Dogma um eine heidnische Irrlehre.117 Die Formulierung dieses Dogmas auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 unter dem Einfluß des ehemals heidnischen Kaisers Konstantin unterstreicht nach Meinung der Zeugen Jehovas den heidnischen Einfluß, der sich in der Kirche eingeschlichen habe.118 Die Person Jesu und sein Erlösungstod am Kreuz haben für die Zeugen Jehovas eine völlig andere Bedeutung als für die Christen. Sie sind der Meinung, Jesus sei vor seiner Menschwerdung lediglich ein Geschöpf Gottes gewesen, dem Erzengel Michael vergleichbar. Manchmal setzen die Zeugen Jehovas Jesus sogar mit diesem Erzengel gleich. Er sei zunächst nichts weiter als ein vollkommener Mensch. 116 Vgl. Gassmann, Zeugen Jehovas, 104. „Die Bibel sagt, Gott habe die Welt so sehr geliebt, daß er seinen Sohn gesandt habe, damit er sie errette; viele Geistliche dagegen sagen, Gott sei auf die Erde gekommen, Christus sei Gott, und um das zu beweisen, lehren sie die heidnische Lehre von der Dreieinigkeit.“(Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft Deutscher Zweig, e. V., Jahrbuch der Zeugen Jehovas, Wiesbaden 1966, 23). 118 „Nachdem C.T. Russell die Dreieinigkeitslehre als unbiblisch und unlogisch bloßgestellt hatte, fragte er zurecht entrüstet: ‚Sollen wir also den Aposteln, den Propheten und Jesus selbst widersprechen, uns über die Vernunft und den gesunden Menschenverstand hinwegsetzen, um an einem Dogma festzuhalten, das uns durch eine verderbte, abtrünnige Kirche aus einer finsteren, abergläubischen Vergangenheit überliefert wurde? Niemals!‘“ (Jehovas Zeugen, 126). 117 44 Die Neue-Welt-Übersetzung schildert die Funktion Jesu als Mittel der Rettung der Sektenmitglieder auf folgende Weise: „Nun souveräner Herr, läßt du deinen Sklaven in Frieden gehen, deiner Erklärung gemäß; denn meine Augen haben dein Mittel zur Rettung gesehen.“119 Die Gleichnisse Jesu, seine Reden und Wunder, seien von untergeordneter Bedeutung. Erst bei der Taufe im Jordan habe Jehova Gott Jesus adoptiert, um ihm die Rückkehr ins himmlische Königreich zu ermöglichen. Die Kreuzigung Jesu, die als Tod an einem Pfahl gelehrt wird,120 hat für die Sekte keinerlei Heilsrelevanz, da sie die universale Erlösung der Menschheit bestreitet. Nach der Auferstehung, die nach der Lehre der Sekte als eine rein geistige zu verstehen ist, sei Jesus in den Himmel aufgenommen worden, wo er seitdem als Erzengel Michael eine hohe Stellung innehabe. Der Tod Jesu ist für die Zeugen Jehovas demnach ein bloßes Mittel zur Rettung der 144.000 auserwählten Zeugen. Eng verbunden mit dem Todes- und Auferstehungsverständnis Jesu ist die Auffassung der Zeugen Jehovas von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Mit dem Tod eines Menschen ist seine gesamte Existenz erloschen, es gibt kein Weiterleben einer unsterblichen Seele. Die Seele ist für die Zeugen identisch mit der menschlichen Person selbst. Diese bleibt lediglich in der Erinnerung Gottes lebendig.121 Verantwortlich für die falsche Auffassung einer unsterblichen Seele sei der Einfluß der „heidnischen Religionen“ und der platonischen Philosophie, mit denen sich die christlichen Lehren vermischt habe, was aber letztlich als Wirken und List des Teufels interpretiert wird.122 119 Lk 2, 29f; zitiert nach: Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, Brooklyn / New York (USA), 1971. 120 Die Neue-Welt Übersetzung gibt Mt 16, 24 entsprechend dieser Auffassung so wieder: „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme seinen Marterpfahl auf und folge mir beständig.“ (Neue- Welt Übersetzung). 121 Vgl. Watchtower Bible and Tract Society of New York (Hrsg.), Die gute Botschaft, die Menschen glücklich macht, Wiesbaden 1976, 85f. 122 Hierzu führt die WTG ein Zitat Russells an, in dem es unter anderem heißt: „Durchblättert man die Seiten der Geschichte, so entdeckt man, daß die Lehre von der Unsterblichkeit des Menschen zwar der Kern aller heidnischen Religionen ist, nicht aber von Gottes inspirierten Zeugen gelehrt wird. ... Es stimmt also nicht, daß Sokrates und Platon die ersten waren, die diese Lehre vertraten: Schon vor ihnen wurde sie vertreten, und zwar von einem fähigeren Lehrer, als sie es waren. ... Die erste Aufzeichnung dieser falschen Lehre ist in dem ältesten dem Menschen 45 Bei der in der Offenbarung des Johannes erwähnten Schlacht von Harmagedon123 am Ende der Weltzeit, werden die Toten aus ihren Gräbern herausgerufen, ausgesondert, und zusammen mit den überlebenden Zeugen Jehovas auf der Erde im Paradies leben, dann werde eine tausendjährige Friedensherrschaft Jehovas anbrechen. Es gibt demnach kein Weiterleben im Himmel, in einer jenseitigen Dimension in der Gemeinschaft mit Gott, sondern nur eine Wiederherstellung der vergangenen irdischen Wirklichkeit, jedoch ohne Krankheit und Tod. 3.1.8 Die Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber dem Staat und den Kirchen Wie bereits in den vorhergehenden Ausführungen angeklungen, ist der Staat nach der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft ein System, das der Verwirklichung der Ziele Jehovas entgegensteht; er ist ein Feind Gottes. Die Kirchen, deren Mitglieder mit dem Staat paktieren, werden ebenso wie dieser vernichtet werden. Jegliches Engagement, sei es politisch, wie die Beteiligung an Wahlen, oder sozial-karitativer Art, dienen der Unterstützung des Staates, dieses für die Zerstörung bestimmten Gebildes.124 Daher wird die Zusammenarbeit der Kirchen mit dem Staat bekannten Geschichtsbericht zu finden - in der Bibel. Der falsche Lehrer war Satan.“ (Jehovas Zeugen, 127). 123 Die bei Johannes beschriebene Schlacht von Harmagedon interpretieren die Zeugen Jehovas gegen die christlichen Kirchen, wenn sie schreiben: „Wenn die organisierte Religion in der ‚großen Drangsal‘ durch das Schwert der göttlichen Rache fällt, werden die Menschen, die nicht auf die Jeremia-Klasse gehört haben, bei den zum Untergang verurteilten politischen Elementen Zuflucht suchen, was zu ihrer sicheren Vernichtung in Har-Magedon führen wird (Offb. 16:14, 16).“ (Jahrbuch 1982, Tagestext und Kommentar für den 10. Oktober 1982, unpaginiert). Die Vernichtung aller Menschen anderer Religionen bedeutet für die Zeugen Jehovas die Befreiung aus der Macht des Bösen: „Die Befreiung aus dem System Satans und die Gelegenheit, in die gerechte neue Ordnung Jehovas unter der Königreichsherrschaft Christi einzugehen, wird dadurch zustande kommen, daß die unverbesserlich Bösen im Krieg Gottes auf dem Schlachtfeld von Harmagedon vernichtet werden (Offb. 16:16).“ (Jahrbuch 1984, 3). 124 Vgl. Weber / Valentin, Zeugen Jehovas, 81ff. Die Zeugen Jehovas begründen ihre Einstellung wie folgt: „Es ist kein Geheimnis, daß Jehovas Zeugen den Fußstapfen ihres Königs und Vorbilds, Jesus Christus, folgen, wohin immer er sie führen mag. Sie haben sich Gott hingegeben, um seinen Willen zu tun, nicht ihren eigenen. Sie sind kein Teil der von Satan beherrschten Welt und haben nichts mit ihrer Politik und ihren territorialen Kriegen zu tun.“ (Jahrbuch 1983, 6). 46 als „geistige Hurerei“ bezeichnet. Die verschiedenen Kirchen, allen voran die römisch-katholische, werden als die „Hure Babylon“, ihre Geistlichen als Helfer Satans und Volksverführer gegeißelt.125 Aus diesen Gründen erscheinen in den beiden Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“ immer wieder Darstellungen, auf denen die Kirchen durch scharfe Polemik angegriffen werden. Auf dem Titelbild eines „Erwachet“ aus dem Jahr 1989 sind Ritter abgebildet, die sich gegenseitig töten, obwohl sie alle das Zeichen des Kreuzes auf ihren Rüstungen tragen.126 Hierdurch sollen bei den Sektenmitgliedern und den zu Werbenden, meist einer der Menschen, Erinnerungen an beiden Kirchen entstammenden unliebsame Ereignisse der Kirchengeschichte wachgerufen werden, um die eigene sektiererische Lehre als vorbildlich und einzig wahre zu präsentieren. Die Zeugen Jehovas zählen sich allein zum „Christentum“, das unmittelbar auf Jesus 125 Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 170f. Im Jahrbuch der Zeugen Jehovas heißt es in diesem Zusammenhang: „Eine der Ähnlichkeiten, die zwischen dem alten und dem neuzeitlichen Babylon bestehen, hat mit der Art und Weise seiner Vernichtung zu tun. Das alte Babylon lag am Wasser, am Euphrat. Das neuzeitliche Babylon ‚sitzt‘ auf vielen Wassern. Beachten wir, daß vor dem Sturz des alten Babylon der Wasserspiegel des Euphrat gesenkt wurde. Gehen auch die symbolischen Wasser (Menschen) zurück, auf denen das neuzeitliche Babylon sitzt? Ja, und es geschieht direkt vor unseren Augen. Auf welche Weise sinken die sinnbildlichen ‚vielen Wasser‘? Indem Millionen von Menschen, darunter Zehntausende von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern, ihre Religionsorganisationen nicht mehr unterstützen, wodurch diese ernsthaft geschwächt werden. Hin und wieder ist zwar bei einigen Religionsgemeinschaften von ‚Wiederbelebung‘ die Rede, doch in den meisten Fällen ist dies nur eine oberflächliche Erscheinung. Welch einen Kontrast Jehovas Volk doch darstellt!“ (Jahrbuch 1982, Tagestext und Kommentar für den 20. November 1982, unpaginiert). Die Zeugen Jehovas versuchen, der Kirche und ihren Mitgliedern durch deren enge Bindung an den Staat eine angebliche Nichtbeachtung der göttlichen Vorschriften auch in Bezug auf das Geschlechtsleben zu unterstellen. Im Jahrbuch von 1966 wird der damalige Papst Paul VI und dessen Rede vor den Vereinten Nationen gezielt für diese Behauptung verwendet. „Man steht auf dem Standpunkt, der voreheliche Geschlechtsverkehr sei erlaubt, und folgert daher, ein wenig Abwechslung in der Ehe sei auch nicht allzu schlimm. Wahllose Geschlechtsbeziehungen sind daher in der ganzen Christenheit üblich. Unternimmt man aber etwas dagegen? Nein! Hat die Geistlichkeit ihre Augen vor den Worten Pauli verschlossen: ‚Was? Wißt ihr nicht, daß ungerechte das Königreich Gottes nicht erben werden? [...] Man sagt sich vielleicht: ‚Wenn doch Papst Paul VI. glaubt, die Vereinten Nationen seien die letzte Hoffnung, warum sollte ich dann noch daran interessiert sein, Gottes Königreich zu erben?‘ Wer schon nicht an Gottes Königreich glaubt, dem fällt es auch nicht schwer, das Sittengesetz dieses Königreiches außer acht zu lassen.“ (Jahrbuch 1966, 25). 126 Vgl. Erwachet Nr.1 vom 8. Januar 1989. 47 und die Apostel zurückgehe, die Kirchenchristen dagegen bezeichnen sie als in späterer Zeit abgefallene „Christenheit“.127 Der Versuch der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft öffentlichen Rechts scheint der skizzierten staatsfeindlichen Auffassung zu widersprechen. Die Anerkennung der Sekte als „Körperschaft öffentlichen Rechts“ hätte für diese erhebliche Vorteile mit sich gebracht, etwa die Einnahme von Kirchensteuern und weitere steuerliche Vergünstigungen, die der Expansion des Wachtturm-Konzerns zugute gekommen wären. Diese materiellen Vorzüge wogen offensichtlich stärker als die Verachtung des Staates. Aufgrund der Verweigerung jeglicher Loyalität gegenüber dem Staat wurde ein entsprechender Antrag vom Bundesverwaltungsgericht abgelehnt, wobei die Nicht-Teilnahme an den Wahlen als Hauptargument angeführt wurde. Dies sah das Gericht als Widerspruch zu dem „für die staatliche Ordnung im Bund und in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip“.128 3.1.9 Ergebnisse psychologischer Untersuchungen im Zusammenhang mit der Sozialstruktur der Zeugen Jehovas 3.1.9.1 Isolations- und Kontrollmechanismen Durch die Auffassung von der Vergänglichkeit und der satanischen Durchdringung der Welt ergibt sich eine Abkapselung der Sekte der Zeugen Jehovas von allen weltlichen Aktivitäten, die von der Mehrheit der Bevölkerung problemlos akzeptiert werden. Die eigene Gruppe nimmt den obersten Rang im Leben eines Zeugen Jehovas ein. Sämtliche Kontakte nach außen dienen ausschließlich der Absicht der Werbung neuer 127 „Zwischen dem Christentum und der Christenheit, die im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gegründet wurde, besteht ein Unterschied. Die Belehrung über das wahre Christentum wirkt sich heute auf die Menschen gleich aus, wie sich die Lehrtätigkeit des Paulus damals auf die Menschen auswirkte. Sie kann aus Juden, Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems, Buddhisten usw. wahre Christen machen, sofern sie hören und glauben.“ (Jahrbuch 1966, 27). 128 Finke, A., Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Keine Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts, zitiert in: Brücke zum Menschen, Nr.131, 3. Quartal 1997, 4. Vgl. auch Stamm, Hugo, Sekten. Im Bann von Sucht und Macht, Zürich 1995, 69f. 48 Mitglieder. Die Beziehungen zu Außenstehenden werden auf ein Mindestmaß reduziert, um einer möglichen negativen Beeinflussung und Kritik durch Außenstehende zu entgehen.129 Die Isolation der Mitglieder von der Außenwelt ist ein allmählicher Prozeß, an dessen Abschluß die Organisation als einzig sinnstiftende Gruppe im Leben des Anhängers übrig bleibt. Die Versammlung wird zum neuen Lebensraum. Elmar Köppl, der eine psychologische Analyse der Sekte vorgenommen hat, bemerkt hierzu: „Sie wird mit der Zeit zur einzigen Bezugsgruppe und Verstärkerquelle, zu einer rettenden Oase und einem Ort der gegenseitigen Auferbauung.“130 Die Isolation der Zeugen Jehovas wird insbesondere deutlich bei den von der Bevölkerung praktizierten Feiern anläßlich des Osterfestes, des Weihnachtsfestes oder des Geburtstags. Das Feiern dieser Feste ist Zeugen Jehovas strengstens untersagt. Die Entwicklung eines SektenVokabulars verschärft die Abschottung gegenüber der Welt außerhalb der Sekte zusätzlich. Die Kontrolle der Einhaltung der zahlreichen Reglementierungen durch das feinstrukturierte System der Organisation gewährleistet die Stabilität der Gruppe.131 Durch die soziale Kontrolle132 der einzelnen Verkündiger wird jede Uneinigkeit rasch aufgespürt und einer Spaltung der Versammlung vorgebeugt. Infolge der engen Verbindung, in welcher die Verkündiger zueinander stehen, ist es möglich, einen unbequemen Kritiker als Querulanten zurechtzuweisen oder unschädlich zu machen. Übeltäter werden von den Ältesten für mißliebige Verhaltensweisen und Äußerungen zur Rechenschaft gezogen und mit Ausschluß aus der Sekte bestraft. Dieser Ausschluß wird durch das Versammlungskomitee vollstreckt und innerhalb der Versammlung bekanntgegeben, um allen anderen Mitgliedern als warnendes Beispiel zu dienen. 129 Vgl. Stamm, Sekten, 113f. Köppl, Zeugen Jehovas, 96. 131 Vgl. Schnell, Falsche Zeugen, 119ff. 132 Vgl. Köppl, Zeugen Jehovas, 97. 130 49 3.1.9.2 Das Führerprinzip bei den Zeugen Jehovas Ein wesentliches Strukturmerkmal der Wachtturm-Organisation ist das Führerprinzip, was bei den Ausführungen über die Präsidentschaft Rutherfords bereits angesprochen worden ist. Vier Bedingungen sind für die Durchsetzung dieses Führungsstils133 erforderlich. Diese sind: a) Das Vorhandensein einer unangefochtenen Führungsautorität und ihre vorbehaltlose Akzeptierung durch die Mitglieder b) Unterwerfung unter die Autorität des Präsidenten der WachtturmGesellschaft und uneingeschränktes Vertrauen in seine Führungsqualitäten c) Ein klar strukturiertes Missionsziel d) Ähnliche Erwartungshaltungen und Motivationsstrukturen bei dem Führer und den Geführten Der Gründer der Sekte gilt als die unangefochtene Führerpersönlichkeit. Diese festigt durch ihre oftmals charismatische Erscheinung das Auserwählungsbewußtsein unter den Anhängern und einen totalitären Machtanspruch. Die vollkommene Identifizierung mit der Person des Führers ist Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Systems. Gefahr droht einem solchen System vor allem, wenn die Führerpersönlichkeit plötzlich abtritt.134 Diese Situation trat nach dem Tod Russells ein, bis Rutherford sich nach harten Kämpfen durchsetzen konnte. Meist wird ein Nachfolger bereits durch den Vorgänger bestimmt. Ist kein solcher Nachfolger vorhanden, droht der Zusammenbruch des gesamten Organisationsgebäudes. Orientierungslosigkeit und vor allem ein Sinnlosigkeitsgefühl der führerlosen Anhänger sind dann die Folgen. 133 134 Vgl. Köppl, Zeugen Jehovas, 129. Vgl. Stamm, Sekten, 66f. 50 3.1.9.3 Auswirkungen der Sektenstruktur im gesellschaftlichfamiliären Bereich Der totalitäre Charakter der Sekte der Zeugen Jehovas, die sich daraus ergebende Bekämpfung aller anderen Systeme und die Fixierung auf die eigene Gruppe verursachen vielfältige Probleme, von denen nicht nur die Mitglieder der Sekte, sondern alle Menschen betroffen sind, die mit einem Zeugen Jehovas in Kontakt stehen. Schließt sich ein Teil der Familie den Zeugen Jehovas an, bleiben die übrigen Angehörigen von den Folgen dieser Entscheidung nicht unberührt.135 Die freiwillige Abgrenzung von der als satanisch verpönten Welt und die den Nicht-Mitgliedern drohende Vernichtung wirken als Ansporn für einen immensen Missionierungsdrang, dem sich jeder Verkündiger ausgesetzt sieht. Die bereits erwähnten Kontroll- und Bestrafungsinstanzen schüren permanent die Angst vor einer Verwerfung durch Jehova. Die Einschränkung der Beziehungen zu den Ungläubigen wirkt sich vor allen Dingen am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und in der Schule aus. Am stärksten werden dabei die Kinder in Mitleidenschaft gezogen, deren Eltern sich der Sekte anschließen. Ein Lehrer, der ein solches Kind in seiner Klasse unterrichtet, wird sehr bald einen Besuch von den Eltern abgestattet bekommen, um darüber aufgeklärt zu werden, an welchen Veranstaltungen das Kind auf keinen Fall teilnehmen darf. Zu solchen Veranstaltungen zählen der Besuch von Schulbällen, das Singen von religiösen Liedern und die Teilnahme am Sexualkundeunterricht der Schule. Verstöße gegen das Verbot der Wachtturm-Gesellschaft werden unverzüglich nach Bekanntwerden geahndet. Seit 1982 erscheinen in der Zeitschrift „Erwachet“ regelmäßig Artikel, die speziell auf die Probleme Jugendlicher Bezug nehmen. Diese Artikel wurden auch in Buchform herausgegeben, wie z.B. das Buch „Fragen junger Leute – Praktische Antworten“136 . Die dort veröffentlichten 135 Vgl. Rogerson, Alan, Viele von uns werden niemals sterben. Geschichte und Geheimnis der Zeugen Jehovas, Hamburg 1971, 67f. 136 Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, deutscher Zweig e.V., Fragen junger LeutePraktische Antworten, Selters / Taunus, 1989. 51 Artikel bilden eine Art moralischen Kodex für Jugendliche.137 Darin wird deutlich hervorgehoben, daß nur Freundschaften innerhalb der Gruppe von gleichgesinnten Sektenmitgliedern erwünscht sind. In dem Büchlein „Fragen junger Leute – praktische Antworten“ heißt es in diesem Zusammenhang unter dem Stichwort „Freunde finden“: „Wo kannst du Freunde finden, die Gott lieben? In der Christenversammlung.138 Suche dir Jugendliche, die nicht nur vorgeben, Glauben zu haben, sondern deren Taten von ihrem Glauben und ihrer Ergebenheit zeugen.“139 Dabei werden Freundschaften mit Jugendlichen, die nicht den Zeugen Jehovas angehören, als falsche Freundschaften abgewertet.140 Der Umgang mit den Glaubensbrüdern ist von drei Aufgaben bestimmt. Dazu gehören die Überwachung des anderen, die Zurechtweisung und schließlich die Meldung eines Fehlverhaltens bei den Ältesten der Versammlung. Bereits Jugendliche werden dazu angehalten, das Fehlverhalten anderer zu tadeln und gegebenenfalls zu melden: „Oft erfordert die Situation mehr Hilfe, als du bieten kannst. Dringe darauf, daß er [der Freund], wenn er etwas falsches getan hat, es seinen Eltern oder anderen Verantwortlichen sagt. Was aber, wenn er sich weigert? Sage ihm, daß du dich als echter Freund verpflichtet fühlst, mit jemand anders darüber zu sprechen, falls er die Sache nicht innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne in Ordnung bringt (Sprüche 17:17).“141 Diese Überwachung und Zurechtweisung erstreckt sich bis in den Bereich der Kindeserziehung. Eltern werden dazu angehalten, ihre Kinder zu züchtigen, falls diese ihren erzieherischen Forderungen nicht nachkommen. Auch die Kinder und Jugendlichen werden zum Gehorsam gegenüber den Eltern angehalten. Es wird ihnen stets vermittelt, daß ihre Eltern wissen, was gut für sie ist, und das sie ihnen aus diesem Grund 137 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 159f. Diese Christenversammlung meint die Zusammenkunft der Zeugen Jehovas. 139 Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 67. 140 Vor einer solchen falschen Freundschaft wird durch ein eindringliches Beispiel gewarnt. Es handelt sich hierbei um eine junge Frau, die sich durch falsche Freunde von den Zeugen Jehovas entfernte und durch diesen schlechten Einfluß in eine kriminelle Lebensführung geriet. Aus diesem Sumpf kam sie erst heraus, als sie sich wieder unter die Fittiche der Zeugen Jehovas begab. (Vgl. Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 65ff.). 141 Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 69. 138 52 Gehorsam schulden, auch wenn sie persönlich dieses nicht nachvollziehen können.142 Diese Strenge wird durch Zitate aus der Bibel gerechtfertigt.143 Selbst schwerere Mißhandlungen innerhalb der Reihen der Zeugen werden von der Gruppe meist ohne Protest hingenommen.144 Welche lebensbedrohlichen Konsequenzen eine Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas nach sich ziehen kann, wird deutlich, wenn es um die Notwendigkeit einer Bluttransfusion als lebensrettende Maßnahme geht.145 Hierzu sei folgendes Beispiel aus Österreich angeführt: „Im September 1993 erschütterte der Tod eines Babys die Öffentlichkeit Österreichs. Nur elf Tage nach seiner Geburt starb der kleine Simon Hartl [...], weil seine Eltern, strenggläubige Zeugen Jehovas, die lebensrettende Bluttransfusion verweigert hatten.“146 Die Zeugen Jehovas dagegen bezeichnen diese Haltung als „gewaltiges Zeugnis“ für ihren Gehorsam Gott gegenüber.147 Dieses Verbot der Bluttransfusion führt die Organisation auf das alttestamentliche Blutgenußverbot zurück.148 Durch diese bedingungslose Unterwerfung unter die Anweisungen der Sekte, die sich als „Kanal Jehovas“ versteht und den Anhängern Gottes Willen kundtut, wird das wohlwollende Verhalten Jesu gegenüber den Menschen ignoriert.149 Die Auswirkungen im gesellschaftlichen und familiären Bereich sind äußerst vielfältig, und es ließen sich eine Reihe ähnlicher Beispiele hinzufügen. Die dargebotenen Ausführungen sollen jedoch genügen, um 142 Auch zu diesem Thema führt der Ratgeber „Fragen junger Leute – Praktische Antworten“ zahlreiche Beispiele an. (Vgl. Fragen junger Leute – Praktische Antworten, 11 – 17). 143 „Deshalb heißt es in Sprüche 8:33: ‚Hört auf Zucht.’ Einige jedoch lassen ‚sich nicht durch bloße Worte zurechtbringen’. Sie mögen für ihren Ungehorsam eine angemessene Strafe benötigen (Sprüche 17:10; 23:13, 14; 29:19).“ (Wachtturm vom 15. Oktober 1997, 32). 144 Vgl. Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 30f. 145 Vgl. Rogerson, Viele von uns, 57. 146 Kaiser / Rausch, Zeugen Jehovas, 187. 147 „Viele Brüder in aller Welt sind mit der Frage der Bluttransfusion konfrontiert worden. Oft sind unsere Brüder durch Widerstand seitens der Ärzte, Krankenschwestern und Richter sowie durch ungünstige Presseberichte großem Druck ausgesetzt worden, aber das Ergebnis ist ein gewaltiges Zeugnis gewesen.“ (Jahrbuch 1983, 17). 148 Vgl. Jehovas Zeugen, 183. Vgl. auch Weis, Zeugen Jehovas, 89f. 149 Vgl. Lk 6, 1-5. Der Evangelist erläutert das nachsichtige Verhalten Jesu am Beispiel der Jünger, die am Sabbat Ähren abrissen, obwohl es durch das jüdische Gesetz verboten war. 53 vor den weitreichenden Konsequenzen eines Beitritts in die Sekte zu warnen. Die psychischen Folgen und Belastungen, denen ein Zeuge Jehovas ausgesetzt ist, lassen sich, bedingt durch ständigen Leistungsdruck, dem er unterliegt, nicht immer verbergen. Unbewältigte Schuldgefühle und Vorgesetzen oder Selbstzweifel die sowie Versammlung Demütigungen bei durch die Nichterfüllung des vorgeschriebenen Leistungspensums sind weitverbreitete Folgen des ständigen Missionszwangs der Sektenmitglieder. Persönliche Mißerfolge werden auf einen Mangel an Einsatz für die Sache der Organisation zurückgeführt, wodurch sich der Druck erhöht und die psychischen Belastungen zunehmen.150 Trotzdem werden die Zeugen dazu angehalten, nach außen hin stets ein freundliches und ansprechendes Erscheinungsbild zu wahren. 3.1.9.4 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte Der Ausbau der Organisation unter Joseph Franklin Rutherford gab der Gemeinschaft den Charakter eines totalitären religiösen Systems. Seitdem existiert eine Körperschaft, die ihre Legitimität von Gott ableitet und an deren Spitze der Präsident steht. Im Laufe der über hundertjährigen Geschichte der Zeugen Jehovas traten vielfältige Konflikte auf, welche im besonderen die Beziehungen der Sekte zu den staatlichen Instanzen der Länder betrafen, in denen diese sich ausbreitete, weil der Staat und die angeblich mit ihm paktierenden Kirchen für die Zeugen Jehovas widergöttliche und daher zu bekämpfende Institutionen gewesen seien. Die Entwicklung in Deutschland war zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur durch eine Verfolgung der Sekte der Zeugen Jehovas gekennzeichnet, welche neben der Ablehnung der weltlichen Einrichtungen auch durch den Bezug auf das Alte Testament mitverursacht war, wodurch die Zeugen Jehovas sich bei den Nationalsozialisten dem Verdacht des Sympathisantentums mit den Juden 150 Vgl. Pape, Ich war Zeuge Jehovas, 50f. 54 aussetzten. Das Judentum, als dessen Nachfolger sie sich betrachten, stellt für die Zeugen Jehovas allerdings lediglich eine Übergangserscheinung dar. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte eine rasche weltweite Verbreitung der Sekte ein, die vor allen Dingen auf die hohe Opfer- und Einsatzbereitschaft der Mitglieder zurückzuführen ist. Die Verwaltung der Zeugen Jehovas erfolgt über ein bestens durchorganisiertes System mit zahlreichen Ämtern und Funktionen. Die Führung, die ihren Sitz in Brooklyn (USA) hat, beansprucht, göttliche Befehle zu erteilen. Durch die Schaffung eines eigenen Lehrsystems erfolgte eine deutliche Abgrenzung von den christlichen Kirchen, was dazu führte, daß die Kirchen als „Helfer Satans“ diffamiert wurden und auch heute noch werden. Eine Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas zieht erhebliche gesellschaftlich-familiäre Folgen nach sich. Der Lebensoptimismus und die zentrale christliche Botschaft von der Erlösung der Menschheit durch den Tod und die Auferstehung Jesu werden durch eine Hörigkeit gegenüber einem totalitären religiösen System ersetzt, das den Mitgliedern vorgaukelt, eine Einrichtung Gottes zu sein. Bedingt durch Missionierungszwang und starke körperliche wie seelische Beanspruchung treten in den Reihen der Anhänger häufig seelische und psychische Störungen auf, deren Verdrängung wiederum Krankheiten begünstigt. 55 3. 2 Scientology 3.2.1 Biographie des Gründers Lafayette Ronald Hubbard (13. 3. 1911 – 24. 1. 1986) Es existieren verschiedene Biographien Hubbards. Einige sind von Mitgliedern der Scientology selbst verfaßt worden. Die Ausschmückung der von der Scientology-Organisation verfaßten Biographien Hubbards erschweren einen objektiven Zugang zur Person des Gründers.151 Der Sektenexperte Friedrich Haack meint dazu: „Sein Leben ist sozusagen ein Beleg für die Außergewöhnlichkeit des ganzen Systems. Er wird als Forscher geschildert, der schon in früher Jugend Erstaunliches geleistet habe, als Kriegsheld und ausgezeichneter Wissenschaftler, als AllroundMann und allgegenwärtiger Hüter des Wissens und der Techniken von Dianetics und Scientology.“152 Die Scientology-Organisation charakterisiert in ihrem Handbuch gleich zu Beginn ihrer Ausführungen über die Biographie Hubbards sein Leben als „Leben im Dienste der Menschheit“. Seine Forschertätigkeit wird als „Vermächtnis der Weisheit“ gepriesen.153 Haack hat sich mit den verschiedenen Biographien über längere Zeit hinweg kritisch auseinandergesetzt. Deshalb soll in den folgenden Ausführungen auch im wesentlichen auf seine Ergebnisse zurückgegriffen werden. Lafayette Ronald Hubbard wurde am 13. März 1911 in Tilden, im US Bundesstaat Nebraska, geboren. Sein Vater, Harry Ross Hubbard, war 151 Die Problematik dieser von Scientology selbst verfaßten Biographien besteht darin, daß diese sein Leben und Wirken in einzigartiger Weise verklären. In einem Artikel des Lexikons der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen wird hierzu folgendes bemerkt: „Lafayette Ronald Hubbards Lebensbeschreibung gleicht mehr einer Heiligenvita als einer exakten Biographie.“ (Liebl, Hans, Scientology, in: Gasper, Hans / Müller, Joachim / Valentin, Frederike (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, 967). 152 2 Haack, Friedrich-Wilhelm, Scientology – Magie des 20. Jahrhunderts, München 1991 , 17. 153 „Es läßt sich keine passendere Aussage finden, die das Leben L. Ron Hubbards besser charakterisieren würde, als seine einfache Erklärung: ‚Ich helfe anderen gerne, und zu den größten Freuden meines Lebens zählt zu sehen, wie sich jemand von den Schatten befreit, die seine Tage verdunkeln.’ Hinter diesen zentralen Worten steht ein Leben im Dienste der Menschheit und ein Vermächtnis der Weisheit, die es jedem ermöglicht, seit langem gehegte Träume von Glück und geistiger Freiheit zu erreichen.“ (New Era Publications International ApS (Hrsg.), Das ScientologyHandbuch. Aus den Werken von L. Ron Hubbard, Kopenhagen 1994, 783). 56 Mitglied der US Navy. Seine Mutter war Dory May Hubbard. Ronald verbrachte einige Jahre seiner Kindheit auf der Farm seines Großvaters. Scientology glorifiziert bereits die Kindheit Hubbards, indem sie seine angeblich hervorragende klassische Bildung hervorhebt. Er soll sich bereits als Kind mit griechischer Philosophie und dem englischen Klassiker Shakespeare beschäftigt haben. Seine Mutter wird dabei als die Bezugsperson herausgestellt, die ihrem Sohn alle diese Kenntnisse vermittelt haben soll.154 Zwischen seinem vierten und achtzehnten Lebensjahr soll Hubbard mehrmals nach Ostasien gereist sein. Während seines Aufenthaltes in China und Indien erwachte in ihm das Interesse an Herkunft und Bestimmung des Menschen. Er soll in dieser Zeit unter anderem von Lama-Priestern unterrichtet worden sein.155 Es wird jedoch bezweifelt, daß er diese mehrere Jahre dauernden Reisen tatsächlich unternommen hat. In einem Brief seines Vaters, in dem der Werdegang Ronalds verzeichnet ist, werden diese Reisen an keiner Stelle erwähnt. In den hierfür in Betracht zu ziehenden Jahren 1925 bis 1929 sind vielmehr ganz andere Aktivitäten verzeichnet. Nach den Angaben seines Vaters kam Ronald Hubbard am Anfang des Schuljahres 1925/26 an die High School in Washington und wurde bereits 1926 an eine andere High School versetzt.156 An dieser High School blieb Hubbard nur ein halbes Jahr und ging dann mit seinen Eltern nach Guam, wohin sein Vater vom Navy Department 154 „Unter der Anleitung seiner Mutter, einer sehr gebildeten Frau, war er in seinem Lesestoff seinem Alter sehr voraus – Shakespeare, griechische Philosophie und spätere Klassiker –, er las diese in einem Versuch, seine unersättliche Wißbegierde zu stillen.“ (Das Scientology-Handbuch, 783). 155 Scientology schreibt hierüber: „Schon bald war Ron im damals abgelegenen Asien auf der Spur von Antworten auf sehr grundlegende Fragen. Als er das Alter von neunzehn Jahren erreichte, hatte er beinahe eine halbe Million Kilometer zurückgelegt und erforschte die Kulturen Javas, Japans, Indiens und der Philippinen. Mit derselben Entschlossenheit gewann er sich sogar Zugang zu verbotenen Lamaklöstern in den westlichen Hügeln Chinas.“ (Das Scientology-Handbuch, 784). Haack bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die in diesen Lebensläufen erwähnten geheimnisvollen Asienreisen, die Hubbard in Kontakt zu Lama-Priestern und zu mongolischen Nomaden gebracht haben sollen und in deren Verlauf er angeblich China, die Mongolei, Indien usw. besucht haben soll, haben die Funktion, L. R. Hubbard schon in früher Jugend als Abenteuer bestehenden Helden wie als klugen Denker und geistigen Forscher dastehen zu lassen.“ (Haack, Scientology, 22). Haack bestreitet in diesem Zusammenhang, daß die Reisen Hubbards tatsächlich stattgefunden haben. 156 Im Brief seines Vaters wird die Queen Ann High School in Seattle / Washington genannt. (Vgl. Haack, Scientology, 24). 57 versetzt worden war. Hubbards Aufenthalt in Guam dauerte ungefähr sechs Monate. Ron wurde in dieser Zeit von seiner Mutter unterrichtet. Im Schuljahr 1927/28 kam er in die USA zurück und wurde Schüler der Helena High School in Montana. Das Jahr 1928 verbrachte er wieder in Guam, kehrte jedoch schon im Jahr 1929 wieder in die Vereinigten Staaten zurück. Er studierte von 1930 bis 1932 an der Washingtoner Universität. Er besuchte unter anderem auch Vorlesungen über Molekularund Atomphysik. Nach einigen Schwierigkeiten mit dem Studium an der Universität und nachdem er die entscheidende Prüfung nicht bestanden hatte, verließ er die Universität ohne Studienabschluß.157 1933 heiratete Hubbard Marie Louise Grubb. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, ein Sohn mit dem Namen Lafayette Ronald, und eine Tochter, Katherine May. Im Jahr 1947 wurde die Ehe geschieden, und Hubbard heiratete zum zweiten Mal. Doch auch diese Ehe war nicht von langer Dauer und wurde 1951 aufgelöst. 1952 heiratete er seine dritte Frau, Mary Sue Whipp, mit der er drei Kinder hatte.158 Seine zweite Frau äußerte sich im Zusammenhang mit der Scheidung sehr negativ über Hubbard und bezeichnete ihn als psychisch kranken Menschen.159 Diese Äußerung von Hubbards zweiter Frau, die ihn als geisteskranken Menschen bezeichnete, scheint nicht ganz unbegründet zu sein, wenn man seine Kontakte zum 157 Vgl. Haack, Scientology, 24. Hemminger bemerkt in diesem Zusammenhang: „Die Laufbahn Rons an Schulen und Hochschulen stellt sich, soweit bekannt, als eine Serie von Mißerfolgen dar.“ (Hemminger, Hansjörg, Scientology. Der Kult der Macht, Stuttgart 1997, 63). Die Scientology-Organisation erwähnt zwar das Studium Hubbards an der Washingtoner Universität, verschweigt jedoch den Abgang ohne Studienabschluß. Es heißt bei Scientology lediglich: „Als er 1929 in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, nahm Ron seine formelle Ausbildung wieder auf und schrieb sich im darauffolgenden Jahr an der George Washington Universität ein. Dort studierte er Mathematik, Ingenieurwesen und das damals neue Fachgebiet der Kernphysik, die alle wichtige Hilfsmittel für weitere Forschung bildeten.“ (Das Scientology-Handbuch, 784). 158 Vgl. Haack, Scientology, 26. Die vielen Eheschließungen und baldigen Scheidungen werfen die Frage nach dem Charakter Hubbards auf. Als seine zweite Frau die Scheidung einreichte (1951), warf sie ihrem Mann unter anderem vor, versucht zu haben, ihre Tochter zu entführen. Scientology erwähnt auch diese Ereignisse aus dem Familienlebens Hubbards an keiner Stelle. 159 Der Journalist Peter Köpf, der sich in einer seiner Publikationen mit Scientology auseinandergesetzt hat, beschreibt die Reaktion der Frau Hubbards folgendermaßen: „Seine zweite Frau erklärte ihn 1951 bei der Einreichung der Scheidungsklage für ‚hoffnungslos geisteskrank‘, zog diese Aussage später aber wieder zurück.“ (Köpf, 2 Peter, Stichwort Scientology, München 1996 , 12f.). Die Bezeichnung „hoffnungslos geisteskrank“ entnimmt Köpf von Christopher Evans. (Vgl. Evans, Christopher, Kulte des Irrationalen, Reinbek 1976, 148). 58 Neosatanismus in Betracht zieht, mit dessen bekanntestem Vertreter, Alaister Crowley, Hubbard eine Zeitlang in engem Kontakt gestanden hatte.160 Bereits zur Zeit seines Technikstudiums interessierte sich Hubbard auch für Philosophie und den Menschen, besonders für den menschlichen Verstand und das geistige Potential des menschlichen Gehirns. Er hatte eine große Vorliebe für den Bereich der Science-Fiction161 und schrieb eigene Romane. Ab 1935 setzte Hubbard sich mit Funktion und Struktur des menschlichen Gehirns auseinander. Hierbei spielte besonders seine Unzufriedenheit mit der damaligen Psychologie und ihrer Wirkung auf die Kultur eine Rolle.162 Als Zusammenfassung seiner Studien schrieb er das Buch „Dianetics“163 , das ein voller Erfolg und in den USA zum Bestseller 160 Als Hubbard zum Kriegsdienst herangezogen wurde, mußte er seine schriftstellerische Tätigkeit als Autor von Science-Fiction-Romanen für einige Zeit einstellen. Er wurde nach Beendigung des Krieges auf den Satanistenorden „Ordo Templi Orientis“ in Kalifornien aufmerksam. Über seine Kontakte zum berüchtigten Satanisten Alaister Crowley und die Wirkungen auf Hubbard heißt es: „Aber die Werke Crowleys soll Hubbard intensiv studiert haben, und sie dürften auf seine Denkweise in allgemeiner Form abgefärbt haben.“ (Hemminger, Scientology, 64). 161 Science-Fiction stellt eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fiktion dar. „Der Ursprung der Science-Fiction fällt zusammen mit dem Ursprung der durch die technologische Nutzung der Erfahrungswissenschaften konstituierten Moderne und deren spezifischen Wissenschaftsglauben: In der Wissenschaft und ihrer Anwendungsdimension, der Technik, wir das Heil des Menschen gesehen.“ (Hauser, Linus, Science Fiction, in: Gasper, Hans, u.a. (Hrsg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, 958f). Hauser erwähnt des weiteren auch die mit der wachsenden Technisierung einhergehende Technikangst. Eine knappe, aber durchaus brauchbare Beschreibung von Science-Fiction bietet Tom Voltz in seinem Buch „Scientology und (k)ein Ende“. Er umschreibt den Begriff wie folgt: „Wie der Name schon sagt, ist Science-fiction (sic) eine Verknüpfung von Wissenschaft und Fiktion. Die Fiktion basiert auf wissenschaftlichen Entdeckungen, sowohl rein theoretischen als auch tatsächlichen. Aus ihnen entwickelt der Autor dann den Stoff seines Romans.“ (Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, Düsseldorf 1995, 59). 162 Hubbard bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es war mir sehr klar, daß ich es mit einer Kultur zu tun hatte und in ihr lebte, die weniger über den Verstand wußte als der niedrigste aller primitiven Stämme, mit denen ich je in Kontakt kam.“ (Das Scientology-Handbuch, 784). 163 Der Kerngedanke von Dianetics ist, durch die Beeinflussung des Verstandes Gesundheit, Erfolg und Heil zu erreichen. Eine ausführlichere Erklärung erfolgt bei der Darstellung des Lehrsystems. Die Scientology-Organisation stellt die Veröffentlichung von Dianetics als wichtigen Meilenstein für den Fortschritt der Menschheit dar wenn sie schreibt: „Die Veröffentlichung von Dianetik läutete eine neue Ära der Hoffnung für die Menschheit ein [...].“ (Das Scientology-Handbuch, 786). 59 wurde. 1950 wurden die Gedanken Hubbards in einem Science-FictionMagazin der Öffentlichkeit zum ersten Mal zugänglich gemacht.164 Nach weiteren Forschungen begründete Hubbard im Mai 1954 seine neue Wissenschaft, die Scientology. Die Dianetik wurde dabei der Scientology eingegliedert. Im gleichen Jahr kam es zur Gründung der „ScientologyKirche“.165 1959 erwarb Scientology ein Schloß in England, welches das Hauptquartier der Sekte wurde. 1968 bekam Hubbard Schwierigkeiten mit der britischen Regierung, weshalb er das Land verlassen mußte. Er zog sich auf ein Schiff zurück und leitete von dort aus sämtliche Aktivitäten von Scientology. Im gleichen Jahr trat er als oberster Leiter der Organisation zurück und betraute andere Scientologen mit der Führung der Organisation. Acht Jahre später, im Jahr 1976, wurde die Zentrale nach Clearwater in Florida (USA) verlegt. Hubbard mußte sich in der Zwischenzeit mehrere Male wegen Betrugs verantworten, so z. B. in Frankreich im Jahr 1978. Anfang 1980 zog sich Hubbard vollends aus der Öffentlichkeit zurück und war mehrere Jahre unauffindbar. Am 24. Januar 1986 wurde sein Tod von der Organisation offiziell bekanntgegeben. Die Scientology- Organisation stellt Hubbards Lebenswerk und seinen Tod als verdienstvoll für die Welt dar und bezeichnet ihn als besten Freund, den die Welt je hatte.166 164 In einer Broschüre, die sich kritisch mit Scientology auseinandersetzt, heißt es in diesem Zusammenhang: „Im Jahr 1950 veröffentlichte Hubbard in einem Sciencefiction-Magazin den Artikel: ‚Dianetik – Einführung in eine Wissenschaft’. Aufgrund des großen Erfolges folgte noch im gleichen Jahr das Buch ‚Dianetik – Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit’, das in den USA schnell zum Bestseller geworden sein soll.“ (Abel, Ralf B., Scientology. Kritische Darstellung eines gefährlichen Systems. Aktionsbündnis Hamburg-Eppendorf, Hamburg 1993, 9f). 165 „Die erste Scientology-Kirche, die dem Menschen eine Route zu neuen Stufen des Bewußtseins bot, wurde 1954 gegründet:“ (Das Scientology-Handbuch, 786). Vgl. auch Mandau, Luise, Tödlicher Sektenwahn. Die teuflischen Tricks der 2 Seelenfänger, Essen / München 1995 , 245. 166 „Alles in allem belaufen sich Ron Hubbards Werke auf den Gebieten der Dianetik und der Scientology auf über 5.000 Schriften, einschließlich Dutzender von Büchern und über 3.000 Tonträgern. Zusammengenommen machen diese Werke das Vermächtnis eines Lebens aus, das am 24. Januar 1986 endete. Dennoch bedeutete das Ableben L. Ron Hubbards in keiner Weise ein Ende. Zumal über hundert Millionen seiner Bücher im Umlauf sind und Millionen von Menschen täglich seine Technologien zur Verbesserung anwenden, kann man wahrhaft sagen, daß die Welt nie einen besseren Freund hatte.“ (Das Scientology-Handbuch, 787). 60 3.2.2 Die Entstehungsgeschichte der Scientology 3.2.2.1 Die Bedeutung der Science-Fiction-Literatur Die Geschichte von Scientology beginnt mit dem Erscheinen des von Hubbard verfaßten Buches „Dianetik – Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit“. Eine wichtige Voraussetzung für den großen Erfolg des Buches lag in der Popularität der Science-Fiction-Literatur in den USA der dreißiger Jahre. Tom Voltz167 , ein exzellenter Kenner von Scientology, beschreibt den Erfolg dieser Literatur mit folgenden Worten: „In den USA gewann die Science-fiction Literatur Mitte der 30er Jahre stark an Popularität und wandelte sich von einem Genre der Trivialliteratur zu einem Genre der angesehenen Literatur.“168 Der Ursprung von Science- Fiction liegt aber bereits im 19. Jahrhundert. Bedingt durch die technische Revolution und die damit einhergehenden Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften bildete sich ein naiver Fortschrittsglaube heraus, der den Menschen suggerierte, in absehbarer Zeit auch die letzten Geheimnisse des Lebens und der Welt entschlüsseln zu können. Gleichzeitig entstand auch eine Technikangst, die ein neues, durch Ambivalenz gekennzeichnetes, Lebensgefühl aufkommen ließ, welches so beschrieben werden kann: „Dieser Glaube und die Angst verschmelzen zu einem epochal neuen und gespaltenen Lebensgefühl, neomythischer Titan zu sein, der sich vor seiner Macht fürchtet.“169 Dieses zwiespältige Lebensgefühl wird im ersten modernen Science-Fiction-Roman „Frankenstein“ sehr deutlich angesprochen. Hier wird eine menschenähnliche Kreatur im Labor erschaffen, jedoch wird dem Wissenschaftler seine Schöpfung schon sehr bald zum Verhängnis.170 Im Jahr 1932 erschien Aldous Huxley’s Roman „Schöne neue Welt“, in dem der Autor die heutzutage längst übliche Praxis der künstlichen Befruchtung im Reagenzglas, die In-Vitro-Fertilisation, als 167 Tom Voltz arbeitet als Unternehmensberater in der Schweiz. Er gehörte 20 Jahre der Scientology Organisation an. Sein Buch „Scientology und (k)ein Ende“ bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen der verschiedenen Unterorganisationen und wirtschaftlichen Aktivitäten der Organisation. 168 Voltz, Scientology, 59. 169 Hauser, Science Fiction, 958. 170 Ibid. 61 Utopie beschreibt. Dieses Werk aus dem Bereich der Science-FictionLiteratur sei an dieser Stelle erwähnt, um zu verdeutlichen daß der Übergang von der Utopie zur Realität oft nur ein kleiner Schritt ist. Viele ursprünglich als Phantastereien bewertete Dinge sind im Laufe der Zeit tatsächlich Wirklichkeit geworden, so auch der Traum von einer Reise zum Mond, den die Menschen des 19. Jahrhunderts nur träumen konnten. Die Ideen solcher Werke übten auf Lafayette Ronald Hubbard einen großen Einfluß aus. 3.2.2.2 Der Einfluß von Science-Fiction auf Lafayette Ronald Hubbard Hubbard machte sich bereits in den 1930er Jahren einen Namen als Science-Fiction-Autor. Er verfaßte etliche Science-Fiction-Romane, die einen guten Einblick in seine Gedankenwelt ermöglichen. Es sollen daher zwei der Werke Hubbards erwähnt werden, zum einen eine Kurzgeschichte mit dem Titel „The Dangerous Dimension“, zum anderen der Roman „The Tramp“. In beiden Werken wird die Bedeutung paranormaler Fähigkeiten hervorgehoben, die Möglichkeit der Fernbeeinflussung von Menschen sowie die Überwindung von Raum und Zeit.171 Ralf Abel, der sich mit der Scientology-Organisation sehr intensiv befaßt hat, äußert sich über die Gedankenwelt Hubbards folgendermaßen: „Die oben beschriebene Gefühls- und Gedankenwelt hat Hubbard offenbar bis zu seinem Tod nicht verlassen. Die von Hubbard in seinen Sciencefiction-Geschichten beschriebenen Fähigkeiten sind Vorstellungen, die auch in der scientologischen Ideologie eine wesentliche Rolle spielen.“172 171 172 Vgl. Abel, Scientology, 10f. Ibid., 11. 62 3.2.2.3 Etappen auf dem Weg zu einer festgefügten Organisation 3.2.2.3.1 „Dianetic“ und „Scientology“ Vor der Skizzierung der Entwicklung Scientologys zu einer Organisation mit einem festgefügten Lehrsystem ist es ratsam, die Bedeutung der Begriffe „Dianetic“ und „Scientology“ zu klären. „Dianetic“ leitet sich von den beiden griechischen Termini „diá“ (durch) und „noos“ (Sinn, Verstand, Denken) ab. Das Ziel von Dianetic ist es, durch die Beeinflussung des menschlichen Verstandes Gesundheit und Heil zu erreichen. Das Ergebnis ist der neue Mensch, der sogenannte „Clear“.173 Der Begriff Scientology ist eine Kombination aus dem lateinischen Wort „scire“ (wissen) und dem griechischen „lógos“ (hier: Lehre). Der Begriff bedeutet also „Lehre vom Wissen“. Scientology im Sinne Hubbards stellt den Überbau von Dianetics dar.174 3.2.2.3.2 Die Anfänge Hubbards Forschungen über den menschlichen Verstand haben einen wesentlichen Einfluß auf die Entstehung der Organisation ausgeübt, da er versuchte, seine Forschungsergebnisse für die Gründung einer Religion fruchtbar zu machen. Für Hubbard stellt Religion eine positive, sozial zu begrüßende Angelegenheit dar. Das Gute an einer Religion ist ein Glaube, der sich durch eine bestimmte Ordnung auszeichnet. In diesem Zusammenhang weist Haack auf zwei sehr aufschlußreiche Äußerungen Hubbards hin, die in Zusammenhang mit der Gründung seiner Sekte stehen. „Es wäre töricht, für einen Penny auch nur ein Wort zu schreiben. 173 Hubbard definiert Dianetik als „ein System zur Analyse, Kontrolle und Entwicklung des menschlichen Denkens, welches auch Techniken zur Erhöhung von Fähigkeit und Vernunft und zur Befreiung von der entdeckten alleinigen Quelle von Aberrationen und psychosomatischen Krankheiten liefert“. (Dianetik, 520). 174 Unter Scientology versteht Hubbard „eine angewandte religiöse Philosophie und Technologie, die Probleme des Geistes, des Lebens und des Denkens löst“. (Dianetik, 520). Zur genauen Bedeutung von Dianetik und Scientology für das Lehrsystem siehe Punkt 3.5. 63 Wollte man wirklich eine Million Dollar verdienen, so wäre der beste Weg, seine eigene Religion zu gründen.“175 Diese erste Aussage Hubbards läßt die finanziellen Motive einer Religionsgründung deutlich erkennen, die ihn von Anfang an bewegten. Die zweite in diesem Zusammenhang bedeutende Aussage Hubbards zum Thema Religion beschreibt die seiner Meinung nach notwendigen Voraussetzungen für eine tragfähige Religion. Nach Hubbard ist ein klar geordneter Glaube einer Religion sehr förderlich. Hierbei kommt die von ihm entwickelte Dianetic ebenfalls zum Tragen: „Dianetic ist eine Wissenschaft; als solche hat sie keine Meinung über Religion, weil Wissenschaften auf Naturgesetzen basieren, nicht auf Meinungen.“ Hubbard erhebt seine Anschauung hiermit in den Rang einer Wissenschaft. Die Aussage, die Dianetic habe keine Meinung über Religion, hindert ihn jedoch nicht daran, diese in sein „religiöses System“ zu integrieren. Hubbard bemerkt hierzu: „Wenn Glauben einer Religion dargebracht wird, kann man beobachten, daß er, einmal gegeben, unerschütterlich und voraussagbar (predictable) wird. Wenn ein unordentlicher Verstand nach den Fundamenten der Dinge greift, kann in keiner Weise vorausgesagt werden, wie der Verstand die Information nutzen wird. (...) Dianetics (...) macht den Menschen gesund.“176 Dianetic ist für Hubbard eine Art Ordner des Glaubens. Darüber hinaus ist Dianetic Religion. Haack sagt zu diesem Religionsverständnis: „Was Hubbard unter Religion versteht, ist jenes Abhängigkeits-Verhalten, das der Mensch braucht und wozu bestimmte Gruppen (die Religionsgemeinschaften) nun einmal hilfreich sein können (wenn sie sich den vorgegebenen Ordnungen anpassen).“177 175 Haack, Scientology, 40. Vgl. auch Billerbeck, Liane von / Nordhausen, Frank, Der 5 Sektenkonzern. Scientology auf dem Vormarsch, Gütersloh 1994 , 35. Billerbeck und Nordhausen äußern sich in Zusammenhang mit den Geldsorgen und der beabsichtigten Religionsgründung Hubbards wie folgt: „Hubbard, der ständig in Geldnöten schwebte und seine Bekannten anpumpte, hatte sich nicht nur seine Psycho-Probleme vom Leib geschrieben, er nutzte auch die kommerzielle Chance, die ihm das Leben unverhofft bot.“ 176 Haack, Scientology, 41. 177 Ibid. 64 Im selben Jahr 1950, in dem Hubbard solche Gedankengänge offenbarte, wurde im US Bundesstaat New Jersey die sogenannte „Hubbard Dianetic Research Foundation“ gegründet.178 Zwei Jahre später, im Jahr 1952, führte Hubbard den Begriff „Scientology“ ein. Er charakterisierte Scientology und seinen Zusammenhang mit Dianetic folgendermaßen: „Die Formulierungen der Scientology basieren auf keinem anderen Konzept oder Regeln als denjenigen der Dianetik, mit der Ausnahme, daß diejenigen der Dianetik sich an die Behandlung des Menschen als eines Individuums wenden, in einer neuen Art von Psychotherapie und mit dem Ziel, einen besseren Menschen zu ermöglichen. Dies sind nicht die Ziele der Scientology.“179 Das Ziel von Scientology sei das Erklimmen der obersten Wissens- und Seinsstufe: „Scientology bemüht sich, die höchste Ebene des Wissens und des Seins zu erreichen, die möglich ist, unabhängig davon, ob die Person ein Mensch bleibt, oder etwas anderes wird.“180 Daher sei Scientology eine „Wissenschaft des Wissens“.181 Scientology und die eingegliederte „Dianetic“ bilden das Fundament für Hubbards Gründung der „Church of Scientology“. Über dreißig Jahre nach ihrer Entstehung sagte Hubbard über die Gründung der ScientologyKirche, er habe lediglich das Fachgebiet, nicht aber die Kirche gegründet.182 Doch ist diese Behauptung nicht stichhaltig. Die „Scientology Organisation“ ist 1954 in Los Angeles entstanden. Aus ihr sind im Laufe der folgenden Jahre zahlreiche Nebenorganisationen hervorgegangen.183 Scientology selbst gibt als Gründungsdatum der ersten Kirche den 18. Februar 1954 an. 178 Vgl. Abel, Scientology, 11. Voltz, Scientology, 70. 180 Ibid. 181 Ibid., 71. 182 Ibid., 73. 183 Abel meint: „1954 entstand die erste „Hubbard Scientology Organisation“. Seit den Anfängen hat sich die Organisation systematisch entfaltet und besitzt eine Reihe von Unter-, Neben- und Tarnorganisationen.“ (Abel, Scientology, 11). 179 65 3.2.2.3.3 Weitere Ausbreitung der Organisation Nach der Gründung der Scientology-Organisation unternahm Hubbard zahlreiche Vortragsreisen, um seine Ideen einem möglichst großen Publikum zugänglich zu machen und ein möglichst großes Interesse an Scientology zu wecken. 1955 kam er nach Großbritannien und begann mit Werbeaktivitäten in dem englischen Ort Notting Hill Gate. Bereits im Dezember desselben Jahres 1955 konnte er einen englischen Zweig seiner Organisation, The Church of American Science (United Kingdom Chapter), gründen.184 Hubbard erwarb in England auch ein luxuriöses Haus und widmete sich der Gartenarbeit. Durch diese Beschäftigung mit der Natur kam er zu der angeblich bahnbrechenden Erkenntnis der Existenz von guten und bösen Pflanzen, die er auf den Bereich des menschlichen Geistes übertrug.185 Es gibt im menschlichen Geist demnach positive und negative Elemente. Minhoff bemerkt in diesem Zusammenhang: „Diese ‚bahnbrechende’ Erkenntnis nach einigen Jahren Arbeit mit Drähten und Geräten an Pflanzen wirft doch ein recht klares Licht auf die Art von ‚Genialität’, die Scientologen Hubbard zuschreiben.“186 Diese von Hubbards Anhängern als „revolutionäre Erkenntnis“ bezeichnete Aussage war für die weitere Ausbreitung der Organisation in England von Bedeutung, denn nachdem sich Hubbard in England niedergelassen hatte,187 zog es auch viele Anhänger nach Sussex, wo sie neue Anhänger warben. Diese Werbetätigkeit führte 1960 zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung. Da er Unannehmlichkeiten aus dem Weg gehen wollte, begab sich Hubbard wieder auf Reisen, um in den USA 184 Minhoff / Lösch schreiben dazu: „1955 traf Hubbard in England ein, wo er einen neuen Schwerpunkt seiner Aktivitäten entfalten wollte. So begann Hubbard – nachdem er sich und seine Scientology in dem Ort Notting Hill Gate eingeführt hatte – mit Vorlesungen eine Anhängerschaft in Großbritannien aufzubauen. Am 10. Dezember wurde die Gründungsversammlung für ‚The Church of American Science’ (United Kingdom Chapter) abgehalten.“ (Minhoff Christian / Lösch Holger, Neureligiöse Bewegungen. Strukturen, Ziele, Wirkungen, München 1988, 127). 185 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128. 186 Ibid. 128; vgl. Haack, Scientology, 53. 187 Vgl. Hartwig, Renate, Scientology. Die Zeitbombe in der Wirtschaft, Pfaffenhofen 1994, 16. 66 und Australien die Fortschritte von Scientology zu begutachten. Wie weit Scientology in den USA Anfang 1963 bereits Fuß gefaßt hatte, zeigt die große Menge der von der US-Bundesbehörde (FDA)188 sichergestellten Materialien, wie beispielsweise Bücher und E-Meter.189 Es gelang der staatlichen Behörde aber nicht, genügend belastendes Material gegen Scientology vorzulegen, was die Scientologen veranlaßte, der USBundesbehörde religiöse Intoleranz vorzuwerfen.190 In Australien ergriff die Regierung härtere Gegenmaßnahmen gegen Scientology und bildete einen eigenen Untersuchungsausschuß, der 1963 damit begann, die Organisation genau zu durchleuchten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in einem Bericht zusammengetragen, der nach dem Leiter der Untersuchungen, Kevin Anderson, als „Anderson Report“ bezeichnet wird.191 In diesem Bericht wird Scientology als gefährliche Organisation eingestuft, deren Aktivitäten eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft darstellen. Minhoff bringt die Gefährlichkeit der Sekte auf folgenden Nenner: „Die Scientology ist schädlich; ihre Methoden sind schädlich; ihre praktische Anwendung stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft dar und zwar in medizinischer, moralischer und sozialer Hinsicht.“192 Hubbard zog sich derweil nach England in seinen Wohnsitz zurück, der von seinen Anhängern zu einem gut eingerichteten Ausbildungszentrum ausgebaut worden war. Doch bald ging er wieder auf Reisen und zeigte für seine Organisation nur noch geringes Interesse.193 Daher wuchs der Einfluß seiner Frau Mary Sue. Es wird in diesem Zusammenhang sogar 188 „FDA“ ist die Abkürzung für „US Food and Drug Administration“. „Am 4. Januar 1963 marschierten Beamte dieser US-Bundesbehörde in das Washingtoner Büro der Scientologen und beschlagnahmten kübelweise Bücher, Schriften und E-Meter.“ (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128). 190 „Die Scientologen, die nun in die Rolle verfolgter Minderheiten schlüpften, belegten die FDA mit dem Vorwurf, ‚religiöse Intoleranz’ zu zeigen. Dies fiel den Scientologen um so leichter, als die FDA keine ausreichenden Fakten für eine Anklage oder einen erfolgreichen Prozeß gegen die Bewegung zusammentragen konnte.“ (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128). 191 Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 128. 192 Ibid. 193 Es wird darüber spekuliert, ob Hubbard 1965 darüber nachgedacht habe, Scientology zu verlassen. (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 129). 189 67 von einem „autoritären Umbruch“ in bezug auf die Sekte sowie die Lehre Hubbards gesprochen.194 Anfang 1965 erfolgte die Bekanntgabe von Neuerungen innerhalb des Lehrsystems,195 was einen Anstieg der Zahl Ausbildungswilliger nach den Normen der Organisation zur Folge hatte. Ein Jahr später wurde das Überwachungssystem der Organisation, von dem noch ausführlich die Rede sein wird, verbessert. Am 1. März 1966 wurde der sogenannte „Guardian Office“196 gegründet, deren Führung Mary Sue übernahm. Ein Grund für die Entstehung dieser Organisation ist wohl in der zunehmenden Kritik an Scientology seitens staatlicher Behörden zu suchen. Hierbei könnte vor allem die Anti-Scientology-Kampagne in England eine wichtige Rolle gespielt haben. Minhoff meint dazu: „Ausgelöst worden sein könnte der Aufbau von Abwehrorganisationen mit dem Beginn der massiven Anti-Scientology-Kampagne in England. Dort soll laut Garrison, der Abgeordnete Lord Baniel am 7. Februar 1966 mit Blick auf die australischen Untersuchungen eine Anfrage an den damaligen Gesundheitsminister Kenneth Robinson gestellt haben.“197 Im Herbst des Jahres 1966 soll Hubbard auf seine Leitungsämter verzichtet haben, was ihn allerdings nicht daran hinderte, Kritiker seiner Organisation mit scharfen Worten anzugreifen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, gegen die Feinde von Scientology skrupellose Praktiken anzuwenden. Einer Person, die es wagt, Scientology zu kritisieren, kann Schaden jeder Art zugefügt werden: „Ihr kann das Vermögen weggenommen werden, oder sie kann durch jedes Mittel geschädigt 194 „Die Jahre 1965 bis 1968 sollten weitreichende Veränderungen in der Bewegung bringen. Dies betraf die Organisation wie die Lehre. Auffällig ist, daß gerade diese Jahre geprägt sind von einem autoritären Umbruch, der sich nicht zuletzt in einem Aufbau von externen Feindbildern im Innern wie nach außen zeigte. Während Hubbard auf Reisen war, hatte sich in seiner Studien- und Nachwuchsschmiede in England auf Saint Hill Manor einiges getan. Seine Frau Mary Sue Hubbard rückte immer mehr in den Mittelpunkt der Macht.“ (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 130). 195 Diese Bekanntgabe erfolgte in dem sogenannten HCO Bulletin. Dies ist die Abkürzung für Hubbard Communications Office Bulletin. Hierin sind die geistigen Techniken von Scientology und Dianetik verzeichnet. Das Ziel dieser Techniken ist der zur Freiheit gelangte Mensch, der sogenannte „Clear“. Die Stufen hin zu diesem Ziel des Clear wurden in diesem Bulletin erweitert. (Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 130). 196 Die Aufgabe dieser Organisation besteht in der Abwehr von Kritik von außen. 197 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 131. 68 werden, oder durch jeden Scientologen, ohne Nachteil für den Scientologen. Sie kann ausgetrickst, verklagt oder belogen oder vernichtet werden.“198 Kurze Zeit später führte die Sekte ein Kurssystem ein, das verschiedene Stufen (die sogenannten O.T’s) vorsah und die Mitglieder schrittweise zur absoluten geistigen Freiheit führen sollten, wobei sie allerdings die einzelnen Kursstufen auf eigene Kosten absolvieren müssen.199 Die Ausbildung in den höheren O.T.’s erfolgte auf einem Schiff, welches Hubbard 1967 erwarb, obwohl er angeblich im Vorjahre alle seine leitenden Ämter niedergelegt hatte. Er verlegte die Zentrale der Organisation dorthin und rief die See-Organisation, die sogenannte „SeaOrg“ ins Leben.200 Über Hubbard und den Erwerb seines Schiffes bemerkt die Ex-Scientologin Renate Hartwig: „Hubbard kauft ein mittelgroßes Schiff und nennt es ‚Apollo’. Es wird zum Flagschiff und Hubbard macht sich selbst zum ‚Commodore’.“201 Die englische Regierung ergriff scharfe Maßnahmen gegen die Aktivitäten der Organisation Hubbards. Es erfolgte die Aberkennung des Status als ordentliche Ausbildungsstätte seitens des Innenministeriums. Einreiseanträge von „Studienwilligen“ wurden abgelehnt, sich bereits in England befindlichen Aufenthaltsgenehmigung „Studenten“ gewährt. wurde Des keine Verlängerung weiteren wurden der keine Arbeitserlaubnisse und Versicherungen für Angestellte von Scientology gewährt, bzw. nicht mehr verlängert.202 Auch gegen Hubbard selber wurden Strafmaßnahmen durchgeführt. Er durfte nicht wieder nach England einreisen. „Der britische Innenminister Calaghan untersagte Hubbard unter Berufung auf das ‚Fremdengesetz’ nach England zurückzukehren.“203 Auch in Australien wurde Scientology komplett verboten. 198 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 131. Diese Kursstufen werden mit der Abkürzung „O.T.“ versehen, die für „Operating Thetan“ steht. Eine genaue Erläuterung dieser Stufen wird im Rahmen der Darstellung des Lehrsystems von Scientology gegeben. Siehe unten Punkt 3.5. 200 Vgl. Haack, Scientology, 192ff. 201 Hartwig, Scientology, 16. 202 Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 133. 203 Ibid. 199 69 Auf diese Maßnahmen antwortete Scientology durch ein Straffung der Organisationsstruktur (1968). Auch Hubbard ließ sich durch die Maßnahmen der Regierungen nicht einschüchtern, im Gegenteil. Im September 1969 versuchte er bei einem Zusammentreffen der Sea-OrgSchiffe, von welchen aus die Scientologen vor staatlichen Kontrollen geschützt agieren konnten, nahe der griechischen Insel Korfu die sogenannte „Advanced Organisation“ (AO) zu gründen. Diese Unterorganisation der Scientology sollte Mitgliedern, die auf dem Ausbildungsweg bereits beachtliche Fortschritte erzielt hatten, das Durchlaufen der höchsten Ausbildungsstufen innerhalb der Organisation ermöglichen. Jedoch mußten die Scientologen durch den Druck der griechischen Regierung deren Staatsgebiet verlassen. Das Resultat war die Gründung der „Advanced Organisation“ (AO) im dänischen Kopenhagen im gleichen Jahr 1969. Gleichzeitig mit der Gründung der AO erfolgte der weitere Ausbau des „Guardian Office“. Das war eine Schutztruppe, welche die Scientology-Organisation gegen Spione und Infiltration von außen zu verteidigen hat.204 Ende 1971 gab Scientology Richtlinien und Anordnungen heraus, welche besondere Leistungen der Mitarbeiter honorierten, bei angeblich schlechtem Einsatz für die Belange der Organisation jedoch Strafmaßnahmen vorsahen. Zwei Jahre später (1973) stellte in England der Anwalt Sir John Forster, der gleichzeitig Parlamentsmitglied war, einen Bericht vor, der als „Forster-Report“ bekannt wurde. Dieser Bericht bezeichnete ein generelles Verbot von Scientology als rechtswidrig und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeit, einen eindeutigen Religionsbegriff zu definieren. Haack bemerkt in diesem Zusammenhang: „Sir John Forster spricht einen für moderne Demokratien wesentlichen Punkt an. In vielen Fällen gibt es besondere, oft weitgehende rechtliche und steuerliche Vergünstigungen für Religionsgemeinschaften, jedoch kein Instrumentarium, mit dessen Hilfe etwas über die Qualität einer 204 Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 135. 70 Gemeinschaft ausgesagt werden könnte, die in den Genuß dieser Vorteile kommen soll.“205 Im Jahr 1973 begannen sich die amerikanischen Steuerbehörden für die gewaltigen finanziellen Einnahmen der Scientologen zu interessieren. Auch Interpol leitete damals Ermittlungen gegen Scientology und ihre oberste Autorität Hubbard ein.206 Daraufhin versuchte die Sekte, die staatlichen US-Behörden zu infiltrieren. Dabei erließ die Führung des Guardian Office die Anordnung, ihr das gesamte Belastungsmaterial gegen Scientology, das die amerikanischen Finanzbehörden besaßen, zu besorgen. Scientology agierte folgendermaßen: „Im Oktober 1974 gab Jane Kemper, zu dieser Zeit in der Position des „Guardian World-Wide“ (Weltweiter Sicherheitsbeauftragter) Anweisung, die Büros der IRSFinanzbehörde im District of Columbia und die Steuerabteilung des Justizministeriums der Vereinigten Staaten zu infiltrieren, um alle Akten über Scientology und ihren Gründer Lafayette Ron Hubbard in ihren Besitz zu bringen, sowie alle persönlichen Aufzeichnungen von Amtsanwälten, die die Regierung in Sachen Scientology vertreten.“207 Auch das Justizministerium war das Ziel solcher Unterwanderungsversuche, weil die Sekte einen Prozeß und eine eventuelle Verurteilung Hubbards mit allen Mitteln verhindern wollte. 1975 wurde eine sogenannte „Flag Land Base“ eingerichtet und die Ausbildung des Führungsnachwuchses von der See-Organisation nach Fort Harrison (USA) verlagert. Die folgenden Jahre waren durch eine Art Wettstreit zwischen staatlichen und scientologischen Sicherheitsleuten gekennzeichnet. „1976 wurden durch das FBI zwei Agenten des Guardian-Büros mit falschen Ausweispapieren nachts im Justizministerium aufgegriffen. Im Verlauf der nun folgenden Untersuchungen kam es zu Enthüllungen über die illegalen Taktiken der Organisation und zu einem Prozeß gegen führende Persönlichkeiten derselben.“208 Verhafteten 205 war der scientologische Haack, Scientology, 271. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 135. 207 Ibid. 208 Haack, Scientology, 236. 206 Top-Agent Einer der Meisner, dessen 71 Aussagen maßgeblichen Anteil daran hatten, daß es dem FBI gelang, die entwendeten staatlichen Akten zurückzubekommen. Nach langen Ermittlungen konnten dann 1979 mehrere ranghohe Mitglieder der Scientology, an ihrer Spitze die 48jährige Mary Sue Hubbard, wegen staatsfeindlicher Aktivitäten vom US-Bundesgericht verurteilt werden.209 Diese geschilderten Ereignisse machen deutlich, daß Scientology mit allen Mitteln versucht, staatliche Maßnahmen gegen die Organisation zu verhindern. 3.3. Machtverlust des Gründers und Rückzug aus der Öffentlichkeit Die von Hubbard gegründete und organisierte Sea-Org hatte sich zu einer einflußreichen Institution entwickelt, die die Ausbildung des Führungsnachwuchses gewährleistete und die zu Recht als „Verwaltungsmacht im Scientology-Imperium“210 bezeichnet wird. Doch Hubbards Machtanspruch blieb nicht unangefochten, bis er schließlich ganz entmachtet wurde. „Irgendwann Mitte der siebziger Jahre muß die Macht Hubbards – über eine schwere Krankheit wurde spekuliert – geschwunden sein.“211 Die wichtigste Ursache für die Entmachtung Hubbards war jedoch die Rivalität zwischen der Sea-Org und dem bereits als Sicherheits- und Spionageorgan der Sekte erwähnten Guardian Office. Auch Mary Sue verlor zunehmend ihren Einfluß im Guardian Office. Beide, Hubbard und Mary Sue, wurden vom FBI überwacht, was dazu beitrug, ihre Machtposition innerhalb der Sekte zu untergraben. Um dem FBI zu entgehen, blieben sie nie lange an einem Ort. Doch Hubbard konnte nicht verhindern, daß gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Anklage erhoben wurde. Das Gerichtsverfahren sollte im Februar 1980 in Tampa (Florida) stattfinden.212 Jetzt hielten es auch die 209 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 136. Ibid., 137. 211 Ibid. 212 Ibid., 138. 210 72 Scientologen für notwendig, Hubbard zu verstecken, und rieten ihm, sich nach Kalifornien zurückzuziehen, wo er vor staatlichen Maßnahmen sicher zu sein schien. Doch dies war wohl auch ein Trugschluß, denn Hubbard tauchte zusammen mit Pat Broeker, dem Chef der Sea-Org, schließlich vollständig unter.213 Mit dem Rückzug Hubbards gewann David Miscavige zunehmend an Einfluß. Dieser Mann war vorher ein enger Vertrauter Pat Broekers gewesen. Nach dem Urteil Renate Hartwigs war Miscavige eine Persönlichkeit, die bereits „von Kindesbeinen an nach den Vorgaben von Scientology geschult worden“214 sei. Mit seiner Einflußnahme beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte von Scientology. Zunächst mußte sich Miscavige die Macht in der Sekte jedoch mit dem aus dem Untergrund zurückkehrenden Pat Broeker und dessen Frau teilen, bevor er durch einen späteren Machtkampf zum obersten Führer der Organisation aufsteigen konnte. Im Jahr 1982 gründete die Sekte das sogenannte „Religious Technology Center“ (RTC), welches sämtliche Lizenzen für Warenzeichen und Druckrechte der Schriften und Kursangebote von Scientology erwarb. Hierzu bedurfte es des Einverständnisses Hubbards, jedoch wurde die Echtheit der Unterschriften Hubbards auf den hierzu notwendigen Unterlagen wiederholt in Frage gestellt. Einige scientologische Gruppen beschuldigten daher das RTC der Unterschriftenfälschung. Die „Zweifler“ wurden kurzerhand aus der Organisation ausgeschlossen. David Miscavige war an der angeblichen Unterschriftenfälschung beteiligt, wodurch seine spätere Führungsrolle erst möglich wurde. Er strebte danach, die ganze Welt zu beherrschen, was Abspaltungstendenzen förderte. Seine Vorgehensweise war offensichtlich auch altgedienten Sektenmitgliedern zuviel. David Mayo, einer der bisherigen Weggefährten Hubbards und Miscaviges, verließ die Organisation mit vielen ausgebildeten Scientologen. Aus dieser durch Miscaviges Vorgehen 213 Pat Broeker war eine skurrile Persönlichkeit. Er war mehrere Male verheiratet und hatte eine schlechte Ausbildung. Zu seinen Aufgaben als Hauptverantwortlicher der Sea-Org gehörte vor allem die Beschäftigung mit den Sicherheitsfragen innerhalb der Organisation. 214 Vgl. Hartwig, Scientology, 17. 73 enttäuschten Gruppe von Scientologen bildete sich dann die sogenannte „Freie Zone“.215 Wie bereits erwähnt, ließ Hubbard sich in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken. Da auch der Sohn den Aufenthaltsort seines Vaters nicht kannte, leitete er rechtliche Schritte gegen Scientology ein, um feststellen zu lassen, ob sein Vater überhaupt noch lebte, da von ihm seit Jahren jede Spur fehlte.216 Am 24. Januar 1986 wurde der Tod Hubbards offiziell bekanntgegeben. Wann und wo und unter welchen Umständen der Gründer von Scientology starb ist völlig ungeklärt. Während die Sekte den Behörden einen Schlaganfall als Todesursache angab, wurde für die Sektenmitglieder die Sprachregelung ausgegeben, er sei freiwillig (also durch Selbstmord) aus dem Leben geschieden.217 Der Tod Hubbards führte zu heftigen Machtkämpfen unter den Führungskräften von Scientology, aus denen David Miscavige als Sieger hervorging. Seitdem ist er der unangefochtene Herrscher über die Sekte. Sein schon seit langem verfolgtes Ziel, durch den Ausbau der totalitären Strukturen der Sekte die Weltherrschaft zu erringen, hat er keineswegs aufgegeben. Dazu bemerkt die ehemalige Scientologin Renate Hartwig: „Die Wirtschaft soll unterwandert werden. Über diese wirtschaftliche Macht will Miscavige an die Schalthebel der politischen Macht. Das Endziel des neuen Führers: Eine straff organisierte, autoritär geführte Weltmacht, die nach Scientology-Richtlinien funktioniert.“218 215 Vgl. Hartwig, Scientology, 18. Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 139. 217 Ibid., 141. 218 Hartwig, Scientology, 18. 216 74 3.4 Organisationsstruktur 3.4.1 Scientology als Kirche und Religion Die Scientology-Organisation nimmt die Begriffe Religion und Kirche für sich in Anspruch. Dazu schrieb Hubbard bereits im Jahr 1954: „Die große Neuigkeit in der Scientology ist unsere Allianz mit verschiedenen Bereichen der Psychotherapie und die Verwendung der Scientology in sehr unterschiedlichen Gebieten. In Kalifornien zum Beispiel werden wir als eine Religion sehr akzeptiert. Einer unserer Kollegen hat die Church of Scientology in Kalifornien registrieren lassen und wird als Koordinationspunkt für viele religiöse Gemeinden dienen.“219 Daß Scientology religiös-kirchliche Elemente verwendet, läßt sich an der Durchführung „Priesterweihen“ von Weihehandlungen ausgegeben werden. Die erkennen, Kleidung die als dieser von Scientology eingesetzten Priester orientiert sich an der von römischkatholischen Priestern.220 Hubbard rechtfertigt diese Weihen, indem er Religion als eine philosophische Lehre bezeichnet und sein philosophisches System in den Rang einer Religion erhebt,221 die in den traditionellen, besonders östlichen Philosophien, ansatzhaft schon vorgebildet sei. „Durch die Vorläufer aller Zeiten vollkommen unterstützt, hat ein Scientologe ein größeres Recht, sich einen Priester, einen Geistlichen, einen Missionar, einen Doktor der Theologie, einen Gesundbeter oder Prediger zu nennen, als irgendein anderer Mensch, der die Insignien der Religion der westlichen Welt trägt.“222 Die Erhebung der Weltanschauung Hubbards in den Status einer Religion ist jedoch wohl in erster Linie aus kommerziellen Gründen zu erklären. Die Anerkennung als Religion bietet nämlich eine gute Sicherheit 219 Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 74. Vgl. Abbildungen in: Das Scientology-Handbuch, 778f. 221 Die Scientology-Organisation verkörpert ihrer Überzeugung nach die höchste Stufe aller bisherigen Religionen und Philosophien. Dies kommentieren die Scientologen wie folgt: „Der Traum Abrahams, Mose, Zoroasters, Laotses, Buddhas, Konfuzius’, Christi, Mohammeds und der anderen geistigen Führer des Menschen im Laufe der Geschichte ist immer noch mit uns.“ (Das Scientology-Handbuch, Vorwort, unpaginiert). 222 Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 82f. 220 75 vor Eingriffen des Staates. „Religionsgemeinschaften genießen in den meisten Staaten der Welt einen besonderen Schutz, denn es soll die Religionsfreiheit gewährleistet werden. Als Religion kann Scientology eine Reihe von Privilegien ausschöpfen. Denn eine Religion bewegt sich in einem nicht zu unterschätzenden Freiraum.“223 Weitere Vorteile der Verwendung des Relgionsbegriffs bestehen darin, sich als diskriminierte Minderheit darstellen zu können, öffentlich Werbung zu betreiben und den Mitarbeitern den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn vorzuenthalten, indem man sie als „Ordensbrüder“ deklariert.224 3.4.2 Scientology als hierarchisch strukturiertes globales Netzwerk Die Scientology-Organisation setzt sich aus einer Vielzahl von Teil- und Unterorganisationen zusammen,225 die jedoch alle zentral verwaltet werden. Die Weltzentrale befindet sich in Los Angeles (USA). „Die Gesamtheit aller Organisationen und Gruppen bilden ein globales Netzwerk. Jeder einzelne Teil hat seine individuellen, speziellen Funktionen und Verantwortungsbereiche. Aber sämtliche DienstleistungsOrganisationen haben das Ziel, L. Ron Hubbards Technologie der Öffentlichkeit bekanntzumachen und zu liefern.“226 Zu den Organisationen von Scientology zählen unter anderem das „Religious Technology Center” (RTC), World Institute of Scientology Enterprises (WISE), „Association for Better Living and Education“ (ABLE) und die sogenannten „Scientology Missionen“.227 Die Leitung von Scientology basiert auf einer von Hubbard selbst entwickelten Herrschaftsmethode. Gemäß dieser Methode steht jeder 223 Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 43. Ibid. 225 Im Scientology-Handbuch findet sich eine 21-seitige Auflistung aller wichtigen weltweiten Organisationen samt Kontaktadressen. (Vgl. Scientology-Handbuch, 799820). 226 Voltz, Tom, Scientology und (k)ein Ende, 97. 227 Vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW (Hrsg.), Die Scientology-Organisation. Methoden und Struktur, Rechtsprechung und gesellschaftliche Auseinandersetzung, Köln 1997, 9ff. 224 76 Kirche ein sogenannter „Führungssekretäre“ zur „Leitender Seite Direktor“ stehen.228 Den vor, dem zwei Führungssekretären unterstehen sieben weitere Sekretäre, die als eine Art Abteilungsleiter fungieren. Diese Sekretäre überwachen sieben Abteilungen. Zu diesen zählen: die Führungsabteilung, die Qualifikationsabteilung, die Finanzabteilung, die technische Abteilung, die Öffentlichkeitsabteilung, die Verbreitungsabteilung, sowie die Hubbard-Kommunikationsbüros. Unter diesen sieben Abteilungen stehen einundzwanzig weitere Unterabteilungen.229 Ein Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen stellt hierzu fest: „Nach dem Prinzip ‚Teile und herrsche!’ wird so die absolute Macht über das weltweite Scientology-Netz an der Spitze der Pyramide konzentriert. Der Informationsfluß von unten nach oben und der Rückfluß von Direktiven und Vorgaben in die einzelnen Teilbereiche ermöglicht es der Führungsriege um den Hubbard-Nachfolger und ‚Chairman of the Board’ David Miscavige, die vollkommene Kontrolle über die Organisation und ihre Mitglieder auszuüben.“230 Scientology verschleiert die Zusammenarbeit der einzelnen Organisationen, um den Eindruck zu erwecken, die Sekte bestehe aus selbständigen Einzelorganisationen. 3.4.3 Darstellung einiger zentraler Organisationen Im folgenden sollen einige zentrale Einzelorganisationen des Gesamtnetzwerks Scientology näher dargestellt werden. Dabei müssen angesichts der Fülle der Vereinigungen die zahlreichen Tarnorganisationen entweder gänzlich unberücksichtigt bleiben oder nur kurz erwähnt werden. Zu den beschriebenen Organisationen zählen das „Religious Technology Center“ (RTC), das „World Institute of Scientology 228 Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff. Zu diesen Unterabteilungen gehören u. a. die Unterabteilung für Aufzeichnungen, Vermögenswerte und Material, das Büro für spezielle Angelegenheiten und die Unterabteilung für Inspektion und Berichte. (Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff.). 230 Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW, 9ff. 229 77 Enterprises“ (WISE), die „Association for Better Living and Education“ (ABLE), das „Office of Special Affairs“ (OSA), und die „International Association of Scientologists“ (IAS). 3.4.3.1 Das „Religious Technology Center“ (RTC) Nachdem David Miscavige die Führung übernommen hatte, wurde das „Religious Technology Center“(RTC) zur beherrschenden Organisation der Sekte. Dieses RTC ist Inhaber aller Waren- und Markenzeichen der von Hubbard entwickelten Technologie. Es wurde am 7.1.1982 in Los Angeles gegründet.231 Auch wenn von offizieller Seite betont wird, daß das RTC nicht Teil des internationalen Managements von Scientology sei, ist diese Behauptung nicht aufrechtzuerhalten. Peter Köpf betont in seinem Buch „Stichwort Scientology“: „Das oberste Leitungsgremium ist bis heute das ‚Religious Technology Center’ (RTC) in Los Angeles. Ihm unterstehen die verschiedenen Sektoren des Imperiums [...].“232 Dem RTC unterstehen aber auch noch andere Organisationen, so zum Beispiel der interne Geheimdienst (OSA) und die Sea-Org. 3.4.3.2 Das „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE) Dieses Weltinstitut von Scientology-Unternehmen (WISE) wurde im Jahr 1979 gegründet. WISE vergibt Lizenzen für die Verwendung der Technologie Hubbards. Diese Lizenzen werden an Wirtschaftsunternehmen erteilt, die für ihr Personal Schulungen im Auftrag von Scientology nach den von Hubbard entwickelten Methoden durchführen. Das Ziel von WISE besteht darin, „die Hubbard-Techniken in 231 Vgl. Voltz, Scientology, 99. Dieses „Religious Technology Center“ beschreibt Hemminger als „das eigentliche Machtzentrum des Konzerns“. Es befindet sich laut Hemminger nicht direkt in Los Angeles, sondern auf einem hermetisch abgeriegelten Gebiet, welches als „Base“ bezeichnet wird. (Vgl. Hemminger, Scientology, 83). 232 Köpf, Stichwort Scientology, 58. 78 die gesamte Geschäftswelt zu tragen“.233 Dabei sollen alle Unternehmen, die Lizenzen von WISE erwerben, zu von Scientologen geleiteten Firmen werden. „WISE-Members, WISE-Lizenznehmer und WISE-Unternehmen sind vertraglich an die Organisation gebunden, bezahlen Lizenzgebühren und müssen die Hubbard-Techniken einsetzen und verbreiten.“234 Scientology ist der Überzeugung, Hubbard habe die einzige perfekt ablaufende Verwaltungstechnik der Welt entwickelt.235 Das Konzept von WISE beruht auf einer Verbindung der religiösen Heilslehre Hubbards mit einer rigorosen Wirtschaftspolitik. Dabei legt man besonderen Wert darauf, Manager der verschiedenen oft mittelständischen Firmen für die Lehre Hubbards zu begeistern. Diese sollen ihren Betrieb dann künftig nach den Richtlinien von Scientology führen. „Es sind immer wieder die gleichen Geschäftszweige, in denen – meist junge – Manager plötzlich an Thetanen, Engramme und Versicherungswesen, LRH-Tech Unternehmens- glauben: Immobilienhandel, und Personalberatung, Managementtraining, Public Relations, Farb- und Stilberatung, Computerund Softwarehandel.“236 WISE kann als die „scientologische Schlüsselorganisation für die Unterwanderung der Wirtschaft“ bezeichnet werden.237 Es existieren verschiedene Arten der Mitgliedschaft bei WISE. Jede dieser Mitgliedschaftsarten Beitragszahlung an die verlangt eine WISE-Organisation. spezielle jährliche Beispiele für die verschiedenen Mitgliedschaftsarten bietet Tom Voltz. Er nennt die einfache Mitgliedschaft, die selbst für Nicht-Scientologen möglich ist. Diese kostet 300 Dollar im Jahr. Die Firmenmitgliedschaft verlangt 1.500 Dollar pro Jahr. Alle Beratungsgesellschaften, die Hubbard-Technologie an die Wirtschaft liefern, müssen diese Art der Mitgliedschaft nachweisen 233 Vgl. Hartwig, Scientology, 141. Ibid. Vgl. auch Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 145. Billerbeck und Nordhausen sprechen im Zusammenhang mit der Verbreitung des Hubbardschen Gedankengutes von einer Unterwanderung von Wirtschaftsunternehmen. WISE jedoch bezeichnet diese Vorgehensweise der Organisation als „Ethik“ und stellt sie damit als gerechtfertigt dar. 235 Vgl. Hartwig, Scientology, 145. 236 Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 147. 237 Vgl. Hartwig, Scientology, 48. 234 79 können. Des weiteren existiert eine Mitgliedschaft im Führungsrat, die mit 36.000 Dollar jährlich veranschlagt ist. Diese empfiehlt sich für Leute, die Hubbardsches Gedankengut für den Einsatz in staatlich bedeutenden Vereinigungen bis hin zu Länderregierungen erwägen.238 Die Bedeutung von WISE für das Gesamtsystem von Scientology ist laut Norbert Potthoff „wichtiger als alle Verpflichtungen dem Staat oder der Gesellschaft gegenüber“.239 Dabei lassen die einzelnen Unternehmen selten eine direkte Verbindung zu Scientology erkennen. Dies ist auch das Ziel der Organisation, da sie so die enorme Verflechtung und die tatsächliche Bedeutung der Einflußnahme auf weite gesellschaftliche Kreise geschickt verdecken kann.240 3.4.3.3 Die Association for Better Living and Education (ABLE) Das Ziel der „Association for Better Living and Education“ (ABLE) ist eine Reform der Gesellschaft auf der Grundlage der von Hubbard erarbeiteten Methoden. Dabei behauptet die Sekte, daß es ihr Ziel sei, gesellschaftliche Probleme, vor allem Drogenmißbrauch und Kriminalität einzudämmen und zu überwinden. Doch das Engagement Scientologys auf sozialem Gebiet hat nur eine Alibifunktion und dient der Verschleierung der tatsächlichen Machtansprüche der Sekte.241 Diese Taktik wurde bereits von Hubbard entwickelt, der seine Anhänger zu sozialem Einsatz ermutigte, um seine Organisation als reformfreudige 238 Vgl. Voltz, Scientology, 117f. Vgl. auch Innenministerium des Landes NRW (Hrsg.), Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Scientology der Verfassungsschutzbehörden, Düsseldorf 1999, 34f. 239 Potthoff, Norbert, Im Labyrinth der Scientology, Bergisch Gladbach 1997, 303. 240 Als Beispiele für Firmen, die mit WISE in Verbindung stehen, nennt Abel einige Hamburger Einrichtungen. Zu diesen gehören: AMK (Akademie für Führung und Kooperation); ARC Musik Vertriebs GmbH, DCS Computerservice und Handelsgesellschaft mbH. Daneben werden u.a. der Betrieb eines Malermeisters und ein Studio für Farb- und Stilberatung genannt. (Vgl. Abel, Scientology, 16). 241 Liane von Billerbeck und Frank Nordhausen meinen: „Auf der anderen Seite dienen Feldzüge, wie ‚Sag nein zu Drogen’ auch als Alibi, um die wahren Ziele der Sekte zu verschleiern. Scientology braucht Vorzeigekampagnen, um bei negativen Schlagzeilen auf ihr angeblich soziales Engagement verweisen zu können.“ (Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 124). 80 Institution erscheinen zu lassen. Um auf Staat und Gesellschaft einen möglichst großen untergeordnete Bereiche Einfluß ausüben Einrichtungen abdecken. Zu und diesen zu können, Verbände, die gründete ABLE unterschiedliche Unterorganisationen gehören die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM), das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ (ZIEL), „Applied Scholastics“, „Mitbürger unterstützen Toleranz – Initiative zur Wahrung der Menschenrechte in Deutschland“ (MUT), „Narconon“, „Criminon“ und die Organisation „Freedom for Religions in Germany“ (FRG).242 3.4.3.3.1 Die „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM) Die sogenannte „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM)243 versucht, durch geschickte Kampagnen aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen und Menschen für sich zu gewinnen. Dabei ist man vor allem bestrebt, alle Einwände von Personen aus den diffamierten gegenüberstehen, von Organisationen, vornherein die als der Sekte unbegründete, kritisch falsche Anschuldigungen zu diskreditieren. Eine solche Aktion besteht darin, den angeblich zerstörerischen Einfluß der Psychiatrie auf die Religion herauszustellen. Hubbard hegte einen enormen Haß auf Psychologen und Psychiater, da diese die Effizienz seiner Methode zur Erlangung der vollkommenen geistigen Gesundheit vehement in Frage stellten. Zu diesem Zweck der Diffamierung der Psychiatrie wurden eigene Zeitschriften und Bücher von Scientology herausgegeben. Ein bekanntes Werk dieser Art ist das Buch „Die Männer hinter Hitler“, das die These vertritt, daß Psychiater die wahren Verantwortlichen der Naziverbrechen gewesen seien.244 Selbst der Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den 242 Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 39ff. Diese KVPM wurde im Jahr 1972 vom Guardian-Büro in München eingerichtet. 244 Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 39ff. 243 81 neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird auf Eingriffe von Psychiatern zurückgeführt. Hierbei spielte eine von Scientology unterwanderte Friedensbewegung „Europa / Aktionsbündnis Bosnien–Herzegowina“ eine Rolle, die Psychiater als „Volksmörder im weißen Kittel“ bezeichnete.245 Der eigentliche Vorwurf richtete sich dabei gegen die von der Psychiatrie angewendete Methode der Elektro-Schocks und Gehirnlappenschnitte. Diese von Hubbard als Mißstand bewertete Vorgehensweise wird zum Anlaß genommen, um dem gesamten Bereich der Psychiatrie den Kampf anzusagen. Hierzu zählt Haack besonders das Vorgehen gegen psychiatrische Verbände.246 Peter Köpf hebt die Diskreditierung der Psychologie durch Scientology noch deutlicher hervor und beruft sich dabei auf den von der „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ stammenden Ausspruch „Psychiatrie tötet“.247 Die Publikationen der „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ werden dabei an Einrichtungen versandt, die eine möglichst weitläufige Verbreitung der Materialien gewährleisten. Der Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Scientology bemerkt in diesem Zusammenhang: „Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass SO [Scientology Organisation] mittels einer derartigen Organisation vorrangig versucht, Werbe-Effekte zu ihrem Gunsten zu erzielen und die variable Anwendungsbreite scientologischen Gedankenguts darzustellen.“248 Dieser Bericht erkennt die Gefahr, bleibt aber leider insgesamt zu vage. Man hätte sich mehr konkretes Material gewünscht. 3.4.3.3.2 Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ (ZIEL) Das „Zentrum für individuelles und effektives Lernen“ ist eine Einrichtung, die versucht, Kinder und Jugendliche mit dem Gedankengut Hubbards vertraut zu machen. Hierzu wird Hausaufgabenbetreuung für 245 Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 297. Vgl. Haack, Scientology, 213. 247 Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 69ff. 248 Innenministerium des Landes NRW, 42. 246 82 Schulkinder angeboten, die durch gezielte Propaganda in Form von Imperativen wie „Gehe nie über ein Wort hinweg, das Du nicht verstehst!“ geworben werden.249 Dieser Ratschlag kommt besonders dann zum Tragen, wenn es um das Studium der scientologischen Schriften geht. Dies ist eine wirksame Methode; denn Eltern, die einer derartigen Betreuung durch einen ZIEL-Verein zustimmen, lernen oft erst über ihre Kinder das scientologische Gedankengut kennen und sollen sich, wie ihre Kinder mit den Hausaufgaben, ebenso konzentriert mit der Lehre der Sekte beschäftigen.250 ZIEL ist seit 1979 in Deutschland und Österreich tätig. Nachdem mehrere Versuche von Scientologen, eigene Schulen zu gründen, die nach Scientology-Richtlinien funktionieren sollten, aufgrund zahlreicher Interventionen der Öffentlichkeit in Deutschland fehlgeschlagen waren, versuchten diese Scientologen ihr Vorhaben in anderen Ländern durchzuführen. In Dänemark gelang dieses Vorhaben. Der Journalist Thomas Kruchem bietet in seiner Publikation „Staatsfeind Scientology“ sehr aufschlußreiche Interviews mit Scientologen, die die Motivationen ihres Einsatzes für Scientology darlegen. Hierunter findet sich auch ein Interview, welches die Position einer Lehrerin an einer von Scientology betriebenen deutschen Schule in Dänemark wiedergibt. Es sollen im folgenden einige Passagen zitiert werden, da sie gut wiedergeben, welche Motive Eltern bewegen können, ihre Kinder von Scientology betriebenen Schulen anzuvertrauen. Der Buchstabe „J“ gibt im folgenden die Fragen des Journalisten Thomas Kruchem wider, „L“ steht für die Aussagen einer Lehrerin. 249 250 Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 70. Vgl. Haack, Scientology, 213. Vgl. auch Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 122ff. Die Autoren äußern sich im Zusammenhang von Kindern und Scientology so: „Schon Kleinkinder werden in den ‚Studier-‚’ und ‚Lernfibelkursen’ mit Weisheiten und ‚geklärten Wörtern’ aus Hubbards humanistischer Bildung malträtiert.“ Selbst die Einrichtung von Internaten, Schulen und Kindergärten unter der Leitung von Scientology wurde erwogen, jedoch durch den Einsatz und die Gegenwehr besorgter Eltern durch gesetzliche Maßnahmen verhindert. Hierzu kann man folgendes lesen: „Auf bereits gekauftem Grund und Boden sollte wohl ‚Kinder-Dianetik’ in großem Stil betrieben werden. Als die Absichten und ihre Hintermänner bekannt wurden, gründeten besorgte Eltern und Anwohner eine Bürgerinitiative. Sie erzeugten viel öffentlichen Wirbel, daß sich die Scientologen wieder zurückzogen.“ (Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 122ff.). 83 „J: War es für Sie so wichtig, Ihre Kinder nach den Prinzipien Hubbards unterrichten zu lassen, daß Sie deswegen aus Deutschland nach Dänemark ausgewandert sind? L: Gar nicht unbedingt. Aber mein Mann und ich hatten die wohlbegründete Sorge, daß unsere Kinder in der Schule, die sie zuvor besuchten, diskriminiert werden könnten. J: Warum haben Sie und die anderen Eltern die Schule nach dem Scheitern Ihrer Pläne in Deutschland ausgerechnet in Dänemark gegründet? L: Es gab in Dänemark seit geraumer Zeit schon zwei Schulen, die mit der Studiertechnologie Hubbards arbeiteten – in Kopenhagen. Dänische Scientologen sagten dann speziell uns Hamburger Eltern: „Gründet doch eine Schule direkt hinter der Grenze. Das ist immer noch besser, als eure Kinder nach England zu schicken“, wo es ja auch eine entsprechende Schule gibt. Schließlich kaufte ein Scientologe dieses Gebäude hier, wir mieteten es, und 1992 kamen zunächst 14 Kinder und 3 Erwachsene hierher. J: Was sind eigentlich die Kernelemente der Hubbard’schen (sic) Studiertechnologie? L: Es geht darum, einem Kind beizubringen, wie man lernt. Denn das kann es nicht automatisch. Man muß den sogenannten Gradienten einhalten, also nicht den nächsten Schritt tun, bevor etwas vollständig verstanden wurde. J: Finden an dieser Schule Scientology-Unterweisungen statt? L: Sie werden es nicht glauben, aber diese Schule unterrichtet kein Scientology. J: Und Scientology-Kurse – halten Sie die auch nicht ab? L: Nur so weit sie sich auf die Studiertechnologie beziehen. Den Kurs ‚Der grundlegende Studierleitfaden’ zum Beispiel machen Kinder ab der 5. Klasse.“ Dieser Ausschnitt aus dem Interview zeigt die Möglichkeit von Schulgründungen im scientologischen Sinne auf. In Dänemark, so muß man wissen, besteht lediglich eine Unterrichtspflicht, keine Schulpflicht wie 84 in Deutschland, wodurch es möglich ist, Kinder auch zu Hause zu unterrichten. Allerdings muß der Leistungsstand den staatlichen Unterrichtsbehörden nachgewiesen werden.251 Neben ZIEL existiert noch eine weitere Einrichtung, die Nachhilfe für Schüler anbietet. Diese nennt sich „Applied Scholastics“.252 Die Verbreitung dieser Einrichtung ist jedoch nicht so bedeutend wie bei ZIEL. Die gezielte Werbung für das Programm von Applied Scholastics ist geringer als die für ZIEL,253 was allerdings nicht zu einer Unterschätzung ihrer Wirksamkeit verleiten darf, denn der Verzicht auf öffentliche Werbung bedeutet nicht gleichzeitig auch einen Verzicht auf praktische Tätigkeiten der Einrichtung. „Narconon“ ist eine Organisation, die sich die Bekämpfung des Drogenproblems zur Aufgabe gemacht hat. Diese Gruppe wurde 1966 von dem Amerikaner William Benitez im Staatsgefängnis von Arizona gegründet. Benitez soll 19 Jahre lang selbst drogenabhängig gewesen sein und sich dann mittels der Hubbardschen Techniken geheilt haben.254 Durch spezielle Drogenrehabilitationsstätten bietet Narcoon Therapien auf der Grundlage der Lehre Ron Hubbards an.255 Sie hat in Deutschland Niederlassungen in Hamburg, Itzehoe und Schliersee. Haack bezeichnet Organisationen wie Narconon als sogenannte „Pfefferminz- Organisationen“. Darunter versteht er solche Gruppen, „die nach außen hin anderen, meist als sozial ausgewiesenen, Zielen dienen, intern jedoch die Hubbardschen Ideen, Techniken oder die Hubbardsche Ethik vertreten und verwirklichen.“256 Jedoch sind die Rehabilitationsmaßnahmen für Drogenabhängige nicht in dem Maß als erfolgreich anzusehen, wie dies von der Sekte behauptet wird. Vielmehr erzeugt Narconon neue Abhängigkeiten. Laut Axel Seifert von der städtischen Drogenberatungsstelle in Hamburg findet durch einen von Scientology 251 Vgl. Kruchem, Thomas, Staatsfeind Scientology, München 1999, 63ff. Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 43. 253 Ibid. 254 Vgl. Haack, Scientology, 212. 255 Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 69. 256 Haack, Scientology, 212. 252 85 angebotenen „Kommunikationskurs“ nur eine „Suchtverlagerung“ von der Droge auf die Sekte statt.257 Ähnlich wie „Narconon“ stellt auch „Criminon“ eine Organisation dar, die sich nach außen für die Rehabilitation, in diesem Fall von Strafgefangenen, einsetzt. Hierbei sollen Strafgefangene durch die Orientierung an einem von Hubbard aufgestellten speziellen Moralkodex resozialisiert werden. Das Programm für diese Art „Therapie“ kann laut Thomas Kruchem sogar von amerikanischen Richtern als „Bewährungsauflage“ verhängt werden.258 Diese Tatsache zeigt, daß der Religionsbegriff und die Akzeptanz sich als religiös bezeichnender Organisationen in den USA weit größer als in Deutschland ist. Diese Akzeptanz spiegelt sich in der folgenden Aussage einer US – Richterin wider, die vermuten läßt, daß Scientology als religiös deklarierte Gruppierung in der amerikanischen Gesellschaft toleriert wird, obwohl sie von Seiten des Staates kritisch beobachtet wird. Diese Richterin äußert sich folgendermaßen: „Ich frage mich, wovor die Deutschen sich fürchten – genauso, wie ich mich frage, warum man in anderen Ländern die ‚Zeugen Jehovas’ fürchtet oder die Baptisten oder, wie in Nordirland, die Katholiken. Was übrigens die Missionsarbeit der Scientologen angeht, in der Sie Deutsche, glaube ich, ein Problem sehen, da sind die christlichen Kirchen viel aktiver. Besuche ich bei der ‚Church of Scientology’ ein ‚social event’, dann ist es ein ‚social event’, mit vielleicht guter Unterhaltung. Besuche ich dagegen ein ‚social event‘ einer christlichen Kirche, dann kommt regelmäßig der Punkt, an dem sie die Leute bitten, ihrer Kirche beizutreten. Ich verstehe das und halte es auch für richtig. Ich muß aber auch feststellen, daß niemand mich je gebeten hat, der ‚Church of Scientology’ beizutreten.“259 Dagegen wird in Deutschland die mit positiven Assoziationen verbundene religiöse Etikettierung von Organisationen erheblich kritischer betrachtet. Das Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales 257 Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 122. Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 358. Kruchem ist Politikwissenschaftler und Historiker und arbeitet als freier Journalist. 259 Kruchem, Staatsfeind Scientology, 356. 258 86 ließ aufgrund zahlreicher vorangegangener öffentlicher Diskussionen, Erfahrungsberichte von Aussteigern und Expertenanhörungen mehrere Gutachten über die Scientology erstellen. Eines dieser Gutachten kommt zu dem Schluß, daß Scientology ein gesellschafts- und staatsgefährdendes Gebilde darstellt. „Es scheint sich hierbei ‚eine neuartige Form des politischen Extremismus anzubahnen’, orientiert an Ideen des absoluten, heldischen Übermenschen, der die lästigen Fesseln des Liberalismus und der Demokratie abstreift auf dem Weg zu einer Weltherrschaft, die auf totalitären und mit einer demokratischen Verfassung unvereinbaren Grundprinzipien basiert.“260 3.4.3.3.3 Das Office for Special Affairs (OSA) Das „Büro für Spezielle Angelegenheiten” (OSA) ist der Sicherheitsoder Geheimdienst von Scientology.261 Es ist aus dem im Jahr 1983 von David Miscavige aufgelösten „Guardian Office“ hervorgegangen und hat seinen deutschen Sitz in München. Anlaß für die Auflösung des „Guardian Office“ waren zahlreiche Skandale von Mitarbeitern, nicht zuletzt auch von Mary Sue Hubbard. „1979 verurteilte ein US-Gericht elf führende Scientologen des 1966 von Hubbard gegründeten ‚Guardian Office‘ (GO) wegen Einbruchs und Verschwörung gegen die Regierung. In einer spektakulären Aktion hatten 1977 FBI-Beamte das Führungsquartier in Clearwater/Florida gestürmt. Die beschlagnahmten Akten und Unterlagen – 48.149 Dokumente – gaben Hinweise darauf, daß Scientologen sogar bis in die Regierung hineinreichend ein Spionagenetz aufgebaut hatten.“262 Die Aufgabe des OSA besteht in der „Abwehr von Feinden“ und der „Kontrolle der Veröffentlichungen über Scientology in der Presse“.263 Das OSA, als Nachfolger des wegen verschiedener Skandale aufgelösten Guardian Office, hat seine Arbeitsweise und Techniken wesentlich 260 Ministerium für Arbeit etc. NRW, 6f. Auf Ergebnisse verschiedener Gutachten nimmt auch Ralf Abel Bezug. (Vgl. Abel, Scientology, 6f.). 261 Vgl. Billerbeck / Nordhausen, Sektenkonzern, 71ff. 262 Köpf, Stichwort Scientology, 72. 263 Vgl. Hartwig, Scientology, 138. 87 verbessert. „Im Gegensatz zur rigiden und direkten Vorgehensweise des GO, das in der Vergangenheit zu einem internationalen Ansehensverlust der SO geführt hat, operiert das OSA heute erkennbar vorsichtiger. Es wurde festgestellt, dass risikohafte Operationen offensichtlich an Außenstehende, wie z. B. Privatdetektive, abgegeben wurden.“264 Die Absichten und Ziele des Geheimdienstes blieben jedoch unverändert. Als Beispiel für die Arbeit des OSA in Deutschland sei der Versuch genannt, eine Fernsehsendung (Kennzeichen D) zu verhindern, in der über die finanziellen Praktiken von Scientology berichtet wurde. Man versuchte dabei, durch eine intensive Brief- und Telefonkampagne die Ausstrahlung dieser Sendung zu verhindern. Hierzu heißt es von seiten eines Fernsehmoderators: „Wann immer Rainer Fromm in ‚Kennzeichen D’ über Scientology und die Machenschaften von Scientologen berichtet, drohen und nötigen uns Scientologen.“265 Die Vorgehensweise des scientologischen Geheim- und Abwehrdienstes läßt sich an Anweisungen für die Mitarbeiter des OSA deutlich machen. Hierbei sind vor allem 6 Anweisungen von Bedeutung, die lauten: „Mach’ Dir eine Liste von allen Stellen, die eventuell für uns wichtige Informationen haben oder verbreiten. Fange an, regelmäßig dort Publikationen zu bestellen oder Scientologen, die sie bereits erhalten, dazu zu kriegen, sie für dich auszuwerten. Stürze Dich auf den Lebenslauf von ... und von ... und finde heraus, was sie in der Vergangenheit gearbeitet und veröffentlicht haben. Berichte mir regelmäßig über den Fortschritt in den o.e. Gebieten. Gib mir pünktlich an jedem Donnerstag (wenn Du da nicht auf Posten bist, am letzten Tag vor dem Donnerstag) Deine Statistik durch.“ 266 264 Innenministerium des Landes NRW, 51ff. Ibid. 266 Diese Anweisungen machen deutlich, wie raffiniert und gründlich gegen Kritiker vorgegangen wird. Dabei wird selbst vor Rufmord und persönlicher Bedrohung nicht zurückgeschreckt. (Vgl. Innenministerium des Landes NRW, 54. Vgl. auch Haack, Scientology, 238f). 265 88 Die Arbeit der OSA erstreckt sich auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und scheut auch vor Maßnahmen gegen Politiker nicht zurück.267 Sämtliche gesellschaftliche Einrichtungen und Berufsgruppen laufen Gefahr, im Falle kritischer Äußerungen gegen Scientology vehement angegriffen zu werden. Aber auch Mitglieder von Scientology werden durch ständige Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen gegängelt.268 Verhaltensweisen oder Meinungen, die nicht mit den Vorgaben der Organisation übereinstimmen, werden als unethisch gegeißelt und bestraft. Solche Strafmaßnahmen werden mit dem Begriff „Fair Game“ wiedergegeben. Mitarbeitern oder ganzen Abteilungen, die beispielsweise für eine Umsatzminderung der Sekte verantwortlich sind, sind angeblich unmoralisch und müssen die Strafen, etwa Überstunden oder Schikanen anderer Art, in Kauf nehmen. Peter Köpf nennt verschiedene Stufen, nach denen ein erfolgreicher (bzw. nicht erfolgreicher) Mitarbeiter, hier sind die Sea-Org-Mitarbeiter gemeint, beurteilt wird. Über die richtige Ausführung der Maßnahmen wachen die sogenannten „Ethikoffiziere“. Ganz oben auf der Rangskala steht derjenige, der unter „Power“ verzeichnet ist. Zu einer gefährlichen Stufe zählt dagegen die Stufe „Danger“. Einem Mitarbeiter mit einer solchen Einstufung wird die Mittagspause gestrichen, er darf sich nicht rasieren, wird zur Nachtarbeit verpflichtet und bekommt weniger Gehalt, was bei der üblichen spartanischen Bezahlung sehr schmerzlich ins Gewicht fällt.269 Zur Bestrafung von Mitgliedern richtete Hubbard im Jahr 1974 das sogenannte „Rehabilitation Projekt Force“ (RPF) ein. Dabei wird dem „Pönitenten“ ein bis zu einem Jahr dauerndes Programm auferlegt, das unter anderem besonderen Drill, Nahrungs- und Schlafentzug und Schweigepflicht vorsieht. Das Ziel ist eine erneute bedingungslose Unterwerfung 267 des Abweichlers unter die Ziele der Scientology- Vgl. Abel, Scientology, 46. Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Tom Voltz zum Thema „Scientology und der Umgang mit der Regierung“. Voltz erwähnt u. a. Drohungen und Täuschungsmanöver gegen Beamte und Politiker, als von der Sekte gebilligte Maßnahmen, mit denen man gegen behördliche Repressalien zu Felde ziehen soll. (Vgl. Voltz, Scientology, 179-183). 268 Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 74. 269 Ibid., 79. 89 Organisation. Diese Strafmaßnahmen werden in eigens dafür errichteten Straflagern durchgeführt, die Konzentrationslagern gleichen und sogar besondere Kleidung vorsehen.270 Den Zweck dieser Maßnahmen erhellt folgende Äußerung Hubbards, die die Disziplin als Instrument der bedingungslosen Unterwerfung unter das Scientology-System treffend charakterisiert: „Da Scientology jetzt TOTALE Freiheit bringt, muß sie auch die Macht und Autorität haben, totale Disziplin zu fordern, oder sie wird nicht überleben.“271 3.5 Das Lehrsystem von Scientology Tom Voltz weist darauf hin, daß Menschen, die zu Scientology und deren Lehren stoßen, sich wohl zum ersten Mal „konkret und intensiv mit dem Themenbereich Philosophie, Psychologie und Religion befassen“.272 Da viele Menschen bei den christlichen Konfessionen keine oder eine ihrer Meinung nach nur unzureichende Antwort auf ihre existentiellen und lebenspraktischen Fragen zu finden scheinen, lassen sie sich von anderen religiösen Angeboten ansprechen. Eine der Scientology-Organisation beigetretene Frau berichtet darüber: „Und nun kommt jemand, der sagt, jeder Mensch ist ein Individuum, das über große potentielle Fähigkeiten verfügt, die nur verschüttet sind. Daß der Grund für menschliches Versagen, Krankheit, Streit und Probleme in vergangenen traumatischen Erlebnissen liegt. Und der zugleich eine Technologie anbietet, die verspricht, diese Erlebnisse aufzuarbeiten. Abgesehen davon bietet sie eine Technologie, mittels derer man seine verschütteten Fähigkeiten wiedererlangt, um dadurch selbstbestimmt und vor allem selbstverantwortlich zu handeln. Das Prinzip von Ursache und Wirkung. Dies alles wird in Form von Kursen sowie individueller ‚seelsorgerischer Beratung’ angeboten.“273 270 Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 365. Haack, Scientology, 184. 272 Vgl. Voltz, Scientology und (k)ein Ende, 25. 273 Ibid., 26. 271 90 Welche Gefahren sich hinter diesen sehr positiv erscheinenden Äußerungen tatsächlich verbergen, läßt sich nur durch eine nähere Untersuchung des Lehrsystems der Sekte und des dahinter steckenden Welt- und Menschenbilds aufdecken. 3.5.1 Das Menschenbild Hubbards 3.5.1.1 Der dreigeteilte Mensch Nach Hubbards Meinung besteht der Mensch aus drei miteinander in Beziehung stehenden Teilen, die er als „Body“ (Körper), „Mind“ (Sinn oder Verstand) und als „Thetan“ (Geistseele oder wahres Ich) bezeichnet.274 Der Body (Körper) spielt innerhalb des Hubbardschen Menschenbildes nur eine untergeordnete Rolle,275 so daß auf diesen nicht speziell eingegangen zu werden braucht. 3.5.1.1.1 Der „Thetan“ Hubbard verwendet den Begriff Thetan zur Bezeichnung des menschlichen Selbst oder des Ich. Dieser Thetan verkörpert zugleich Geist und Seele des Menschen und besitzt Unsterblichkeit.276 Nach 274 Vgl. Haack, Scientology, 77. Haack verweist hier auf die herausragende Stellung des sogenannten „Thetans“, der nach Hubbards Vorstellung niemals zugrunde gehen kann und durch Reinkarnation zur Wiederverkörperung in der Lage ist. Durch die Behauptung, dies beweisen zu können, beansprucht Hubbard für seine Lehre den Status einer wirklichen Wissenschaft. 275 Der Körper wurde von Hubbard lediglich als „Kohlenstoff-Sauerstoff-Maschine“ betrachtet, die den Thetan sichtbar machen soll. Hierzu schreibt Jana Jacobi, die 20 Jahre lang ein hochrangiges Mitglied bei Scientology war: „Zum Körper bemerkt Ron nur so viel, daß er eine ‚Kohlenstoff-Sauerstoff-Maschine‘ ist, die bei 37° C funktioniert und als massives physisches Anhängsel des Thetans diesen erkennbar macht und ihm als Kommunikationszentrum dient [...].“ (Jacobi, Jana, Scientology. Ein Blick hinter die Kulissen, Kevelaer 1999, 18). 276 „Sie [die Scientology] befaßt sich mit nichts Geringerem als der vollständigen Rehabilitierung des Thetans, um sein geistiges Bewußtsein, seine angeborenen Fähigkeiten und seine Gewißheit in bezug auf seine eigene Unsterblichkeit zu steigern.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, III). Der Thetan soll sich angeblich im Bereich des Kopfes eines Menschen befinden, er ist aber ebenfalls in der Lage 91 Meinung des Begründers der Sekte besitzt er „keinerlei Verortung im Raum“, hat keine Masse und Energie. Er kann sich in vier verschiedene Zustände277 begeben. Diese sind: • die Lage außerhalb von Körpern und des Universums, • die willentliche Lage außerhalb des Körpers und trotzdem bewußte Leitung desselben, • der Aufenthalt im Kopfbereich des menschlichen Körpers, • die zwangsweise außerhalb des Körpers befindliche Lage und Unmöglichkeit, in diesen einzudringen. Nach dem Tode eines Menschen löst sich der Thetan vom „Body“ (Körper) und inkarniert in einen Menschen im vorgeburtlichen Zustand.278 Laut der Ex-Scientologin Jana Jacobi vollzieht sich dies auf folgende Weise: „Der Thetan wird als unsterblich erachtet und soll sich beim Tode vom Körper loslösen, um sich wieder einen neuen Körper zu suchen, das heißt ein Kind, das noch vor der Geburt steht.“279 Kann der Thetan jedoch nicht in einen Körper eintreten, ergibt sich für ihn eine unangenehme Situation. „Er leidet sozusagen an ‚Bewußtseinsschwund’ und dadurch unter einer ungewollten Verminderung seiner Fähigkeiten. Denn laut Scientology vergißt der Thetan seine Identität, ja sogar seine Existenz in dem Moment, in dem er mit etwas Gegenständlichem in Berührung kommt.“280 Die Folge ist, daß sich der Thetan mit dem Materiellen, dem „Ding“ verbindet281 und meint, er sei selbst dieses „Ding“. Minhoff und Lösch sprechen in diesem Zusammenhang von einer „ungewollten sich außerhalb des menschlichen Körpers zu begeben und trotzdem die Kontrolle über den Menschen auszuüben. 277 Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145. Vgl. auch Haack, Scientology, 79f. 278 Dies erinnert sehr stark an die buddhistischen Wiedergeburtslehre, was wohl auf die Beschäftigung Hubbards mit der östlichen Philosophie zurückzuführen sein dürfte. Haack mißt der Reinkarnationslehre im System Hubbards große Bedeutung zu. Er schreibt: „Für L. Ron Hubbards Menschenbild und damit für Scientology ist es von größter Wichtigkeit, daß Hubbard die Wiederverkörperungslehre (Reinkarnationslehre) der östlichen Religion mit in sein System einbezieht. Diese Lehre findet sich auch im Okkultismus des OTO und anderer neuokkultistischer Bewegungen, bei denen Gedanken vorkommen, die später in der Scientology/Dianetics des Lafayette Ronald Hubbard auftauchen.“ (Haack, Scientology, 92ff.). 279 Jacobi, Scientology, 13. 280 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145. 281 Ibid. 92 Amnesie“, in der sich viele dieser Thetane befinden.282 Durch diesen Gedächtnisverlust werden der eigentlichen Fähigkeit der Thetane Grenzen gesetzt, welche durch dianetische Verfahren überschritten werden sollen. 3.5.1.1.2 Der „Mind“ (Sinn oder Verstand) Der Sinn oder Verstand ist für den Thetan wesentlich zur Kontrolle seines Körpers. Im Verstand werden sämtliche Erlebnisse und Begebenheiten eines Menschen in Form von Bildern und anderen Sinneseindrücken aufgezeichnet und gespeichert.283 Diese Aufzeichnung geschieht in chronologischer Reihenfolge und wird von den Scientologen als „Zeitspur“ bezeichnet, in der die gesamte Vergangenheit eines Individuums festgehalten ist. Diese Zeitspur soll eine Länge von mehreren Billionen Jahren aufweisen können.284 Der „Mind“ wird in einen analytischen und einen reaktiven Teil unterteilt. Der analytische Mind ist für das allgemeine Denken zuständig. Er speichert alle menschlichen Wahrnehmungen in einer Art Datenbank. In ihm werden die unterschiedlichen Eindrücke des Menschen285 miteinander kombiniert und die Schlußfolgerungen gezogen, die für die Lösung der anstehenden Probleme erforderlich sind.286 Hubbard vergleicht den 282 Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145. Mit Gedanken und Gefühlen einer Person kommt Hubbard auf insgesamt 52 verschiedene Wahrnehmungen. (Vgl. Jacobi, Scientology, 14). 284 Ibid. 285 „Diese geistigen Eindrucksbilder sind das, was wir häufig als Erinnerung bezeichnen. Sie sind dreidimensionale Farbbilder mit Geräusch und Geruch und allen anderen Wahrnehmungen, einschließlich der Schlußfolgerungen oder Überlegungen des einzelnen.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, IV). 286 „Die Arbeit des analytischen Minds – des Analysators – entspricht allem, was man von dem besten Computer, den es gibt, überhaupt verlangen könnte. Er beherrscht alle Kunststücke, die ein Computer fertigbringt. Und darüber hinaus leitet er auch noch den Bau von Computern. Und immer hat er so vollkommen recht, wie jemals irgendein Computer recht haben kann. Der analytische Mind ist nicht nur ein guter, er ist ein perfekter Computer. Er macht nie einen Fehler. Solange ein Mensch halbwegs intakt ist, kann der analytische Mind sich in keiner Weise irren (es sei denn, etwas habe diesem Menschen einen Teil der geistigen ‚Ausrüstung’ genommen). Der analytische Mind ist eines Irrtums unfähig. Er ist so sicher, keinen Irrtum begehen zu können, daß er alle Berechnungen auf die Unmöglichkeit, Fehler zu machen, gründet.“ (Author Services Inc., Hubbard, L. Ron, Dianetik. Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit, Hollywood / California 1984, 64). 283 93 analytischen Mind mit dem besten Computer. Er ist der Ansicht, ihm könne niemals ein Fehler unterlaufen. Dieser Teil des Denksystems, nämlich der analytische Verstand, übernimmt im Hubbardschen Lehrgebäude den Part des „Guten“.287 3.5.1.1.3 Der „reaktive Verstand“ Die Entdeckung des reaktiven Verstandes wird von Scientology als besondere Leistung Hubbards gepriesen. Hubbard bezeichnet ihn als „Erzverbrecher der menschlichen Psyche“288 , da er für alle negativen Zustände im menschlichen Leben verantwortlich sein soll. Er speichert die Daten, die unterhalb der Bewußtseinsebene liegen und die dem analytischen Verstand nicht zugänglich sind. „Hubbard geht davon aus, daß alle Geschehnisse, die mit Schmerz verbunden sind, auch ein gewisses Maß an Bewußtlosigkeit enthalten. Wenn man sich also beispielsweise in einem Zustand von Trauer befindet, nimmt man seine Umgebung nicht so bewußt wahr wie in einem positiven Gemütszustand, und diese graduelle Bewußtlosigkeit verursacht, so die Theorie, daß das Geschehnis nicht in der analytischen, sondern in der reaktiven Bank gespeichert wird.“289 Der analytische Verstand bemerkt von alledem nichts.290 Der Person, welcher 287 etwas widerfährt, sind die Ursachen und tieferen Vgl. Minhoff / Lösch, Neureligiöse Bewegungen, 145. Hubbard schreibt über die Schwierigkeiten bei seinen Forschungen über den reaktiven Mind: „Die Detektivarbeit die zu leisten war, um diesen Erzverbrecher der menschlichen Psyche zu lokalisieren, beanspruchte sieben Jahre.“ (Dianetik, 71). 289 Jacobi, Scientology, 15. Jana Jacobi bestätigt auf diese Weise die Aussagen der Scientology-Organisation über den analytischen und den reaktiven Verstand. Im Scientology-Handbuch heißt es in diesem Zusammenhang: „Geistige Eindrucksbilder werden in den Standard-Gedächtnisbanken des analytischen Verstands gespeichert. In Augenblicken heftigen Schmerzes wird jedoch die Funktion des analytischen Verstands außer Betrieb gesetzt, und der reaktive Verstand schaltet sich ein. Diese geistigen Eindrucksbilder – solche, die Schmerz und Bewußtlosigkeit enthalten – werden vom reaktiven Verstand aufgezeichnet und darin gespeichert.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, XIV). 290 Hubbard bemerkt in diesem Zusammenhang: „In Augenblicken intensiven Schmerzes ist die Tätigkeit des analytischen Minds vorübergehend eingestellt. Tatsächlich verhält sich der analytische Mind bei jeder Schocksituation gerade so, als wäre er ein Organ, das von der lebenswichtigen Versorgung abgeschnitten wurde.“ (Dianetik, 75). 288 94 Zusammenhänge ihrer Reaktionen und Empfindungen nicht bewußt. Geschehnisse aus der Vergangenheit, an die sie sich wieder erinnert und den Menschen in der Gegenwart belasten, werden „Engramme“ genannt.291 Diese Engramme des reaktiven Verstandes sind für Hubbard die Ursache aller Übel in der Welt: „Sie, die Engramme, sind nun ihrerseits die Erbauer des reaktiven Mind. So wie der analytische Mind eine ‚Bank’ hat, ein absolutes und komplettes nie versagendes und jeden Eindruck treulich bewahrendes Gedächtnis, so schafft sich der reaktive Mind seine Engramme-Bank. Sie, die Engramme, sind für Hubbard die Urheber aller Neurosen, Psychosen, Selbstmorde, ja allen sogenannten ‚aberrierten’ Verhaltens.“292 Das Ziel der von Hubbard entwickelten Techniken ist es, die Engramme durch ihre Bewußtmachung zu entschärfen und „sie von der reaktiven Bank in die analytische umzuspeichern“.293 Um den Unterschied zwischen den beiden Arten des Verstandes zu verdeutlichen, nennt Jana Jacobi folgendes Beispiel: Für den reaktiven Verstand ist jeder Teil eines Geschehnisses gleich einem anderen. Ein Kind beispielsweise fällt von einem Fahrrad und verletzt sich am Arm oder am Knie. Zur gleichen Zeit hupt ein Auto und eine andere Person mahnt zum Achtgeben. Das Geschehnis ereignet sich in einer Straße, an der bestimmte Blumen stehen. Der reaktive Verstand sieht alle Ereignisse, angefangen vom schmerzenden Knie oder schmerzenden Arm bis hin zur Aufforderung zum Achtgeben und dem Vorhandensein der Blumen als gleichbedeutend an. Nun kann es vorkommen, daß später, etwa bedingt durch Müdigkeit, eine geringe Bewußtlosigkeit bei dem Kind auftritt, und es erscheinen einige Inhalte aus dem zurückliegenden Ereignis; dann glaubt der reaktive Verstand des Kindes, das vergangene Geschehen wiederzuerkennen. So kann etwa ein erneuter Appell zur Vorsicht oder ein jetzt hupendes Auto das vergangene Erlebnis in all seinen Teilen wiedererstehen lassen, was dazu führt, daß das Kind erneut Schmerzen am Arm oder an den Knien bekommt. (Vgl. Jacobi, Scientology, 16ff.). 291 „Der reaktive Verstand ist überhaupt nicht wählerisch. Er zeichnet alles in einem Moment des Schmerzes und der Bewußtlosigkeit getreu auf und besteht ausschließlich aus diesen Engrammen.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, XVI). 292 Haack, Scientology, 82. Zum sogenannten „aberrierten Verhalten“ gehört auch die Führung von Kriegen und die Verübung von Grausamkeiten an Menschen, Drohungen, schlicht alle negativen Verhaltensweisen. 293 Vgl. Das Scientology-Handbuch, Einführung, XX. Vgl. auch: Haack, Scientology, 82. 95 3.5.1.2 Die „Dianetic-Auditingtechnik“ Das Ziel der Hubbardschen Techniken ist der sogenannte „Clear“. Unter einem Clear verstehen Scientologen eine Person, die ihre reaktive Bank gereinigt und durch die Bewußtmachung der Engramme deren schädliche Einflüsse beseitigt hat.294 Hubbard schreibt über den Clear, er sei „ein Wesen“, das überhaupt keinen „reaktiven Mind“ mehr besitze.295 Dadurch soll zugleich der bereits erwähnte Thetan befreit werden. Auf dem Weg hin zu dieser Klärung bzw. Befreiung, den die Scientologen auch „Brücke“ nennen, sind bestimmte Techniken notwendig, deren bedeutendste das „Dianetic-Auditing“ ist. „Den Zeitraum, in dem Auditing stattfindet, nennt man eine Auditingsitzung. Auditing erfordert eine ruhige, angenehme Umgebung, wobei der Auditor und die Person, die das Auditing erhält, einander gegenübersitzen.“296 Am Ende soll dann die von den Scientologen verkündete „totale Freiheit“ stehen. Wenn eine Person einen meist kostenlosen Persönlichkeitstest bei Scientology absolviert hat, erfolgt einige Zeit darauf das Auditing. Der Persönlichkeitstest dient dazu, interessierten Personen charakterliche und psychische Defizite zu unterstellen oder tatsächliche Schwächen herauszufinden, so daß diese sich für Kurse bei Scientology anmelden und für diese Kurse immer größere finanzielle Opfer bringen müssen. Ralf B. Abel bemerkt hierzu: „Der Einstieg in die Scientology-Ideologie und Organisation erfolgt häufig über den kostenlosen sogenannten ‚Persönlichkeitstest OCA’ (‚Oxford Capacity Analysis’, ein Kunstname, der 294 „Ein Clear läßt sich sehr einfach als jemand definieren, der seinen eigenen reaktiven Verstand nicht mehr hat. Die geistigen Konsequenzen dieses Durchbruchs sind tiefgründig. Der Clear hat keine Engramme, die, wenn sie restimuliert werden, die Richtigkeit seiner Berechnungen umstoßen, indem sie versteckte und falsche Daten einführen. Clear zu werden stärkt die angeborene Individualität und Kreativität einer Person und verringert diese Eigenschaften in keiner Weise. Ein Clear ist frei in seinen Emotionen. Er kann für sich selbst denken. Er kann das Leben unbehindert von Hemmungen erleben, die reaktiv von früheren Engrammen diktiert werden.“ (Das Scientology-Handbuch, Einführung, XX). 295 „Ein Clear ist ein Wesen, das seinen eigenen reaktiven Mind nicht mehr hat.“ (Dianetik, 513). Der Begriff „Clear“ wird von einem Aussteiger aus der Organisation einfach als „Machtergreifung durch Scientology“ bezeichnet. (Vgl. Innenministerium des Landes NRW (Hrsg.), Scientology. Eine Gefahr für die Demokratie, Düsseldorf 1996, 46). 296 Das Scientology-Handbuch, Einführung, XI. 96 mit Oxford nichts zu tun hat) mit über 200 Fragen. Als Eingangstest soll er einerseits potentielle Kunden überzeugen, sie hätten gravierende Schwachstellen (‚Ruins’), die unbedingt einer Heilung (‚Lebensreparatur’) durch Dianetic bedürfen. Andererseits ermöglichen viele der Fragen beste Einblicke in die private Sphäre der Testpersonen.“297 Der Persönlichkeitstest wird häufig per Postwurfsendung oder durch eine Straßenwerbung verbreitet, wodurch ein erster Kontakt zur Sekte hergestellt wird.298 Das Wort „Auditing“ kommt vom lateinischen „audire“ (hören). Bei Scientology wird das Auditing auch als „Beichte“ oder „Seelsorge“ bezeichnet, um den Anschein einer religiösen Institution bzw. einer Kirche zu erwecken. Renate Hartwig schreibt in diesem Zusammenhang: „Ich nenne es schlicht ‚Ausforschung’. Nach meinen Erkenntnissen soll damit der einzelne für die Organisation gläsern gemacht werden.“299 Dabei wird die zu auditierende Person an ein sogenanntes „E-Meter“300 angeschlossen, das zur Ermittlung von Problemen in verschiedenen geistigen Bereichen der Testperson Aufschluß geben soll. Das „E-Meter“ ist ein Gerät zur Feststellung und Messung des elektrischen Widerstandes. Der Auditor will mit dessen Hilfe eine Veränderung geistiger Energie feststellen. Die Ausschläge der Nadel sollen energiereiche Teile des reaktiven Verstandes sichtbar werden lassen. Durch das Bewußtmachen von Engrammen sollen sich diese Energiezentren entladen. Diese Veränderungen sollen durch das E-Meter angezeigt werden. Dabei soll es dem Auditierten gelingen, durch seine konzentrierte Haltung, in den Bereich seiner reaktiven Bank einzudringen. 297 Abel, Scientology, 30. Vgl. Ministerium für Arbeit etc. NRW,16f. Vgl. auch Mandau, Tödlicher Sektenwahn, 250. 299 Hartwig, Scientology, 29. Vgl. auch Mandau, Tödlicher Sektenwahn, 251ff. 300 Thomas Kruchem bemerkt zum Stichwort E-Meter: „Viele Kritiker sehen in dem nach fachwissenschaftlicher Meinung sehr begrenzt aussagefähigen E. teuer bezahlten (es werden für das technisch eher einfache Gerät ‚Spenden‘ von mehreren tausend Mark erwartet) Humbug mit eventuellem Placebo-Effekt, manche auch ein Instrument psychischer Konditionierung.“ (Kruchem, Staatsfeind Scientology, 359). 298 97 Der Auditor gibt der Testperson dabei Hilfestellungen, die dem Preclear301 zur Bewußtmachung unbewußter Ereignisse verhelfen sollen. Dabei ist es vonnöten, das erste oder früheste Engramm ausfindig zu machen. Ist dies geschehen, kann das Erlebnis reaktiviert und verarbeitet und so in die analytische Bank umgespeichert werden. Diese Technik verlangt vom Auditor angeblich höchste Konzentration und Sensibilität im Umgang mit dem E-Meter. 3.5.2 Scientology und die Stufen des „Operating Thetan“ (OT) Dem Zustand des „Clear“ sind die Zustände des sogenannten „Operating Thetan“ (OT) übergeordnet. Dieser „OT“ verkörpert für die Scientologen die Erlangung der vollkommenen Erlösung und der absoluten seelischen Freiheit. Dieses Ziel wird über verschiedene Stufen erreicht, wofür gewisse Kursangebote wahrgenommen werden müssen. „Scientology“302 bietet hierzu die entsprechende Techniken an, deren Stufen von OT 0 bis OT VIII reichen.303 Die wichtigsten dieser Stufen werden im folgenden genannt und haben folgende Zielsetzung: 301 • Stufe 0 soll Kommunikationsschwierigkeiten beheben. • Stufe I befähigt zum Lösen aller Probleme. • Stufe III beseitigt Verstimmungen der Vergangenheit. Der „Preclear“ ist eine Person, die die völlige Befreiung vom schädlichen Einfluß der Engramme noch nicht erreicht hat. (Vgl. Kruchem, Staatsfeind Scientology, 358). 302 Innerhalb der Scientology (der Begriff bezeichnet nicht nur die Organisation als ganzes, sondern ebenfalls die Technik zur Erlangung der OT-Stufen) gibt es die Vorstellung eines höchsten Wesens, das als „Wesen der 8. Dynamik“ bezeichnet wird, wobei Scientology niemals in diese Dynamik eindringen kann. Dynamik meint den „Drang zum Freisein als Unendlichkeit“. (Vgl. Jacobi, Scientology, 22). Haack zählt insgesamt acht solcher Dynamiken auf. „Unter den sogenannten Dynamiken versteht man in der Scientology eine Art Triebkräfte, die auf unterschiedliche Lebensebenen bzw. in unterschiedlichen Lebensausrichtungen wirken. Hubbard nennt sie auch ‚Motive oder Motivationen‘.“ Haack nennt ferner den Drang zum Überleben für sich selbst, den Drang zum Überleben durch Sex, den Drang zum Überleben für die gesamte Menschheit und den Drang zum Dasein als Unendlichkeit, was Hubbard auch als „das höchste Wesen“ bezeichnet. (Vgl. Haack, Scientology, 83ff.). 303 Vgl. Das Scientology-Handbuch, Einführung, XXIV-XXV 98 • Stufe IV löst den Preclear von starren Ansichten und verleiht ihm mehr Flexibilität. Die dritte und die achte Stufe nehmen eine herausragende Position ein. OT III wird als „Feuerwand“ bezeichnet. Nach dem Erreichen dieser Ebene erfährt der Auditierte die wahre Herkunft und Bedeutung der Welt und des Menschen. „Vor zirka 75 Millionen Jahren ereignete sich in diesem Sektor des Universums eine Katastrophe von solchem Ausmaß, daß noch heute jeder Mann, jede Frau und jedes Kind darunter leidet. Zu diesem Zeitpunkt hat nämlich der Kopf einer interplanetarischen Konföderation von 76 Planeten, sein Name war Xenu, die enorme Überbevölkerung (im Schnitt etwa 250 Milliarden Einwohner pro Planet) auf die folgende Weise gelöst: Er ließ die Bewohner gefangennehmen, erschießen, einfrieren und auf unsere Erde befördern, die damals Teegeack genannt wurde.“304 Erst das Erreichen der achten Stufe macht einen Menschen zu einem „Operating Thetan“. Hierunter ist ein Clear zu verstehen, der mit seiner Umgebung so vertraut ist, daß er über Raum und Zeit, Energie und Materie erhaben ist und sich nicht in seinem Körper befindet. Die Stufen hin zu diesem Ziel wurden allerdings im Lauf der Jahre immer mehr erweitert. Renate Hartwig bemerkt zum Stichwort „Operierender Thetan“: „In diesen beiden Worthülsen projizieren Scientologen ihre persönlichen Träume und Hoffnungen auf Macht über ‚Materie, Energie, Raum und Zeit’.“305 Dieser Thetan hat sich nach Meinung der Scientologen über jegliche irdische Maßstäbe erhoben, er ist selbst „völlig Ursache über Materie, Energie, Raum, Zeit und Denken“.306 Peter Köpf meint dazu: „Das mutet an wie überirdische Wesen, die nach Berichten in den Publikationen von Scientology durch Gedankenkraft Autos bewegen oder mit Katzen reden und sogar Bücher lesen können, ‚die ein paar Länder entfernt sind’.“307 304 Jacobi, Scientology, 37. Dieser knappe Hinweis auf die Vorstellungen Hubbards mag genügen, um das Geheimnis der dritten Stufe einigermaßen verständlich werden zu lassen. Diese Vorstellungen lassen deutlich Anleihen bei der Science-Fiction-Literatur Hubbards erkennen. Vgl. auch Haack, Scientology, 80. 305 Hartwig, Scientology, 140. Vgl. auch Potthoff, Im Labyrinth der Scientology, 299. 306 Vgl. Köpf, Stichwort Scientology, 54. 307 Ibid. 99 Die Absurdität eines solchen Weltbildes, auf dem das System von Scientology aufbaut, wird an dieser Stelle sehr deutlich. Neben dem Zeitaufwand, den eine Ausbildung in den verschiedenen Stufen mit sich bringt, sind die Kosten der einzelnen Kurse enorm. Da diese Kurse aufeinander aufbauen und das Voranschreiten auf dem Weg zur völligen Befreiung als unbedingt erforderlich hingestellt wird, werden von den Mitgliedern der Sekte keine finanziellen Opfer gescheut. Die Bezahlung eines Kurses erfolgt grundsätzlich immer im voraus. Die Preise für Techniken und Seminare können hunderte bis mehrere zehntausend Mark (bzw. Euro) betragen. Bereits Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts kostete beispielsweise das Auditing in der Stufe OT V über 10.000 DM.308 Bei der Vielfalt der Kursangebote und der OT-Stufen lassen sich die Einnahmen der Sekte nur erahnen. Als Folgen einer Mitgliedschaft lassen sich neben denen der Manipulation der Menschen und der psychischen Abhängigkeit auch die finanziellen Belastungen nicht übersehen. Viele Scientologen haben bereits nach kurzer Zeit viel Geld für die Sekte geopfert, daß sie den Absprung nicht riskieren, um das investierte Geld nicht zu verlieren, was meist zu einer hohen Verschuldung beiträgt.309 Der Wunsch nach absoluter geistiger Freiheit und nach versprochenem Lebensglück sowie nach Erfolg wird jedoch in den meisten Fällen jäh enttäuscht. Selbst langjährige Mitarbeiter müssen immer wieder neue Kurse belegen und bleiben auf diese Weise ein Objekt ständiger Ausbeutung, worüber auch die Vergabe wohlklingender Titel als Auszeichnung für bestimmte Verdienste nicht hinwegzutäuschen vermag. 308 309 Vgl. Jacobi, Scientology, 61. Vgl. Abel, Scientology, 39. 100 3.5.3 Zusammenfassung der wesentlichen Gesichtspunkte über die Scientology-Organisation Bei Scientology steht das Studium des menschlichen Geistes im Vordergrund, wobei dessen Verhältnis zur Welt und deren Lebensformen von der Sekte definiert wird. Die Technologien der Dianetic und Scientology spielen hierbei eine zentrale Rolle. Dabei behauptet die Sekte, Ziel dieser und anderer Techniken sei es, einen Zustand der völligen geistigen Freiheit zu erlangen. Die Techniken wurden von Lafayette Ron Hubbard im Laufe von mehreren Jahrzehnten entwickelt. Seine von seiten der Organisation verzerrte Biographie läßt Hubbard bereits in frühen Jahren als Fachmann auf sämtlichen Gebieten der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Lebens erscheinen. Seine Vorliebe für den Bereich der Science-Fiction zieht sich dabei wie ein roter Faden durch sein Leben und das Lehrsystem der 1954 gegründeten Scientology-Organisation. Die Beeinflussung des menschlichen Verstandes bildet dabei ein Hauptthema. Alle Religionen werden als Vorläufer von Scientology betrachtet. Dabei wird die Sekte in den Rang der vollkommenen Religion erhoben, wobei die Organisation sich die Bezeichnung „Kirche“ zugelegt hat. Die Frage nach einem persönlichen Gott stellt sich für Scientologen nicht. Das Heil des Menschen kann durch das Erreichen der Kursstufe „Operierender Thetan“ erlangt werden, die Teil eines ausgefeilten Kurssystem darstellt, das sich nach Belieben erweitern läßt. Sogenannte „Engramme“, unter denen die Sektenmitglieder unbewußt gewordene Ereignisse der Vergangenheit verstehen, werden für das Böse in der Welt verantwortlich gemacht. Diese „Engramme“ werden in dem sogenannten „reaktiven Mind“ gespeichert. Durch die Bewußtmachung sollen sie in den sogenannten „analytischen Mind“ umgespeichert werden, was auch „klären“ genannt wird. Eine Person, die diese „Klärung“ vollzogen hat, wird in der Terminologie der Mitglieder als „Clear“ bezeichnet. Die Leitung des Clear-Vorgangs obliegt dem sogenannter „Auditor“, der für diese Prozedur eine besondere Ausbildung erhält und außer mit psychologischen Fragebögen mit einem sogenannten E-Meter arbeitet. 101 Dieses Gerät mißt angebliche Energieänderungen während des ClearVorgangs. Das von Hubbard entwickelte Lehrsystem stellt gewissermaßen den geistigen Überbau für das Gesamtsystem Scientology dar, das sich aus zahlreichen kommerziell ausgerichteten Unter- und Tarnorganisationen zusammensetzt. Die oberste Leitungsgewalt obliegt dem sogenannten Religious-Technology-Center, das in Clearwater (USA) liegt und dessen Vorsitz seit dem Tod Hubbards im Jahr 1986 David Miscavige innehat. Die Geschichte der Organisation ist durchzogen von kriminellen Aktionen gegen örtliche Regierungen und der Unterwanderung sämtlicher gesellschaftlich und politisch bedeutsamer Institutionen. Dies wird besonders durch die zahlreichen weltweiten Gerichtsverfahren gegen die Sekte deutlich. Daher läßt sich Scientology als ein gefährliches, verfassungsfeindliches Gebilde beschreiben, welches die höchste Form der Macht und eine durch sein Welt- und Menschenbild geprägte neue Gesellschaftsordnung anstrebt. Staatlicherseits wurden vor allem nach dem Bekanntwerden der wahren Vorgänge innerhalb der Organisation, vor allem durch Aussteiger aus diesem System zahlreiche Aktionen, wie Aufklärungskampagnen und Gerichtsverfahren eingeleitet, um die Ausbreitung und den Einfluß von Scientology einzudämmen. Die Kontrolle der Sekte wird jedoch durch die komplizierte Vernetzung der einzelnen Teilorganisationen und deren verdeckte Vorgehensweisen deutlich erschwert. Gerade deswegen beschäftigen sich staatliche Stellen in Deutschland seit geraumer Zeit mit Scientology. 102 Kapitel 2: Der Sektenausstieg Nachdem die Sekte Zeugen Jehovas und die Psychosekte Scientology dargestellt und wesentliche Gesichtspunkte ihrer Geschichte und ihrer Organisationssysteme beleuchtet worden sind, sollen die folgenden Ausführungen über die Ausstiegsproblematik verdeutlichen, was es für Menschen bedeutet, wenn sie die Organisation verlassen möchten. Die Ausführungen zu diesem Themenkomplex werden dabei durch Erfahrungsberichte und Biographien von Menschen, denen ein solcher Ausstieg geglückt ist, belegt. Darüber hinaus soll diese methodische Vorgehensweise einen wesentlichen Beitrag zur besseren Veranschaulichung der Aussteigerproblematik leisten und zu einem größeren Realitätsbezug beitragen. Bei der Ausstiegsproblematik sollen dabei drei entscheidende Themenkreise Beachtung finden. Der erste setzt sich mit den Mechanismen auseinander, die eine Person im Laufe eines Sozialisationsprozesses zu einem fertigen Sektenmitglied oder einer „Sektenpersönlichkeit“ machen, die eine entsprechende Sektenidentität besitzt. Diese innerhalb eines Sozialisationsprozesses erworbene Sektenidentität mit ihren spezifischen Denk- und Handlungsweisen ist auch für den Ausstieg von Bedeutung, der oft in Zweifeln an der Schlüssigkeit des Lehrsystems oder Enttäuschungen im Bereich der Lebenspraxis und Ethik der Sekte seine Ursache hat. Nachdem die Zweifel und die Enttäuschungen zur Gewißheit geworden sind, folgen offizielle Schritte der Loslösung von der Sekte. In einem dritten Teil werden die Folgen des Ausstiegs und der erst nach einem offiziellen Ausstieg sich anschließende mühsame seelische Befreiungsprozeß von der Sekte beschrieben. 103 1 Der Ausstieg als Problem oder: Warum ist es so schwer, die Sekte zu verlassen? 1.1 Sozialisation durch Indoktrination Der Sozialisationsprozeß, dem eine Person bei der Eingliederung in eine Sekte unterworfen ist, kann in mehrere sogenannte „Phasen der Indoktrination“ unterteilt werden.310 Diese, sich zum Teil überlappenden Phasen, lassen nicht nur den Prozeß des Sekteneinstiegs anschaulich erklären, sondern deren Inhalte und Mechanismen spielen auch bei dem darzustellenden Ausstieg eine zentrale Rolle, weshalb sie in ihren wesentlichen Punkten beschrieben werden sollen. Zu diesen Phasen zählen nach dem Sektenexperten Hugo Stamm die Anwerbung, die Einführung in die Heilslehre, die Einbindung in die Gruppe, die Entfremdung von der Umwelt durch Isolation, sowie die Festigung in der Heilslehre. Die einzelnen Phasen lassen sich nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen und gehen meist ineinander über. 1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann311 als Beispiel für die Zeugen Jehovas Die Anwerbung, auch als „getarnte Anwerbung“ bezeichnet, stellt bereits den ersten Schritt der psychischen Beeinflussung potentieller Mitglieder dar312 , die von der latenten Absicht getragen wird, die 310 Indoktrination meint eine Beeinflussung von einzelnen Personen oder Gruppen unter Zuhilfenahme psychologischer Mittel, um bei den entsprechenden Menschen eine bestimmte Meinung oder Einstellung zu erreichen. Hugo Stamm bezeichnet diese Indoktrination als „das zentrale Merkmal vereinnahmender Gruppen und Sekten“. (Vgl. Stamm, Sekten, 74). Der Autor hat als Journalist und Sektenspezialist bereits im Jahr 1993 das Buch „VPM – die Sektenfalle“ veröffentlicht. 311 Hans-Jürgen Twisselmann gehörte der Sekte der Zeugen Jehovas fünf Jahre lang an. In seinem Buch „Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi“ beschreibt er seinen Weg in die Sekte und seinen Ausstieg, wobei er sich sehr intensiv mit dem Lehrsystem und der Ethik der Gruppe auseinandersetzt. 312 Es handelt sich um eine sogenannte „getarnte Anwerbung“, weil die eigentlichen Absichten und Ziele den Menschen nicht mitgeteilt, sondern verschleiert werden. Es werden dabei verschiedene Personengruppen angeworben. „Keiner von uns ist dagegen gefeit, von einer Sekte angeworben zu werden. Es gibt so viele Sekten, die ständig Ausschau halten nach neuen Mitgliedern, sie treten in so vielen Masken auf und ziehen so viele Maschen ab, daß es bestimmt auch für Sie eine passende Sekte 104 kontaktierte Person in eine bestimmte Organisation zu locken. Die Art der Anwerbung ist dabei unterschiedlich.313 Die Sekte der Zeugen Jehovas führt gezielt Aktionen auf Marktplätzen und Einkaufsstraßen durch, indem die laufenden Zeitschriften „Der Wachtturm“ oder „Erwachet“ mit eindrucksvollen Titelbildern die Vorübergehenden locken sollen, um sie in ein erstes Gespräch zu verwickeln.314 Hans-Jürgen Twisselmann, als ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas, berichtet über seinen ersten Kontakt mit der Sekte: „Freitag, den 18. August 1950. Es ist ein warmer Sommertag. Rund um den Dom der norddeutschen Kleinstadt Meldorf auf dem geräumigen Marktplatz herrscht das bunte Treiben des Wochenmarktes. Sommerlich gekleidete Menschen eilen zwischen den Verkaufsständen hin und her. Das aber sehe ich nur ganz am Rande. Viel mehr interessiert mich ein junger Mann von etwa 28 Jahren, der auf dem Bürgersteig vor den um den Markt gelegenen Geschäftshäusern jeden Passanten anspricht und ihm eine Zeitschrift anbietet.“315 gibt. Egal, wie alt Sie sind, welche Interessen oder welchen Lebensstil Sie haben, sich auf eine Sekte einzulassen ist so leicht, wie einen Bibliotheksausweis ausgestellt zu bekommen.“ (Thaler Singer, Margaret / Lalich, Janja, Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, 136). Margaret Thaler Singer ist eine Kapazität auf dem Gebiet der psychologischen Betreuung von ehemaligen Sektenmitgliedern. Sie ist Professorin für klinische Psychologie in den USA und hat seit über dreißig Jahren Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt. Ihre Aussage räumt mit dem landläufigen Vorurteil auf, nur psychisch labile oder psychisch kranke Menschen seien anfällig für die Heilsversprechen von Sekten. Auch Gabriele Lademann-Priemer stellt fest, daß selbst Menschen, die vor Sekten sicher zu sein glauben, in deren Fänge geraten können. „Viele ehemalige Mitglieder von Sekten, die nicht in eine Sekte hineingeboren sind, betonen jedoch, daß sie auch einmal der festen Überzeugung waren, sie würden niemals auf eine Sekte hereinfallen.“ (Lademann-Priemer, Gabriele, Warum faszinieren Sekten? Psychologische Aspekte des Religionsmißbrauchs, München 1998, 79). 313 Die Anwerbemethoden reichen vom direkten persönlichen Kontakt, Werbung an Kiosken, in Zeitungen und Zeitschriften, bis hin zur Werbung in Radio und Fernsehen, was besonders in den USA der Fall ist. 314 Klaus-Dieter Pape charakterisiert die Straßenmission als das „optisch auffälligste Auftreten“ der Zeugen Jehovas. Das Ziel ist, Präsenz zu zeigen und das intensive Engagement für den eigenen Glauben öffentlich zu demonstrieren. (Vgl. Pape, KlausDieter, Die Angstmacher. Wer (ver)führt Zeugen Jehovas?, Leipzig 1998, 70). 315 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 9. Twisselmann ist schon öfter auf die Zeugen Jehovas aufmerksam geworden; doch ist dies das erste Mal, bei dem er sich hat persönlich ansprechen lassen. Er berichtet, er habe als er 15 Jahre alt war, eine Schrift des Gründers in den Händen gehabt, die er im Bücherschrank seiner Eltern entdeckte, jedoch damals ohne jeglichen Gewinn gelesen habe. 105 Twisselmann berichtet weiter: „Einige Minuten später lasse ich mich von dem jungen Mann ansprechen. Es dauert nicht lange, und wir sind mitten in einer Debatte über Sündenfall, Herkunft des Teufels, Wiederkunft Christi und Tausendjähriges Reich.“316 Um das begonnene Gespräch in Ruhe fortsetzen zu können, wird der Zeuge Jehovas nach Hause eingeladen. Dieser erscheint mit zahlreicher Literatur bei der interessierten Person.317 „Es dauert keine halbe Stunde, bis Gerd meinen ‚Glauben’ an die Evolutionslehre völlig zerstört hat. Aus Schriften der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft liest er Aussprüche von namhaften Wissenschaftlern vor, die sich zu dieser Lehre kritisch äußern oder von ihr abrücken. Andererseits versucht er mir zu zeigen, wie zuverlässig die Bibel ist. Für mich ist es außerordentlich eindrucksvoll zu sehen, wie die vielen alttestamentlichen Weissagungen über den kommenden Messias im Leben Jesu von Nazareth sich buchstäblich erfüllt haben. Kann es da noch einen Zweifel geben an der Zuverlässigkeit und göttlichen Inspiration der Bibel? Plötzlich wird mir die gewaltige Überlegenheit des ‚Buches der Bücher’ gegenüber allen menschlichen Meinungen und Überlieferungen bewußt.“318 Durch die Ausführungen des Sektierers werden bei der interessierten Person anfängliche Zweifel und Unschlüssigkeiten ausgeräumt, doch obwohl der Sektierer den Anschein der Glaubwürdigkeit erweckt, dem die geistige und religiöse Befreiung des Gesprächspartners am Herzen zu liegen scheint, stellt dieses Gespräch einen Angriff auf die Gedanken- und Gefühlswelt des potentiellen neuen Mitglieds dar.319 Dabei wird als weiteres Indoktrinationsmittel auf persönliche Bekenntnisse und die der 316 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 9. Den Grund für den Rückbesuch bei der angeworbenen Person gibt die WachtturmGesellschaft so wieder: „Bei der Durchführung eines Nachbesuches verfolgen wir einen Zweck; wir zielen nämlich darauf ab, schließlich ein Heimbibelstudium zu beginnen.“ (Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 70). 318 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10. Vgl. auch Weber / Valentin, Die Zeugen Jehovas, 49. 319 Der Sektenexperte Hugo Stamm bemerkt: „So paradox es klingen mag: Obwohl die Sektenmitglieder durchaus glaubwürdig erscheinen und den Anschein erwecken, die Angeworbenen geistig und seelisch befreien zu wollen, ist bereits das erste Gespräch ein Angriff auf die Gedanken- und die Gefühlswelt. Denn die Angesprochenen werden mit dem Ziele umgarnt, sie in die Gruppe zu locken.“ (Stamm, Sekten, 91f.). 317 106 Gruppe als ganzes zurückgegriffen.320 „Doch nun wächst auch meine Hochachtung vor den ‚Bibelforschern’, besonders als Gerd mir erzählt, wie die Zeugen Jehovas um ihres Glaubens willen in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelitten haben.“321 Zusammen mit der Aufwertung der eigenen Gruppe werden andere, vor allem die Kirchen, durch allgemein gehaltene Versagensschilderungen verleumdet. Als Beispiel dient hierbei die Verurteilung der katholischen Kirche durch Heranziehung von Fehltritten von Priestern in der Zeit des Dritten Reiches, „die sich in den Dienst der Machthaber dieser Welt stellten“322 . Nach dem Ausräumen der ersten Zweifel und dem Wecken von Bewunderung für die Gruppe, kann die Einführung in die Heilslehre durch Publikationen der Sekte erfolgen.323 „Schon in den nächsten Tagen lese ich das Buch ‚Die Wahrheit wird euch frei machen’, dessen Titel mich besonders anspricht.“324 Durch das Lesen der ersten Schriften wird zugleich eine im Menschen schlummernde Sehnsucht nach Heil und Wahrheit geweckt.325 „Angeregt durch das Lesen des ersten Buches, studiere ich auch die anderen beiden Bücher, die ich von Gerd gekauft habe. Schließlich vergrabe ich mich immer mehr in diese Literatur und lese – wie wohl die meisten Z. J. – nur noch Schriften der WachtturmGesellschaft.“326 Das weitere Schriftstudium soll den Interessenten geistig vereinnahmen und die Sehnsucht nach einer spirituellen Umwandlung verstärken, die sich für den Betroffenen unmerklich anbahnt, wobei letzte Zweifel als Irritationen des Bösen interpretiert und so nicht weiter beachtet werden. „Letzte Zweifel unterdrücke ich in der Meinung, es seien die heimlichen Angriffe des Bösen, der mich von dem allein wahren Glauben abzuhalten versuche.“327 Ratschläge von Verwandten und Freunden werden dabei, besonders wenn es sich hierbei um Kritik an der neuen Heilslehre und der neuen Gruppe handelt, als eher störend betrachtet und 320 Vgl. Stamm, Sekten, 93. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10. 322 Ibid. 323 Vgl. Stamm, Sekten, 95. 324 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10. 325 Vgl. Stamm, Sekten, 95. 326 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10. 327 Ibid. 321 107 übergangen. Widerstand von Seiten anderer verstärkt meist noch das Interesse des Betroffenen für die jeweilige Gruppe.328 „Die mahnenden Worte meiner Mutter und anderer naher Verwandter schlage ich in den Wind, ja ihr Widerstand gegen die ‚Wahrheit’ veranlaßt mich, um so entschiedener für die Sache der Z. J. einzutreten.“329 Nach einer weniger als zwei Wochen dauernden Einführung in Teile der Heilslehre der Zeugen Jehovas und aufgrund des Widerstands von Seiten der Mutter bestärkt, entschließt sich Twisselmann der Sekte beizutreten. „So kommt es, daß ich schon am 30. August – weniger als 14 Tage nach Gerds erstem Besuch bei mir – in mein Tagebuch schreibe: ‚Mein Entschluß steht fest: Ich werde Zeuge Jehovas!’“330 Dabei spielt vor allem die Abwertung der Kirchen und die gleichzeitige Aufwertung und der Anspruch der Sekte, die allein selig machende Organisation Gottes zu sein, eine zentrale Rolle. Dies wird durch willkürlich verwendete Bibelzitate unterstützt.331 Twisselmann bemerkt hierzu: „Schon weitere 14 Tage später, am 16. September 1950, erkläre ich vor dem Amtsgericht meinen Austritt aus der Ev.-Luth. Landeskirche. Die Kirche hat nach meinem nun erlangten Verständnis das Christentum verwässert, entstellt und mißbraucht. Die Wachtturm-Gesellschaft lehrt daher, die Kirchen der Christenheit seien in Wirklichkeit nicht Kirche Christi, nicht die treue ‚Braut’-Gemeinde, sondern die im letzten Buch der Bibel erwähnte ‚große Hure’, also die untreue ‚Braut’, das ‚Babylon’ der Endzeit.“332 Die Sekte wird somit als einzig wahre, als die ideale Gesellschaft dargestellt, in welcher nun ein neues erfülltes Leben beginnen kann, das die vorherige, falsche und vielleicht sündige Vergangenheit hinter sich läßt.333 „Als ich 328 Hugo Stamm erwähnt in diesem Zusammenhang die negativen Auswirkungen einer möglichen frontalen Konfrontation von Angehörigen, über die er sich wie folgt äußert: „Besonders verhängnisvoll ist dabei, daß die Angehörigen in diesem Fall die Chance verspielen, Einfluß auf das betroffene Familienmitglied auszuüben und ihm zu helfen, den Weg aus dem persönlichkeitszerstörenden Labyrinth zu finden.“ (Stamm, Sekten, 130). 329 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 10f. 330 Ibid. 331 Vgl. Weber / Valentin, Zeugen Jehovas, 49 ff. 332 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11. 333 Vgl. Cammans, Heide-Marie, Betroffen durch Sekten. Ein Ratgeber, Düsseldorf 1997, 47. Cammans erwähnt die Verunsicherung, die mit der negativen Wertung der Vergangenheit bei einer Person auftritt. Diese geht nun voller Hoffnung den von der Sekte propagierten Heilsweg, hin zu einer neuen und besseren Zukunft. Ein sehr 108 die Tür des Amtsgerichts in Meldorf hinter mir schließe, bin ich daher froh und zufrieden, nun aus ‚Babylon’ entronnen zu sein; ‚... denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeit gedacht’ (Offb. 18, 5).“334 Nachdem der endgültige Bruch mit der Kirche vollzogen ist und die Einführung in einen Teil der Heilslehre stattgefunden hat, kann die Einbindung in die neue Gruppe erfolgen. Diese wird durch die hohen Erwartungen und das oft überdurchschnittliche Engagement des Neulings sehr gefördert. Hinzu kommt eine anfänglich sehr intensive Zuwendung und Begleitung durch die neue Bezugsperson, die den Betreffenden angeworben hat, verbunden mit Bestärkungen seitens der Gruppe, die nun versucht, durch menschliche Wärme und der Vermittlung eines Geborgenheitsgefühls auf das „Opfer“ einzuwirken.335 Das Ziel ist die Arbeit für die Organisation, deren Strukturen dem Neuling, da er mit dem Zurechtfinden und Einleben in die neue, ungewohnte Umgebung beschäftigt ist, noch nicht enthüllt werden. Das neue Mitglied soll befähigt werden, weitere Personen zu werben. Zu diesem Zweck erhält es neben der theoretischen Schulung durch die Beschäftigung mit der Literatur der Sekte eine intensive praktische Schulung.336 „Am 28. Oktober gehe ich zum ersten Mal zusammen mit anderen Zeugen von Tür zu Tür. Der Kreisaufseher, der als Beauftragter der Wachtturm-Gesellschaft zum Zweck der ‚Schulung der Verkündiger und zur Belebung der Felddiensttätigkeit’ zugegen ist, gibt wichtige Anregungen, wie man beim Dienst von Haus zu Haus Erfolge erzielen kann.“337 Der Neuling wird dabei zusammen mit anderen, erfahrenen Zeugen zum Werbedienst geschickt, die ihn gegen unerwünschte Kritik anschauliches Beispiel für die Abwertung des bisherigen Lebens geben Margaret Thaler Singer und Janja Lalich mit der von Sekten verwendeten Aufforderung „Zeig uns den schmutzigen Film deiner Vergangenheit“ wieder. (Vgl. Thaler Singer, Margaret / Lalich, Janja, Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg 1997, 196). 334 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi 11. 335 Vgl. Stamm, Sekten, 105. Vgl. auch Rausch, Ulrich, Sekten: 99 Fragen, München 1999, 56ff. Ulrich Rausch bezeichnet die intensive Zuwendung, die dem Neuling zuteil wird, als „Love Bombing“. Das Ziel dieses Vorgehens beschreibt er so: „Es soll die Gruppe als besonders liebevoll und harmonisch erfahren, um so den Unterschied zu der bösen Außenwelt festzustellen.“ 336 Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 59 ff. 337 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11f. 109 von außen und mögliche eigene Zweifel während seines Einsatzes in der Lehre der Gruppe bestärken sollen. Negative Erfahrungen und Frustrationen werden bei der Rückkehr in der Versammlung ausgetauscht und im Sinne der Sekte interpretiert. „Als ich zum Treffpunkt zurückkomme, sind die meisten anderen schon da. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, von guten und schlechten. Es gibt manche Stunden der Enttäuschung, und wie eine Oase in der Wüste ist ein Haus, dessen Bewohner ein Ohr für unsere Botschaft haben. Wir trösten uns jedoch mit dem Gedanken, Jesus und den Aposteln sei es nicht anders ergangen. Ja, wir sehen gerade im Widerstand der ‚Welt’ einen Beweis, daß wir das wahre Christentum haben.“338 Die gemachten Erfahrungen bewirken eine immer stärkere Verankerung der Heilslehre im Bewußtsein der Anhänger und festigen zugleich die Verbundenheit untereinander. Zugleich ist durch den gegenseitigen Austausch auch eine ebensolche Kontrolle gegeben. Treten bei einer Person Zweifel irgendeiner Art auf, können diese im kleinen Kreis behoben werden, wenn nicht, muß die von Mitgliedern an der Sekte geübte Kritik umgehend dem Leiter der Versammlung vor Ort gemeldet werden. Die Arbeit der Verkündiger wird in Form von Stundenberichten genauestens festgehalten und dokumentiert, um die Leistung und eventuelle Leistungsabfälle genau ermitteln zu können.339 „Alles dies überblickt der Neuling noch gar nicht. Er ahnt auch nicht, daß er in seiner zuständigen Ortsversammlung in eine ‚Verkündigerkartei’ eingetragen wird, sobald er mit dem ‚Felddienst’ begonnen hat. Diese ‚Verkündigerkartei’ dient der Aufzeichnung der monatlichen ‚Felddienst’Stunden, die der Kreisaufseher bei jedem seiner Besuche zu überprüfen hat.“340 Durch die ausschließliche Beschäftigung mit Literatur der Organisation und dem Einsatz für diese, wird das Mitglied körperlich und zeitlich sehr 338 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 11f. Klaus-Dieter Pape erläutert die Funktion eines Predigtdienstberichtes. Er hat seinem Buch eine Kopie eines solchen Vordruckes beigefügt, anhand derer ein guter Einblick in die Einzelheiten des auszufüllenden Berichtes möglich ist. (Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 72f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die „Haus zu HausNotizen“ bei K.-D. Pape, 69. 340 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 12. 339 110 stark beansprucht. Es bleibt kaum Zeit für persönliche Kontakte. Kontakte zu Außenstehenden und nicht der Sekte angehörenden Verwandten und Freunden werden entweder auf ein Minimum reduziert oder vollends abgebrochen. Es findet eine zunehmende Entfremdung von der Umwelt statt, die als feindlich, im Gegensatz zur allein seligmachenden Gruppe, dargestellt wird.341 Die eigene Identität wird dabei immer mehr überlagert und eine neue, die sogenannte „Sektenidentität“, bricht sich Bahn, indem ein neues Weltverständnis und ein neues Selbstverständnis entstanden sind, die sich anhand einer Publikation der Wachtturm-Gesellschaft so beschreiben lassen: „Du kennst in Wirklichkeit nichts, wodurch du dich vor dem Angriff grimmiger Menschen und Organisationen dieser Welt schützen könntest. Worin besteht also dein Schutz? Nur darin, daß du bei der Herde Gottes bleibst, innerhalb der Hürde und daß du von ganzem Herzen auf Jehova Gott ... vertraust, auf den Herrn Jesus Christus ... und außerdem auf deine treuen Brüder, die zu Hirten der Herde eingesetzt worden sind. Jehova Gott hat heute eine theokratische Organisation.“342 1.1.2 Jutta Elsässer als Beispiel für Scientology Jutta Elsässer kam durch eine Freundin in Kontakt mit der ScientologySekte. Sie bemerkt hierzu: „Alles begann mit einem harmlosen Telefongespräch mit einer Freundin.“343 Diese weist Jutta Elsässer auf einen von Scientology angebotenen Persönlichkeitstest hin, dem sie selbst sich unterzogen habe. „Wir sprachen über Gott und die Welt. Wichtigkeiten und Nichtigkeiten hielten sich bei uns zumeist die Waage. Dieses Mal allerdings wurde das Gespräch von uns früher als sonst beendet. Sie müsse Schluß machen, sagte sie mir, da sie an diesem Abend noch einen Termin habe. Eine Art psychologische Testauswertung, um Stärken und Schwächen auszuloten, ihre Persönlichkeit besser 341 Vgl. Stamm, Sekten, 113 ff. Zitiert nach: Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 13. 343 Elsässer, Jutta, Scientology. Ich suchte das Licht und fand die Dunkelheit, München 1997, 13. 342 111 beurteilen und einschätzen zu lernen.“344 Diese Informationen wecken bei Frau Elsässer Neugierde, da sie sich gerade in einer schwierigen persönlichen Lebenssituation befindet.345 Ihre Situation nach Abschluß ihres Pädagogik- und Psychologiestudiums beschreibt sie wie folgt: „Denn trotz eines im Grunde gesellschafts- und menschenorientierten Studiengangs empfand ich eine Art von Leere, vor der ich mich ein Leben lang in acht genommen und mit Ausdauer versucht hatte, sie zu füllen.“346 In dieser psychischen Verfassung und nach einigen weiteren Ausführungen ihrer Freundin fordert sie auf postalischem Weg den Fragebogen des Dianetic-Zentrums an. Durch die Aussage „Wir nutzen nur 10 Prozent unseres geistigen Potentials“ wird weiteres Interesse geweckt. „Das interessierte mich. Hier verfügte jemand über ein Wissen, das ich mir zu eigen machen wollte. Deshalb machte ich mich daran, den Fragebogen auszufüllen.“347 Dieser Fragebogen ermöglicht der Sekte einen ersten Einblick in die psychische Struktur einer anzuwerbenden Person.348 Es folgt einige Tage darauf die Einladung zu einem ersten persönlichen Gespräch. „Bereits drei Tage nach Absenden des Testbogens erhielt ich den Anruf eines gewissen Herrn Braindl. Man habe diesen mittlerweile ausgewertet und würde mich gern zu einem unverbindlichen Gespräch einladen. Ich war noch immer neugierig und vereinbarte einen Termin für 344 Elsässer, 14. Ulrich Rausch sieht gerade schwierige persönliche Lebenssituationen als idealen Nährboden für Heilsversprechen von Sekten an, wenn er meint: „In einer persönlichen Lebenskrise, in einer Phase, in der das Leben eine neue Orientierung bekommen soll, können die sozialen, psychologischen und die weltanschaulichen Angebote für Menschen attraktiv sein.“ (Rausch, Sekten, 49). 346 Elsässer, 13. Die innere Leere, die Frau Elsässer verspürte, ist hier ein Faktor, der ihr Interesse an dem unterbreiteten Heilsangebot bewirkt. Hinzu kommt der sie belastende Tod ihrer Mutter. Rausch stellt in seinen Ausführungen über die Sektenanfälligkeit von Menschen fest: „Darüber bin ich der Überzeugung, daß prinzipiell jeder Mensch offen für die unterschiedlichen Angebote von Sekten sein kann. Es muß nur der richtige Augenblick und das richtige Angebot sein – oder muß man besser sagen: der falsche Augenblick und das falsche Angebot? – , um selber Sekten attraktiv zu finden. In einer persönlichen Lebenskrise, in einer Phase, in der das Leben eine neue Orientierung bekommen soll, können die sozialen, psychologischen und die weltanschaulichen Angebote für Menschen attraktiv sein.“ (Rausch, Sekten, 49). 347 Elsässer, 17. 348 Auch die Frage nach der Risikobereitschaft einer Person ist dabei für die Sekte entscheidend. Hierdurch soll die Bereitschaft zu finanziellen Opfern für die Organisation ermittelt werden. 345 112 den 9. März.“349 Der erste persönliche Kontakt kommt mit einem Scientologen zustande, der versucht, die Testergebnisse im Sinne der Sekte zu interpretieren, um Frau Elsässer emotional zu destabilisieren. „Er sah sich die Testauswertung an, fragte mich nach meinen Familienverhältnissen und schließlich auch nach eventuellen negativen Erlebnissen im Laufe meines Lebens.“350 Nachdem sie entscheidende Ereignisse ihres Lebens, vor allem auch ihren Lebensweg als Vollwaise, berichtet hat, werden zahlreiche schwierige und unbeantwortete Fragen wach, über die sie später schreibt: „Ich glaube heute, daß gerade das Thema ‚Tod und Sterben‘ für mich und meine Entwicklung ganz wesentlich war. Meine diesbezüglichen Gefühle und meine ganz persönlichen Schlußfolgerungen waren sicherlich mit ein Grund, mich letztendlich auch näher für Dianetic und Scientology zu interessieren.“351 Der Gesprächsleiter kann vergangene Erlebnisse in die Erinnerung zurückrufen und kann unverarbeitete und eine Person belastende Erfahrungen aufgreifen und als Lösung für die herausgefundenen Probleme seine Heilstheorie darlegen. Dabei bleibt die eigentliche Organisation zunächst außen vor. Der Scientologe rühmt die Person Hubbards und dessen Heilslehre.352 Er weckt auf diese Weise Bewunderung und Hoffnungen auf Seiten der angeworbenen Person. „Ich war überaus beeindruckt und nahm jedes Wort unbesehen an, weil ich mir doch in keiner Weise vorstellen konnte, daß man in einer derart gewichtigen Angelegenheit nicht die Wahrheit sagen könnte.“353 Eventuelle Zweifel an den verkündeten Äußerungen werden auf diese Weise wegrationalisiert. Jutta Elsässer fühlt sich in einzigartiger Weise ernstgenommen und verstanden. „Ich fühlte mich großartig und in einer Weise verstanden, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.354 Sie faßt Vertrauen 349 Elsässer, 19. Ibid., 22. 351 Hierbei spielt vor allem das Erleben des Todes ihrer Mutter eine zentrale Rolle, über den sie schreibt: „Nicht zuletzt durch das Erlebnis, meine Mutter in meinen Armen sterben zu sehen, wurde ich mit Dingen konfrontiert, die man gerne in Zeiten von Gesundheit und einer augenscheinlich heilen Welt nur allzuoft verdrängt.“ (Elsässer, 23). 352 Vgl. Stamm, Sekten, 93ff. 353 Elsässer, 28f. 354 Ibid. 350 113 zu ihrem Gesprächspartner und zu der von diesem repräsentierten Organisation Scientology. „Endlich! Endlich eine Institution in dieser Gesellschaft, die nicht von mir verlangt, etwas zu glauben, was mir als wenig sinnvoll erscheint, dachte ich.“355 Eine Institution, die in der Lage ist, eine heile Welt zu schaffen und die bisherige von negativen Einflüssen durchsetzte und schmerzlich nachwirkende Vergangenheit unschädlich zu machen, entspricht genau der Sehnsucht Frau Elsässers. „Unsere Welt würde gesunden. Ein sehr erstrebenswertes Ziel, dachte ich damals. Genau so eine Welt hatte ich mir schon immer in meinen Wunschträumen vorgestellt.“356 Es schließen sich weitere Kurse an, die gegen Gebühren absolviert werden müssen.357 Durch die Auditing-Technik wird Frau Elsässer fortlaufend manipuliert und beginnt die Heilslehre stückweise in sich aufzunehmen.358 Dabei entfernt sie sich zunehmend von ihrer Umwelt, vor allem auch durch das Erlernen der Sektensprache mit ihrem Vokabular.359 „Beschäftigt man sich nun gemäß der Hubbardschen Vorschrift, sämtliche unbekannten Wörter abzuklären, mit der Fachwortsammlung bzw. ergänzender Materialien, welche Dianetic- und Scientology-Begriffe aufzuschlüsseln helfen, erfährt man beispielsweise, daß der D of T der »Director of Training« ist, also derjenige, der die Abteilung für Kurse und Ausbildung zu leiten hat. Nach und nach lernt man auf diese Weise, sich in der Organisationsstruktur der Scientology zurechtzufinden.“360 Um auf dem Weg der Befreiung fortschreiten zu können, wird dem Neuling unterbreitet, 355 sei es unerläßlich, die jeweiligen Vorschriften und Elsässer, 28f. Ibid., 34. Vgl. auch Stamm, Sekten. Im Bann von Sucht und Macht, 95. Stamm thematisiert die von Sekten mißbrauchte Sehnsucht von Menschen nach einem erfüllten Leben und einer heilen Welt. „Die Suche oder Sehnsucht nach höheren Werten und einem erfüllten spirituellen oder religiösen Leben wird von Sekten und totalitären Gruppen als potentes Mittel der Indoktrination mißbraucht.“ 357 Es handelt sich hierbei um die Auditing-Stufen von Scientology. 358 Stamm begründet die allmähliche und behutsame Verabreichung der Heilslehre wie folgt: „Würden sie schon in der Anfangsphase die gesamte Heilslehre, das hierarchisch strukturierte Sektengebäude und die totale Einbindung der Mitglieder erfahren, könnten sie mißtrauisch werden, und die Vision vom absoluten Heil würde getrübt.“ (Stamm, Sekten, 79f.). 359 Die Sprachmanipulation der Sekten dient laut Hugo Stamm der Erweiterung der Möglichkeiten der Indoktrination. (Vgl. Stamm, Sekten, 118). 360 Elsässer, 119f. 356 114 Anweisungen erfahrener Mitglieder genau zu befolgen. Zusammen mit anderen Mitgliedern von Scientology nimmt Frau Elsässer an einem sogenannten „Reinigungsprogramm“361 teil. Durch das Zusammensein mit anderen Anhängern der Sekte soll die Identifizierung mit der Gruppe gestärkt werden, und dabei können etwaige Zweifel besser ausfindig gemacht und beseitigt werden. Durch körperlich und seelisch aufreibende Aktionen sollen der Eigenwille und die Selbstbestimmung durch Gehorsam und Fremdbestimmung ersetzt werden. Als eine dieser Aktionen erwähnt Elsässer einen mehrere Stunden dauernden Saunabesuch, an den sich eine zermürbende weitere Indoktrination in die Sektenlehre anschließt. „Nach der Sauna dann noch im Kursraum zu sitzen und an meinem Studierkurs zu arbeiten, empfand ich bereits nach wenigen Tagen als absolute Qual. In der Regel hatte ich alle Mühe, mich auf den Stoff zu konzentrieren. Ich war völlig kaputt und hätte mich am liebsten sofort auf die nächstbeste Couch gelegt. Zumeist schlief ich bereits in der U-Bahn zum Zug ein.“362 Die erschöpfenden Reaktionen werden von seiten der Sekte als normal und als Signale einer positiven Veränderung hin zur geistigen Freiheit gedeutet. Ebenso deutet eine Scientologin die Symptome von Jutta Elsässer. „Meine Müdigkeit und Mattigkeit seien eine vollkommen normale Reaktion meines Körpers auf das Ausscheiden giftiger Stoffe, beruhigte sie mich.“363 Obwohl das Opfer den Sinn der weiteren Torturen nicht einsieht, traut Elsässer sich nicht, sich gegen diese Torturen zur Wehr zu setzen, denn der Wunsch nach Erreichen des Ziels der absoluten geistigen Freiheit und der scheinbare Mangel an eigener Kompetenz gegenüber den erfahrenen Sektenmitgliedern überwiegen. „Vielleicht würden ja die »Objektiven Prozesse«, der nächste Schritt auf der Brücke direkt nach dem Reinigungsprogramm, diese Unlust und das nebelige Gefühl in meinem Kopf wieder zum Verschwinden bringen.“364 361 Zu den Einzelheiten des Reinigungsprogramms vgl. Potthoff, Norbert / Kemming, Sabine, Scientology Schicksale. Eine Organisation wird zum sozialen Störfall. Erfahrungsberichte, Bergisch Gladbach 1998, 313ff. 362 Elsässer, 128f. 363 Ibid. 364 Ibid., 132. 115 Nachdem ein weiterer Kurs absolviert ist und nachdem das Opfer seitens der Sekte wieder eine emotionale Stärkung erfahren hat, erhält es das Angebot, die Position einer „Kursüberwacherin“ innerhalb der Organisation zu übernehmen, wofür eine spezielle Ausbildung vorgesehen ist. „Mir wurde nahegelegt, vorerst in Teilzeit und später eventuell in Vollzeit, u. a. als voll ausgebildete Auditorin, in der Mission Augsburg tätig zu sein.“365 Finanziert wird diese Einbindung in die Organisation und das Durchlaufen der weiteren Kursstufen mit Hilfe von Krediten, die von Scientology selbst vergeben werden. Durch diese Kredite wird das neue Mitglied an die Sekte gebunden und in den finanziellen Ruin getrieben. Schließlich büßt es im Lauf der Zeit jegliche Selbständigkeit im geistigen wie im materiellen Sinn ein.366 Um die Schulden abtragen zu können, muß sich das Sektenmitglied in Zukunft ausschließlich für die Belange der Organisation zur Verfügung stellen, die fortan eine immense Kontrolle über die Persönlichkeit ausübt. Die Sekte ist für das Opfer zu einer Art Gegenwelt geworden.367 In Gegensatz dazu stehen die vielen Menschen, die die Heilslehre noch nicht erkannt haben und die durch Mission der Sekte zugeführt werden müssen. Durch das Ausschalten des eigenen kritischen Bewußtseins und durch die Vermittlung eines neuen Welt- und Menschenbildes lebt das Mitglied in einer Sonderwelt, die sie trotz unzähliger Repressalien und immenser Forderungen der Sekte verteidigt. So werden Kontakte zu Verwandten und Freunden, besonders wenn diese der neuen Gruppe gegenüber Vorbehalte hegen, auf ein Minimum reduziert oder ganz abgebrochen. Auf diese Weise wird eine Entfremdung von der angeblich feindlichen Umwelt und damit eine Isolation des Sektenmitglieds bewirkt.368 Jutta Elsässer schreibt in diesem Zusammenhang: „In den letzten Wochen hatte sich mein Verhältnis zu meinem Onkel vehement verschlechtert. Je intensiver er sich bemüht hatte, mich den Klauen dieser 365 Elsässer, 133. Margaret Thaler Singer und Janja Lalich geben eine Fülle von ergänzenden Fallbeispielen für die durch Sekten verursachte Freiheits- und Eigentumsberaubung. (Vgl. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 123-127). 367 Vgl. Stamm, Sekten, 22ff. 368 Ibid., 113. 366 116 Organisation zu entreißen, wie er sich ausdrückte, desto mehr kapselte ich mich von ihm und seinen Argumenten ab und richtete mich darauf ein, den Kontakt auf das Notwendigste zu beschränken.“369 Das ausschließliche Leben in und für die Gruppe mit ihren dazugehörigen Techniken und Beeinflussungsmethoden dient der Festigung der erworbenen Sektenidentität. 1.2 Zusammenfassung Anhand der fünf Phasen der Indoktrination, die Hugo Stamm zusammengestellt hat, läßt sich der Weg von der Anwerbung bis hin zu einer fertigen Sektenpersönlichkeit nachzeichnen. Wenn sich diese Phasen auch überschneiden und nicht immer klar voneinander abzugrenzen sind, bieten sie doch eine Richtschnur, an der sich ablesen läßt, auf welcher Indoktrinationsstufe sich eine Person gerade befindet. In die Fänge einer Sekte geraten kann jeder. Zwar gibt es Situationen, die Menschen für das Werben einer Sekte sehr anfällig werden lassen, jedoch sind es nicht nur Zeiten psychischer Belastung, die hierbei eine Rolle spielen. Hans-Jürgen Twisselmann ließ sich durch die scheinbaren Argumente für die Bibel und die Widerlegung seiner Zweifel dazu bewegen, sich weiter mit den Schriften der WTG zu befassen. Er befand sich in keiner ersichtlichen Lebenskrise, die eine Zuwendung zur Organisation der Z.J. begünstigt hätte. Jedoch spielt die im Menschen grundgelegte Sehnsucht nach Heil, Erfüllung, und nach einer Gemeinschaft, in der man sich verstanden fühlt, wohl immer eine Rolle, egal ob zur Zeit eine offensichtliche psychische Belastung vorliegt oder nicht. Jutta Elsässer empfand ein Leere, die sie trotz ihres Pädagogikstudiums und der Tätigkeit in einem sozialen Bereich nicht ausfüllen konnte. Die wirkliche Bedeutung des Todes ihrer Mutter und die psychischen Nachwirkungen dieser Erfahrungen, wurde ihr erst nach dem 369 Elsässer, 187. 117 von Scientology durchgeführten Persönlichkeitstest und dem Auditing richtig bewußt. Es können also auch verdeckte Konflikte vorhanden sein, die den Betreffenden für die Heilsversprechen von Sekten empfänglich machen, die von Sekten erkannt und geschickt zur psychischen Manipulation von Menschen benutzt werden. Das Alter und der Bildungsstand einer Person sind dabei nicht entscheidend. Der im Menschen verankerte Wunsch nach einem erfüllten Leben und der von Sekten geschickt praktizierte Gruppendruck sind so stark, daß selbst augenscheinliche Widersprüche und negative Erfahrungen im Interesse der Gruppe interpretiert und von den Betreffenden ignoriert werden. Hat sich die Sektenidentität herausgebildet, so muß diese regelmäßig durch Nahrung aus dem geistigen Repertoire der Gruppe gestärkt werden. Durch die Entfremdung von der bisherigen Umwelt und den ausschließlichen Einsatz für die Belange der Organisation bewegt sich ein solcher Mensch in der Gedanken- und Vorstellungswelt der Sekte, der sein Welt- und Menschenbild dem der Sekte angepaßt hat. Das Sektenmitglied wird in ein straff organisiertes System eingegliedert und hat fortan durch seine Arbeitsleistung für die Expansion der Gruppe, vor allem durch das Werben neuer Anhänger, beizutragen. 2 Motive für einen Sektenausstieg Durch die Entwicklung hin zu einer Sektenpersönlichkeit und dem Hintersichlassen der Vergangenheit, kann das vorherige Leben samt seinen Lebensvollzügen nicht vollständig ausgelöscht werden. Die ehemalige Persönlichkeit wird lediglich überlagert. Sobald alte, vielleicht auch positiv anmutende Geschehnisse und Beziehungen an die Oberfläche dringen, müssen diese durch Indoktrination in Form von Lektüre, körperlichen Anstrengungen und Verdrängungsmechanismen zurückgedrängt werden. Zweifel an dem eingeschlagenen Weg kommen vor allem dann auf, wenn die anfängliche Suggestion einer heilen 118 Sektenwelt der Realität nicht standhalten kann, denn die Manipulation der Mitglieder wirkt sich auf deren Psyche aus. So kommt es nicht selten zu Unzufriedenheit und Frustrationen. Bei der Entscheidung für einen Ausstieg aus einem totalitären Sektensystem kommen mehrere Gründe und psychologische Mechanismen zum tragen, die im folgenden durch Erfahrungsberichte von Aussteigern dokumentiert werden sollen. Diese geben neben den Ursachen und Motive für einen Ausstieg zugleich einen deutlichen Einblick in die Realität des Sektenalltags mit den vielfältigen Anforderungen, die ein Mitglied zu erfüllen hat. 2.1 Sektenausstieg bei den Zeugen Jehovas 2.1.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen 2.1.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann Hans-Jürgen Twisselmann bemerkt zahlreiche Unstimmigkeiten und Widersprüche im Lehrsystem sowie im Bereich der Lebenspraxis der Zeugen Jehovas. Der Einsatz der Mitglieder für die Belange der Wachtturm-Organisation stellt für diese eine enorme physische wie psychische Belastung dar. Der Einsatz reicht von mehrmals wöchentlich zu besuchenden Zusammenkünften in den Versammlungen, wobei eine große Bandbreite von Literatur der Sekte erarbeitet werden muß, bis hin zur Mitgliederwerbung in der Öffentlichkeit auf Marktplätzen und den Dienst „von Haus zu Haus“. Wesentlicher Ansporn für den Einsatz im Sinne der Organisation ist die Angst, das ewige Heil nicht zu erlangen. Twisselmann schreibt in diesem Zusammenhang: „Bei uns aber wird der Dienst als das Mittel zur Erlangung der Seligkeit hingestellt: ‚Ohne Felddienst keine Rettung’, heißt die Devise.“370 Das Heil muß verdient werden, indem das Mitglied ein vorgegebenes Leistungspensum zu 370 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43. 119 erledigen hat, das von der Organisation, die als „Sprachrohr Jehovas“ fungiert, vorgegeben ist. Als sich Twisselmann näher mit dieser Lehre beschäftigt, findet er heraus, daß es sich hierbei um eine biblisch nicht begründbare Lehre handelt: „Der Unterschied zur Lehre der Schrift besteht darin: für den biblischen Glauben ist Jesus und seine Erlösungstat das Primäre. Unser Wirken, Dienen und Überwinden ist Frucht seines Verdienstes, also sekundär. Für den ‚Wachtturm’ liegen die Dinge umgekehrt: unser Wirken ist das Primäre, und als Folge wird das ‚Lösegeld Christi’ auf uns ‚angewandt’ – irgendwann nach bestandener Schlußprüfung am Ende der Tausendjahr-Herrschaft Christi.“371 Diese Beobachtung teilt er bald einem anderen Zeugen Jehovas mit, wodurch sich ein reger Gedankenaustausch zwischen den beiden entwickelt, der zu weiteren Entlarvungen von Unstimmigkeiten führt. Durch die Erkenntnis im Bereich der Erlösungslehre kommen Twisselmann weitere Zweifel an der Organisation, die er seinem Mitbruder mitteilt. „Gewiß, sie ist – wie in so mancher Hinsicht – auch hierin weitergegangen, nicht geblieben in der Lehre des Christus’ (2. Joh. 9).“372 Dies trifft vor allem für die sich angemaßte Stellung der Sekte zu, denn trotz der Lehre der WachtturmGesellschaft, Jesus Christus sei Mittler zwischen Gott und Mensch, nimmt die Organisation faktisch die Funktion eines „Sprachrohrs Gottes” ein, die dessen Vorschriften und Befehle an die Gläubigen weitergibt.373 Twisselmann stellt seinem Mitbruder in diesem Zusammenhang die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines solchen Anspruchs. Die Organisation ersetzt die Bedeutung Jesu Christi als Mittler zwischen Gott und Mensch: „Tritt nicht damit der antichristliche Charakter dieser ‚Kanal’Theorie deutlich zutage?“374 Durch zahlreiche Bibelstellen, in denen von Jesus Christus als dem alleinigen Mittler des Vaters die Rede ist, veranschaulicht Twisselmann seinem Mitbruder die Unrechtmäßigkeit des 371 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 45. Ibid., 45f. 373 Die Wachtturm-Gesellschaft nimmt für sich den in einem Gleichnis Jesu vorkommenden Titel „Treuer und verständiger Sklave“ in Anspruch, im Gegensatz zum ungehorsamen Sklaven, mit dem alle nicht zur Wachtturm-Gesellschaft zählenden weltlichen Institutionen gezählt werden, besonders auch die Kirchen. (Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 34f.). 374 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 47. 372 120 Anspruchs der Wachttum-Gesellschaft. Die Entdeckung dieses fundamentalen Irrtums der Sekte, veranlaßt ihn dazu, die Schriften der Gesellschaft von nun an nur noch äußerst kritisch zu betrachten. Er entdeckt dabei eine Reihe bewußt publizierter Verurteilungen und Verleumdungen andersdenkender Menschen. In einer Ausgabe des Wachtturm heißt es: „Schaudert es dich nicht vor der Vernichtung, welche diese alle (Korah und Genossen) ereilte? So wisse, daß jene, die sich wider Jehovas theokratische Anordnungen und Anweisungen (gemeint ist die Wachtturm-Gesellschaft) auflehnten, dem Beispiel Korahs, des Rebellen, folgen und ebenso bestimmt umkommen werden wie er und seine Schar. Wehe Ihnen!“375 Diese Verurteilung Andersdenkender fällt, so Twisselmann, auf die WTG selbst zurück. Sein Mitbruder versucht sich den anklagenden Äußerungen Twisselmanns zu entziehen und die Organisation in Schutz zu nehmen, indem er die Kritik Twisselmanns als ein „Richten“ über die Organisation darstellt. Jedoch läßt dieser sich nicht zurückhalten und führt weiter aus: „Mein lieber Bruder Braun, erwidere ich ihm, das brauchen wir gar nicht einmal; denn dieses System richtet sich ja selbst mit seinem üblen Richtgeist.“376 Twisselmann macht sich an diesem Punkt offenbar schon über einen Ausstieg aus der Sekte Gedanken, wenn er im Zusammenhang mit dem Richtgeist der Gruppe erwähnt: „Wenn du und ich früher oder später dieser Gesellschaft endgültig den Rücken kehren werden, wird man uns wie Tausenden vor uns das Urteil der ‚ewigen Vernichtung’ sprechen.“377 Nachdem er die Methoden der Sekte durchschaut hat, erkennt er auch die Mitgliederwerbung als reinen Selbstzweck der Organisation. Dabei stellt er fest, daß vor betrügerischen Vorgehensweisen nicht zurückgeschreckt wird. „Die Andersdenkenden in der ‚Welt’ und in den christlichen Kreisen will sie ja noch locken. Da kommt sie statt mit der Peitsche auch bisweilen mit Zuckerbrot. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß sie für die, 375 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 48. Ibid.,49. 377 Ibid. 376 121 die sich ihr nicht unterwerfen, und ihre unbiblischen Lehren ablehnen, nur die ewige Vernichtung kennt.“378 Weitere Kritikpunkte sind für Twisselmann die Endzeitberechnungen, die sich im Lauf der Zeit als unzutreffend erwiesen haben. Seine Erkenntnisse in diesem Zusammenhang faßt er so zusammen: „Die meisten Irrtümer der Gesellschaft sind mittelbar oder unmittelbar auf der Grundlage der 1914-Theorie aufgebaut. Mit ihr stehen und fallen sie.“379 Diese fehlerhaften Berechnungen bringen bei Twisselmann schließlich das gesamte Lehrgebäude der WTG zum Einsturz. Er ist nicht mehr bereit, sich nach Lehren und Anweisungen zu richten, die jeglicher vernünftigen Grundlage entbehren. „Nun glaube ich auch nicht mehr an das ganze Endzeit-Lehrgebäude, das die Wachtturm-Gesellschaft auf ihrer These vom Kommen Christi im Jahre 1914 aufgebaut hat.“380 Im weiteren Gesprächsverlauf mit seinem Mitbruder Braun charakterisiert er die WTG als totalitäres System, das durch eine willkürliche Bibelauslegung Legitimation und Herrschaft über Menschen beansprucht. „Die Wachtturm-Gesellschaft hat alles getan, ihre ‚Theokratie’ so herzurichten, daß sie dem Bild der Zeugen Jehovas von der wahren Gottesherrschaft möglichst genau entspricht.“381 Diese Gottesherrschaft zeichnet sich durch entsprechende Merkmale aus. Wo ein König regiert, muß es auch Fürsten geben. 378 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 49. Ibid., 53. Für das Jahr 1914 wurde das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi vorausgesagt. Das Jahr 1914 kam dabei durch eine komplizierte und willkürliche Vermischung verschiedener biblischer Daten zustande. Die Wachtturm-Gesellschaft rechnet folgendermaßen: Nach dem Alten Testament hat König Nebukadnezar sieben Zeiten des Wahnsinns durchlebt. Diese sieben Zeiten entsprechen sieben Jahren. Sieben Jahre umfassen biblisch gesehen 84 Monate bzw. 2.520 Tage, weil jeder Monat auf 30 Tage festgesetzt ist. Ebenso werden in der Offenbarung des Johannes (Offb 12, 6. 14) 1.260 Tage als dreieinhalb Zeiten bezeichnet. Folglich ist eine Zeit als ein Jahr zu definieren. Die Zerstörung Jerusalems wurde fälschlicherweise auf 606 v. Chr. datiert. Ausgehend von diesem Datum setzte die Wachtturmgesellschaft die Wiederkunft Christi für das Jahr 1914 fest. Diese Hypothese ist aber aus zwei Gründen nicht haltbar: Zum einen fand die Zerstörung Jerusalems bereits 586 v. Chr. statt. Zum anderen ergibt sich eine Differenz von etwa 36 Jahren, denn die Wachtturm-Gesellschaft definierte 360 Tage, nicht wie nach heutiger Zeitrechnung 365 Tage, als ein Jahr. (Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 58f.). Als sich die Voraussagen für das Jahr 1914 nicht erfüllten, wurde behauptet, Jesus sei unsichtbar auf der Erde erschienen. Auf diese Weise versuchte man den Irrtum zu vertuschen. 380 Ibid., 55. 381 Ibid., 68. 379 122 Solide Fürsten im Sinne der WTG sind die „theokratischen Männer“382 im Leitungsgremium der Gesellschaft. Diesen Oberen ist absoluter Gehorsam entgegenzubringen. Der angeblich durch göttlichen Ratschluß eingesetzte Präsident, sowie seine Mitarbeiter im Führungsstab der Organisation, verlieren in den Augen Twisselmanns immer mehr an Ansehen, besonders als er erkennt, wie die Entwicklung hin zu einem totalitären System verlaufen ist. Ein Mittel dazu war die Abschaffung aller demokratischen Spielregeln. Er bemerkt in diesem Zusammenhang: „Darum schaffte man in der ‚theokratischen Organisation’ alle parlamentarisch-demokratischen Spielregeln ab. Hat man bis in die zwanziger Jahre hinein die ‚Ältesten’ noch gewählt, so gilt heute das Prinzip der ‚theokratischen Einsetzungen’.“383 Die den Anhängern vorgegaukelte Einheit und durch göttlichen Willen erfolgte Einsetzung der Führung sieht Twisselmann als unzutreffend an. Er begründet dies durch die Feststellung, daß man fast ein Jahr verhandeln mußte, um einen Nachfolger zu finden. Twisselmann schreibt hierzu: „Daß fast ein ganzes Jahr lang über die ‚Reorganisation’ verhandelt werden mußte, bis ein Konsens erreicht wurde, und alle Glieder der ‚leitenden Körperschaft’ zustimmten, könnte als Indiz dafür gewertet werden, daß – bei aller Demonstration von Einheit und Geschlossenheit nach außen hin – hinter den Kulissen in Brooklyn widerstreitende Parteien kräftig miteinander ringen.“384 Auf diese Weise erkennt Twisselmann den von der WTG vorgenommenen Betrug an den Gläubigen. Dies führt zu seinem Entschluß, eine solche Situation nicht länger hinzunehmen und die Organisation zu verlassen. 382 Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 69. Ibid. 384 Ibid., 71f. 383 123 2.1.1.2 Gerd Wunderlich Bei Gerd Wunderlich und seiner Frau verläuft die Entwicklung ein wenig anders. Wunderlich wird erst durch einen Mitbruder bei den Zeugen Jehovas auf zahlreiche Mißstände und Unstimmigkeiten innerhalb der Organisation aufmerksam gemacht. Seine erste Reaktion und auch die seiner Frau ist ein Ignorieren der Kritik des Mitbruders, da dessen Kritik an der Gesellschaft Gottes Anordnungen in Frage stellt, die nach der Überzeugung der Zeugen Jehovas Gott durch seine Organisation den Menschen kundtut. Die Kritik Wunderlichs richtet sich vor allem gegen das schlechte Vorbild im Bereich des menschlichen Miteinanders. Die enormen Leistungsanforderungen und der ständige Leistungsdruck führen bei zahlreichen Gläubigen zu ernsthaften gesundheitlichen Störungen.385 Die kritischen Äußerungen des Mitbruders veranlassen Wunderlich dazu, das Gebaren der Organisation aufmerksamer als bisher zu beobachten. Er macht in diesem Zusammenhang einige Entdeckungen, die er nicht weiter verdrängen kann. Im selben Wohnhaus leben zwei Zeuginnen, die einen Dienst als sogenannte „Sonderpioniere“ versehen. Trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit sind sie unermüdlich im Einsatz für die Wachtturm-Organisation. „Nun gehen die doch in den Felddienst, obwohl sie so sehr erkältet sind, daß sie kaum noch aus den Augen sehen können.“386 Anfangs meint Wunderlich, die beiden Mitschwestern seien übereifrig oder gar fanatisch, wenn er bemerkt: „Also die beiden Pionier-Schwestern sind wirklich fanatisch.“387 Doch bald erkennt er die wahren Gründe dieses Übereifers. Der Dienst der beiden Frauen wird von der WachtturmGesellschaft finanziell vergütet, im Krankheitsfall wird aber jegliche Bezahlung eingestellt. Aufgrund des kargen Lohns für diese belastende 385 Die hohen Anforderungen und der immense Leistungsdruck läßt die WachtturmOrganisation als „Leistungsgesellschaft in der Leistungsgesellschaft“ erscheinen. Vgl. Borchers-Schreiber, Gerd, Vermehrtes Auftreten psychischer Erkrankungen unter Jehovas Zeugen, in: Brücke zum Menschen, Heft 107/108 (1991), 4f. 386 Wunderlich, Gerd, Jehovas Zeugen. Die Paradies-Verkäufer. Erfahrungen auf einem 4 Irrweg, München 1994 , 65. 387 Ibid. 124 Arbeit bleibt ihnen keine andere Wahl, als trotz ihrer Krankheit Dienst zu tun, um finanziell nicht in Bedrängnis zu geraten. Diese Beobachtung führt Wunderlich zu einer weiteren Erkenntnis. „Jetzt verstand ich auch, warum sehr viele Pioniere aus gesundheitlichen Gründen ihren ‚beglückenden’ Dienst aufgeben mußten. Wahrlich, die ‚Früchte’ der Nächstenliebe stehen bei dieser Organisation nur auf dem Papier.“388 Diese rücksichtslose Ausbeutung der Mitglieder durch die WTG stellt Wunderlich noch mehrere Male fest, bis ihm selbst auf einem der Kongresse der Widerspruch zwischen den ethischen Forderungen und der Praxis der Organisation endgültig deutlich wird. Seine anfänglichen an den Kongreß geknüpften Erwartungen beschreibt er so: „Trotz Hitze und harter Arbeit waren wir in guter Stimmung und freuten uns, daß wir an diesem großen Werk für Jehova Gott teilhaben konnten, zumal wir im Herbst den Beginn des neuen Systems erwarteten.“389 Doch ein unerfreulicher Zwischenfall trübt die erfreulichen Erwartungen Wunderlichs. Während er nach Abschluß der körperlich äußerst anstrengenden Aufbauarbeiten für den Kongreß eine kostenlose Mahlzeit erhält, muß ein anderer Zeuge, der ebenfalls hart gearbeitet hat, seine Mahlzeit selbst bezahlen. Als Wunderlich zu intervenieren versucht, wird er mit der Bemerkung zurückgewiesen, man verhalte sich so, weil die WTG nicht allen ein kostenloses Essen geben wolle. Seinen Ärger über eine solche Vorgehensweise drückt er wie folgt aus: „Dieser Vorfall gab mir zu denken. Es ging mir nicht um die 3,50 DM für das Essen, sondern um die Einstellung der Wachtturm-Funktionäre zu ihren Gläubigen. So viel Mißtrauen den eigenen Brüdern gegenüber hatte ich nicht erwartet. Man traute ihnen ohne weiteres zu, sich ein Abendessen zu erschleichen.“390 Diese entlarvende Einstellung der Verantwortlichen kann Wunderlich von nun an immer öfter zu wahrnehmen. Besonders kritische Anfragen an 388 Wunderlich, 65. Ibid. Der Beginn des neuen Systems ist das Ende der Welt, das durch die Vernichtung der nicht zu den Zeugen Jehovas gehörenden Menschen charakterisiert ist. Für die treuen Zeugen soll Gott ein neues Paradies auf Erden schaffen, in dem für immer Frieden herrschen wird. 390 Ibid., 67. 389 125 die Praxis der Organisation rufen Reaktionen der Führung hervor, die Wunderlich zum Teil schockieren. Als ein Mitbruder, Rudolf genannt, in einem Vortrag die wiederholte Übertretung des Sabbatgebotes durch Jesus erwähnt, muß er von den Oberen der Versammlung heftige Kritik und öffentliche Anfeindungen hinnehmen. Am Ende seiner Ausführungen stellte dieser Mitbruder schließlich den von der Organisation geforderten Kadavergehorsam in Frage. „Besonders das Wort ‚Kadavergehorsam’ hatte die Aufseher tief getroffen. Zu dritt wollten sie Rudolf zum Widerruf seiner Ansichten bewegen. Da er ihre Argumente gänzlich widerlegte und sie nichts in ihrem Sinne erreichen konnten, versuchten sie ihn kaltzustellen.“391 Bedingt durch das freundschaftliche Verhältnis zu Rudolf sind Wunderlich und seine Frau sehr betroffen, und weiteres Mißtrauen gegenüber der Leitung der Versammlung stellt sich ein. Dieses Mißtrauen steigert sich, als Rudolf dem Ehepaar Wunderlich unter anderem mitteilt, die Wachtturm-Gesellschaft sei eine Geschäftsfirma, die selbst vor dubiosen Praktiken nicht zurückschrecke. Diese Vorwürfe belegt Rudolf durch eindeutige Beweise. Die von Rudolf vorgebrachten Kritikpunkte gegenüber der WTG faßt Wunderlich in fünf Fragen zusammen392 : • „Ist die WTG eine Geschäftsfirma (Inc.)? • Warum werden in der WT-Literatur gewisse Zitate gegen ihren Sinn gekürzt (gefälscht)? • Sind die ‚Endzeitlehren’ der WTG biblisch begründet? • Ist die Erklärung zur Wehrdienstfrage der Schweizer Zweigbüros der WTG eine Fälschung? • Ist der ‚treue und verständige Sklave’ als ‚Kanal Gottes’ unfehlbar? • Sind Jehovas Zeugen wirklich wahrheitsliebend und aufrichtig?“ Wunderlich bekommt angesichts der Ausführungen seines Freundes immer größere Zweifel an der Aufrichtigkeit der WTG, und die 391 Wunderlich, 68. Die Ältesten drohten Rudolf, ihm alle Aufgaben im Bereich der Versammlung zu entziehen. 392 Ibid., 70. 126 Feststellung, daß die WTG eine Geschäftsfirma sei, wirkte auf ihn und seine Frau wie ein Schock.393 Dank der Argumente Rudolfs durchschaut Wunderlich auch zahlreiche Praktiken der Organisation, worüber er bemerkt: „Jetzt verstand ich auch, warum der Wachtturm-Verlag so viele Bücher herstellt, die wir in den Versammlungen im Eiltempo ‚studieren’ mußten. Mir ging auf, daß die WTG zu den größten Verlagsunternehmen der Welt gehört und durch extrem günstige Herstellungs- und Vertriebsbedingungen, selbst bei den relativ niedrigen Verkaufspreisen, noch erhebliche Gewinne erzielen muß.“394 Wunderlich zieht jedoch noch nicht einen Ausstieg als Konsequenz in Erwägung, da er noch viel zu sehr im System der Organisation verwurzelt ist. Statt dessen wird er sogar befördert und zum „Dienstamtsgehilfen“ ernannt. Doch wirken die einmal erfahrenen Zweifel und Enttäuschungen weiter nach. Als seine kritische Einstellung gegenüber der WTG bekannt wird395 , interveniert die Versammlungsleitung. Sie will jeglicher Kritik und Diskussion über die Unstimmigkeiten entgegenwirken. „Doch die Ältesten unserer Versammlung, die inzwischen von der Pionierschwester Maria H. und deren Freundin Emmy H. informiert worden waren, waren anderer Meinung. Aufgeschreckt durch diese ‚gefährlichen’ Informationen, beschlossen sie deren Verbreitung im Keim zu ersticken.“396 Die Ältesten statten Wunderlich und seiner Frau einen Besuch ab und unterziehen sie einem Verhör, durch das sie deren Überzeugungen in Bezug auf die WTG und ihre Beziehung zum Mitbruder Rudolf klären wollen. Doch es gelingt ihnen nicht, sie für ihre Position zu gewinnen, im Gegenteil, die Ausführungen der Ältesten verstärken die bereits vorhandenen Zweifel Wunderlichs und seiner Frau an der Organisation. „Hatten schon ihre schwachen 393 Argumente und ihr ausweichendes Taktieren unsere Vgl. Wunderlich, 71. Ibid., 72. 395 Zwei Zeuginnen informieren die Oberen der Versammlung über die engen Kontakte Wunderlichs zu dem kritisch eingestellten Mitbruder Rudolf. 396 Wunderlich, 75. 394 127 Bedenken nicht beseitigen können, so wurde unser Mißtrauen erst recht durch diese weiteren Erkenntnisse bestärkt.“397 Als die Ältesten keinerlei Erfolg verzeichnen können, informieren diese den Kreisaufseher, der das Ehepaar Wunderlich bald darauf ebenfalls besucht. Der Kreisaufseher drängt sie zum Eingeständnis ihres angeblichen Irrtums und verläßt die Wohnung nach dem Mißlingen seiner Bemühungen ohne Verabschiedung. Nach wenigen Tagen wird Wunderlichs eine Anklageschrift zugesandt, und sie werden zu einem Verhör vor dem Rechtskomitee vorgeladen. Als die Ältesten die Stichhaltigkeit der Dokumente Wunderlichs398 und dessen Überlegenheit anerkennen müssen, wird Gerd Wunderlich aus der Versammlung ausgeschlossen. Als er dem Rechtskomitee vorwirft, es hätte für den vollzogenen Ausschluß keinerlei rechtskräftige Argumente vorzuweisen und das Verfahren habe ihm und seiner Frau keinerlei positive Ergebnisse gebracht, wird ihm von einem der Ältesten erwidert, dies sei gar nicht die Absicht der Ältesten gewesen. Wunderlich bemerkt in diesem Zusammenhang: „Ich bin ihm heute noch dankbar, daß er durch diese Bloßstellung seiner wahren Beweggründe meiner Frau die letzten Zweifel nahm, die WTG könnte doch die ‚Organisation Gottes’ sein.“399 Nachdem Wunderlichs „das wahre Gesicht“ der Organisation kennengelernt haben, ist eine Trennung von dieser unausweichlich. Das Entsetzen seiner Frau in Bezug auf das Vorgehen der WTG beschreibt Wunderlich wie folgt: „Später sagte sie zu mir, wenn sie nicht 397 Wunderlich, 86. Die Ältesten wenden betrügerische Methoden an, um die Eheleute Wunderlich von der Wahrhaftigkeit der Organisation zu überzeugen. Sie verwenden beispielsweise Zitate namhafter Wissenschaftler, die die Lehren der WTG scheinbar bestätigen. Doch diese Wissenschaftler werden nur in Auszügen zitiert, die sich in das Konzept der Organisation passen. Oder aber wissenschaftliche Erkenntnisse werden vollkommen ignoriert. Wunderlich führt hierzu folgende Begebenheit an: „Schwester Ria F. und meine Frau unterhielten sich einmal über die Entstehung von Kohle und Erdöl. Meine Frau erzählte ihr von den großen Zeiträumen, die dazu nötig waren. Heutzutage kann die Wissenschaft diese Zeitspanne ziemlich genau bestimmen und steht damit im Gegensatz zur Lehre der WT-Gesellschaft. Denn nach ihren Angaben kann pflanzliches Leben nicht älter sein als 48.000 Jahre.“ Die Gesprächspartnerin von Frau Wunderlich meinte, die Wissenschaft müsse sich in diesem Fall eben korrigieren. (Vgl. Wunderlich, 83f.). 398 Er hat dem Rechtskomitee unter anderem zahlreiche Schriften der WTG vorgelegt, in denen Positionen vertreten werden, die inzwischen längst revidiert worden sind. Damit beweist er Relativität und Interpretationsbedürftigkeit der WTG-Publikationen und stellt die Unfehlbarkeit der theokratischen Organisation in Frage. 399 Wunderlich, 141. 128 selbst an dieser Verhandlung vor dem ‚Rechts’- Komitee der Zeugen Jehovas teilgenommen hätte, so hätte sie das niemals geglaubt.“400 2.1.1.3 Monika Deppe Monika Deppe wird bei einem ihrer zahlreichen Hausbesuche von Tür zu Tür von einem Mann auf Unkorrektheiten in der Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas aufmerksam gemacht. Diese Begegnung schildert sie folgendermaßen: „Nachdem wir den Grund unseres Kommens erklärt und ihm eine Zeitschrift angeboten hatten, antwortete er uns: ‚Wissen Sie eigentlich, daß ihre Bibel nicht richtig übersetzt ist? Sie haben den Namen ‚Jehova’ ins Neue Testament übernommen, obwohl er in den griechischen Urschriften nicht genannt wird. In ihnen ist nur der Name ‚Kyrios’ zu finden, während ‚Jehova’ nur im Alten Testament steht’.“401 Frau Deppes Begleitperson entgegnet darauf, die Lutherbibel des Mannes sei nicht exakt übersetzt.402 Doch Monika Deppe weiß den Argumentes des Mannes nichts entgegenzusetzen, während ihre Mitschwester unbeeindruckt bleibt und ihre Argumente wie 403 nachdenklich. gewohnt abspult. Frau Deppe wird jedoch Bei der Durchsicht der WTG-Literatur entdeckt sie bald darauf einen Text, der die Behauptung des Mannes bei ihrem Hausbesuch bestätigt. Sie wendet sich mit ihren Zweifeln über die Korrektheit dieser Behauptung an den Vorstand der Versammlung. Dieser weist ihre Bedenken als unzutreffend zurück. Als sie einem der Ältesten von dem Vorfall an der Haustür berichtet und die entsprechende Publikation der WTG vorlegt, 404 abgewiesen. 400 die dessen Aussage bestätigt, wird sie schroff Durch diese Begebenheit verunsichert, berichtet sie ihrem Wunderlich, 141. Deppe, Monika, Die Zeugen Jehovas. Auch ich habe ihnen geglaubt. Sanfter Einstieg, harter Ausstieg. Ein Lebensbericht, Gießen / Basel 1996, 49. 402 Ibid. 403 Ibid. 404 Ibid., 51. 401 129 Mann von den Ungereimtheiten in der Organisation. Da in den Schriften der Zeugen Jehovas darauf hingewiesen wird, sich im Zweifelsfall an die zuständige deutsche Zentrale der Gesellschaft in Selters zu wenden, bittet Herr Deppe die zuständige Zentrale um eine schriftliche Stellungnahme. Über die Antwort aus dem Büro in Selters ist das Ehepaar allerdings sehr enttäuscht. „Als wir nach einigen Wochen das Antwortschreiben in den Händen hielten, konnten wir es kaum fassen, was wir dort lasen. Mit keiner Silbe wurde auf die Ausführungen der Broschüre eingegangen, sondern man verwies uns auf mehrere ältere Wachtturmartikel, die alle besagten, daß der Name Gottes zu Recht in den griechischen Schriften stand.“405 Diese Erfahrung läßt das Mißtrauen gegenüber der WTG wachsen. „Der Stachel des Zweifels setzte sich tief in uns fest und sollte uns von nun an nie wieder verlassen.“406 Das Ehepaar Deppe nimmt zwar weiterhin an den Veranstaltungen der Organisation teil, allerdings leidet es auch zunehmend an der Eintönigkeit des WTG-Programms. Herr Deppe bemerkt diese Eintönigkeit des öfteren, was seine Frau mit den Worten kommentiert: „Ich verstand ihn gut, auch ich konnte diese ‚Schwarzweißmalerei’ manchmal nicht mehr ertragen.“407 Die definitive „Verteufelung“ der Welt außerhalb der Organisation können Deppes nicht mehr gutheißen. Die Erfahrungen mit den Verantwortlichen, die nicht auf ihre Sorgen eingegangen sind, bewirken bei ihnen eine größere Sensibilität in bezug auf die Herabsetzung und Diskriminierung anderer. Die Diffamierung anderer, besonders der Christen in den Kirchen, nimmt in den Publikationen der WTG einen großen Raum ein. Monika Deppe meint hierzu: „Zu dem Zeitpunkt waren auch wir noch davon überzeugt, daß alle Kirchenchristen einen falschen Glauben hatten und die Gebote Gottes nicht so ernst nahmen wie wir. Aber deshalb hatten wir doch nicht das Recht, sie so zu diskriminieren, wie es auf diesem Bild geschah.“408 405 Deppe, 52. Ibid., 53. 407 Ibid. 408 Ibid., 54f. 406 130 Ein weiterer Sachverhalt, der Monika Deppe stört, sind die zahlreichen Verordnungen und Kontrollen, durch welche versucht wird, das Verhalten der Gläubigen zu lenken. „Wir störten uns daran, daß versucht wurde, durch unzählige Verordnungen das Verhalten der Mitglieder, selbst in deren ganz persönlichen Lebensbereichen, zu beeinflussen.“409 Als Beispiel wird eine Verordnung angeführt, die den männlichen Gläubigen das Tragen eines Bartes untersagt. Als Herr Deppe seinen Bart jedoch nicht entfernt, hat dies Konsequenzen, die Frau Deppe so wiedergibt: „Bei den Wachtturmstudien war es üblich, daß ein Bruder vorn auf der Bühne saß und von dort die einzelnen Abschnitte des Studienartikels vorlas. Ab sofort wurde dieses ‚Vorrecht’ für meinen Mann gestrichen. Auch eine kurze Bibelauslegung, die während der Dienstzusammenkunft immer abgehalten wurde, durfte er als Bartträger nicht mehr halten.“410 Die Einhaltung des von der Organisation vorgegebenen Moralkodex wird genauestens überwacht. Durch die zahlreichen Reglementierungen und das Verbot jeglicher Kritik entfernen sich Frau Deppe und ihr Mann immer weiter von der Gesellschaft der Zeugen Jehovas. „Wieso durften wir keine Kritik äußern? Warum wurden unser persönliches Gewissen und unsere eigene Meinung bei allen Anordnungen völlig übergangen?“411 Ein Unterdrücken und Ignorieren der persönlichen Überzeugungen ist schließlich nicht mehr möglich. Das Ehepaar muß seinem seelischen Befinden Ausdruck verleihen. Dieser Drang nach Klärung der eigenen Position und des zugefügten Unrechts wird durch weitere zu beobachtende Unstimmigkeiten genährt. „Es verging kaum noch eine Woche, in der wir nicht über neue Ungereimtheiten stolperten.“412 Auch als die Ältesten der Versammlung ihnen raten, lediglich Literatur der Organisation zu konsultieren, bleibt dies wirkungslos. Monika Deppe kommentiert die Unsinnigkeit dieses Ratschlags wie folgt: „Wie konnten wir uns führen lassen von Schriftaussagen, die unser gesunder 409 Deppe, 56. Ibid., 59. 411 Ibid., 63. 412 Ibid., 64. 410 131 Menschenverstand anzweifelte? Wir konnten doch unseren eigenen Geist nicht vergewaltigen.“413 Hier stoßen wir auf den Kern der Entfremdung, die zum späteren Bruch mit den Zeugen Jehovas führt. Das Studium organisationsexterner Literatur verhilft dem kritischen Bewußtsein des Ehepaars Deppe zum endgültigen Durchbruch. Die Sektenidentität gerät zunehmend ins Wanken. Nach und nach erkennen sie das Lehrgebäude der WTG als Irrlehre und Betrug an den Gläubigen. Ihre Angst vor den Konsequenzen läßt sie jedoch weiterhin in der Organisation verbleiben. Die Indoktrination, durch welche die Angst vor einer möglichen „Strafe Jehovas“ geschürt wurde, hat sich tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert. Deppes haben Angst davor, bei einem Ausstieg aus der Organisation Gott untreu zu werden, so daß Monika Deppe sagen kann: „Wenn die Zeugen Jehovas tatsächlich den richtigen Glauben hatten, dann würden wir in Harmagedon von Gott erschlagen werden, wenn wir uns von ihnen trennen würden. Dieses Risiko wollten wir auf keinen Fall eingehen.“414 Ein weiterer Grund des Zögerns beruht auf der Tatsache, daß die Versammlung der Ort ist, an dem ihre Bezugspersonen zu finden sind. Sind diese nicht mehr vorhanden, sehen sie keine Möglichkeit mehr, sich über ihren Glauben und ihr Leben auszutauschen. Die Suche nach einem Ausweg stellt eine enorme psychische Belastung dar. In dieser bedrängenden Situation rufen Deppes Gott um Hilfe an. Diese Gebete geben ihnen die Kraft endgültig mit der Sekte zu brechen. 413 414 Deppe, 65. Ibid., 72. 132 2.1.1.4 Barbara Waß Auch für das Ehepaar Waß stellt das Leben als Zeugen Jehovas eine große Belastung dar. Hierüber schreibt Frau Waß: „Es bedeutete, daß wir im Lauf der Zeit unser ganzes zukünftiges Leben mehr und mehr darauf einstellten, daß wir das Königreich an die erste Stelle setzten und alles andere danach ausrichteten.“415 Seit der Geburt des zweiten Kindes wachsen die familiären Herausforderungen, so daß Frau Waß die mehrmals wöchentlich stattfindenden Zusammenkünfte nicht mehr regelmäßig besuchen kann. Doch es besteht eine Anwesenheitspflicht, von welcher eine Dispens nicht möglich ist. Es gibt keine Ausnahmeregelungen für überlastete Mütter mit Kindern. Diese Überbeanspruchung schädigt schnell die Gesundheit von Frau Waß. „Schon damals begann es, daß ich immer, wenn ich in den Dienst zu gehen hatte, Kopfschmerzen bekam.“416 Doch sie findet diese Schmerzen zunächst nicht als beunruhigend. In der Zeit vor 1975 wird viel Einsatz für die Belange der Organisation gefordert, da das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstehen sollen. Dies führt bei einigen Gläubigen aber auch zu bequemen Verhaltensweisen, doch diese werden durch saloppe Redensarten geschickt entschuldigt. „Es hieß immer, wo Menschen sind, da »menschelt« es eben. Das würde aber nichts an der ‚Wahrheit‘ ändern. In der Bibel hieße es ja, daß es in der Zeit des Endes schwer sein würde.“417 Herr Waß wird bald zum Dienstamtsgehilfen und kurz darauf zum Ältesten ernannt, was für ihn erhebliche Mehrarbeit bedeutet. „Das bedeutete, daß er nun neben allem anderen auch Ansprachen und Vorträge auszuarbeiten und vorzubereiten hatte.“418 Nach der Geburt des dritten Kindes gestaltet sich die Situation immer schwieriger. Die drei Kinder werden unter großen Opfern mit zu den Veranstaltungen genommen, wobei das Ehepaar lange und schwer zu bewältigende 415 Waß, Barbara, Leben in der Wahrheit? Zwölf Jahre Zeugin Jehovas, Salzburg 1989, 125. 416 Ibid., 134. 417 Ibid., 140. 418 Ibid., 141. 133 Anfahrtswege zu den Versammlungen auf sich nehmen muß. „Im Winter passierte es uns, daß wir auch noch Schneeketten anlegen mußten und oft gerade noch zurechtkamen. Es konnte auch passieren, daß man gar nicht ganz bis ans Ziel fahren konnte.“419 Alle diese Mühen nehmen Herr und Frau Waß für Jehova in Kauf. Doch eines Tages tritt eine entscheidende Veränderung in ihrem Leben ein. Bei ihrem Dienst von Haus zu Haus macht Barbara Waß die Bekanntschaft einer Frau, die sie als Frau I. bezeichnet. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich im Lauf der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis. Frau I. hat einen schwerbehinderten Sohn, der aufgrund einer Krankheit in die Intensivstation eines Krankenhauses eingeliefert werden muß. Dieser Mutter des kranken und schwerbehinderten Kindes leistet Barbara Waß seelischen Beistand. Entgegen dem Verbot der WTG, Freundschaften mit Ungläubigen zu schließen, ist sie für Frau I. verfügbar, ohne ihre Situation für Bekehrungsversuche im Sinne der WTG zu nutzen. Der Anblick des kranken, durch eine Glasscheibe abgeschirmten Kindes im Krankenhaus löst bei ihr eine entscheidende Reaktion aus, die sie selbst so wiedergibt: „Diese Wand [die Glasscheibe als Symbol einer inneren Wand] hatte ich bei Frau I. zerbrochen. Ich hatte sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt zerbrochen. Das gab mir die Möglichkeit, wieder über all die im Laufe der Jahre aufgebauten Schranken hinauszugehen.“420 Frau Waß wird bewußt, daß ein Zitieren von Wachtturm- und Bibelzitaten nicht die persönliche Zuwendung ersetzen kann, die Frau I. so dringend benötigt. Bald darauf berichtet ihr Mann von merkwürdigen Ereignissen innerhalb seiner Tätigkeit als Ältester der Versammlung, wodurch er in einen inneren Konflikt gerät. „Er mußte die Brüder von der Bühne her zu Tätigkeiten ermuntern, wenn nicht gar antreiben, die er selber nicht für richtig hielt.“421 Dieser innere Widerspruch veranlaßt ihn, Kontakt zu einem anderen Zeugen Jehovas aufzunehmen, der zu einem regen Austausch führt, bei dem Unzufriedenheit und Enttäuschung über die WTG zur Sprache gebracht werden. Barbara Waß schreibt hierzu: „In 419 Waß, 143. Ibid., 198. 421 Ibid., 202. 420 134 der Folge wurde zwischen uns Freunden öfters über manche Dinge gesprochen, die uns zu denken gaben.“422 Bei den Missionseinsätzen müssen die beiden Zeitschriften der Sekte, nämlich „Der Wachtturm“ und „Erwachet“, angeboten werden. Dabei werden die aktiven Zeugen dazu angehalten, ältere und oft nicht mehr aktuelle Literatur zu verkaufen. Dies bestärkt bei Familie Waß den Eindruck der kommerziellen Zielsetzung der WTG. Als sie den Ältesten gegenüber ihren Unwillen über diese Praxis äußert, wird sie zu Treue und Unterordnung angehalten. Vor allem aber wird ihnen mitgeteilt, sie hätten selbst bei eventuellen Irrtümern der Gesellschaft Gehorsam zu leisten. Diese Äußerungen lösen bei Barbara Waß eine große Bestürzung aus. „Das war zu viel für mich. Ich konnte das nicht einsehen.“423 Durch die zahlreichen kritische Anfragen kommen den Oberen der Versammlung Zweifel an der Loyalität von Herrn und Frau Waß der Organisation gegenüber. Um ihre wahre Einstellung gegenüber der WTG zu ermitteln, greifen die Oberen zu unlauteren Mitteln. Sie schicken zwei Frauen aus den Reihen der Versammlung zu Familie Waß. Diese geben vor, ein vertrauliches Gespräch mit Herrn Waß führen zu wollen, durch welches sie seine Ansichten über die Gesellschaft auskundschaften wollen. Dieses Gespräch nehmen sie unbemerkt auf Band auf.424 Frau Waß erwähnt in diesem Zusammenhang eine andere noch weit raffiniertere Vorgehensweise. „Von uns weg gingen sie zu einem anderen Ältesten, der schon ziemlich alt war, und inszenierten dort das gleiche. Als das Band zu Ende war, redeten sie dem Bruder ein, es hätte an der Tür geläutet. Als er nachschauen ging, drehten sie das Band um.“425 Ihren Ärger und ihre Enttäuschung über diese Praktiken bringt Frau Waß zum Ausdruck, indem sie bemerkt: „Wir hätten nie geglaubt, daß es unter Zeugen Jehovas solche Methoden gibt.“426 422 Waß, 203. Ibid., 204. 424 „Es sollte vertraulich sein. Was mein Mann nicht wußte und was er nie für möglich gehalten hätte, war, daß die beiden Frauen dieses ‚vertrauliche‘ Gespräch auf Band aufgenommen hatten.“ (Waß, 208). 425 Ibid., 208f. 426 Ibid., 209. 423 135 Als sie wegen angeblicher Nachlässigkeiten bei den Bemühungen um Frau I.,427 die bereits wiederholt an den Zusammenkünften der Zeugen Jehovas teilgenommen hat, getadelt wird, beschließt sie, sich nicht länger bevormunden zu lassen. Sie rechtfertigt das unregelmäßige Erscheinen von Frau I. in der Versammlung und äußert Verständnis für deren Probleme. Schrittweise trifft sie ihre Entscheidungen unabhängig von den Vorschriften der Ältesten, weil sie selbst die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen will. Sie schreibt: „Ich war nun nicht mehr bereit, mich bei allem bevormunden zu lassen. Ich wollte selbst die Verantwortung für mein Handeln tragen.“428 So rufen die Freundschaft zu Frau I. und die Wahrnehmung ihrer Sorgen und Nöte bei Barbara Waß das Verlangen hervor, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gelingt ihr zunehmend, die Kritik anderer Zeugen Jehovas zu ignorieren. „Von jetzt an kümmerte ich mich gar nicht mehr um mißbilligende Gesichter und auch nicht um gewisse Äußerungen. Besonders nicht, wenn es um Frau I. ging. Ich allein kannte ihre wirkliche Situation, und ich verstand sie auch.“429 Barbara Waß enthüllt Frau I. auch zunehmend ihre Bedenken gegenüber der Wachtturm-Gesellschaft, obwohl sie damit alle bisherigen Bemühungen, sie für die Organisation zu gewinnen, zunichte machen kann. „So berichtete ich ihr, wenn auch schweren Herzens, von den Dingen, die nicht so waren, wie sie hätten sein sollen.“430 Wirkliche Freundschaften sind bei Jehovas Zeugen selten, denn die Beziehungen untereinander dienen im wesentlichen der gegenseitigen Bespitzelung. Außer zu Frau I. stehen Herr und Frau Waß auch in engem Kontakt zu einer anderen Familie, welche ebenfalls Widersprüche innerhalb der WTG entdeckt hat, dies jedoch aus Furcht vor möglichen Konsequenzen nie publik gemacht hat. Barbara Waß schreibt über die Beziehung zu dieser Familie: „Wie gut war es da, jemanden zu haben, mit 427 Frau I. konnte aus zeitlichen Gründen nicht so oft an den Zusammenkünften teilnehmen und fühlte sich aufgrund ihrer schwierigen Lebensumstände auch nicht immer dazu in der Lage. Sie benötigte viel Zeit und Energie, um ihren schwerbehinderten Sohn zu versorgen. 428 Waß, 213. 429 Ibid., 214. 430 Ibid., 215. 136 dem man offen reden konnte, dem man vertrauen konnte. In der Versammlung gab es sonst niemanden, obwohl sicher auch andere ihre Zweifel hatten. In dieser Situation Freunde zu haben, mit denen man wirklich offen reden konnte, auf die man bauen konnte, das war unendlich wertvoll.“431 Obwohl der nähere Umgang mit Nicht-Zeugen strengstens untersagt ist, nehmen Herr und Frau Waß nach der Rückkehr aus dem Urlaub eine Einladung von Verwandten von Frau I. an. Diese Begegnung mit von der WTG geächteten Menschen, hinterläßt einen tiefen Eindruck und beseitigt die Voreingenommenheit von Familie Waß gegenüber Andersgläubigen. „Nun stellten wir fest, daß diese Menschen bestimmt nicht anders waren als die Brüder.“432 Es wird ihnen auch bewußt, welchen Realitätsverlust sie durch das Leben in der WTG erlitten haben. „Wir stellten fest, daß wir alle Übersicht über das normale Leben verloren hatten, daß wir einseitig denken gelernt hatten.“433 Barbara Waß liest mit Frau I. auch die Bibel, ohne sich dabei um die Literatur der Organisation zu kümmern. Dabei lernte sie zum ersten Mal die durch die WTG-Literatur verzerrten Texte der Bibel in ihrem wahren Zusammenhang kennen. „Wir lernten beide viel dabei,“ schreibt sie.434 Dieses Bibelstudium veranlaßt sie zu einer vorbehaltlosen Ehrlichkeit Frau I. gegenüber. „Ich erzählte Frau I. jetzt ganz offen von den Problemen, die es gab. Ich wollte ehrlich zu ihr sein und ihr nichts vormachen.“435 Bei einer bald folgenden Veranstaltung der Sekte entschuldigt sich ein Ältester öffentlich für den der Gesellschaft unterlaufenen Irrtum bei der Berechnung der Endzeittermine, da diese sich nach den Berechnungen für die Jahre 1974 und später 1975 im Jahr 1980 immer noch nicht bewahrheitet hatten. Frau Waß kommentiert dieses Eingeständnis mit den Worten: „Für mich war das eine Wohltat. Doch in der Versammlung schlug es ein wie eine Bombe.“436 431 Waß, 216. Ibid. 433 Ibid. 434 Ibid., 219. 435 Ibid. 436 Ibid., 221. 432 137 Anfeindungen durch linientreue Zeugen veranlassen diesen Ältesten, sein Amt niederzulegen. Als Frau Waß einen anderen Ältesten, der mit diesem anscheinend gute Beziehungen unterhält, fragt, weshalb er den angefeindeten Mitbruder nicht unterstütze, bekommt sie zur Antwort, es gebe in der Wahrheit keinen Freund.437 Diese Aussage löst bei ihr einen Schock aus. Schließlich wird der von seinem Amt zurückgetretene Älteste in der Versammlung öffentlich verleumdet, weshalb Herr Waß sein Amt aus Protest ebenfalls niederlegt. Für Barbara Waß sind diese Vorgänge nur schwer zu verkraften. „Ich versuchte, alles hinunterzuschlucken, doch es gelang mir nicht.“438 Schließlich meldet auch sie sich zu Wort, um ihren Protest offen kundzutun, jedoch wird sie schroff zurechtgewiesen. „Eine Frau hätte sich unterzuordnen und zu schweigen. Damit war für den Ältesten die Sache abgetan.“439 Doch auf Grund dieser Erlebnisse will Familie Waß die üblen Praktiken der WTG nicht mehr länger hinnehmen. Barbara Waß erkennt auch bald das wahre Gesicht der WTG und stellt fest: „Sie [die WTG] war alles, ja sie war eigentlich das ‚goldene Kalb‘, das angebetet wurde. Man mußte ganz untertan sein, jedwede Kritik war unmöglich und wurde gleich als Rebellion ausgelegt.“440 Es wären noch zahlreiche andere enttäuschende Begebenheiten zu berichten, doch reichen die geschilderten Erlebnisse aus, um zu verdeutlichen, warum Barbara Waß und ihr Mann die Zeugen Jehovas verlassen haben. Barbara Waß bemerkt im Hinblick auf ihre Erfahrungen: „Das alles half, uns mehr und mehr über alles klar zu werden und uns abzusetzen.“441 437 Vgl. Waß, 222. Ibid., 225. 439 Ibid., 225ff. 440 Ibid. 441 Ibid., 232f. 438 138 2.1.2 Konkrete Schritte aus der Sekte 2.1.2.1 Hans-Jürgen Twisselmann Nachdem Twisselmann die Unvereinbarkeit zwischen den Lehren der Wachtturm-Gesellschaft und den Aussagen der Bibel festgestellt und seinem Mitbruder Braun seine zahlreichen Kritikpunkte dargelegt hat, zieht er Konsequenzen. Ein erster Schritt besteht darin, daß er zusammen mit Herrn Braun und anderen der Organisation kritisch eingestellten Zeugen Jehovas eigenständige Zusammenkünfte mit Bibelstudium veranstaltet. „Nach einigen Wochen“, schreibt Twisselmann, „sind es etwa fünfzehn, die sich getrennt von der ‚Neuen-Welt-Gesellschaft’ versammeln.“442 Die Erkenntnis, daß die Organisation nicht die Lehren und den Glauben der frühen Christengemeinden verkündigt und der Drang, den apostolischen Glauben zusammen mit den zweifelnden Mitbrüdern wiederzuentdecken, geben der Gruppe die innere Kraft, den folgenden Anfeindungen der anderen, linientreuen Zeugen, entgegenzutreten. Twisselmann beschreibt diesen Sachverhalt so: „In diesen Tagen und Wochen zerreißen in der Kraft des Herrn selbst solche die ehernen Fesseln der Wachtturm-Gesellschaft, von denen es kaum jemand geglaubt hätte. Da befreit der Herr Menschen, die als so schüchtern und still galten, daß niemand ihnen zutraute, daß gerade sie allen WachtturmVerdammungsurteilen und Gerichtsandrohungen zum Trotz den Weg des persönlichen Glaubensgehorsams gehen würden.“443 Twisselmann verfaßt einen Brief an die Wachtturm Bibel- und TraktatGesellschaft und legt darin den Vorrang des Erlösungsgeschehens im Gegensatz zur Leistungsfrömmigkeit und dessen Bedeutung für den Glauben dar. Er betont dabei die Verantwortung vor Gott und seinem Gewissen gegenüber und schreibt dem deutschen Büro der WTG: „Liebe Brüder, ich schreibe Euch diese Zeilen, weil ich mich vor meinem Gewissen und vor Jehova, unserem Gott, dazu verpflichtet fühle.“444 442 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 73. Ibid. 444 Ibid., 75. 443 139 Das deutsche Büro der Organisation antwortet erst nach mehreren Wochen und teilt ihm mit, sein Brief sei an einen Bezirksdiener weitergeleitet worden, der in einigen Wochen in der Kreisversammlung zu einem Gespräch in dieser Angelegenheit bereit sei.445 Twisselmann lehnt dieses Angebot jedoch ab und zeigt dadurch, wie weit er sich innerlich schon von der Organisation entfernt hat. „Da ich aus Gewissensgründen an diesen Versammlungen der Wachtturm-‚Theokratie’ nicht mehr teilnehmen kann, bin ich nicht gewillt, die lange Fahrt dorthin zurückzulegen, nur um mir einige Zurechtweisungen wegen meiner Ketzereien geben zu lassen.“446 Kurze Zeit darauf stattet der Bezirksaufseher Twisselmann einen Überraschungsbesuch ab und versucht, ihn von der Richtigkeit der WTGLehren zu überzeugen, jedoch ohne Erfolg. „Aber die schlagfertigste Argumentation und die schlausten Versuche, den Wachtturm-Theorien zum Recht zu verhelfen, vermögen mich nicht zu überzeugen, daß der schlichte Glaube an das klare Gotteswort falsch, die dem Worte widersprechenden Wachtturm-Lehren aber richtig sein sollen.“447 Am Ende der erfolglos verlaufenden Diskussion befragt der Bezirksaufseher Twisselmann über seine Zukunftspläne, worauf dieser bemerkt, er werde das Evangelium verkünden und nicht länger „Wachtturm-Sonderlehren und Irrtümer“.448 Twisselmann wird daraufhin vom Versammlungs-Komitee vorgeladen, zu dessen Sitzung er aber nicht erscheint, was er in seinem Buch folgendermaßen begründet: „Wäre nicht auch schon ein Erscheinen vor diesem Gerichtskomitee eine ‚De jureAnerkennung’ ihrer Richteransprüche, für die sie durchaus keine göttliche Vollmacht besitzt? Eine Organisation, die den apostolischen Glauben nicht vertritt, hat auch keine apostolische Vollmacht. Darum lehne ich es ab, vor dem Wachtturm-Komitee zu erscheinen. Hinzu kommt, daß berufliche Aufgaben mich am Erscheinen hindern.“449 445 Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 76. Ibid. 447 Ibid., 77f. 448 Ibid. 449 Ibid., 78. 446 140 Er legt seine Kritikpunkte auch in einem Schreiben dar, das er an das zuständige Versammlungskomitee sendet. Jetzt wird er aus der Organisation ausgeschlossen. Die von der WT-Gesellschaft verfügte Exkommunikation und seine Entrüstung über die Methoden der Sekte bringt er wie folgt zum Ausdruck: „So also reagiert die ‚Neue-WeltGesellschaft’, wenn einer ihrer Anhänger es wagt, selbständig zu denken, Gottes Wort zu erforschen und daran zu glauben. So handelt sie, wenn ein Zeuge Jehovas Gott mehr glaubt, als der Wachtturm-Gesellschaft (Apg 5, 29). Und dieser neuzeitliche religiöse Totalitarismus wagt es, als Hüter und Vorkämpfer der Glaubens- und Gewissensfreiheit aufzutreten. Er kämpft vor weltlichen Gerichten so lange um die ‚Freiheit der Anbetung’, wie er sie selbst noch nicht hat, um diese Freiheit sofort abzuwürgen, wo er die Freiheit zu seiner eigenen Machtentfaltung besitzt.“450 Diese Zeilen charakterisieren gut den Konflikt zwischen der Freiheit des Gewissens und dem religiösen Totalitarismus der WachtturmGesellschaft. 2.1.2.2 Gerd Wunderlich Auch Gerd Wunderlich wird als Ergebnis der Verhandlung des Rechtskomitees aus der Organisation ausgeschlossen, worauf er gegen dieses Urteil Berufung einlegt. Einige Wochen später findet die Berufungsverhandlung statt. Die Wochen bis zu dieser zweiten Verhandlung sind jedoch von zahlreichen Schikanen seitens der Versammlung begleitet. Als das Urteil des Komitees den anderen Gläubigen bekannt wird, distanzieren sich diese von ihrem bisherigen Mitbruder Gerd Wunderlich. Seine Frau ist allerdings noch nicht aus der Organisation ausgeschlossen worden und unterhält noch einige Kontakte zu anderen Zeugen. Sie berichtet diesen Männern und Frauen von den diktatorischen und verleumderischen Methoden der Oberen während des Prozesses und versetzt damit einige Mitbrüder ebenfalls in Unruhe. Doch 450 Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 81. 141 gelingt es der Leitung diese wieder zu beschwichtigen, was Gerd Wunderlich wie folgt kommentiert: „Den Ältesten blieb jetzt nichts anderes übrig, als mit gewohnten diktatorischen Maßnahmen die Ruhe wiederherzustellen. So wurden unter anderem die beunruhigten Brüder aufgefordert, nicht mehr mit uns zu sprechen. Wenn wir am Telefon wären, sollten sie sofort den Hörer auflegen.“451 Seine Frau wird, obwohl sie nicht ausgeschlossen worden ist, in eine Außenseiterrolle gedrängt und von ihren Mitschwestern mit Gleichgültigkeit und Nichtbeachtung bestraft. „Auch von meiner Frau zog man sich immer mehr zurück. So wurde sie von ihren Glaubensschwestern nicht mehr gegrüßt, wenn man sie auf der Straße traf. Darunter waren ‚Schwestern‘, mit denen sie seit Jahren gemeinsam in den Felddienst gegangen war.“452 Selbst die Verwandtschaft der Eheleute Wunderlich, soweit sie Mitglied der Sekte ist, distanziert sich von ihnen, und so wird die Auseinandersetzung mit der WTG zu einer Zerreißprobe im familiären Bereich. Auch nach der Bestätigung des Ausschlusses von Gerd Wunderlich als Ergebnis der Berufungsverhandlung wird er von anderen noch aktiven Gläubigen, die er viele Jahre kennt, verleumdet. Als ein solcher Zeuge von einem Passanten, der durch die Aufklärungsarbeit Wunderlichs auf Irrtümer im System der WTG aufmerksam gemacht worden ist, auf Unstimmigkeiten im Lehrsystem der WTG hingewiesen wird, wertet dieser die Darlegungen Wunderlichs ab, indem er dem Passanten dessen angeblich fragwürdige Vergangenheit entgegenhält. Doch Wunderlich selbst, der dies erfährt, bemerkt hierzu: „Die Familie von Gustav F. und wir kannten uns durch die Versammlung seit dreizehn Jahren. Ihm war sehr wohl bekannt, daß ich wegen meiner Überzeugung als Zeuge Jehovas keinen Wehrdienst und keinen Wehrersatzdienst leisten durfte. Er wußte ganz genau, daß ich nur aus diesem Grund im Gefängnis war. Dennoch versuchte er, bei dem Passanten den Eindruck 451 452 Wunderlich, 145. Ibid., 146. 142 zu erwecken, ich hätte eine kriminelle Vergangenheit und sei deshalb unglaubwürdig.“ 453 Die Berufungsverhandlung erweist sich als eine weitere Form der Diskriminierung. Durch die Festlegung des Verhandlungsverlaufs und die Unterdrückung jeglicher Kritik an der Organisation wird ihm nicht gestattet, sein gesammeltes Beweismaterial zu seiner Verteidigung gegen die WTG zu verwenden, weil dadurch die gegen ihn vorgebrachten Anklagen der WTG widerlegt werden könnten.454 Der Beschluß der ersten Verhandlung, nämlich der Ausschluß Wunderlichs, wird am Ende der Berufungsverhandlung bestätigt. Das Ehepaar Wunderlich versucht, nach dem offiziellen Ausschluß von Gerd durch das Rechtskomitee der Organisation auch die amtliche Eintragung als „Zeuge Jehovas“ aus dem Familienstammbuch zu tilgen. Doch gibt es hierbei unvorhergesehene bürokratische Schwierigkeiten. „Da die Wachtturm-Gesellschaft – gleichbedeutend mit Jehovas Zeugen – keine Körperschaft öffentlichen Rechts ist, ist es nicht möglich, auf dem Amtsgericht seinen Austritt aus dieser Gesellschaft zu erklären, wie das z. B. bei den Großkirchen der Fall ist.“455 Um die Eintragung „Zeuge Jehovas“ im Familienstammbuch löschen zu können, wird eine Austrittsbestätigung verlangt. Daher ersucht Wunderlich, die zuständige Abteilung der WTG schriftlich, ihm die erforderliche Austrittsbestätigung auszustellen. Als er nach Ablauf mehrerer Wochen noch immer keine Antwort erhält, schickt er der WTG eine Mahnung. Daraufhin erhält er die Mitteilung, daß die Ausschlußerklärung des Versammlungskomitees als Austrittsbestätigung zu werten sei. Eine schriftliche Bestätigung dieser Mitteilung wird ihm jedoch verweigert. Wunderlich wendet sich anschließend an den Versammlungsaufseher, aber auch dieser weigert sich, seiner Bitte um Zusendung einer Austrittsbestätigung nachzukommen, so daß er seinen 453 Wunderlich, 172. Wunderlich schreibt über diese Vorgehensweise: „Ich sagte schon, daß ich nach diesen bedeutungsvollen Worten des Aufsehers die Verhandlung hätte ablehnen und verlassen sollen. Denn das war wirklich ein starkes Stück, Anklage wegen ‚Verbreiten falscher Lehren und Schriften‘ zu erheben und dann zu erklären, es sei nicht Sache des Verfahrens, das Beweismaterial zu prüfen.“ (Wunderlich, 157). 455 Wunderlich, 184. 454 143 Brief mit der Vermerk „Annahme verweigert“ zurückerhält.456 Erst nach einer weiteren Aufforderung wird ihm die Bescheinigung dann doch noch durch das WTG-Büro zugesandt. Doch die negativen Machenschaften der Sekte sind damit noch nicht beendet. Frau Wunderlich, die wie ihr Mann die Sekte verlassen möchte, erbittet ebenfalls eine solche Austrittsbescheinigung. Doch nun bekommt auch sie die Schikanen der Organisation zu spüren. In ihrem Fall bestreitet die WTG schlicht, daß sie überhaupt bei ihnen Mitglied sei, was sie und ihren Mann mit Bestürzung und Zorn erfüllt. Herr Wunderlich stellt entgegen dieser Behauptung der WTG ganz klar fest: „Meine Frau war schon im Kindesalter als Zeugin Jehovas erzogen worden, ich selbst war, ohne die Zeit, in der mich Großmutter in der WT-Lehre unterrichtet hatte, achtzehn Jahre dabei gewesen.“457 Als Frau Wunderlich in einem Schreiben an die WTG deutlich herausstellt, daß sie Beweismaterial für ihre aktive Mitgliedschaft vorweisen könne, reagiert die WTG prompt. Gerd Wunderlich bemerkt hierzu: „Mit diesem Brief mußte die WTG begreifen, daß wir es ernst meinten. Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten, entweder es darauf ankommen zu lassen und einen Prozeß zu riskieren oder meiner Frau die gewünschte Bescheinigung über ihren freiwilligen Austritt zu geben.“458 Nach langem Zögern läßt die WTG Frau Wunderlich die mehrmals angeforderte Bescheinigung endlich zukommen. Die damit verbundene Manipulationstaktik der Organisation veranlaßt Gerd Wunderlich zu folgendem Kommentar: „Der Briefkopf war aber offensichtlich rückdatiert worden, da zwischen Briefdatum (6.5.77) und Poststempel (13.5.77) sieben Tage liegen. Durch diese plumpe Manipulation sollte wohl unsere Mahnung gegenstandslos gemacht werden. Das ganze war so durchsichtig, daß wir uns fragten, ob die Bockenheimer Aufseher ihr Gesicht gegenüber uns oder ihren eigenen Vorgesetzten in Wiesbaden wahren wollten. Vielleicht haben sie aber auch nur die genauen Anweisungen der WTG ausgeführt. Nach allem, was wir bisher erlebten, 456 Vgl. Wunderlich, 185. Wunderlich, 185 458 Ibid., 189. 457 144 halten wir die letzte Möglichkeit für die wahrscheinlichste.“459 Nach Erhalt der Austrittsbescheinigung kann er beim Standesamt die langersehnte Löschung des Eintrags „Zeuge Jehovas“ vornehmen lassen. 2.1.2.3 Monika Deppe Monika Deppe und ihr Mann sind in der WTG einem immensen psychischen Druck ausgesetzt. Frau Deppe bricht oft in hemmungsloses Weinen aus, weil sie den seelischen Druck und diese innere Zerrissenheit nicht mehr ertragen kann.460 Seit sie von den Zweifeln geplagt werden, besuchen die Eheleute die Veranstaltungen der Sekte nicht mehr. Auch der Sohn, der unter den Problemen seiner Eltern sehr leidet, erklärt seinen Eltern, er weigere sich an den Zusammenkünften einer Organisation teilzunehmen, die bei ihren Mitgliedern ein derartiges seelisches Leid hervorrufe.461 Dieser enge Zusammenhalt der Familienmitglieder ist für Frau Deppe eine große Stütze. Sie sucht aber vor allem Zuflucht in ihren Gebeten, in denen sie Gott bittet, er möge ihr einen Ausweg aus der unerträglichen Situation zeigen.462 Ihre Gebete sollen bald schon Wirkung zeigen. Bei einem seiner Hausbesuche begegnet Herr Deppe einem Mann, dem er von seinen Zweifeln in Bezug auf die Organisation berichtet und der sich sofort an die Versammlungsoberen wendet, was zur offenen Konfrontation und zum baldigen Ausschluß aus der Versammlung führt. Die Eltern erhalten zunächst eine Vorladung vor das Rechtskomitee der Versammlung, doch sie kommen der Aufforderung der Ältesten nicht 459 Wunderlich, 190. Vgl. Deppe, 73. 461 Ibid. Der Sohn soll sich nach den Angaben seiner Mutter so geäußert haben: „Wenn ich das sehe, was ihr für Probleme habt und wie ihr von euren Geschwistern behandelt werdet, dann kann ich nicht mehr glauben, daß das Christen sind. Ich gehe nicht mehr mit in die Versammlungen!“ 462 Ibid., 74. Monika Deppe berichtet von ihren eindringlichen Gebeten. Eines dieser Gebete lautet: „Vater, ich kann so nicht weiterleben! Wenn diese Organisation wirklich dein Volk ist, dann hilf uns, daß wir wieder mit frohem Herzen in die Versammlungen gehen können. Aber wenn dieser Glauben falsch ist, dann bewirke du, daß man uns ausschließt aus der Versammlung!“ Dieses Gebet hilft ihr, ihre Ruhe 460 145 nach, weil sie sich bereits sehr weit von den Methoden und Vorgehensweisen der WTG und ihrer Lehren distanziert haben. „Wir erklärten am Telefon, daß wir zu weiteren Gesprächen nicht mehr bereit seien und auch nicht mehr in den Königreichssaal kommen würden.“463 Nach diesem Telefongespräch, das die der WTG ohnehin bekannte Einstellung von Familie Deppe der Organisation gegenüber bestätigt, erfolgt der prompte Ausschluß aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas. Alle Familienmitglieder empfinden diesen Ausschluß als eine große Erleichterung. Auch die Ächtung durch die noch aktiven Mitglieder der Versammlung und ein letzter Versuch, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden, bleiben wirkungslos. Monika Deppe wertet den Ausschluß als letzten Versuch der Versammlung, ihr und ihrer Familie ein schlechtes Gewissen einzureden. Sie bezeichnet ihn als „letztes Druckmittel“, mit dem die Sekte versucht, Kontrolle über das Leben ihrer Mitglieder auszuüben. Für die Zeugen Jehovas ist dieser Ausschluß ein Verdammungsurteil. Die Sicht der Zeugen Jehovas gibt sie so wieder: „Ihr seid von nun an ausgestoßene Personen! Euer Gott Jehova, an den ihr jahrelang geglaubt habt, will nichts mehr mit euch zu tun haben! Euer ewiges Leben, für das ihr so viel geopfert habt, habt ihr verspielt, weil ihr euch getrennt habt vom auserwählten Volk Gottes! Von nun an steht ihr im Machtbereich des Satans!“ 464 Für die Familie ist vor allem wichtig, wieder ein freies und von der WTG unabhängiges Leben führen zu können.465 Der enorme Leidensdruck und der tiefe Zusammenhalt der Familie sind entscheidende Faktoren, die den Bruch mit der Sekte ermöglichten. Monika Deppe hebt deutlich hervor: „Wir sind noch heute dankbar dafür, daß wir diesen Weg durch alle Höhen und Tiefen gemeinsam gegangen sind und unsere Ehe dabei niemals aufs Spiel gesetzt wurde.“466 wiederzuerlangen und dabei die Angst vor einem möglichen Austritt aus der Organisation zu verringern. 463 Deppe, 75. 464 Ibid., 76. 465 „Nach ziemlich genau sechs Jahren Sektenmitgliedschaft (wir waren im Dezember 1979 getauft und im Dezember 1985 wieder ausgeschlossen worden) waren wir wieder Menschen, die frei über ihr Leben und ihren Glauben entscheiden konnten.“ (Deppe, 77). 466 Deppe,77. 146 2.1.2.4 Barbara Waß Nachdem die Ältesten der Versammlung mißtrauisch geworden sind, versuchen sie das in der Wohnung der Familie Waß stattfindende Bibelstudium zu verbieten. Die Oberen der Versammlung wollen auf diese Weise die übrigen Mitglieder der Sekte dem schädlichen Einfluß der Organisationskritiker Waß entziehen.467 Eines Tages wird bei einem solchen Schriftstudium ein von der WTG neu herausgegebenes Buch mit dem Titel „Wähle den besten Lebensweg“ studiert. Die Auseinandersetzung mit diesem Buch hat für Barbara Waß einschneidende Folgen. In diesem Buch wird die Unterordnung unter die Organisation Jehovas als bester Lebensweg dargestellt.468 Diese Behauptung macht Frau Waß hellhörig, da sie bemerkt, daß alle, die es wagen, Kritik zu üben, aufs schärfste verurteilt werden. Ihnen wird sogar die Vernichtung prophezeit. Herr Waß, der das Studium leitet, muß erkennen, daß er und seine Frau zu den Personen gehören, denen dieses Schicksal droht.469 Dieser Studientag hat die Konsequenz, daß das Ehepaar Waß künftig jeden weiteren Einsatz für die Organisation ablehnt, was den Schriftleiter zu dem Versuch veranlaßt, ihre Kinder für die Sekte zu gewinnen. Doch die Kinder durchschauen die manipulativen Absichten des Schrifleiters und stellen sich auf die Seite ihrer Eltern. Nachdem der Schriftleiter seine Niederlage eingesehen hat, bestimmen die Oberen der Versammlung sofort einen anderen Ort für das künftige Schriftstudium. Die gegenseitige Entfremdung ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß Barbara Waß bemerkt: „Wir, Familie B. und Frau I. gingen nicht mehr hin.“470 Das Fernbleiben von den Zusammenkünften erleben diese Menschen zunehmend als wohltuend. Allmählich findet auch eine Veränderung ihres Denkens statt. „Langsam begannen wir unser Gedankengut zu revidieren. 467 Da keine der Personenzahl angemessene Wohnung für das privat durchgeführte Schriftstudium gefunden wird, müssen die Ältesten tolerieren, daß dieses noch einige Zeit bei Familie Waß stattfindet. 468 Vgl. Waß, 233. 469 Ibid., 234. 470 Ibid., 234f. 147 Hatten wir früher immer gedacht, es würde uns etwas fehlen, wenn wir die Zusammenkünfte nicht mehr besuchten, so stellten wir jetzt fest, daß es eine Wohltat war, einmal nicht weggehen zu müssen. Besonders für die Kinder war es eine ganz große Erleichterung. Endlich konnten sie in Ruhe ihre Aufgaben machen und auch spielen.“471 Die offizielle Trennung von der Organisation haben Herr und Frau Waß allerdings noch nicht vollzogen. Die Ältesten versuchen aber ihrerseits der erwarteten Austrittserklärung durch einen Ausschluß zuvorzukommen. Doch Familie Waß weigert sich, zu dem vom Rechtskomitee anberaumten Verhör, das einem Ausschluß vorangehen muß, zu erscheinen. Sie ist nicht länger bereit, sich den Anordnungen der Wachtturm-Gesellschaft zu unterwerfen.472 Dies veranlaßt die Ältesten als Mitglieder des Rechtskomitees zu einem Hausbesuch, bei dem sie auch die Freundin von Barbara Waß, Frau I., antreffen. Das Gespräch entpuppt sich schnell als Verhör, obwohl die Ältesten zusichern, daß dieses Gespräch keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen werde. Da die Eheleute Waß bei ihrer ablehnenden Haltung bleiben, ordnen die Ältesten in der Versammlung an, die Familie in Zukunft zu meiden.473 Bei Begegnungen mit Frau Waß in der Öffentlichkeit, so z.B. auf der Straße beim Einkaufen, wechselt deswegen eine aktive Zeugin Jehovas die Straßenseite. Barbara Waß schreibt in diesem Zusammenhang: „Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man mit jemandem oder gar einer ganzen Familie noch vor kurzem zusammengesessen hat, mit ihm versucht hat, seine Probleme zu lösen, wenn man mit den Leuten gefühlt und gekämpft, vielleicht sogar geweint hat. Wenn man versucht hat, Familien, Ehen zusammenzukitten, weil sie zu zerfallen drohten oder andere ganz persönliche Dinge besprochen hat. Und nun taten diese Menschen so, als würden sie uns nicht mehr kennen.“474 Dieses Verhalten der aktiven Sektenmitglieder ist bestimmt 471 Waß, 234f. Ibid. 236f. 473 Dies kommentiert Barbara Waß wie folgt: „Dieses Vorgehen war außerhalb aller Regeln, denn es war laut Aussage der Ältesten ohne eine richtige Verhandlung geschehen.“ (Waß, 137). 474 Waß, 238. 472 148 durch die Angst vor Bestrafungen durch die Ältesten der Versammlung. Die ständige Angst vor den Folgen des Denunziantentums spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Da ein Ausschluß an juristische Vorgaben gebunden ist, schlagen die Ältesten einen weiteren Verhandlungstermin vor, wobei sie es Herrn Waß überlassen, den Ort der Verhandlung selbst zu bestimmen. Aber auch dieses Mal lehnen beide ab. Sie wollen sich keinem Verhör mehr unterwerfen, bei dem das Ergebnis, nämlich ihr offizieller Ausschluß aus der Versammlung, bereits von Anfang an feststeht. Die Methoden und Schikanen der Organisation zehren an den psychischen und physischen Kräften von Familie Waß. „Wir wollten unsere Ruhe haben. Wir waren nicht mehr bereit, uns diesen Dingen zu unterwerfen. Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören wollten. Sollten sie doch tun, was sie wollten.“475 In dieser Lage bleibt der Organisation nur noch das Mittel, die Abtrünnigen durch Verleumdungen zu strafen. Als Barbara Waß die über sie und ihren Mann verbreiteten Lügen erfährt, reagiert sie ein letztes Mal auf die Maßnahmen der Sekte. „Als wir davon erfuhren, riefen wir einen Ältesten an und sagten ihm, wenigstens solche gemeine Lügen müßten unterbunden werden, doch er sagte nur, das gehe ihn nichts mehr an, denn sie würden nicht mehr mit uns reden.“476 2.1.2.5 Zusammenfassung Die anfängliche Euphorie und das Glück, der allein seligmachenden Organisation Gottes anzugehören, verfliegen in der Regel nach einem oft jahrelangen, durch physische und psychische Opfer bestimmten Leben in der Gruppe der Zeugen. Das einzelne Mitglied wird durch ständige Indoktrination und den unermüdlichen Einsatz für die Organisation an 475 476 Waß, 240. Ibid. 149 einer reflektierten Betrachtung über die Gruppe gehindert. Gelingt es Anhängern der Sekte nicht, die kritischen Fragen, die Außenstehende bei Werbeaktionen auf Marktplätzen oder bei den zahlreichen Hausbesuchen zu verdrängen oder im Sinne der Sekte als Prüfung Jehovas und als Bewährungsprobe zu interpretieren, droht ihnen eine Persönlichkeitsspaltung. Wird der persönliche Leidensdruck zu groß und gelingt keine Verdrängung gesundheitlichen mehr, Beschwerden kann es zu kommen. Da die schwerwiegenden Sekte derartige Krankheitssymptome meist als Folge eines ungenügenden Einsatzes wertet, verstärkt sie den Leistungsdruck auf das jeweilige Mitglied. Diese Zerreißprobe besteht nur ein Mensch, der einen starken Rückhalt in der Familie hat, um den zermürbenden Prozeß der Entfremdung von der Gruppe in Gang zu setzen und zu bestehen. Wenn die Oberen der Versammlung begriffen haben, daß ein Mitglied ihnen entgleitet, den Gehorsam verweigert und nicht mehr für ihre Sache zurückzugewinnen ist, schließen sie es aus der Sekte aus, wobei dem Ausschluß eine Verhandlung vor dem Rechtskomitee vorangeht. Um die übrigen Sektenmitglieder dem Einfluß der abtrünnig gewordenen Mitglieder zu entziehen, werden diese offiziell als von Gott verworfene Menschen deklassiert, denen man aus dem Wege gehen muß. Für den Fall, daß die aktiven Zeugen trotzdem Kontakte zu den von Gott verworfenen Personen unterhalten, werden Sanktionen angedroht, um sie unter Kontrolle zu halten. Der Kontakt zu Nicht- Zeugen- Jehovas hat nämlich oft eine Distanzierung von der Sekte zur Folge und kann ein entscheidendes Motiv für einen Bruch mit den Zeugen Jehovas sein. Eine systematische Darlegung der wichtigsten Motive für diesen Bruch mit den Zeugen Jehovas wird im folgenden Punkt geboten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die zahlreichen Kontrollmechanismen und Manipulationen innerhalb der Sekte und die Verleumdungskampagnen gegen Aussteiger das gefährliche totalitäre Potential der Sekte der Zeugen Jehovas dokumentieren. 150 2.1.2.6 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu einem Bruch mit den Zeugen Jehovas geführt haben Es sollen im folgenden aus den vier Berichten ehemaliger Zeugen Jehovas Ursachen und Motive, die zum Entschluß, die Sekte der Zeugen Jehovas zu verlassen geführt haben, systematisch dargelegt werden. Ursachen und Motive, die zu einem Konflikt mit der bisherigen Sektendoktrin und WTG und schließlich zum Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas führen, lassen sich anhand der Berichte auf zwei wesentlichen Ebenen zusammenfassend darstellen. Dies ist zum einen die von mir als „theologisch-intellektuelle Ebene“ bezeichnete, zum anderen eine soziologisch-psychologische Ebene. 2.1.2.6.1 Theologisch – intellektuelle Ebene Eine theologische Auseinandersetzung mit den Glaubenslehren der Zeugen Jehovas erfordert ein hohes Maß an selbständigem Denken, das in den Reihen der Sekte durch permanente Indoktrination zurückgedrängt wird. Hans-Jürgen Twisselmann ist eine solche Auseinandersetzung jedoch geglückt. Er ist durch den Vergleich biblischer Aussagen mit denen des Wachtturms und anderer Schriften der WTG zur Erkenntnis gelangt, daß die biblische Lehre mit den Lehren der Wachtturm-Organisation unvereinbar ist. Diese Erkenntnis Twisselmanns verbunden mit dem Drang die wirkliche biblische und apostolische Lehre im Gegensatz zu den veränderten nichtchristlichen Lehren der Zeugen Jehovas zu verkünden, bilden das zentrale Motiv und die Motivation für den Bruch mit den Zeugen Jehovas. Neben Erkenntnissen und Motivationen auf dieser Ebene spielen auf der soziologisch-psychologischen Ebene dargelegten Motive eine wichtige Rolle. 151 2.1.2.6.2 Soziologisch-psychologische Ebene Auf der soziologisch-psychologische Ebene lassen sich im wesentlichen drei Motive nachweisen, die schließlich zum Bruch mit der Sekte der Zeugen Jehovas geführt haben. Hierzu zählen: Durch Bekanntschaften und Freundschaften mit Nicht-Zeugen-Jehovas hervorgerufene Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas, persönlich erfahrene Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Glaubenspraxis sowie ein übergroßer physischer und psychischer Leidensdruck. 2.1.2.6.2.1 Durch Bekanntschaften und Freundschaften mit Nicht-ZeugenJehovas hervorgerufene Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas Die von der Wachtturmgesellschaft geförderte Herabsetzung und Verleumdung derjenigen Menschen, die nicht den Zeugen Jehovas angehören, vor allem die Mitglieder der christlichen Kirchen, sowie die Verteufelung der angeblich von Satan beherrschten Welt kann für Zeugen Jehovas besonders dann fragwürdig werden, wenn sie erfahren müssen, daß Außenstehende den Vorurteilen und Verurteilungen der WTG gar nicht entsprechen. Die freundschaftliche Beziehung beispielsweise, die sich zwischen Barbara Waß und Frau I. entwickelt hat, ist ein einschlägiges Beispiel dafür, wie durch menschliche Anteilnahme und Fürsorge die Vorschriften und Verbote der WTG immer mehr an Bedeutung einbüßen. Auch bloße Bekanntschaften mit Menschen, die beim Haus-zu-HausDienst für die Sekte geworben werden sollen, können als Anstoß für eine kritische Beschäftigung mit der eigenen Sektendoktrin führen, wie das Beispiel von Monika Deppe zeigt. Wird eine den Zeugen Jehovas gegenüber kritische Anfrage oder Behauptung von einer zu werbenden Person durch ein Sektenmitglied an die Vorgesetzten der Versammlung weitergeleitet und erfährt das Mitglied keine zufriedenstellenden Antworten auf seine Fragen, kann dies oftmals, wie im Fall von Frau Waß, der 152 Anstoß für eine kritische Betrachtung der eigenen Gruppe sein, die eigene, sektenunabhängige Nachforschungen nach sich ziehen kann. 2.1.2.6.2.2 Persönlich erfahrene Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Glaubenspraxis Erfahrene Widersprüche zwischen der Glaubenslehre und dem tatsächlichen Verhalten der Glaubensbrüder- und Schwestern, vor allem von Ältesten als Vorgesetzte der Versammlung, in Form von Schroffen Zurechtweisungen und Beleidigungen statt eines klärenden Gespräches, oder in Form von Ignorieren der Bedürfnisse eines Mitbruders oder einer Mitschwester können in Unzufriedenheit und Frustration umschlagen. Häufen sich derartige negative Erfahrungen, können diese ein Ansporn für weitere kritische Beobachtungen und Einstellungen gegenüber der Glaubensgemeinschaft sein. Das Beispiel Gerd Wunderlichs zeigt eindeutig, wie Bevormundung und von der WTG verhängte Sanktionen gepaart mit stetigem Leistungsdruck den Ausstiegswillen des Ehepaars Wunderlich reifen lassen und schließlich zum Bruch mit den Zeugen Jehovas führen. 2.1.2.6.2.3 Übergroßer physischer und psychischer Leidensdruck Als weiteres Motiv für das Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas ist der oftmals große Leidensdruck der Mitglieder zu nennen, welcher aber meist zusammen mit anderen Motiven zusammenwirkt. Eine Vielzahl von Zeugen unterliegt diesem Leidensdruck aber verläßt die Sekte nicht. Hierbei ist ersichtlich, daß dieses Motiv erst zusammen mit einem oder mehreren anderen Motiven zum Tragen kommt. Dennoch darf dessen Bedeutung für einen Sektenausstieg nicht unterschätzt werden. Der Leidensdruck kann zu völliger Resignation führen oder aber er unterstützt den Prozeß des Ausstiegs. Großer Leidensdruck und die freundschaftliche Beziehung zu einer nicht den Zeugen Jehovas angehörenden Person 153 können, wie beispielsweise die Beziehung zwischen Barbara Waß und Frau I., zwei entscheidende zusammenwirkende Motive für den Bruch mit den Zeugen Jehovas sein. Auch der Wegfall großer physischer und psychischer Belastungen, bedingt durch das Fernbleiben von Veranstaltungen der Versammlung, kann verbunden mit Enttäuschungen und Sanktionen seitens der Sekte zu einem Erlebnis werden, welches, wie bei Familie Waß, das Familienleben verbessert und zum Entschluß des endgültigen Bruches mit den Zeugen Jehovas führen kann. Abschließend ist zu bemerken, daß ein einziges Motiv in den seltensten Fällen zu einem Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas führt. Erst die Verbindung von mindestens zwei Motiven läßt den Entschluß zum Verlassen der Sekte reifen, wobei der eigentliche Bruch, auch wenn er innerlich bereits vollzogen ist, erst durch das Ausschlußverfahren der Versammlungsältesten als rechtskräftig anzusehen ist. 2.2 Ausstieg aus der Psychosekte Scientology 2.2.1 Von ersten Zweifeln bis zum Entschluß, die Sekte zu verlassen 2.2.1.1 Jutta Elsässer Jutta Elsässer investiert alle ihre persönlichen und finanziellen Kräfte in die Scientology-Organisation. Sie ist bereit, für das von Ron Hubbard propagierte Ziel der absoluten geistigen Freiheit alles zu geben. Dabei versucht sie den Anordnungen des Gründers in vollkommener Weise nachzukommen. Sie schreibt: „Wieder und wieder wies Hubbard darauf hin, daß man sich am Riemen reißen und die vorgegebenen Richtlinien zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Scientology mit größter Härte und Unnachgiebigkeit durchsetzen solle.“477 Da Hubbard verkündet, daß die Zukunft unseres Planeten vom Einsatz der Scientologen abhänge478 , 477 478 Elsässer, 123. Ibid. 154 läßt sie sich zu einem immer größeren Engagement anspornen. Einige Sichtweisen Hubbards, beispielsweise die Abwertung der Demokratie, erscheinen ihr anfangs als sehr gewagt: „Sicherlich, einige Passagen gaben mir durchaus zu denken, so z. B. seine Auffassung, daß uns die Demokratie neben populären Maßnahmen und Selbstverleugnung im Grunde nichts weiter gebracht hätte, als uns noch weiter ‚in den Schlamm zu stoßen‘.“479 Doch angesichts der für sie als wissenschaftlich und überzeugend klingenden Lehre von der geistigen Freiheit, die jeder durch das Absolvieren von Kursen erreichen könne, treten die Bedenken in den Hintergrund. „Ohne es zu bemerken, ordnete sich meine Kritikfähigkeit in immer größerem Umfang dem anzustrebenden Ziel, Menschen aus ihrer seelisch-geistigen Gefangenschaft zu befreien, unter.“480 Der Einfluß der Sekte verändert die Persönlichkeit so stark, daß Frau Elsässer Mißerfolge als Folge ungenügender eigener Anstrengung deutet und sich veranlaßt sieht, außer ihren Ersparnissen auch ihre Gesundheit für die Belange der Organisation zu opfern. Da auch sie einen Kredit aufgenommen hat, den sie Scientology zurückzahlen muß, ist sie in totale Abhängigkeit geraten. In ihrer Hilflosigkeit nimmt sie immer neue Angebote der Organisation an, um ihre Schulden abzutragen, wodurch sich ihre Abhängigkeit jedoch nur vergrößert. Um Kursüberwacher zu werden, muß ein Scientologe mehrere Kursstufen erfolgreich durchlaufen. Da Jutta Elsässer bei den Kursstufen angeblich rasante Erfolge erzielt hat, wird ihr die Position einer Kursüberwacherin zugewiesen. Sie muß sich jedoch verpflichten, noch eine entsprechende Ausbildung auf eigene Kosten nachzuholen. Da ihr für diese Tätigkeit ein festes Monatsgehalt von 2.150 DM zugesagt wird, glaubt sie, ihre Schulden bei der Organisation rasch abzahlen zu können. Doch diese Hoffnung wird jäh enttäuscht. Entgegen ihrem anfänglichen Wunsch, lediglich eine Teilzeittätigkeit auszuüben, wird sie vertraglich als Vollzeitmitarbeiterin mit einem aufreibenden Terminkalender verpflichtet. 479 480 Elsässer, 124. Ibid. 155 Ihren nun zu bewältigenden Tagesablauf beschreibt sie wie folgt: „Mein Missionsalltag begann um 13 Uhr und endete in der Regel zwischen 22 und 24 Uhr. Einziger freier Tag war der Freitag. Zwischen 15.15 Uhr und 15.30 Uhr sowie von 18 bis 19 Uhr wurde pausiert. Kursschluß war um 22 Uhr (an den Wochenenden wurde um 9.30 Uhr begonnen, als Ausgleich hierfür die Mission um 18 Uhr geschlossen).“481 Zu den Kursen kommen noch weitere Verpflichtungen. Sie wertet Statistiken aus, führt Gespräche mit anderen Scientologen über neue Methoden der Mitgliederwerbung und richtet eine neue Zweigstelle der Organisation ein, um die Durchführung weiterer Kurse zu ermöglichen. Doch die Organisation zahlt nicht den zugesagten Monatslohn. Diese unangenehme Überraschung macht sie mißtrauisch, so daß sie ihren Vorgesetzten über diesen Sachverhalt informiert. Doch dieser weiß angeblich nichts von einer regelmäßigen Entlohnung von Mitarbeitern innerhalb der Scientology. Er setzt sich sofort mit der Münchner Zentrale in Verbindung und führt in Anwesenheit Jutta Elsässers ein längeres telefonisches Streitgespräch. Ihre Entrüstung über die Mißachtung der Zahlungsverpflichtung der Organisation für ihre mühselige Arbeit äußert sie so: „Das konnte doch nicht sein! Nein, das durfte ganz einfach nicht sein! Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte ich doch tatsächlich felsenfest geglaubt, ich würde aufgrund Tinas und Sonjas482 Versprechen eine Ausnahme darstellen und nicht unter diese Regelung fallen. Man hatte mir 2.150 Mark netto pro Monat versprochen, komme, was da wolle!“483 Diese Begebenheit ruft die Erinnerung an ihren Onkel wach, der sie häufig vor den ausbeuterischen Praktiken der Scientology-Sekte gewarnt hat. Noch unterdrückt sie diese kritischen Gedanken, indem sie sich sagt, es seien ja gewiß nur einige Mitarbeiter an dem Vorfall schuld, man könne jedoch nicht die Lehre Hubbards oder die gesamte Organisation für den Fehler einzelner Mitarbeiter verantwortlich machen. „Das konnte nicht 481 Elsässer, 186. Tina und Sonja sind zwei Scientologinnen, die ihr die 2.150 DM monatlich zugesagt haben. 483 Elsässer, 190. 482 156 Scientology sein! Nein, ganz unmöglich, diese Verhaltensweise konnte mit dieser Philosophie nicht das geringste zu tun haben!“484 Doch andererseits sagt Jutta Elsässer sich, daß die verantwortlichen Mitarbeiterinnen bereits die Stufe „Clear“ erreicht haben und auf einem sehr hohen ethischen Niveau angelangt seien. Diese zwiespältige Erfahrung läßt sie nicht mehr los. Dazu kommt ihr die Erinnerung an eine andere Begebenheit, bei der selbst Lügen und Betrug für die Belange der Organisation gerechtfertigt wurden. Sie schreibt hierzu: „Ich dachte an Lydia, die mir vor Tagen in diesem Zusammenhang beigebracht hatte, daß es schlicht und ergreifend ums Überleben gehe und dieser Grund auch eine Lüge rechtfertige. Dem Ziel zu überleben, müßten jegliche andere Absichten untergeordnet werden. Denn letztlich komme es darauf an, daß das Individuum an sich sowie die Scientology als Organisation fortbestehe – und ohne Scientology und ihre befreiende Technologie gebe es keine Chance, Planet Erde wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.“485 Trotz dieser frustrierenden Erlebnisse unterwirft sie sich weiterhin dem Allmachtsanspruch der Organisation und deren Heilslehre und versucht lediglich, die beiden verantwortlichen Mitarbeiterinnen zur Rede zu stellen. Doch da erlebt sie eine neue Enttäuschung. Als sie nach München zur Zentrale der Organisation fährt, um mit Tina und Sonja über das nicht eingelöste Gehaltsversprechen zu reden, wird sie bereits am Eingang des Hauptbüros abgewiesen. Statt dessen muß sie sich von anderen Scientologen sagen lassen, statt Kritik anzubringen, solle sie sich lieber intensiver mit der Scientology-Literatur befassen und so ihre eigene Schuld herausfinden. Sie bemerkt hierzu: „Man hatte sich augenscheinlich nur um mich, um den Belogenen, gekümmert, jedoch nicht um die Lügner!“486 In der Hoffnung, es handle sich nur um einen Irrtum und ihr Gehalt werde ihr bestimmt im nächsten Monat nachgezahlt, schluckt Frau Elsässer 484 Zweifel Elsässer, 191. Ibid., 192. 486 Ibid., 197f. 485 und Ärger hinunter. Über die verheerenden 157 Auswirkungen der ständigen Verdrängung dieser und anderer Enttäuschungen, die bald ihre Gesundheit schädigen, berichtet sie: „Beständig mußte ich packenweise Papiertaschentücher mit mir herumtragen, da ich unter vereiterten Stirn- und Nebenhöhlen litt. Durchfälle, Übelkeit, Ekzeme, Schmerzen in der Nierengegend und eine Pilzinfektion wurden zu meinen hartnäckigen Begleitern, die ich nicht mehr loswurde. Ich fühlte mich krank, ausgelaugt und unsagbar müde.“487 Doch die Organisation nimmt auf ihren verschlechterten Gesundheitszustand keine Rücksicht. Im Gegenteil, sie muß sich auch weiterhin sagen lassen, daß sie ihre Situation selbst verschuldet habe. Eine andere Sorge kommt hinzu: Da sie den ihr von Scientology gewährten Kredit bald zurückbezahlen muß, vergrößert sich ihre Verzweiflung. Doch reichen all diese Erfahrungen noch immer nicht aus, um der Organisation den Rücken zu kehren. „Anstatt nun endgültig meinen Mantel zu nehmen und der Mission Augsburg – und auch der Scientology ganz allgemein – den Rücken zu kehren, tat ich, wie mir geheißen, und arbeitete mich die Ethik-Zustände hoch, um wieder von der Gruppe, sprich meinen Kollegen, angenommen zu werden.“488 Da sie den Anstrengungen nicht gewachsen ist, gibt sie ihren Posten als Kursüberwacherin auf und arbeitet fortan nur noch als einfache Teilzeitmitarbeiterin in einem der Büros der Organisation. Doch das bringt auch keine Lösung ihrer Probleme, da der Lohn noch geringer als vorher und die Arbeit nicht weniger aufreibend ist. „Diesen durchschnittlichen monatlichen Zahlungsverpflichtungen stand ein in der Regel um fünfundzwanzig Prozent geringeres Gesamteinkommen gegenüber. Meine wöchentliche Vergütung als Teilzeitmitarbeiterin in der Org war kaum eine Erwähnung wert. Obwohl ich auf gut und gern 15 bis 20 Stunden als Kinderbetreuerin und Telefonistin kam, brachte ich selten mehr als zwanzig Mark nach Hause.“489 Zusätzlich zu den bei Scientology zu tilgenden Beträgen verlangt ihre Bank in Augsburg ebenfalls die Rückzahlung von Krediten, die sie bei ihr 487 Elsässer, 198f. Ibid., 202. 489 Ibid., 216. 488 158 aufgenommen hat. Diese Zahlungsverpflichtungen zwingen Frau Elsässer, sich eine Zusatzbeschäftigung außerhalb von Scientology zu suchen. Sie lebt inzwischen mit einem anderen Scientologen zusammen, der sie als Freund und Partner unterstützt, jedoch bald als Vollzeitmitarbeiter verpflichtet wird. So erlebt dieser Scientologe dieselben finanziellen und gesundheitlichen Schwierigkeiten wie seine Partnerin. Eines Tages bietet ihr ein vorgesetzter Scientologe Arbeit in seiner eigenen Firma an. Sie nimmt das Angebot an, muß aber auch bei dieser Arbeitsstelle um ihren Lohn am Monatsende kämpfen. Schließlich begibt sie sich eigenständig auf Arbeitssuche und übt neben ihrer Tätigkeit bei Scientology Arbeiten aus, bei denen ihr auch Urlaub zusteht und bei denen ihr freie Wochenenden garantiert werden. Sie und ihr Lebensgefährte gönnen sich nun auch Zeiten der gemeinsamen Erholung, ohne von Scientology dafür getadelt zu werden. Jutta Elsässer schreibt über die gemeinsamen Unternehmungen in der freien Zeit: „Unsere gemeinsamen Spaziergänge an der Isar, Tagesfahrten an den Starnberger See oder an den Ammersee und kleine Wanderungen in der Münchner Umgebung ließen uns bewußt werden, was wir in den vergangenen Monaten und Jahren entbehrt hatten. Es war eine vollkommen neue Erfahrung, an den Wochenenden nicht nur stundenweise zusammensein zu können.“490 Jutta Elsässer nutzt auch den ihr zustehenden Urlaub für Ausflüge und kurze Reisen. Sie ist zwar weiterhin zu Arbeiten bei der Org verpflichtet, jedoch wecken die Freizeiterlebnisse ihr Selbstbewußtsein. Sie bemerkt: „Trotz des nach wie vor sehr intensiven Kontakts zu Scientology begann allmählich ein Loslösungsprozeß, der immer dann seinen Höhepunkt erreichte, wenn ich für einige Tage abwesend gewesen war. Kam ich nach einer knappen Woche wieder zurück in die Org, um mit meinem Kurs fortzufahren, befremdete mich die Atmosphäre.“491 Auch das gesundheitliche Befinden verbessert sich durch die neue Freiheit. „Meine Gesundheit besserte sich von Woche zu Woche, und das erste Mal seit 490 491 Elsässer, 230f. Ibid., 233. 159 über zwei Jahren streifte ich mir einen Badeanzug über. Ich hatte ganz vergessen, wie schön Schwimmen sein konnte!“492 Doch letztlich glaubt Frau Elsässer weiter an die Richtigkeit der von Ron Hubbard verkündeten Lehre, kann aber wegen ihres geringen Einkommens keine weiteren Kurse mehr absolvieren. Dies zeigt deutlich, wie tief sich die Heilslehre in der Psyche von Frau Elsässer verankert hat. Da sie jedoch nicht mehr regelmäßig zu den vorgesehenen Kursen erscheint, weil keine neuen, ihre Persönlichkeit auf dem Weg zur absoluten Freiheit voranbringenden Kurse stattfinden und ihr die gerade praktizierten Kurse bereits bekannt sind, setzen die Scientologen sie per Telefon unter Druck. „Je weniger ich mich in der Org zeigte, desto häufiger klingelte bei uns das Telefon. Man wollte mich wieder im Kurssaal sehen.“493 Bald schon erklärt sie sich bereit, wieder zu auditieren. Doch die von der Sekte eingerichteten Kurse werden nicht ordnungsgemäß zu Ende geführt. Sie soll sich statt dessen, um schneller zum Ziel zu gelangen, wieder intensiv mit dem vorgegebenen Material befassen. Dies erregt ihr Mißfallen: „Mein überschneller Kursabschluß sollte der Org lediglich einen dicken Punkt auf ihrer Statistik bescheren. Um dieses Abschlußziel zu erreichen, hätte ich beinahe Tag und nacht studieren müssen. Hier hörte der Spaß für mich allmählich auf!“494 So kommt es zu einem ersten Schritt, der zur Trennung von der Sekte führen wird. Sie ist nicht mehr bereit, die erholsamen Wochenenden für Scientology zu opfern. Jetzt hat sie den Kopf freier und gewinnt etwas Abstand von den aufreibenden Tätigkeiten der Sekte. Das neue Bewußtsein schildert sie mit folgenden Worten: „Kopfschüttelnd wurde mir allmählich klar, daß ich über viele Monate hinweg regelrechten Raubbau an meiner Seele und meinem Körper betrieben hatte. Ich sah ein, daß Menschen, die an der Grenze zum psychischen und physischen Wrack stehen, niemals die Kraft aufbringen würden, etwas tatsächlich Positives in dieser Welt zu bewirken.“495 492 Elsässer, 231. Ibid., 233. 494 Ibid. 495 Ibid., 234. 493 160 Unabhängig davon bekommt sie Zweifel an der Legitimität der scientologischen Methoden und des Anspruchs der Sekte, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Scientologen macht sie immer kritischer. Sie schreibt: „Tag und Nacht nagten diese Gedanken an mir, ohne daß ich zu einem fruchtbaren Ergebnis gekommen wäre. Immer wieder wog ich Pro und Contra gegeneinander ab, versuchte mir darüber klarzuwerden, ob ich tatsächlich Mitglied einer heilsspendenden Vereinigung war oder doch eher das nichts ahnende Opfer einer gemeinhin als Sekte betitelten Gruppierung.“496 Der Kontakt mit einer anderen Scientologin, die sich wegen ihrer Schwangerschaft nicht mehr so intensiv den Aufgaben der Sekte widmen kann und die Jutta Elsässer ebenfalls von üblen Praktiken in den Reihen der Organisation zu berichten weiß, veranlaßt Frau Elsässer, ein Schreiben an das Büro für spezielle Angelegenheiten zu senden, in dem sie alle erlebten Mißstände zur Sprache bringt.497 Diesen weiteren Versuch der Klärung von Mißständen begründet sie so: „Ich wollte die Hoffnung noch immer nicht aufgeben, daß sich alles zum Guten wenden würde. Mein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen war noch immer nicht gebrochen!“498 Doch da sie mehrere Monaten lang keine Antwort erhält, verstärken sich ihre Vorbehalte derart, daß sie ihren Austritt aus Scientology androht. 2.2.1.2 Elke Nietsche Elke Nietsche ist eine arbeitslose kaufmännische Angestellte, die sich über eine Zeitungsannonce von Scientology anwerben läßt. Sie ist eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrer Tochter Fredericke in Leipzig wohnt. Ihre Eltern wohnen ebenfalls in Leipzig. 496 Elsässer, 235. Ibid., 236f. 498 Ibid., 238. 497 161 Zunächst ist Elke Nietsche für zwei Mitarbeiter der Sekte tätig, um diese bei ihrer Arbeit für die Organisation zu unterstützen, wird jedoch innerhalb kürzester Zeit auch zur Absolvierung der zahlreichen Kurse und Auditingveranstaltungen genötigt, so daß sie sich bereits nach sechs Wochen als Scientologin bezeichnen kann. Ihre Erfahrungen gibt sie in Form eines Tagebuches wider. Durch diese Form des Erfahrungsberichts läßt sich der Ausstiegsprozeß sehr gut verfolgen, wobei der offizielle Austritt aus der Sekte dank des engen Kontaktes zu ihrer Tochter und zu ihren Eltern in nur wenigen Tagen vollzogen ist. Elke Nietsche wird von Olaf und Heike, einem Scientologen-Ehepaar, angeworben, bei dem sie zahlreiche Hausarbeiten und die Kinderbetreuung übernimmt. Als Gegenleistung bekommt sie nur eine karge finanzielle Entlohnung. Vor allem aber verkauft sie regelmäßig auf Flohmärkten, um für das Ehepaar etwas Geld zu verdienen, wofür sie ebenfalls etwas Geld bekommt. Bald schon muß sie zu Ausbildungskursen in das Büro der Sekte nach München fahren, was für sie eine große finanzielle und zeitliche Belastung bedeutet. Wegen ihrer häufigen Abwesenheit muß Fredericke von ihrer Großmutter betreut werden. Die starke Beanspruchung durch die Sekte und die gleichzeitigen persönlichen und familiären Verpflichtungen führen schon bald zu gesundheitlichen Problemen. Als sie sich eines Tages bei einem Flohmarktverkauf für das Scientologen-Ehepaar mehrere Stunden lang ungeschützt in der Sonne aufhalten muß, zieht sie sich Verbrennungen zu. Doch sie will, ganz im Sinne des Sektengründers Ron Hubbard, nicht über ihre gesundheitliche Verfassung klagen. Sie schreibt: „Die Hitze und die Sonne machen mir zu schaffen. Auf meiner Haut bilden sich schon Blasen. Doch das zählt nicht. Wenn ich mit körperlichen Beschwerden übereinstimme, so ist das überlebensfeindlich; ich muß das ignorieren und ‚handhaben’.“499 Als der Flohmarkt beendet ist, fährt sie sofort weiter nach München in die Zentrale der Scientology, wo sie einen Integritätskurs belegen soll. Da erlebt sie jedoch eine böse Überraschung. Sie wird bereits an der 499 Nietsche, Elke, Alptraum Scientology. Ein Tagebuch aus Leipzig, Berlin 1995, 60. 162 Rezeption des luxuriös ausgestatteten Gebäudes von einer Frau barsch abgewiesen mit der Begründung: „Es sind speziell ausgebildete Leute, die die Kurse zusammenstellen, und da dieser Kurs nicht auf meinem Tip500 steht, könne sie mir nicht helfen.“501 Frau Nietsche ist empört, weil sie diese Worte als eine barsche Abweisung empfindet, zumal sie bereits des öfteren zusammen mit anderen Scientologen die Zentrale in München besucht hat und ein anstrengender Arbeitstag hinter ihr liegt. Während sie einen Kaffee trinkt, um dieses Erlebnis zu verdauen, trifft sie eine andere Scientologin, die sie aufgrund ihrer zahlreichen Besuche in der Münchener Zentrale wiedererkennt und ihr die Absolvierung der gewünschten Kurse für den nächsten Tag zusagt. „Sie sagt, daß sie mit mir alles klarmachen werde, und ich solle ihr folgen.“502 Frau Nietsche muß deshalb in der Nähe von München übernachten und kann nicht nach Leipzig zu ihrer Tochter zurückkehren. Sie kommt aber bei einem Scientologen unter. Der folgende Tag ist geprägt von einem straff organisierten Ausbildungsprogramm, das sie so beschreibt: „Um 8 Uhr aufstehen, waschen, anziehen und los zur Org. Unterwegs irgendwo frühstücken. 9.30 Uhr Studierbeginn. Nach etwa einer Stunde kommt Roman, der Kursüberwacher, zu mir und stellt fest, daß wir während meines Auditorenkurses kaum Möglichkeiten für Auditings hatten und das nachholen werden. Tanja macht jetzt den Kurs und ob ich mich als PC (Preclear), also zu Auditierende, bereit erklären würde. Sie macht zwei Sitzungen mit mir. Ab 16 Uhr komme ich dazu, mit meinem Kurs fortzufahren. Bis 22 Uhr studiere ich und bekomme für morgen abend 22 Uhr noch eine mündliche Einladung, am Briefing ‚Gegen die Attacken an Scientology’ teilzunehmen.“503 Der Kurs über die Abwehr von Attacken gegen Scientology macht Elke Nietsche stutzig und sie fragt sich, wieso Scientology Zielscheibe von 500 Nachweis der Zulassung zum Kurs. Nietsche, 63. 502 Ibid. 503 Ibid. 501 163 Angriffen sein könne.504 Im Verlauf ihres Ausbildungstages erfährt sie sogar von scientologischen Aktionen gegen Interpol, was bei ihr die Frage nach dem Sinn solcher Aktionen aufwirft. „Ich frage mich kurz, was das soll, wenn doch alles in Ordnung ist. Es scheint mir wie eine Show.“505 Sie versteht den Inhalt und die Bedeutung der weitschweifigen scientologischen Vorträge ohnehin nicht ganz und sehnt aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Erschöpfung das rasche Ende der Veranstaltung und des Tages herbei. Doch sie muß bis 1.30 Uhr nachts warten, ehe sie zu Bett gehen kann.506 Der Scientologe Björn versucht im Namen seiner Auftraggeber, Frau Nietsche für ihre Mission ganz zu vereinnahmen, so daß sie die Gefahr sieht, den Kontakt zu ihrer Familie in Leipzig ganz zu verlieren. Daher setzt sie sich gegen die massiven Versuche der Scientologen, sie in München zu halten, zur Wehr. Sie äußert sich hierüber so: „Ich mache ihm [Björn] klar, wie unmöglich es für mich ist, sofort damit zu beginnen, da ich morgen früh nach Hause fahre. Und wieder bearbeitet man mich. Besser wäre es, gleich mit dem Programm zu beginnen, und ob es denn so wichtig sei, nach Hause zu fahren. Ja, es muß sein! Ich habe einiges zu klären, so zum Beispiel die Unterbringung meiner Tochter. Björn gibt nicht auf, mich zu bedrängen. Er meint, daß wir das auch telefonisch klären können. Olaf und Heike würden sich bestimmt bereit finden, meine Tochter in dieser Zeit zu sich zu nehmen, und es sei nicht gut, wenn sie bei meinen Eltern bleibt. Woher weiß er denn meine Verhältnisse?“507 Das penetrante Einreden auf ihre Person macht Frau Nietsche nachdenklich, weil sie erkennt, daß Björn sogar über ihre familiären Verhältnisse bestens informiert ist. Doch sie ist von der Hoffnung erfüllt, daß sich ihre finanzielle Lage durch eine mögliche Beschäftigung bei Scientology bessern könnte. Wegen ihres Entschlusses, nach Leipzig zurückzukehren, muß sie sich einem Reinigungsprogramm unterziehen, um ihre schuldhaften Erlebnisse 504 Nietsche, 65. Ibid. 506 Ibid. 507 Ibid., 67f. 505 164 offenzulegen. Da merkt sie an ihren körperlichen Reaktionen, wie sehr sie unter der Überbeanspruchung leidet. Sie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Alle Geschehnisse muß ich mehrmals durchgehen. Ich habe fürchterliche Schmerzen in den Beinen, und der Kopf tut sehr weh.“508 Ihr Entschluß, nach Hause zu fahren, wird nach dem Abschluß des Reinigungsprogrammes wiederum scharf kritisiert. Dies belastet Frau Nietsche zusätzlich. „Jetzt habe ich ein fast achtstündiges Auditing hinter mir. Das scheint er [Björn] nicht zu hören. Er fragt nur, was ich denn so lange in Leipzig wolle. Ich will ihm darauf antworten, aber er geht. Ich bin dem Wahnsinn nahe. Was ist nur los?“509 Auf der Heimfahrt ruft Frau Nietsche Olaf und Heike an. Doch Olaf ist sehr aufgebracht und informiert sie, daß ihre Mutter sich bei ihm nach ihrem Verbleib erkundigt habe, da sie unter dem Zeitdruck lediglich eine kurze Notiz hinterlassen habe, in der sie ihre Fahrt nach München mitgeteilt habe. Als sie schließlich zu Hause in Leipzig ankommt ist sie am Ende ihrer Kräfte. „Ich bin fix und fertig. Wenn Mutter anruft, ist die Lage wirklich ernst. Gewöhnlich meidet sie jeden Anruf. Ich gehe erst einmal nach Hause, um mich einigermaßen zu sammeln.“510 In Leipzig, wo sie ihre Tochter und ihre Eltern wiedersieht, scheint alles seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Doch Olaf und Heike schicken sie sofort zu weiteren Verkaufsaktionen auf den Flohmarkt. Bald macht auch ihre Tochter Schwierigkeiten. Deren Schulleistungen leiden sehr unter der Abwesenheit der Mutter, die ihr nicht mehr die erforderliche Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken kann. Sie bemerkt hierzu: „Ihre Sturheit nervt mich. Mir ist, als ob sie mich für alles verantwortlich machen will. Dabei gibt sie mir keine Möglichkeit, ihr wirklich zu helfen. Dem bin ich einfach nicht gewachsen.“511 Als sie kurz darauf bei ihrer Bank den Kontostand überprüft, stellt sie fest, daß ihr Konto um fast 300 DM überzogen ist. Sie benötigt jedoch 508 Nietsche, 70. Ibid., 71. 510 Ibid., 73. 511 Ibid., 76. 509 165 Geld, um die Kurse in München fortsetzen zu können und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.512 Bald schon überstürzen sich die Ereignisse. Sie bekommt Besuch von ihrer Schwägerin, die einen äußerst bestürzten Eindruck macht. Die Schwägerin hat nämlich Erkundigungen über Scientology eingezogen und erkannt, an welche Organisation Frau Nietsche geraten ist.513 Sie hat daraufhin einen Sektenexperten zu Rate gezogen und diesen ohne Wissen von Frau Nietsche zu einem Aufklärungsgespräch über Scientology eingeladen. „Um 19 Uhr klingelt es. Es ist Gerda mit dem angekündigten jungen Mann, Herrn Batsch. Wir gehen ins Wohnzimmer. Er erzählt über Scientology und daß es sich um eine Sekte handele, die sehr gefährlich sei. Ihr System ähnele dem der Stasi. Das Dianetic-Buch und der Persönlichkeitstest werden benutzt, um die Leute abhängig zu machen.“514 Doch Frau Nietsche ist zu erschöpft, um den Äußerungen des Mannes genau zu folgen. Abgesehen davon scheinen sie den ihr bisher verkündeten Lehren Scientologys nicht gerecht zu werden. Sie fühlt sich auch nicht fähig, sich ein Urteil zu bilden.515 Als sie wieder mit ihrer Schwägerin allein ist, erscheint der Scientologe Olaf bei ihr, obwohl dieser eigentlich in München sein sollte, und berichtet, ihr Bruder habe ihn wegen Scientology bedroht. Diese unangenehmen Begebenheiten lassen Frau Nietsche nicht mehr zur Ruhe kommen und sie beschließt, vorerst nicht mehr zur Scientology-Zentrale nach München zu fahren.516 512 Ihre unangenehme Lage beschreibt sie so: „Noch nie habe ich Schulden auf meinem Konto gehabt. Doch, einmal, aber da waren es etwas über 2 DM. Jetzt sind es fast 300 DM. Wie ist das passiert? Ich überlege, von wem ich mir Geld borgen könnte. Das ist mir unangenehm. Ich kann unmöglich mit den 200 DM, die mir Mutter geliehen hat, nach München fahren. Davon muß ich doch für das Wochenende einkaufen.“ (Nietsche, 76f.). 513 Vgl. Nietsche, 77. 514 Nietsche, 76. 515 „Ich höre mir seine Ausführungen an. Sie widersprechen völlig dem, was ich bisher gehört habe. Ich bin nicht in der Lage, mir eine Meinung über all das zu bilden, und nicht fähig, mich dazu zu äußern.“ (Nietsche, 77). 516 In ihrem Tagebuch faßt sie diese aufregenden Ereignisse folgendermaßen zusammen: „Ein aufregender Tag! Auf dem Konto habe ich fast 300 DM Miese. Gerda kam heute nachmittag. Sie war fix und fertig. Es waren wahrlich keine erfreulichen Informationen. Um 19 Uhr erschien sie mit einem jungen Mann. Er hatte Informationen dabei über Scientology. Mir ist angst und bange geworden. Eine Sekte soll das sein. Leute, die aussteigen, werden verfolgt. Es ist ein Apparat, der bis ins kleinste 166 Was Frau Nietsche an diesem Tag widerfahren ist, läßt sie hellhörig und kritisch werden. Sie hat Angst, in ein totalitäres System geraten zu sein und fragt sich: „Befinde ich mich etwa schon in dieser Maschinerie? Ich muß mir Gewißheit verschaffen.“517 Sie versucht, die bisherigen Erfahrungen mit den Scientologen zu bewerten und ihre spontanen Eindrücke von der Zentrale in München (Org) zu analysieren. Dabei kommt sie zu dem Schluß, in eine Verschwörung geraten zu sein.518 Auch die Lehrerin ihrer Tochter, der sie von ihren Schwierigkeiten berichtet, warnt Frau Nietsche ebenfalls vor Scientology, was ihre Sorge verstärkt.519 Sie besucht daraufhin ihre Schwägerin Gerda, die wiederum einen Herrn eingeladen hat. Dieser gehört einer Eltern- und Betroffeneninitiative an. Er weist sich als Herr B. aus und versucht, Frau Nietsche über Scientology aufzuklären.520 Das Ergebnis dieses Gesprächs mit Herrn B. ist für Frau Nietsche erschreckend. Sie berichtet hierüber: „Er erzählt etwas von Sekten und gibt mir Materialien darüber. Ich lese darin. Mir wird mulmig und ängstlich zumute.“521 Jetzt fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erkennt endlich, daß sie in eine gefährliche Sekte geraten ist und macht sich Vorwürfe, dies nicht vorzeitig erkannt zu haben. „Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Zwar gab es während der letzten Zeit Momente des Zweifelns, aber daß es sich um eine Sekte handelt, habe ich nicht vermutet. Das ist ein Schock! Hätte ich das nicht merken müssen? So blind kann man doch gar nicht sein.“522 funktioniert, und jede aufkommende Feindseligkeit wird gehandhabt. Obwohl Olaf in München sein müßte, stand er etwa 15 Minuten, nachdem der Mann gegangen war, vor meiner Tür. Roland hat angerufen bei ihm und sich über Scientology empört. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was Olaf sagt, klingt überzeugend. Was der junge Mann sagt, klingt überzeugend. War Olaf vorher schon da, und wußte er von der Anwesenheit des jungen Mannes? Ich fahre erst mal nicht nach München.“ (Nietsche, 79). 517 Nietsche, 79. 518 „Die Org in München macht einen eigenartigen Eindruck auf mich. Sie wirkt wie ein Apparat, der gegen Selbstbestimmung ankämpft. Dort erfolgen die Anweisungen, die auch in Befehle ausarten können. Dinge und Personen werden einfach gehandhabt. Es ist ein in sich abgeschirmtes System. Möglich wäre auch, daß der Mann Olaf benachrichtigt hat. Mir ist das alles unheimlich. Läuft da eine Verschwörung ab? Ich bin hilflos und skeptisch.“ (Nietsche, 80). 519 Nietsche, 81. 520 Ibid. 521 Ibid. 522 Ibid. 167 Sie versteht, daß ihre körperliche und seelische Überlastung eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Scientologen bisher verhindert hat. Auch wird ihr bewußt, wie sehr ihre Tochter unter ihrer Abwesenheit und der dauernden psychischen Angespanntheit der Mutter gelitten haben muß. Sie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Nie bin ich während dieser Zeit so recht zur Besinnung gekommen. Jede Menge Streß gab es. Allmählich erkenne ich die Manipulation, mich abhängig zu machen. Entscheiden muß ich mich: für Scientology oder für Fredericke, meine Tochter.“523 Sie entscheidet sich für ihre Tochter, Herr B. bietet ihr nun konkrete Hilfen für den Ausstieg an. 2.2.1.3 Norbert Potthoff Norbert Potthoff ist selbständiger Graphiker. Eines Tages kommt ein Kunde und stellt ihm ein neues Projekt in Aussicht, wobei sich der Auftraggeber als Scientologe entpuppt. Durch intensive Kontakte zu diesem Scientologen und seiner Frau werden Potthoff und seine Frau Sabine ebenfalls zu Scientologen. Herr Potthoff gelangt nach dem Absolvieren der verschiedenen Auditingstufen bis hin zur Stufe eines Clear und steigt innerhalb der Sektenhierarchie zum Leiter der Verbreitungsabteilung in Düsseldorf auf. Während seiner Mitgliedschaft in der Sekte wird er mit den unglaublichen und menschenverachtenden Praktiken von Scientology vertraut, welche selbst vor kriminellen Methoden zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht zurückschreckt. Die Konfrontation mit der Härte des Sektenalltags und die menschenverachtenden Praktiken machen ihn gegenüber dem System hellhörig. Um das Ziel der Organisation für Deutschland, eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft nach den Richtlinien Hubbards zu erreichen, ist harter Arbeitseinsatz vonnöten, den er so beschreibt: „Nun, da ich drei Abteilungen zu leiten habe, hat sich alles vervielfacht. Durch 523 Nietsche, 82. 168 den Personalmangel kann ich außerdem meinen alten Posten nicht neu besetzen, sondern bin gezwungen, ihn mitzuverwalten.“524 Als Leiter der Verbreitungsabteilung muß Norbert Potthoff auch Vorträge über effektive Vorgehensweisen zur Verbreitung der Ideen von Scientology halten, wodurch die Stärkung der Motivation der Scientologen erreicht werden soll. Hierbei kommt auch die körperlich wie geistig hohe Arbeitsbelastung zur Sprache, wenn er bemerkt: „Wir alle arbeiten hart, meist 70 bis 80 Stunden die Woche, aber ohne eine funktionierende Technologie verpufft zuviel von unserer Energie.“525 Doch durch eine geschickte Motivation der Mitarbeiter und durch einen intensiven Arbeitseinsatz gelingt es ihm, der Düsseldorfer Org zu großem Erfolg zu verhelfen. „Düsseldorf taucht immer öfter in den Erfolgsstatistiken auf. Wir stellen neues Personal ein, verkaufen mehr Bücher, schicken immer mehr neue Leute auf Kurse“, berichtet er.526 Aufgrund seines überragenden Erfolgs wird Potthoff nach Kopenhagen geschickt, um Geheimdokumente, vor allem Belastungsmaterial gegen Scientology-Kritiker mit der Absicht zu studieren, die Gegner der Sekte zu schädigen. Er schreibt dazu: „Die Anweisungen, die ich studieren muß, werden immer härter, und immer öfter ist von Geld und Macht die Rede, von Endzeitstimmung, von Spionage und Gegenspionage, von Krieg.“527 Solange er diese geheimen Unterlagen und Anweisungen für führende Scientologen nicht zu Gesicht bekommt, steht er hinter der Organisation und beachtet Hinweise über die kriminellen Machenschaften der Sekte wenig. Doch das Studium des Geheimmaterials vermittelt ihm völlig neue Einsichten, die ihm alle Illusionen rauben.528 Er muß zunehmend zur Kenntnis nehmen, daß es Hubbard gar nicht um die den Mitgliedern gepredigte völlige geistige Freiheit geht. Ihm kommt es vielmehr nur auf den finanziellen Gewinn an, welcher durch die zahlreichen Kursen erzielt 524 Potthoff, Norbert, Im Labyrinth der Scientology, Bergisch Gladbach 1997, 192. Ibid., 195. 526 Potthoff, 195. 527 Ibid., 204. 528 Sein Erstaunen über die Inhalte des Geheimmaterials gibt er so wider: „Damals, als ich diese Worte zum ersten Mal von Peter hörte, habe ich fast noch spöttisch gelacht. Dieses Lachen vergeht mir von Tag zu Tag mehr.“ (Potthoff, 204). 525 169 wird. In diesen Tagen versteht er endlich die vom Scientology-Gründer vorgebrachte Anweisung „Mach Geld, mach mehr Geld, sorge dafür, daß andere produzieren und Geld machen“.529 Die wahre Bedeutung des Satzes vergällt ihm die Freude, ein Scientologe geworden zu sein. 530 Eines Tages sucht ihn Susan, eine Mitscientologin, auf. Sie befindet sich in einer erbärmlichen gesundheitlichen Verfassung und teilt Potthoff mit, sie sei innerhalb der Organisation als Verbrecherin verurteilt und deshalb in eines der Straflager der Sekte interniert worden. Die Existenz derartiger von der Sekte betriebenen Straflager bedeutet für Potthoff einen großen Schock. „In einem alten Heizungskeller fristete sie dort mit anderen Schwerverbrechern ein kümmerliches Leben mit Sprechverbot, Schlafentzug und schlechter Ernährung. Beate [eine zeitweilig führende Scientologin] hatte sie zum schweren Ethikfall erklärt, und da sie gar nicht wußte, was sie überhaupt verbrochen haben sollte, hatte ihr Widerstand gegen diese Behandlung sie tiefer und tiefer in die Strafmaßnahmen hineingezogen.“531 Norbert Potthoff ist über die geschilderten Methoden zutiefst empört. „Erschüttert lausche ich ihren Schilderungen. Ist das etwa Ethik, wenn man Menschen das Rückgrat bricht, sie erniedrigt und quält?“532 Er rät dieser Mitscientologin daraufhin zur Flucht aus der Organisation. Doch da erlebt er eine Überraschung; denn Susan schlägt seinen Ratschlag in den Wind. Sie erkennt nämlich das ihr angetane Unrecht aufgrund ihres Kadavergehorsams der Scientology-Führung gegenüber als gerechtfertigt an.533 Das Studium des geheimen Aktenmaterials und die unmenschliche Behandlung von Mitscientologen beschäftigen Norbert Potthoff von nun an immer mehr. Erst jetzt kann sich Potthoff ein sehr genaues Bild von den Zuständen hinter den Kulissen der Organisation machen. Er absolviert zwar noch die für ihn verpflichtenden Kurse. Doch der Schock über die ihm zur Kenntnis gebrachten Praktiken der Organisation läßt ihn nicht 529 Potthoff, 204. „Wo ist die Leichtigkeit, die Freude geblieben, mit der ich vor Jahren Scientologe geworden war?“ (Potthoff, 204). 531 Potthoff, 204f. 532 Ibid., 205. 533 Ibid. 530 170 mehr los.534 Er hat allerdings die Befürchtung, jemand könnte die Unterredung mit Susan beobachtet haben und seine Entdeckung in einem Bericht festgehalten haben. Deshalb empfindet er die Anwesenheit der Ethikoffiziere in ihren Uniformen zunehmend als störend und verunsichernd. „Dunkle Erinnerungen an ein Wahrheitsministerium, die allgegenwärtige Kontrolle eines militärischen Systems, kommen in mir hoch. Es ist lange Zeit her, daß ich davon gelesen habe, irgendwann in meiner Jugend, als wir uns mit dem Faschismus auseinandergesetzt haben. Mir wird mulmig zumute. Aber ich, ein überzeugter Antifaschist, kann doch nicht, ohne es zu merken, in ein solches System hineingeraten sein!“535 Zunächst zerstreut er noch seine Bedenken. Doch eines Tages wird die Mission in Düsseldorf von zwei Ethikoffizieren inspiziert, welche für die Überprüfung und die Entdeckung von Abweichlern (sogenannte Ethikfälle) eingesetzt werden. Einer dieser Ethikoffiziere begutachtet auch Potthoffs Arbeit und versucht sogar, sein Arbeitstempo zu beschleunigen. „Marko [der Ethikoffizier] läuft weiter neben meinem Schreibtisch auf der Stelle, verzieht keine Miene. Ich bin entsetzt. Seit einer halben Stunde trabt er so, will mich dadurch zu höherer Arbeitsgeschwindigkeit veranlassen.“536 Potthoff kennt diese Vorgehensweise. Sie wird vom Scientology-Gründer Ron Hubbard ausdrücklich empfohlen, da angeblich „durch das Suggerieren von Geschwindigkeit das Arbeitstempo erhöht werden kann“.537 Als Leiter der Org in Düsseldorf trägt er die Hauptverantwortung für seine Abteilung, was seine Angst vor dem ihn beobachtenden Ethikoffizier noch verstärkt. Er befürchtet, daß dieser Mann über jede seiner Reaktionen einen Bericht schreiben und ihn für jeden Fehler, den er zu entdecken glaubt, ans Messer liefern werde.538 534 „Nachdenklich eile ich in den Kursraum. Was um Himmels willen macht man hier mit den Menschen? Das also nennen die Rehabilitierungsprojekt!“ (Potthoff, 205). 535 Potthoff, 206. 536 Potthoff, 213. 537 Ibid. 538 Ibid. 171 Nach der Abreise der Ethikoffiziere wird Potthoff tatsächlich nach Kopenhagen beordert, um sich einer Ethikbehandlung zu unterziehen.539 Er muß sämtliche Verbrechen seines Lebens schriftlich darlegen und einige bürotechnische Strafarbeiten erledigen. Dadurch kann er dem gefürchteten Straflager der Sekte entgehen. Doch dann bemerkt er, daß die Organisation seine Frau wegen angeblicher unethischer Handlungsweisen belangen will. Er versucht, diese vor einem möglichen Transport ins Straflager zu warnen, darf jedoch Kopenhagen nicht verlassen, was ihn veranlaßt, seine Flucht aus dem ScientologyHauptquartier zu planen. Wie nie zuvor erkennt er den Widersinn des scientologischen Systems, das sich anschickt, „die eigenen Kinder zu fressen“. Was Menschen wie Beate oder Susan erduldet haben, könne doch nicht „die Freiheit sein, die uns Hubbard versprochen hat“. Die Erkenntnis, daß „Würde, Freiheit, Selbstbestimmung [...] plötzlich ins Gegenteil verkehrt“ werden, ist schmerzlich.540 Potthoff gelingt die Flucht aus dem Hauptquartier in Kopenhagen. Er fährt mit dem Zug zurück nach Deutschland, nach Düsseldorf, und beschließt, Scientology endgültig den Rücken zu kehren. Doch was ihn dort erwartet, weiß er nicht. Auch auf der Zugfahrt verfolgt ihn die Furcht, entdeckt zu werden. Er leidet auch unter dem Zweifel, ob er überhaupt die richtige Entscheidung getroffen hat.541 Als er in Düsseldorf ankommt, wird er von seinen Mitarbeitern, die von seiner Flucht aus dem Kopenhagener Hauptquartier noch nichts wissen, freudig begrüßt. Doch räumt er sein Büro und macht den Mitarbeitern seinen Ausstiegsentschluß kund, was allgemeine Bestürzung hervorruft.542 539 Potthoff, 215ff. Potthoff, 228. 541 „Es ist die Angst wieder da. Nicht nur die Angst vor Verfolgung. Es ist leicht vorstellbar, daß sich mit mir im Zug noch ein Dutzend anderer Scientologen befindet. Aber sie können unmöglich wissen, daß ich mich auf der Flucht befinde. Es ist auch die Angst davor, nicht zu wissen, ob meine Entscheidung überhaupt richtig ist. Was soll ich tun, wenn ich Düsseldorf erreiche?“ (Potthoff, 230). 542 „Thorsten starrt mich mit offenem Mund an, als ich mein Büro verlasse. Wie verabredet, erwartet mich Sabine [Frau Potthoff] bereits mit gepackter Tasche auf dem Flur. Sie hat sich ebenfalls entschlossen, die Org mit mir zu verlassen, nachdem ich sie über die Vorfälle in Kopenhagen informiert hatte. Und so lassen wir gemeinsam 540 172 Herr Potthoff und seine Frau Sabine kehren in ihre Wohnung nach Krefeld zurück, auch um einen räumlichen Abstand zu Scientology zu gewinnen. Doch erleben sie bald eine böse Überraschung da ihre finanzielle Situation mehr als dürftig ist und die Möglichkeiten, ins normale Leben zurückzukehren, sehr begrenzt sind. „Mit voller Wucht trifft uns nun die Wirklichkeit mit unbezahlten Rechnungen, leeren Bankkonten, Schulden und einer miserablen Auftragslage. Wenn wir das Steuer noch einmal herumreißen wollen, dann müssen wir Tag und Nacht arbeiten. Doch um zu arbeiten, brauchen wir Kunden, ich aber stoße überall auf Reserviertheit oder offene Ablehnung.“543 Die Schwiegereltern erklären sich bereit, finanzielle Unterstützung zu gewähren, stellen jedoch die Bedingung, daß Norbert und Sabine jeden weiteren Kontakt zu Scientology unterlassen. In der schwierigen finanziellen Lage bietet Adele, eine befreundete Scientologin, überraschenderweise ihre Hilfe an. Sie versichert, Norbert könne für sie arbeiten, ohne weitere Verpflichtungen einzugehen. Frau Potthoff hat von Anfang an ein ungutes Gefühl dabei, wieder in direkten Kontakt zu einer Scientologin zu treten, woraufhin ihr Mann die Vordringlichkeit der Geldbeschaffung und die Möglichkeit der Abtragung der Schulden hervorhebt. Tatsächlich entpuppt sich dieses verlockende Angebot bald als ein raffinierter Trick, um das Ehepaar Potthoff wieder intensiv an die Sekte zu binden.544 Diese Rechnung geht teilweise sogar auf. Sabine Potthoff gerät durch Adele wieder unter den massiven Einfluß der Sekte. In diesem Zusammenhang bemerkt ihr Mann: „Als Sabine zu einem längeren Gespräch in Adeles Büro verschwindet, ahne ich noch nichts Böses. Erst als sie mit völlig verändertem Gesicht wieder auftaucht, all die Menschen hinter uns zurück, die wir für unsere Freunde gehalten haben. Was wird uns die Zukunft bringen?“ (Potthoff, 233). 543 Potthoff, 233f. Die Reserviertheit und Ablehnung wird dem Ehepaar Potthoff von Mitbewohnern ihrer Umgebung in Krefeld entgegengebracht. Diese haben offenbar von den Aktivitäten bei Scientology erfahren und halten sich von Familie Potthoff fern, wodurch die Rückkehr ins normale Leben sehr erschwert wird. 544 Vgl. Potthoff, 237. 173 werde ich stutzig. Sie hat wieder diesen seltsamen Auditorenblick, der in den letzten Monaten ganz verschwunden war.“545 Durch seine Frau läßt sich auch Norbert Potthoff bald wieder zu einer Tätigkeit bei Scientology überreden. Er erhält den Auftrag, sich sofort nach Kopenhagen zu begeben, wo er von allen Vorgesetzten und Mitarbeitern trotz seiner Flucht aus der Organisation äußerst zuvorkommend behandelt wird und wo er an einem neuen Projekt arbeiten soll.546 Nach diesem anfänglichen „Love-Bombing“547 wird er wieder dem Leistungsdruck und den Kontrollmechanismen der Organisation ausgesetzt.548 Die Unterkunft in der Kopenhagener Zentrale ist miserabel und schockiert ihn sehr: „Im Halbdunkel erkenne ich doppelstöckige Betten in langen Reihen. Mit Laken und Decken versuchen einzelne, etwas wie Privat- oder Intimsphäre herzustellen – aber die Trostlosigkeit dieses Schlafsaales ist unübersehbar.“549 Trotz der widrigen Umstände entdeckt Potthoff, daß er die Freude an seiner Arbeit und seinem Beruf wiedergefunden hat. Dabei wird ihm immer deutlicher bewußt, daß er diese Arbeit und nicht das System von Scientology liebt.550 Potthoff wird schließlich nach Deutschland zurückgeschickt. Auf der Rückreise geht ihm die Arbeitsweise der Organisation und sein als Arbeitssucht zu charakterisierender Einsatz für das scientologische System durch den Kopf. Wie ein Workaholic habe er sich blind in die Arbeit gestürzt. Nur um nichts sehen zu müssen, habe er bis tief in die 545 Die finanziell begüterte Scientologin Adele verspricht Sabine bei dieser Gelegenheit, sie und ihr Mann könnten wieder für die Organisation arbeiten und ihre Schulden bei Scientology seien getilgt. Ihr Mann ist über ein solches Angebot überrascht. „Mag sein, daß ich in einem Anflug von Naivität die Gefahr des erneuten Kontakts mit Scientoloy sträflich unterschätzt habe, aber mit einer solchen Entwicklung konnte ich wirklich nicht rechnen. Und wie so oft: Sabines strahlende Haltung, ihre Zufriedenheit, endlich wieder auditieren zu können, bricht meinen Widerstand.“ (Vgl. Potthoff, 238f.). 546 Hubbards Buch „Kampf um die Erde“ soll eine möglichst große Verbreitung erfahren und er soll zu diesem Zweck effiziente Werbestrategien entwickeln. (Vgl. Potthoff, 241). 547 Überhäufung mit Komplimenten, um das Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. 548 Über die Arbeitsweise im Kopenhagener Scientology-Zentrum berichtet er folgendes: „Druck und Geschwindigkeit sind in der Sea-Org noch weit höher, als ich erwartet habe. Kaum einer geht, fast alle eilen in einer Art Dauerlauf über die Flure, Die Werbeabteilung ist im obersten Stock, und auch Beate hat auf dem Weg dorthin ihr Schrittempo merklich erhöht.“ (Potthoff, 243). 549 Potthoff, 245f. 550 Ibid., 251. 174 Nacht gearbeitet. Er müsse endlich aufhören, sich selbst zu belügen. In diesem System seien doch alle nur Rädchen.551 Diese Gedanken führen zu seinem Entschluß, die Sekte nun endgültig zu verlassen, was er auf der Rückreise mit dem lauten Ausruf „Nie wieder Sea-Org“ quittiert.552 Potthoff will für sich und seine Frau eine größere räumliche Distanz zu Scientology aufbauen und fährt deshalb nach Kempen zu Matthias, einem befreundeten ehemaligen Scientologen.553 Über den psychischen Zustand seiner Frau zu dieser Zeit schreibt er: „Sabine folgt mir widerspruchslos. Sie wirkt wie paralysiert, steht unter Schock. Immer wieder kommen diese Phasen und immer hängen sie mit Scientology zusammen, das weiß ich. Irgend etwas scheint vor Jahren in ihr zerbrochen oder empfindlich gestört worden zu sein.“554 Norbert Potthoff ist nicht gewillt, ihre psychischen Störungen länger hinzunehmen. Daher ist die Reise als Versuch zu werten, sich und seine Frau bei dem befreundeten Matthias in Sicherheit zu bringen und dort die erste Zeit nach der Trennung von der Sekte zu verbringen. Norbert Potthoff fürchtet allerdings nicht ohne Grund, die Frau des Gastgebers könnte der Organisation seinen Aufenthaltsort verraten. Doch wird ihm von Seiten seines Freundes versichert: „Und wegen Eva macht euch mal keine Sorgen. Die wird euch schon nicht verraten.“555 551 Potthoff, 251f. Ibid., 252. 553 Über Matthias bemerkt Potthoff, dieser habe nach der Durchführung eines bestimmten Kurses die Verbindung zu Scientology beendet, allerdings sei seine Frau Eva weiterhin eine aktive Scientologin, was für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung ist. (Vgl. Potthoff, 255). 554 Potthoff, 254. 555 Ibid., 255. 552 175 2.2.2 Konkrete Schritte aus der Sekte 2.2.2.1 Jutta Elsässer Für Jutta Elsässer wäre der Ausstieg aus der Sekte mit ihrer Austrittserklärung eigentlich beendet gewesen, jedoch wird ihr empfohlen, die Angelegenheit durch eine Rechtsinstanz der Scientology-Organisation entscheiden zu lassen. Frau Elsässer hatte bis dahin rechtliche Schritte gegen Scientology in Erwägung gezogen. Trotzdem ist sie gewillt, sich auf das sogenannte Kaplansgericht einzulassen;556 aus Gründen, die ihr vorenthalten werden, kommt jedoch diese Verhandlung schließlich nicht zustande. Als ihre weiteren Bemühungen um Klärung ignoriert werden, faßt sie den endgültigen Entschluß, die Sekte auch offiziell zu verlassen. Mit Datum vom 2. Dezember 1992 kündigt sie ihren endgültigen Austritt aus Scientology an und verlangt die ihr noch zustehenden Geldbeträge zurück.557 In der Hoffnung, die von der Organisation eingesetzte Verzögerungstaktik unwirksam zu machen, droht sie rechtliche Schritte an. Die Sekte reagiert, indem sie ihr 2.000 DM als Abfindung gewährt. Die scheinbare Großzügigkeit erklärt sich vor allem aus der Absicht, einen öffentlichen Skandal und eine Offenlegung der Praktiken der Organisation zu vermeiden. „Über ein solches ‚Angebot‘ konnte ich nur lachen“ schreibt Jutta Elsässer. „Ich hatte einen Kredit von insgesamt 33.000 Mark (inklusive Zinsen) für nichts und wieder nichts abzutragen, war schamlos belogen worden, konnte mich weder der Fortführung eines Universitätsstudiums noch einer Ausbildung widmen, da ich auf einen bestimmten festen Monatsverdienst angewiesen war – und sollte mit lächerlichen 2.000 Mark abgefunden werden!“558 Da sie deshalb auf einem Prozeß beharrt, versucht die Sekte, sie erneut zur Absolvierung einiger 556 „Entgegen meinen kühnsten Erwartungen wurde mir auf meine Ausstiegsankündigung hin vorgeschlagen, ein sogenanntes ‚Kaplansgericht‘ einberufen zu lassen, um die Sache zu bereinigen.“ (Elsässer, 239). 557 Vgl. Elsässer, 240. Frau Elsässer hat noch Guthaben auf den Servicekonten der Sekte für nicht besuchte Kurse, die ihr zurückgezahlt werden sollen. 558 Elsässer, 241. 176 Kurse zu bewegen und sie zu Gesprächen mit Scientologen zu überreden, um angeblich den wirklichen Grund ihrer Unzufriedenheit zu ergründen. Sie lehnt dies jedoch strikt ab. Sie war nur noch an einem Termin zur Abwicklung der erforderlichen Formalitäten interessiert. Scientology biß sich an ihr fortan die Zähne aus.559 Jutta Elsässer setzt sich durch und erhält alle von ihr geforderten Geldbeträge zurück. Dazu bemerkt sie ironisch: „Und siehe da: Man zahlte. Die Drohung mit rechtlichen Konsequenzen war demnach die einzige Sprache, die auf Anhieb verstanden wurde.“560 Innerhalb kurzer Zeit hat Frau Elsässer den Kontakt mit der Sekte endgültig beenden und zusammen mit einem befreundeten ehemaligen Scientologen alle Schulden abzahlen können. 2.2.2.2 Elke Nietsche Nachdem Markus B. von der Eltern- und Betroffeneninitiative vernommen hat, daß Frau Nietsche endgültig mit Scientology brechen will, warnt er sie vor jeglichem weiteren Kontakt mit der Sekte und rät ihr, einen Anwalt einzuschalten. „Er meint“, schreibt Frau Nietsche, „daß man bei den Scientologen mit allem rechnen müsse. Auf keinen Fall dürfe ich irgendeine Verbindung mit ihnen aufnehmen und schon gar nicht bei Olaf auftauchen. Sie verfügen über Techniken und Mittel, um mich wieder zurückzuholen.“561 Durch diese Vorsichtsmaßnahmen wird Frau Nietsche deutlich vor Augen geführt, in welcher Gefahr sie auf dem Weg ihres Ausstiegs schwebt. Sie denkt mit Schrecken an Olafs Auftreten in ihrer Wohnung zurück. Sie ist überzeugt, daß die Münchener Zentrale ihn zu ihr geschickt hat. Sie wagt gar nicht daran zu denken, was hätte passieren können, wenn sie mit ihm allein in der Wohnung gewesen wäre. Mit Hilfe des Sektenberaters, Herrn Markus B., verfaßt Frau Nietsche ein 559 Elsässer, 241. Ibid., 242. 561 Nietsche, 82. 560 177 Austrittsschreiben, wobei sie eine fürchterliche Angst und Unsicherheit überkommt. Sie beginnt am ganzen Leibe zu zittern, als sie das Kündigungsschreiben des Mitarbeitervertrages aufsetzt. Sie ist so angespannt, daß sie zu weinen beginnt. Gleichzeitig wird sie von einer großen Unsicherheit erfaßt, da sie Angst vor eventuellen Repressalien der Sekte hat. „Welche Maßnahmen wird Scientology ergreifen?“, fragt sie sich.562 Schließlich verläßt Frau Nietsche ihre Wohnung und hält sich mit ihrer Tochter Fredericke bei ihren Eltern verborgen. Tatsächlich läßt die Sekte sie eine Zeitlang in Ruhe, so daß sie sich ermutigt fühlt, zunächst ohne ihre Tochter in ihre alte Wohnung zurückzukehren, um sich allein und ungestört mit den Ereignissen der vergangenen sechs Wochen auseinandersetzen. Die Scientology- Organisation hat ihr Leben ruiniert, so daß sie sich „wie eine Aussätzige“ fühlt. Man hat ihr alles genommen. Sie schämt sich sehr und möchte sich am liebsten „verkriechen und nichts sehen und nichts hören“. Die ausbleibenden Reaktionen der Organisation wertet sie als geschickte Taktik der Sekte mit dem Ziel, sie seelisch „fertigzumachen“. Sie soll ins Wanken geraten und zu Scientology zurückkehren. Doch sie ist fest entschlossen, der Organisation nicht mehr zu erlauben, künftig noch irgendwie Macht über sie auszuüben.563 Der Scientologe Olaf, für den sie einst auf Flohmärkten und anderen Veranstaltungen Waren verkauft hat, um ihre Mitgliedschaft bei Scientology zu finanzieren, meldet sich nach einiger Zeit mit einem Brief. Er teilt Elke Nietsche mit, sie sei von allen ihren Aufgaben bei der Organisation entpflichtet. Sie solle jedoch ihrer Tochter die Möglichkeit geben, mit Scientology in Kontakt zu treten.564 Dieses Ansinnen stürzt Frau Nietsche in eine weitere Krise. Olaf versucht, in ihr wegen der Vernachlässigung der Tochter Schuldgefühle wachzurufen. Er bringt Fredericke ins Spiel, um Salz in die Wunden des Opfers zu streuen und es seelisch und moralisch zu destabilisieren, was 562 Nietsche, 82. Ibid., 86f. 564 Ibid., 87f. 563 178 ihm auch gelingt. 565 Sie erkennt seinen Brief als Versuch, sie zu erneuten Kontakten mit der Sekte zu bewegen. Die eigentlichen Hintergründe seines Interesses an ihr werden ihr erst jetzt wirklich bewußt. „Es ist ein Spiel, das einen in den Wahnsinn treibt. Allmählich wollte er [Olaf] mir all seine Posten übergeben, damit er endlich das ausführen darf, was er eigentlich von Anfang an wollte: Auditor mit E-Meter sein. Das jedoch wird man ihm nur erlauben, wenn er einen Ersatz liefert. Dafür hatte er mich auserkoren.“566 Frau Nietsche begreift immer mehr, wie sehr die Scientologen sie mißbrauchen und ausnutzen. Bei allem, was ihr an Schrecklichem widerfahren ist, kann sie von Glück sagen, daß ihr mit Hilfe ihrer Verwandten und der Hilfe des Sektenberaters und der Betroffeneninitiative der Ausstieg nach sechs Wochen Mitgliedschaft geglückt ist, wenngleich die psychologische Bewältigung der Sektenmitgliedschaft noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Daher fragt sich Frau Nietsche: „Wann kann ich endlich sagen, wirklich draußen, wirklich ausgestiegen zu sein? Es ist ein langwieriger Prozeß.“567 2.2.2.3 Norbert Potthoff Norbert Potthoff und seine Frau versuchen, sich von Scientology zu lösen, indem sie sich in Kempen bei seinem Freund Matthias verstecken. Nachdem er schon einmal zur Organisation zurückgekehrt ist, fehlt bei Norbert die Bereitschaft, einen erneuten Rückfall zu riskieren. Besonders die psychischen Probleme, unter denen seine Frau leidet, bestärken ihn in dieser Haltung. Trotz der Entfernung zur Niederlassung in Düsseldorf nimmt seine Frau wieder Verbindungen zur Sekte auf. Bald schon fährt sie wieder 565 „Mich macht das sehr betroffen, ich kann mich kaum beruhigen. Besonders die Anspielung bezüglich meiner Tochter schmerzt mich. Er weiß, daß ich Probleme mit ihr habe. Somit schießt er in eine offene Wunde, denn momentan komme ich mit Fredericke überhaupt nicht zurecht.“ (Nietsche, 88). 566 Nietsche, 89. 567 Ibid., 91. 179 regelmäßig zu Scientology nach Düsseldorf.568 Der Weg in die Freiheit, in ein der Sekte abgewandtes Leben, erscheint ihr eher als Bedrohung, denn als wirklicher Schritt hin zur Selbständigkeit, während die vertraute Ordnung in Scientology ihr wie das Paradies erscheint. Schließlich verbringt sie nur noch einen Tag pro Woche bei ihrem Mann und entfremdet sich immer mehr von ihm.569 Alle seine Vorhaltungen bleiben wirkungslos. Dadurch erschweren sich die Ausstiegspläne erheblich. Nach einiger Zeit findet er sich bereit, zusammen mit seiner Frau eine von der Sekte organisierte Party zu besuchen, bei der auch Nichtscientologen anwesend sind. Dabei stellt er fest: „Mich fragt niemand mehr nach meiner Meinung, denn mein Band zu ihnen [Scientologen] ist nur noch sehr dünn, besteht vielleicht auch nur noch deshalb, weil ich meine Frau nicht verlieren möchte.“570 So merkt er, daß seine kritische Haltung gegenüber der Sekte den Scientologen längst bekannt ist. Scientology übt eine derart großen Einfluß auf Frau Potthoff aus, daß diese beschließt, sich von ihrem Mann zu trennen. „Sabine sagt es kühl und ohne eine Spur von Mitgefühl.“571 Als seine Frau diese Worte spricht, hat Norbert den Eindruck, daß neben ihm plötzlich eine Fremde sitzt. Diese Episode zeigt, wie weit es der Sekte gelungen ist, das gute Verhältnis zwischen den Eheleuten zu zerstören. Durch seine Frau bringen die Scientologen Norberts Aufenthaltsort Potthoffs bei dem Ex-Scientologen Matthias in Erfahrung. Deshalb statten ihm zwei Ethik-Offiziere der Organisation einen Besuch ab, um ihn zur Rückkehr in die Organisation zu bewegen. Doch Norbert öffnet ihnen erst gar nicht die Tür seiner Wohnung und zeigt dadurch unmißverständlich, daß er sich nicht mehr in ein Gespräch mit ihnen einlassen will. Als die beiden Männer das Haus verlassen müssen, ist seine Wut so groß, daß er 568 „Sabine fährt immer noch regelmäßig nach Düsseldorf, und ich kann sie auch nicht davon überzeugen, damit aufzuhören. Im Gegenteil, sie fährt immer öfter und bleibt immer länger aus, schließlich sogar für mehrere Tage.“ (Potthoff, 257). 569 „Mir bleibt nur ein einziger Tag, um mit Sabine ins Gespräch zu kommen, während sie sechs Tage in der Woche unter scientologischem Einfluß steht.“ (Potthoff, 259). 570 Potthoff, 260. 571 Ibid., 261. 180 den Wunsch nicht unterdrücken kann, sie mögen auf der dunklen Treppe stolpern und sich „den Hals brechen.“572 Das Abweisen der Ethik-Offiziere zeugt von einem neuen Selbstbewußtsein. „Ich kann mein Selbstbewußtsein nicht länger davon abhängig machen, wie ich zu diesem System Scientology stehe. Ich muß meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig von irgendeinem System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten schreiben, will sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik schielen oder auf eine schwebende Nadel am E-Meter.“573 Um seine Wut und Enttäuschung zu verdrängen, beschließt Potthoff spontan, die Wohnung, die Matthias ihm zur Verfügung gestellt hat, zu renovieren. Dabei erleidet er einen lebensgefährlichen Unfall, der einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt zur Folge hat.574 Nicht einmal im Krankenhaus ist er vor Schikanen der Scientology-Organisation sicher. Als seine Frau ihn eines Tages in der Klinik aufsucht, zeigt sich auch bei dieser Gelegenheit, wie sehr sie von Scientology indoktriniert ist. Das einzige, was sie ihrem Mann in seiner lebensbedrohlichen Lage zu sagen hat, ist die sarkastische Bemerkung: „Nun, mein Lieber, du siehst, was geschieht, wenn du die Brücke zur totalen Freiheit verläßt. Du mußt schnellstens OT III gehen. Du hast eine fallende Statistik. Denk darüber nach. Mit einem Selbstmordversuch wirst du mich nicht zurückgewinnen. Ich bin nicht erpreßbar.“575 Die Mutter läßt dagegen ihren Sohn nicht im Stich.576 Sie kennt die Intrigen der Sekte und um die Ursachen der Not ihres Sohnes und nimmt ihn nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus bei sich auf. Trotz aller Rückschläge gibt sich Potthoff nicht geschlagen und hofft, seine Frau Sabine zurückgewinnen zu können. Deshalb fährt er nach seiner Genesung nach Düsseldorf, um sie am Scientology-Gebäude abzufangen, was ihm nach mehreren Versuchen auch gelingt. Dieser 572 Vgl. Potthoff, 263. Ibid. 574 Ibid., 265ff. 575 Potthoff, 271. 576 „Sie weiß, daß es schlecht um ihren Sohn steht. Und sie ahnt auch, wie es zu dieser Katastrophe kam. Ihr Haß auf Scientology ist fast grenzenlos.“ (Potthoff, 269f.). 573 181 letzte Versuch, Sabine zurückzugewinnen, scheitert jedoch. Sie ist zu einem von Scientology gesteuerten Werkzeug geworden. Potthoff muß sich damit abfinden, daß er seine Frau endgültig verloren hat. Seine seelische Verfassung nach diesem gescheiterten Gespräch schildert er folgendermaßen: „Voller Entsetzen stolpere ich in die Nacht hinaus. Das Bild einer Toten drängt sich mir auf. Es mag absurd sein, Mediziner, Psychologen mögen dafür bessere Erklärungen haben, aber mir kommt kein anderer Vergleich in den Sinn.“577 Frau Potthoff dagegen leitet als letzte Reaktion die Scheidung in die Wege und läßt ihrem Mann das Ehescheidungsgesuch zusenden. Norbert Potthoff weigert sich zunächst, das Scheidungsgesuch zu akzeptieren, allerdings nur aus Trotz, um die Scientology-Organisation für das erlittene Unrecht gewissermaßen zu bestrafen. Die Scheidung kann er dadurch jedoch nicht verhindern. Es kommt zu einer Verhandlung, durch welche die Ehe geschieden wird. Diese Ehescheidung ist der endgültige Schlußstrich. Sie dokumentiert nicht nur, daß seine Frau sich von ihm getrennt hat, sondern auch seinen endgültigen Bruch mit der Sekte. Erst jetzt kann Norbert Potthoff erleichtert feststellen: „Wenn ich jetzt durch die Tür des Gerichtssaals hinausgehe, verlasse ich endlich nach sieben Jahren das Labyrinth von Scientology.“578 2.2.2.4 Zusammenfassung Die geschilderten Erfahrungsberichte zeigen, daß es für die Sektenaussteiger mit schweren Belastungen verbunden ist, wenn die Sekte von dem Ausstiegswillen Wind bekommt. Die Gründe, die Mitglieder veranlassen Scientology den Rücken zu kehren, sind im wesentlichen dieselben wie bei den Zeugen Jehovas, sind jedoch vielfältiger. Scientology versteht es, ihre Anhänger durch eine absolute Kontrolle und 577 578 Potthoff, 274. Ibid., 282. 182 Manipulation, vor allem durch eigene Sprach- und Verhaltensmuster, so weit vom Lebensalltag der übrigen Gesellschaft abzukapseln, daß ihnen der Realitätsbezug immer mehr abhanden kommt. Ohne die Hilfe von außen, durch Familienmitglieder oder Freunde, ist ein Ausstieg fast nicht zu bewältigen. Welche Wirkungen die Indoktrinationsverfahren nach sich ziehen, haben die Aussteigerberichte deutlich vor Augen geführt. Der Rückfall in die Sekte bei Norbert Potthoff und besonders bei seiner Frau sprechen in diesem Zusammenhang eine eindeutige Sprache. Die räumliche Trennung vom scientologischen Bezugsfeld ist in der ersten Zeit des Ausstiegs von großer Bedeutung. Angesichts des bei Scientology üblichen Psychoterrors und der üblichen Repressalien als Reaktion auf die Kündigung der Mitgliedschaft ist ein Wohnungswechsel ratsam. Jeder ausstiegswillige Scientologe muß sich einem Verfahren, dem sogenannten Kaplansgericht, unterziehen. Dieses Gericht stellt dabei ähnlich wie das Rechtskomitee bei den Zeugen Jehovas einen Versuch dar, die betreffende Person unter der Kontrolle der Sekte zu halten. Zu einer solchen oft mit weiteren Schikanen einhergehenden Prozedur erklären sich die wenigsten Ausstiegswilligen bereit, da eine solche erneute Konfrontation mit der Sekte für sie mit allzu großen Belastungen verbunden wäre. 2.2.2.5 Systematische Darlegung der wichtigsten Ursachen und Motive, die zu einem Bruch mit Scientology geführt haben Die Ursachen und Motive für einen Sektenausstieg bei Scientology betreffen fast ausschließlich den psychosozialen Bereich. Im Gegensatz zu einem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas findet bei Aussteigern aus Scientology meist keine kritische Auseinandersetzung mit der religiösen oder philosophischen Lehre, hier der Philosophie Hubbards, statt. Nicht sein philosophisches System als solches wird in Frage gestellt, sondern eher die Lebenspraxis von Mit-Scientologen, die Hubbards Lehren noch nicht angemessen verwirklicht haben. 183 Bei den Sektenaussteigern aus der Scientology-Organisation lassen sich vor allem fünf Ursachen und Motive deutlich herausstellen, die mehr oder weniger selbständig und ausgeprägt in Erscheinung treten können. Diese sind: Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis, Bewußtseinsveränderung und Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls aufgrund zeitweiser Distanz zur Scientology-Organisation, physische und psychische Erschöpfungszustände, Kontakte zu und Aufklärung durch Familienangehörige und andere der Sekte fernstehende Menschen, sowie als ergänzendes Motiv der finanzielle Ruin von Betroffenen. 2.2.2.5.1 Widersprüche zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis Bei den Widersprüchen zwischen Glaubenslehre und Lebenspraxis spielen Enttäuschungen und Frustrationen eine Rolle, die mit den hohen ethischen Forderungen, die das Sektenmitglied zu verwirklichen hat, zusammenhängen, so vor allem Enttäuschungen über das Verhalten von Mit-Scientologen unteren Ranges und von Vorgesetzten. Oftmals werden berechtigte Anfragen des Mitglieds von der zuständigen Abteilung der Scientology einfach ignoriert, was bei wiederholtem Auftreten zu Zweifeln und Kritik an der Organisation führen kann. Frau Elsässer beispielsweise erhält von der zuständigen Abteilung der Scientology-Organisation auch nach mehreren Monaten keine Antwort auf ihre Anfragen. Am prägnantesten lassen sich die Widersprüche zwischen der Glaubenslehre, die den Mitgliedern der Sekte absolute geistige Freiheit verheißt, und der negativen Praxis der Sekte, die sich am deutlichsten in der Existenz von Straflagern zeigt, die eine Bedrohung für Leib und Leben darstellen. Die unmenschlichen Malträtierungen innerhalb dieser Einrichtung erfährt Norbert Potthoff, als eine Mit-Scientologin, physisch und psychisch in Mitleidenschaft gezogen, bei ihm erscheint, woraufhin er sich über die Maßnahmen der Organisation entrüstet. Die ihm aufgrund seiner Führungsposition bekannten kriminellen Aktivitäten der Scientology, die Bedrohung seiner eigenen Freiheit und seines Lebens sowie dem seiner Frau, bilden zusammen das entscheidende Ausstiegsmotiv aus den 184 Reihen der Scientology. Die von Scientologen, besonders von Ethikoffizieren, verübten Gewaltakte gegenüber Mit-Scientologen machen die in den Schriften Hubbards verheißenen positiven philosophischen Ziele zunichte. 2.2.2.5.2 Bewußtseinsveränderung Selbstwertgefühls aufgrund und zeitweiser Stärkung Distanz des zur eigenen Scientology- Organisation Die enge Bindung an die Sekte, vor allem durch die ständige Indoktrination, bewirkt auf Seiten des Mitglieds ein hohes Maß an physisch-psychischer und zeitlicher Beanspruchung. Sobald sich dem Mitglied durch unerwartete Umstände eine Möglichkeit zur zeitweisen Distanz gegenüber der Sekte bietet, etwa durch gemeinsame Freizeitaktivitäten mit Außenstehenden, die eigentlich verpönt sind, kann dies ein Schritt hin zu eigenem Denken sein und ein Gefühl der Freiheit aufkommen lassen. Dies kann, wie im Fall von Frau Elsässer, bei einer Rückkehr in das von der Sektendoktrin beherrschte Umfeld ein Gefühl der Befremdung bewirken. Schließlich führen dies Erfahrungen zu der Erkenntnis, die Sektenumgebung sei für den schlechten Gesundheitszustand verantwortlich und die dauernde Beanspruchung durch Scientology habe die Reflexion über die Gruppe verhindert. Frau Elsässer will keinen „Raubbau“ mehr an ihrer Person zuzulassen und beschließt mit Hilfe von Verwandten und eines Sektenberaters die Organisation zu verlassen. 2.2.2.5.3 Physische und psychische Erschöpfungszustände Physische und psychische Erschöpfungszustände stellen meist ein mit anderen kombiniertes Motiv für einen Sektenausstieg bei Scientology dar. Erschöpfungszustände in diesen beiden Bereichen allein sind meist kein Grund dafür, die Sekte zu verlassen. Erschöpfungszustände aber, 185 kombiniert mit einer zeitweisen Distanz zur Organisation oder dem Kontakt mit Außenstehenden können ein wichtiger Schritt hin zum späteren Bruch mit der Gruppe sein. Neben Frau Elsässer zeigt auch das Beispiel Elke Nietzsches, wie Kontakte zu Familienangehörigen und Aufklärung durch diese und andere der Sekte fernstehende Menschen sowie eine zeitweise Distanz zur Sekte zu einem Reflektionsprozeß und zur „Besinnung“ führen kann. 2.2.2.5.4 Kontakte zu und Aufklärung durch Familienangehörige und andere der Sekte fernstehende Menschen Familienangehörigen und anderen der Sekte fernstehenden Menschen können jedoch meist nur dann einen Einfluß auf ein Sektenmitglied ausüben, wenn die Verbindungen noch nicht vollends abgebrochen worden sind und das Sektenmitglied erst seit kurzer Zeit, bei Frau Nietsche etwa nur sechs Wochen, ein Mitglied der Scientology ist. Bei ihr ist der Trennungs- und Abkapselungsprozeß von ihren Eltern im vollen Gange. Der noch vorhandene Kontakt zur Familie, sowie ihre zeitweise Distanz von Scientology aufgrund der räumlichen Entfernung zwischen Wohnort und Scientology-Zentrale begünstigen ihren baldigen Entschluß zum Ausstieg aus Scientology, wobei erst der von ihrer Schwägerin hinzugezogene und sie aufklärende Sektenberater ihr zur Erkenntnis verhilft, sie befinde sich in einer totalitären Sekte. Die durch ihre Reisen zur Scientology-Zentrale bedingte längere Abwesenheit von zu Hause und die so verursachte Vernachlässigung ihrer Tochter weckt Schuldgefühle und läßt sie die Ursache für die gestörten Familienbeziehungen erkennen. Der Sektenberater hilft in diesem Fall bei der Formulierung des Austrittsschreibens. Der Kontakt zu Familienangehörigen und anderen der Sekte fernstehenden Menschen kann also neben anderen Motiven entscheidend für das Verlassen der Sekte dar. 186 2.2.2.5.5 Finanzieller Ruin Als letztes, wenn auch mit einem oder mehreren der anderen Motive verknüpft, sei der finanzielle Ruin der meisten Scientology-Mitglieder genannt. Zunächst verstärkt die schlechte finanzielle Situation die Abhängigkeit und Bindung des Mitglieds an die Sekte, kann aber, wie das Beispiel Jutta Elsässers zeigt, auch zur Erkenntnis führen, die Organisation sei verantwortlich für die eigene miserable finanzielle Situation. Allerdings müssen auch hier immer mehrere Motive zusammenwirken, um schließlich die Entscheidung zum Ausstieg fällen zu können. So stellt der finanzielle Ruin nur ein Begleitmotiv dar, welches nicht allein stehen kann, sondern dem eine die anderen Motive verstärkende Funktion zukommt. 3 Den Sektenausstieg erschwerende psychologische Faktoren 3.1 Überzeugtsein von der Heilslehre der Sekte Auch bei einer ausstiegswilligen Person ist der Glaube an die Heilslehre der Sekte noch außerordentlich wirksam. Durch die permanente Indoktrination haben sich die Glaubensvorstellungen tief im Bewußtsein des Sektenmitglieds verankert. In diesem Zusammenhang betont Jutta Elsässer des öfteren ihre Versuche, dem Anspruch und der Lehre der Scientology-Organisation gerecht zu werden: „Wieder und wieder wies Hubbard darauf hin, daß man sich am Riemen reißen und die vorgegebenen Richtlinien zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Scientology mit größter Härte und Unnachgiebigkeit durchsetzen solle.“579 Monika Deppe von den Zeugen Jehovas äußert sogar die Befürchtung, den bisherigen Glauben im Falle eines Ausstiegs aus der Organisation, nicht mehr in der von Gott geforderten Weise ausüben zu können. Sie 579 Elsässer, 123. 187 schreibt: „Wir konnten uns kaum vorstellen, nie wieder in eine Versammlung zu gehen, denn das war uns zu einer alltäglichen Gewohnheit geworden. Würden wir jemals andere Menschen finden, die ihren Glauben ebenso ernst nehmen wie wir? Mit wem sollten wir nun über Gottes Wort reden können? Und die Sektendoktrin, daß ein ewiges Heil nur in unserer Organisation zu erreichen war, hatte sich so tief in unserem Unterbewußtsein festgesetzt, daß die Angst vor einer Vernichtung durch Jehova immer wieder in uns aufkam.“580 Diese zwei Beispiele zeigen, wie tief die Glaubenslehre gepaart mit einer Angst vor schlimmen Konsequenzen im Falle des Verlassens der Gruppe noch in der Denkstruktur der Mitglieder verankert bleibt. Das Mitglied hat für seine persönliche Überzeugung oft große Opfer gebracht und seine persönliche Glaubensüberzeugung auch außerhalb der Gruppe vertreten. Dies äußert sich bei den Zeugen Jehovas in der Lebensweise, beispielsweise in dem Verbot, daß ihre Kinder an gewissen schulischen Veranstaltungen oder an Weihnachtsfeiern, Geburtstagsfeiern und anderen als verwerflich betrachteten Feiern teilnehmen. Diese freiwillige Absonderung persönliches wird Bekenntnis von der der Kinder Wachtturm-Gesellschaft und Jugendlichen zu als ihrer Organisation und damit zu Jehova angesehen. Klaus-Dieter Pape spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die WTG ihre Kinder und Jugendlichen als „theokratische Armee“ bezeichne. Zur Schulung dieser Armee sei eine strenge Zucht durch die Eltern und die Organisation erforderlich.581 Erwachsene Zeugen Jehovas leben ihre Glaubensüberzeugung auch in Konfliktsituationen am Arbeitsplatz, wo sie einerseits für ihren Arbeitseifer und ihre Disziplin bewundert, andererseits aber auch oft offen angefeindet, abschätzig Verachtung behandelt bestärken und verspottet gläubige werden. Anfeindungen Sektenmitglieder meist in und ihrer Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein. Monika Deppe erinnert in diesem Zusammenhang an die Gestalt des Noah aus dem alten 580 581 Deppe, 73. Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 172-176. 188 Testament, der aufgrund seiner Predigten und Gottverbundenheit ebenfalls verspottet wurde: „Die damalige Menschheit hatte seinen Warnungen nicht geglaubt, und sicherlich hatte Noah den gleichen Spott geerntet, wie wir heute als Zeugen Jehovas. Wenn er das hatte ertragen können, dann konnten wir das auch, denn auch wir handelten ja im Auftrag Gottes.“582 Der Auftrag Gottes, so wie er von der jeweiligen Sekte interpretiert wird, ist unbedingt zu erfüllen. Das hat Klaus-Dieter Pape am Beispiel der Zeugen Jehovas dargelegt. Danach gilt es, sämtlichen Anfeindungen und Kritiken entgegenzutreten, um für Jehova Zeugnis abzulegen. Diese Überzeugung immunisiert die Gläubigen gegen jegliche Kritik von außen und ermöglicht es den Mitgliedern, Ablehnung und Spott zu ertragen. Auch eigene Zweifel werden so unterdrückt oder kommen erst gar nicht auf. „Der Zweifel bringt dich ums Paradies“ 583 , schreibt Klaus-Dieter Pape. Margaret Thaler Singer und Janja Lalich befassen sich mit der Rolle der Glaubensüberzeugungen in Sekten aus psychologischer Sicht und kommen zu dem Ergebnis: „In der Welt der Sekten sind Glaubensüberzeugungen der Klebstoff, der eine Person an die Gruppe bindet. In welcher Art von Gruppe Sie auch sein mögen, Sie machen mit und passen sich an, weil Sie an die Gruppe glauben. Sie glauben an die Ziele und an die Menschen, die das gleiche tun wie Sie. Sie glauben an den Führer. Sie glauben, daß Ihr Tun Sinn hat.“584 Diese Überzeugungen sitzen so tief, daß vereinzelte Zweifel und Unstimmigkeiten immer wieder verdrängt werden. Als Rechtfertigung für Fehler innerhalb der Organisation wird dabei auf die Fehlerhaftigkeit einzelner verwiesen, jedoch wird die Verantwortung für negative Vorkommnisse niemals der Sekte als solcher zugeschrieben. Im Falle von Kritik wird das Mitglied in der Regel mit dem Hinweis auf die Kompetenz der Führung abgespeist und ausdrücklich auf seine eigene Inkompetenz hingewiesen. Dem Zweifler oder Kritiker wird dann empfohlen, an sich selbst zu arbeiten, sich selbst durch das tiefere Studium der Heilslehren zu verändern „und 582 Deppe, 45. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 158. 584 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 307. 583 189 allmählich haben diese Veränderungen eine radikale Wirkung auf Ihre Gedanken und Handlungen, ohne daß Sie sich dessen bewußt sind.“585 3.2 Anstand und Loyalität Die Loyalität gegenüber der eigenen Glaubensgemeinschaft wird in zahlreichen Publikationen und Vorträgen immer wieder als zentraler Bestandteil der Mitgliedschaft hervorgehoben.586 Bei der Erwägung eines Ausstiegs gerät eine Person in einen Gewissenskonflikt. Sie kann das der Gruppe gemachte Loyalitätsversprechen im Falle eines Ausstiegs nicht mehr erfüllen. In formaler Hinsicht muß der einmal unterzeichnete Mitgliedsvertrag der Organisation gegenüber gekündigt werden. Dieser Schritt stellt für die Mehrheit der Ausstiegswilligen eine harte Probe dar und ist oft mit erheblichen schwierigen Schuldgefühlen Konflikten und und Zweifeln Ängsten verbunden. die Mit Aufkündigung welch der Sektenmitgliedschaft einhergehen kann, haben wir am Beispiel von Elke Nietsche gesehen. Sie berichtet, das Kündigungsschreiben des Mitarbeitervertrages von Scientology „zitternd“ aufgesetzt zu haben. Dieser Brief strengt sie so sehr an, daß sie „zu heulen“ beginnt und „ins Schwanken“ gerät.587 Das einmal gegebene Versprechen, die Organisation und alle ihre Ziele zu unterstützen und nach außen hin auch zu verteidigen, besitzt ein solches Gewicht, daß die Entscheidung, die Sekte zu verlassen, immer wieder aufgeschoben wird. So kann man bei Thaler Singer / Lalich lesen: „Ich habe mich dazu entschlossen, ich habe ja gewußt, daß es nicht leicht ist. Manches hier scheint mir nicht in Ordnung zu sein, aber ich habe gesagt, daß ich mitmachen will, ich habe schließlich mein Wort gegeben. Ein bißchen bleibe ich noch.“588 585 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 307. Das „Ihre“ in dem Zitat bezieht sich auf den Leser, der sich auf diese Weise direkt angesprochen fühlen soll. 586 Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 132ff. 587 Vgl. Nietsche, 82. 588 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308. 190 Die Entscheidung für die Sekte und die Hoffnung auf eine überraschende Wende zum Guten verhindert, daß ein Sektenmitglied den längst fälligen Ausstieg tatsächlich vollzieht. Jutta Elsässer gibt ihre Erfahrungen und Gedanken in diesem Zusammenhang so wieder: „Ich wollte die Hoffnung noch immer nicht aufgeben, daß sich alles zum Guten wenden würde. Mein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen war noch immer nicht gebrochen!“589 Durch diese Verzögerung erspart sich der Ausstiegswillige das Gefühl, vor den Anforderungen der Sekte zu kapitulieren und seine eigene Unfähigkeit eingestehen zu müssen. Das Gefühl, ein „Drückeberger“ zu sein, soll unbedingt vermieden werden.590 3.3 Gruppendruck und Informationsmangel Die stets als vorbildlich herausgestellte Leistungsbereitschaft von Mitgliedern und deren Missionserfolge soll bei den übrigen Gläubigen die Motivation stärken. Dies führt zu einer Art Konkurrenzdenken, bei welchem es darum geht mit den anderen mitzuhalten, und deren Leistungen und Erfolge womöglich noch zu übertreffen und so selbst ein Vorbild für andere zu werden. Bedingt durch den zeitaufwendigen und energiereichen Einsatz für die Sekte, bleibt für persönliche Angelegenheiten nicht mehr viel Raum. Eine eingehende Reflexion über das eigene Leben und die wirklichen Vorgänge innerhalb der Gruppe ist aus Zeitmangel und persönlicher Inanspruchnahme nicht möglich und auch nicht erwünscht. Alles soll im Licht der Heilslehre interpretiert werden, wobei der Einfluß der Außenwelt, besonders von Kritikern, so weit wie möglich ausgeschaltet werden soll: „Dienst, Dienst, Dienst, das ist doch die Parole, die aus allen Wachtturm-Schriften spricht, die das übergeordnete Thema einer jeden örtlichen Zusammenkunft darstellt, und die auch auf allen Kongressen immer neu im Vordergrund steht.“591 589 Elsässer, 238. Vgl. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308. 591 Twisselmann, 43. 590 191 Die Zurückdrängung des Einflusses der Außenwelt zeigt sich bei den Zeugen Jehovas insbesondere in dem Verbot, mit ehemaligen Mitgliedern Kontakte zu unterhalten. Diese könnten durch ihre kritischen, sektenexternen Informationen die Stabilität des gesamten Systems in Frage stellen: „Da gerade ehemalige Zeugen Jehovas viele Mißstände der Organisation aufdecken, werden sie in den Veröffentlichungen der ‚leitenden Körperschaft’ geradezu verketzert. Kein Zeuge darf einen Ehemaligen grüßen, und für deren Literatur besteht ein absolutes Leseverbot.“592 Ziel des Gruppendrucks und des Vorenthaltens von Informationen ist es, das eigene System zu stabilisieren und gegen die feindliche Außenwelt abzuschirmen. Thaler Singer / Lalich bemerken hierzu: „Weltereignisse werden entstellend interpretiert, ebenso die Haltung der Außenwelt zur Gruppe. Alle diese Mythen über die Sekte und die Gesellschaft werden nicht nur vom Führer, sondern auch von seinem inneren Führungskreis ständig verbreitet. Der Informationsmangel der meisten Mitglieder hält sie davon ab, sich wirklich Rechenschaft über die Situation zu geben, in der sie sich befinden.“593 3.4 Übersteigerte Autoritätsgläubigkeit und Angst vor Bestrafung Die ständige Indoktrination und die Forderung eines absoluten Gehorsams unter Hinweis auf die angeblich gottgegebene Autorität der Oberen führt bei den Anhängern zu einem Gefühl der Unterlegenheit und zu einer übersteigerten Autoritätsgläubigkeit. „Die meisten Mitglieder sind überzeugt, daß die Leitung ihrer Gesellschaft in den Händen von Männern liegt, die in besonderer Weise vom Geist Gottes geleitet werden. Nur sehr wenige Mitarbeiter in der Weltzentrale in Brooklyn ahnen, mit welchen 592 593 Deppe, 62. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 310. 192 Methoden tatsächlich die einzelnen Entscheidungen gefällt werden und wie oft dieses Leitungsgremium mit zweierlei Maß mißt.“594 Bei Scientology ist diese Autoritätsgläubigkeit mit Kadavergehorsam gepaart. Personen, die höhere Auditingstufen erfolgreich absolviert haben, genießen besonderes Ansehen. Den Offizieren der Organisation gebührt dabei die höchste Form des Respekts, den sie notfalls unter Androhung von Strafmaßnahmen erzwingen. Kritik wird als Mißachtung gegenüber den Oberen interpretiert und geahndet. Es gilt der Grundsatz: „Der Führer besitzt die erschöpfende Antwort, Fragen und Zweifel sind unangebracht.“595 Die Ächtung und Verfolgung von Kritikern und Zweiflern und die Herabsetzung deren menschlicher Würde ist bei Scientology wie auch bei den Zeugen Jehovas ein wirksames Mittel der Abschreckung. „Um Gehorsam durchzusetzen, hat jede Gruppe ihre Form der Bestrafung für Regelverletzung. Wenn Sie kritische Fragen stellen, wird man Sie lächerlich machen und Sie je nach Gruppenjargon Verräter, Spion, Agent oder Satan nennen oder sonstwie diffamieren. Es gibt immer eine gruppeninterne Sprache, um jemanden verächtlich zu machen und herabzusetzen.“596 Dabei werden die staatlichen Gerichte durch eine eigene Gerichtsbarkeit umgangen. Bei den Zeugen Jehovas wird diese Aufgabe vom Rechtskomitee597 bei Scientology vom Kaplansgericht übernommen. Die Durchführung von Strafmaßnahmen kann bei Scientology besonders bedrohliche Ausmaße annehmen, wie es Norbert Potthoff am Schicksal der Mitscientologin Susan schildert, die wie ein Schwerverbrecher in ein sogenanntes Rehabilitierungslager gesteckt wurde.598 594 Deppe, 63. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 308. 596 Ibid. 597 Zur Arbeit des Rechtskomitees siehe Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 202f. 598 „Susan beginnt zu weinen, und unter Tränen erzählt sie mir ihr Leid. Man schickte sie damals nach Kopenhagen, aber dort geriet sie sofort ins RPF, in das Rehabilitierungslager. In einem alten Heizungskeller fristete sie dort mit anderen Schwerverbrechern ein kümmerliches Leben mit Sprechverbot, Schlafentzug und schlechter Ernährung. Beate hatte sie zum schweren Ethikfall erklärt, und da sie gar nicht wußte, was sie überhaupt verbrochen haben sollte, hatte ihr Widerstand gegen 595 193 Bei den Zeugen Jehovas wird intensiv mit Verleumdung gearbeitet, um Ehemalige oder Kritiker in Verruf zu bringen. Dies schreckt die meisten Gläubigen davor zurück, Mißstände selbst zur Sprache zu bringen und so zu ebensolchen Kritikern gezählt zu werden. Gerd Wunderlich wird nach seinem Ausstieg von einem anderen noch aktiven Zeugen heftig in Verruf gebracht. Dieser teilt einem Passanten, nachdem dieser ihn argumentativ widerlegt hat, mit: „Das können Sie doch nur vom Wunderlich haben! Der ist doch vom Satan besessen.“599 Die überaus starke Autoritätsgläubigkeit und die ständige Angst vor Zurechtweisung und Diskriminierung aus den eigenen Reihen, bewirken bei den Gläubigen eine Fremdbestimmung in fast allen Lebensbereichen, über welche Thaler Singer schreibt: „Wenn Sie Mitglied einer Sekte sind, dann ist ein großer Teil Ihrer Umgebung und Ihrer Lebensentscheidungen fremdbestimmt: Ihre finanziellen Ressourcen, Ihr Zugang zu Informationen, die Wahl Ihrer Arbeit, Ihre Freizeit, Ihr sozialer Umgang, manchmal sogar Ihr sexuelles Leben stehen unter Kontrolle.“600 3.5 Erschöpfungs- und Verwirrtheitszustände Der permanente Leistungsdruck führt bei den Mitgliedern der Sekten oft zu Erschöpfungserscheinungen, die zeitweilig von einer gewissen Verwirrtheit begleitet werden können. Die in einem normalen Berufsleben Möglichkeiten der Freizeitgestaltung können nur selten oder gar nicht in Anspruch genommen werden.601 Im Zusammenhang mit Überlastungsund Erschöpfungszuständen von Sektenmitgliedern bemerken Margaret diese Behandlung sie tiefer und tiefer in die Strafmaßnahmen hineingezogen.“ (Potthoff, 204f.). 599 Wunderlich, 172. 600 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 309. 601 Über die Folgen einer solchen einseitigen Beanspruchung bei den Zeugen Jehovas heißt es: „Die Zeugen Jehovas investieren ihr ganzes Leben in einen einzigen Lebenszweck, nämlich den, der Wachtturm-Organisation zu dienen (nach ihrer Ansicht handelt es sich dabei um Dienst für Gott), anstatt einer Vielzahl von Interessen zu folgen, mit denen Erfolg und Belohnung verbunden sind und die eine Identität begründen. Mißerfolg oder Enttäuschung auf diesem einen Gebiet wirken sich daher verheerend aus.“ (Borchers-Schreiber, Vermehrtes Auftreten psychischer Erkrankungen, 8f.). 194 Thaler Singer und Janja Lalich: „Ehemalige sagen, sie hätten das Gefühl gehabt, als läge ein Schleier über ihren Augen, als hätten sie den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Sie funktionierten wie Roboter. Manche haben darüber gelacht und gesagt: Der oder die hat glasige Augen. Ja, sie hatten in der Tat glasige Augen, zum Teil aus reiner Erschöpfung.“602 Diese Überbeanspruchung wird, wie man auch an dem bereits zitierten Tagesablauf Jutta Elsässers603 erkennen kann, von den Verantwortlichen der Sekte bewußt eingesetzt, um die Mitglieder von ihrer bisher vertrauten Umwelt zu entfremden und eine unaufhörliche Indoktrination sicherzustellen. Hat nämlich das Mitglied Zeit zu Muße und Entspannung, bietet sich ihm auch die Möglichkeit der Selbstreflexion, was von der Sekte als Gefahr betrachtet wird; denn der Gläubige könnte auf diese Weise unter Fremdeinfluß geraten und über sein Leben in der Organisation nachdenken, was aber möglichst vermieden werden soll. Daß die Befürchtung der Sektenleitung nicht unbegründet ist, läßt sich bei Jutta Elsässer erkennen. Sie berichtet hierüber: „Trotz des nach wie vor sehr intensiven Kontakts zu Scientology begann allmählich ein Loslösungsprozeß, der immer dann seinen Höhepunkt erreichte, wenn ich für einige Tage abwesend gewesen war. Kam ich nach einer knappen Woche zurück in die Org, um mit meinem Kurs fortzufahren, befremdete mich die Atmosphäre. Ich empfand eine schwer zu beschreibende Bedrückung, wenn ich zufällig Vorgesetzte mit ihren Untergebenen ‚in Komm(unikation)‘ sah.“604 602 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 310. Siehe oben Punkt 2.2.1.1. 604 Elsässer, 232f. 603 195 4 Verarbeitung der Sektenvergangenheit als Voraussetzung für die Rückkehr ins „normale Leben“ Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist nach einem Sektenausstieg nicht einfach. Dabei müssen verschiedene Problemkreise ins Auge gefaßt werden. Dazu gehören die berufliche, finanzielle und soziale Situation des Aussteigers sowie seine psychologische Verfassung. Margaret Thaler Singer und Janja Lalich bieten in ihrem Buch eine sehr detaillierte Auflistung der einzelnen zu berücksichtigenden Ebenen, die bei der Verarbeitung der Sektenvergangenheit beachtet werden sollten.605 Einige dieser Bereiche, die vor allem im Zusammenhang mit dem Sektenausstieg bei den Zeugen Jehovas und Scientology von Bedeutung sind, werden im folgenden besonders hervorgehoben. 4.1 Finanzielle und berufliche Situation nach dem Sektenausstieg Meist stehen Sektenaussteiger vor dem finanziellen Ruin. Dies gilt vor allem für ehemalige Scientologen. Der Erwerb der umfangreichen Sektenliteratur und die zahlreichen zu absolvierenden Kurse zur Erreichung absoluter geistiger Befreiung stellen eine hohe finanzielle Belastung dar. Jutta Elsässer berichtet, sie habe der ScientologyOrganisation einen Geldbetrag von ca. 70.000 DM „anvertraut“. Sie begründet dies mit ihrem Streben, „eine schnelle und unproblematische ‚Transformation‘ zum perfekten Menschen“ zu erreichen.606 Sie weiß sich hierbei in einer Schicksalsgemeinschaft derer, die dasselbe Ziel erstreben. Zu spät merkt sie, daß sie sich von den Versprechungen der Organisation hat „blenden lassen – und als Folge hiervon in den seelischen wie auch 605 606 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 340f. Elsässer, 247. 196 finanziellen Ruin getrieben worden“ ist. Sie wisse mit Sicherheit, daß sie kein Einzelfall sei.607 Norbert Potthoff macht ähnliche Erfahrungen. Auch er muß durch seine Mitgliedschaft bei Scientology erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen und ist schließlich völlig mittellos. Seine Erfahrungen in der Sekte wecken in ihm große Energien, die ihm einen Neuanfang ermöglichen. Deshalb gelingt es ihm, in seinen angestammten Beruf als Graphiker zurückzukehren und sich aus der schwierigen Situation allmählich zu befreien.608 Bei den Missionseinsätzen werden durch den Verkauf von Literatur oft enorme Summen erzielt, jedoch fließt alles Geld der Organisation zu. Den ungeheuren Gewinnen der Organisation steht der kärgliche Lohn, den die für die Sekte hauptberuflich aktiven Mitglieder ausgezahlt bekommen, gegenüber. Die Verschuldung der Mitglieder verstärkt die Abhängigkeit von der Sekte, besonders dann, wenn sie einen sekteninternen Kredit aufgenommen haben.609 Die Verschuldung der Mitglieder wird von der Sekte bewußt angestrebt. Wer nach einer Vollzeittätigkeit in der Sekte den Ausstieg wagt, kann selten in den alten Beruf zurückkehren und ist deshalb von Arbeitslosigkeit bedroht.610 Die schlechte Arbeitsmarktsituation erschwert die rasche berufliche zusätzlich. Wiedereingliederung Manche versuchen und die eine Abzahlung wegen des der Schulden Sektenbeitritts abgebrochene Ausbildung oder ein unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen, was weitere finanzielle Belastungen mit sich bringt. Bei den Zeugen Jehovas ist die Lage nach einem Ausstieg für die Betroffenen nicht ganz so dramatisch wie bei den ehemaligen Scientologen. Da die meisten Zeugen in der Wachtturm-Organisation 607 Elsässer, 252. Potthoff, 274. 609 „Geübte Sammler bringen es Tag für Tag auf 1.500 Dollar. Ein Exmitglied sagte, es habe im Monat 30.000 Dollar mit Blumenverkauf verdient, jemand anders 69.000 Dollar in neun Monaten.“ (Thaler Singer, / Lalich, Sekten, 343). 610 Bei einem beruflichen Neuanfang stellt sich nach einer Vollzeittätigkeit bei der Sekte das Problem der nicht entrichteten Sozialversicherungsbeiträge. In diesem Fall ist die Nachversicherung sehr wichtig. (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 166f.). 608 197 keine hauptberufliche Tätigkeit ausüben, verbleiben sie im Gegensatz zu Scientologen normalerweise in ihrem bisherigen Beruf. 4.2 Psychologisch-emotionaler Bereich 4.2.1 Der belastete Lebenslauf Die gesellschaftlichen Reaktionen auf Sektenaussteiger sind sehr unterschiedlich. Aussteiger werden aufgrund ihrer Sektenanfälligkeit von manchen Menschen als leichtgläubige, unkritische Personen angesehen und oftmals entsprechend rücksichtslos oder vorwurfsvoll behandelt. Die Befürchtung, nach einem Ausstieg von Verwandten und Freunden fortan als unglaubwürdig betrachtet zu werden, äußert sich bei Monika Deppe beispielsweise schon vor dem offiziellen Ausschluß bei den Zeugen Jehovas.611 Selbst wenn diese Befürchtungen sich nicht bewahrheiten, bleibt doch die Angst vor ablehnenden Reaktionen bestehen. Dies kann vor allem bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle zu unangenehmen Situationen führen, wenn vor Arbeitgebern der persönliche Lebenslauf und die Sektenvergangenheit offengelegt werden müssen.612 Viele ehemalige Sektenmitglieder scheuen sich, bei ihren Bewerbungen dem Arbeitgeber mitzuteilen, daß sie in einer Sekte waren. Vor allem befürchten sie, daß man ihnen persönlich die Schuld an dem erlittenen Schicksal geben wird.613 Die Situation erweist sich dann als besonders schwierig, wenn das ehemalige Mitglied, wie beispielsweise Norbert Potthoff, innerhalb der 611 „Was würden unsere Nachbarn und vor allen Dingen unsere Familie sagen, wenn wir unsere Religion noch einmal wechseln würden. Wären wir in ihren Augen nicht völlig unglaubwürdig?“ (Deppe, 73). 612 Im Zusammenhang mit der Vorgehensweise bei Bewerbungen gibt Heide-Marie Cammans folgenden Ratschlag: „Arbeitgeber legen bekanntlich Wert auf lückenlose Lebensläufe. Deshalb ist es bei längeren Sektenzeiten (z. B. als „vollzeitlicher Mitarbeiter“ oder „Missionar“) ratsam, diesen Sachverhalt wahrheitsgemäß anzugeben. Bei der sprachlichen Benennung ist einige Sorgfalt zu empfehlen. Das Wort Sekte ist zu vermeiden. Statt dessen kann vielleicht stehen: Mitarbeiter in einer religiösen Bewegung. Auch hier kann eine Sektenberatung individuelle Hilfestellung anbieten.“ (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 167). 613 Thaler Singer / Lalich, Sekten, 345. 198 Sekte eine Führungsposition innehatte. In einem solchen Fall ist es nicht einfach, die persönliche Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Für den Aussteiger ist es entscheidend, die in der Sekte erlebten Manipulationen und Verzerrungen der Wirklichkeit aufzuarbeiten, seine Biographie entsprechend aufzuwerten und nicht in einer negativen Weltund Gesellschaftsdeutung verhaftet zu verharren.614 Dabei sollte er am besten auf die Hilfe eines Experten, sei es eines Psychologen oder eines Seelsorgers zurückgreifen, um sich mit der Situation vor, während und nach der Mitgliedschaft in Sekte auseinandersetzen. Die Hilfe von Sektenberatern und Psychologen wird von den meisten Aussteigern dankbar angenommen, und so kann nach einer längeren Phase der Aufarbeitung auch eine positive Bewertung des Lebenslaufs erfolgen.615 Für den Prozeß der Aufarbeitung und der Annahme der eigenen Lebensgeschichte kann es hilfreich sein, die gemachten Erfahrungen in einem Bericht niederzuschreiben, wie dies die Aussteiger in den dargestellten Erfahrungsberichten getan haben. Das Verfassen eines Erfahrungsberichtes dient der Aufarbeitung und ermöglicht es dem Aussteiger, eine gewisse Distanz zum Erlebten zu gewinnen. Dadurch können die Ereignisse gewissermaßen noch einmal bewußt vor Augen treten und für die Biographie des Betroffenen eine neue, positive Bedeutung erlangen, was Gerd Wunderlich in seinem Erfahrungsbericht betont: „Es gibt noch einen weiteren Grund, daß ich dieses Buch geschrieben habe. Was nämlich jetzt als vergangen und einfach erscheint, war über mehrere Jahre mit härtesten inneren und 614 Bei der Aufarbeitung zu beachtende Themen sind nach Meinung von Heide-Marie Cammans auch die Analyse der Beitrittsmotive, die Art der Vereinnahmung und die Auseinandersetzung mit der Lehre und der Wirklichkeit der Sekte. (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 159-164). 615 Es wirkt sich in diesem Zusammenhang sehr vorteilhaft aus, wenn die positiven Ergebnisse der Sektenmitgliedschaft aufgezeigt werden können. Hierzu meint ein amerikanischer Psychologe, Ex-Mitglied der Moon-Sekte: „Es ist wichtig, daß Ehemalige ihren Schmerz annehmen und sich mit ihm auseinandersetzen. Sie müssen die nötige Trauerphase durchmachen. Was dabei offenbar am meisten hilft, ist, den Leuten zu zeigen, daß sich durchaus auch Positives aus ihrer Mitgliedschaft ergeben hat und daß sie durch die Erfahrung viel stärker geworden sind.“ (Vgl. Hassan, Steven, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige, Reinbek 1993, 283). 199 äußeren Auseinandersetzungen verbunden. Ich konnte davon nur loskommen, wenn ich mir diese Dinge von der Seele schrieb.“616 Norbert Potthoff gelingt es auf diese Weise, seinen bösen Erfahrungen nachträglich eine recht positive Deutung zu geben. Dabei weist er nicht nur auf seine eigenen Fehler hin, sondern kritisiert auch, daß die „moderne Leistungsgesellschaft, wie wir sie heute kennen, in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen hat“.617 Jutta Elsässer stellt in ihrer Niederschrift vor allem die Notwendigkeit der Selbstreflexion in den Vordergrund. Sie gesteht: „Ich bin heute sehr froh, meine Geschichte nicht unter den Teppich gekehrt und versucht zu haben, sie einfach zu vergessen. Und erst jetzt, kurz vor Fertigstellen dieses Buchs, wird mir begreiflich, daß ich durch das nochmalige intensive Eindringen in die Einzelheiten einen weiteren Schritt vorwärts getan habe.“618 An einer anderen Stelle schreibt sie: „Im Rückblick erscheint mir meine Geschichte fast unwirklich. Dennoch ist sie Teil meines Lebens, den ich nicht mehr missen möchte.“619 4.2.2 Schuld und Scham Die Auseinandersetzung mit eigenem schuldhaften Verhalten während der Mitgliedschaft ist für die Verarbeitung der Sektenvergangenheit noch aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung; denn die Werbung neuer Mitglieder in der Zeit der Sektenzugehörigkeit sowie der unbedingte Glaube und die Unterwerfung unter die Organisation erfüllen die Opfer nach dem Verlassen der Sekte oftmals mit Schuld- und Schamgefühlen. 616 Wunderlich, 199. Norbert Potthoff äußert sich in seinem Erfahrungsbericht ähnlich: „Während ich dieses Buch schrieb und – wenn auch nur im Geiste – dabei noch einmal meinen Weg durch Scientology ging, war die Herausforderung größer, als ich angenommen hatte.“ (Potthoff, 287). 617 Potthoff, 287. 618 Elsässer, 245. 619 Ibid., 252. 200 Derartige Gefühle können gegenüber anderen und gegenüber sich selbst auftreten.620 Gerd Wunderlich beschreibt den Kontrast zwischen dem einstigen Überlegenheitsgefühl als Sektenmitglied den übrigen Menschen gegenüber und der Einstellung nach dem Ausstieg mit folgenden Worten: „Heute sind wir weit davon entfernt, uns dieser unserer damaligen ‚Überlegenheit’ zu freuen. Im Gegenteil. Wir haben einsehen müssen, daß wir im Grunde genauso borniert waren wie die Kirchenchristen. Kannten diese die Bibel und die Kirchenlehren nicht oder nur ungenügend, so kannten wir die Bibel nur verzerrt durch die WT-Brille. Dafür konnten wir aber um so imponierender und unbeugsamer auftreten.“621 Nach seinem Ausstieg und bei seinen späteren Kontakten zu dem einst so verurteilten Kirchenchristen muß Wunderlich feststellen, daß sich diese weit besser als die Zeugen Jehovas für das Reich Gottes einsetzen. „Daß es in den Kirchen viel lebendiger und menschlicher zugeht, als wir Zeugen behaupteten und wußten, haben wir inzwischen erkannt. Nicht nur herrscht in den Kirchen eine viel größere Gedankenfreiheit als bei den WT-‚Sklaven’ (so die Selbsteinschätzung des ehemaligen Zeugen Jehovas W. J. Schnell), die Kirchen engagieren sich auch in wichtigen sozialen Werken, die ein glaubwürdiger Ausdruck von Nächstenliebe sind.“622 Schuldhaftes Verhalten gegenüber der eigenen Person finden wir auch bei Barbara Waß: „Zwölf Jahre geistige Gefangenschaft kann man nicht innerhalb von ein paar Monaten ablegen. Man mußte erst lernen, sich einzugestehen, daß man zwölf Jahre einen falschen Weg gegangen ist, daß man sich gebrauchen, ja mißbrauchen hat lassen.“623 Nachdem sie sich mit der Welt und auch mit sich selbst versöhnt hat, kann sie schließlich auch das Positive ihrer Erlebnisse sehen: „Wir haben 620 Heide-Marie Cammans erwähnt das Auftreten solcher Gefühle sich selbst gegenüber, Angehörigen gegenüber, deren Warnungen man nicht beachtet hat, seinem Partner gegenüber, den noch aktiven Mitgliedern der Sekte gegenüber, jenen Menschen gegenüber, die man selbst der Sekte missioniert und der Sekte zugeführt hat. (Vgl. Cammans, Betroffen durch Sekten, 153f.). 621 Wunderlich, 201. 622 Ibid., 203. 623 Waß, 235. 201 Menschen kennengelernt, die wir sonst sicher nie kennengelernt hätten, und wir haben Freunde gefunden, die wir sonst nie gefunden hätten. Allein daß wir diese Freunde gefunden haben, war es schon wert, dies alles zu erleben.“624 Bei Margaret Selbstannahme, Thaler Singer Vergebung und und Janja die Lalich stehen Wiedergutmachung die des angerichteten Schadens im Vordergrund, wenn sie von als schuldhaft erkannten Verhaltensweisen sprechen: „Wenn sie [die Aussteiger] sich mit der düsteren Wirklichkeit der Täuschung und Unehrlichkeit des Sektenlebens konfrontieren, dann ergreift sie oft heftigste Reue über ihre Taten und das Bedürfnis, Schaden, den sie zugefügt haben, wieder gut zu machen. Sie können mit dieser Schuld nur fertig werden, wenn sie akzeptieren, was sie getan haben, sich selbst vergeben und sich dort, wo es möglich ist, um einen Ausgleich des Schadens bemühen.“625 Von daher gesehen kann die intensive Aufklärungsarbeit ehemaliger Sektenmitglieder, sei es durch Erzählen ihrer Erfahrungen oder durch ihr späteres soziales Engagement auch als Teil der Wiedergutmachung von empfundener Schuld anerkannt werden. 4.2.3 Angst vor sich selbst Die Abwertung der eigenen Person gegenüber der übermächtigen Sektenführung führt meist auch unweigerlich zu einer Anhäufung von gefährlichem und selbstzerstörerischem Potential, welches im Extremfall im Suizid enden kann.626 Die Überwindung des negativen Selbstbildes ist bedeutsam für die Selbstvergebung und Selbstannahme. Nur auf diesem Wege können mögliche zerstörerische Nachwirkungen der Sektenmitgliedschaft überwunden werden. Laut Jutta Elsässer stehen den 624 Waß, 244. Thaler Singer / Lalich, Sekten, 347. 626 Hugo Stamm äußert sich über die persönlichkeitsverändernden Folgen von Psychotechniken wie folgt: „Die Tiefenwirkung der Psychomanipulation ist geeignet, selbstzerstörerische Persönlichkeitsveränderungen herbeizuführen.“ (Stamm, Sekten, 176). 625 202 Fortschritten zeitweilige Rückfälle gegenüber: „Hierzu gehört u.a. auch die Erkenntnis, daß ich, wie alle Menschen, die eine Verbesserung anstreben, an mir arbeiten, meine Problemseiten ans Licht kehren und versuchen muß, eingefahrene Verhaltensweisen durch Beharrlichkeit und Selbstermutigung zu ändern. Manchmal klappt es ganz gut. Oft erlebe ich jedoch, wie sich alte ‚Programme‘ immer wieder durchsetzen.“627 Die Sektenvergangenheit kann sich wie eine Droge suchtähnlich auswirken, wie Elke Nietsche festzustellen glaubt: „Trotz aller Informationen über die Hintergründe von Scientology kann ich den Sog zu Scientology nicht leugnen. Es wirkt wie eine Droge, oder?“628 In einem solchen Fall ist therapeutische Hilfe vonnöten, um eine möglichst große Stabilität der eigenen Person zu erreichen und die Selbstkontrolle gegen mögliche Rückfälle zu festigen. Die Suchttendenz sieht Hugo Stamm auch bei den Zeugen Jehovas, gegeben. Er schreibt: „Voraussetzung für die Erlösung ist, täglich die Sünden zu bekennen und Gott um Vergebung zu bitten. Dieses selbsterniedrigende Ritual frißt sich unheilvoll ins Unbewußte und bewirkt ein Grundgefühl des Ungenügens und Versagens. Ein solcher Gemütszustand richtet den Menschen mit der Zeit seelisch zu Grunde, weshalb er sich krampfhaft nach Erlösung von diesen permanenten Demütigungen sehnt.“629 Das von Stamm als persönlichkeitszerstörend dargestellte tägliche Sündenbekenntnis und dessen Folgen ist von der christlichen oder kirchlichen Buße zu unterscheiden. Der Christ bittet Gott zwar auch um Vergebung der Schuld, jedoch ist er sich dessen bewußt, daß Gott ihn bereits aus Gnade und Liebe verziehen hat. Er kann sich der Vergebung Gottes gewiß sein, ohne sich diese verdienen zu müssen und sich in selbsterniedrigender Weise zu demütigen. 627 Elsässer, 248. Nietsche, 91. 629 Stamm, Sekten, 89. 628 203 4.2.4 Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte Die Angst vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen der Sekte ist ein oft anzutreffendes Phänomen während und nach einem erfolgten Ausstieg. In den Aussteigerberichten kommen diese Befürchtungen und deren Bestätigung deutlich zur Sprache. Die beliebteste Vergeltungsmaßnahme ist die Verleumdung der Abtrünnigen. Auch von Telefonterror und Morddrohungen wird berichtet. Bei den Zeugen Jehovas lassen sich solche Verleumdungen, durch welche einer abtrünnigen Person großer Schaden zugefügt werden soll, eindeutig nachweisen. Abtrünnige sind nach Meinung der Zeugen Jehovas die „stärksten Verbündeten Satans“, die durch ihren Abfall und ihr Agieren gegen die Organisation ihre „Mitknechte schlagen“.630 Derartige Argumente werden als Begründung für die Diffamierung von Zeugen angeführt, die der Sekte den Rücken kehren wollen oder den Ausstieg schon geschafft haben. Wie sich solche Maßnahmen auswirken, kann man bei Monika Deppe nachlesen: „Wenn uns auf der Straße ehemalige Geschwister begegneten, sahen sie starr an uns vorbei, grüßen durften sie uns nicht mehr. Daran hat sich auch bis heute, zehn Jahre nach unserem Ausschluß, nichts geändert. Ein mit uns befreundetes Ehepaar aus unserer Versammlung brach den Kontakt mit uns ab.“631 Dieses Ausmaß von Verleumdungen mußte auch Barbara Waß erleben. Nachdem sie und ihr Mann aus der Versammlung ausgeschlossen worden sind, versucht die Sekte durch gezielte Verbreitung von Unwahrheiten zu agieren. „Ein besonders eifriger Zeuge sagte im Predigtdienst zu einem Arbeitskollegen von meinem Mann, mein Mann hätte Ehebruch begangen. Als wir davon erfuhren, riefen wir einen Ältesten an und sagten ihm, wenigstens solche gemeine Lügen müßten unterbunden werden, doch er sagte nur, das gehe ihn nichts mehr an, denn sie würden nicht mehr mit uns reden.“632 Die geschilderten 630 Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 155. Deppe, 76. 632 Waß, 240. 631 204 Maßnahmen stellen bei den Zeugen Jehovas ein wirksames Mittel der Bestrafung dar und erreichen weitgehend das Ziel, die anderen Anhänger vor den schädlichen Einflüssen der Abtrünnigen zu bewahren. Auch über Vergeltungsmaßnahmen bei Scientology gibt es Zeugenaussagen. Frau Nietsche engagiert sich nach ihrem Ausstieg bei der Eltern- und Betroffeneninitiative, die ihr selbst geholfen hat, und berät und begleitet dort durch Sekten zuschaden gekommene Menschen. Diese Aufklärungsarbeit versucht Scientology mit allen Mitteln zu verhindern. Über die Maßnahmen der Organisation gegen ihre Person berichtet sie: „Mir soll unterstellt werden, daß ich nur wegen der Eltern- und Betroffeneninitiative ausgestiegen bin. Die Fähigkeit und Kompetenz, Aussteiger beraten zu können, soll mir abgesprochen werden, weil ich mich noch in der Lebensberatung befinde, also psychologische Hilfe in Anspruch nehme.“633 Es gelingt Frau Nietsche sich zu behaupten, jedoch bleibt eine ziemlich große Angst vor ernsteren Vergeltungsaktionen bestehen.634 Norbert Potthoff weiß im Zusammenhang mit Vergeltungsmaßnahmen der Scientology-Organisation sogar von Telefonterror und Morddrohungen als Mittel der Einschüchterung von Kritikern zu berichten. Da er aufgrund seiner Position in der Sektenhierarchie ein besonders gefährlicher Mitwisser war, versucht die Organisation sein Schweigen durch ein Bestechungsgeld zu erkaufen. Da er das Bestechungsgeld ablehnt und sich auch nicht bereit erklärt, Verschwiegenheit über die Aktivitäten der Sekte zu bewahren, setzt gegen ihn und seinen Freund Matthias ein Telefonterror ein, bei dem auch Morddrohungen ausgestoßen werden. 635 633 Nietsche, 92f. Über die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen meint Steven Hassan: „Da die Sekten jeden für ihren Feind halten, der ihre Reihen verläßt, besteht für die Abtrünnigen immer die Gefahr, daß ihnen etwas Böses zugefügt wird.“ (Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 292). 635 „Ich lehnte ab, und in der Folge begann der Telefonterror, der in Morddrohungen gegen Matthias und seine Kinder gipfelte.“ (Potthoff, 284). 634 205 4.2.5 Konflikte wegen verlorener Familienangehöriger und Freunde Viele Menschen beklagen den Verlust von Angehörigen und Freunden, die sie an eine Sekte verloren haben, weil sie den gemeinsamen Ausstieg aus der Sekte nicht geschafft haben. Besonders schmerzlich ist es, wenn es sich bei den betroffenen Personen um Ehepartner handelt. Dies ist eine harte Bewährungsprobe, die oftmals mit der Auflösung der Ehe und dem endgültigen Verlust des Partners verbunden ist. 636 Am Beispiel von Norbert Potthoff wird diese Problematik besonders deutlich. Als seine Ehe geschieden und der Verlust seiner Frau für ihn zur endgültigen Gewißheit wird, ist er von tiefer Trauer erfüllt. Nach den Anspannungen der vorangegangenen Wochen und Tage verspürt er aber auch eine gewisses Gefühl der seelischen Befreiung. „Erst als meine Anwältin mir ein Taschentuch in die Hand drückt, merke ich, wie die Tränen über mein Gesicht laufen. Tränen der Trauer, aber auch Tränen der Erleichterung“, schreibt er.637 Ein innerer, von Trauer begleiteter Konflikt tritt auch dann auf, wenn man keinen Familienangehörigen, sondern Freunde an die Sekte verloren hat. Zerbrochene Freundschaften stellen wohl eine der größten Enttäuschungen und Verletzungen dar, die Aussteiger erleben.638 636 „Zahlreiche Ehen zerbrechen, weil diejenigen, die gehen wollen, zutiefst erschüttert sind, wenn sie feststellen müssen, daß Liebe und eheliche Loyalität nichts sind im Vergleich zur angstbesetzten Bindung des Partners an die Sekte und der Partner die Loyalität gegenüber dem Sektenführer höher ansetzt als die Loyalität gegenüber dem Ehepartner.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 362). 637 Potthoff, 282. 638 Vgl. Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 290. Barbara Waß schreibt zu diesem Thema: „Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man mit jemandem oder gar einer ganzen Familie noch vor kurzem zusammengesessen hat, mit ihm versucht hat, seine Probleme zu lösen, wenn man mit den Leuten gefühlt und gekämpft, vielleicht sogar geweint hat. Wenn man versucht hat, Familien, Ehen zusammenzukitten, weil sie zu zerfallen drohten oder andere ganz persönliche Dinge besprochen hat.“ (Waß, 238). 206 4.3 Soziale und persönliche Beziehungen 4.3.1 Unkritische Passivität und hyperkritische Einstellungen Die Nachwirkungen des in der Sekte geforderten Kadavergehorsams und die durch psychische Manipulation und Zwänge durchgesetzten Ziele der Sektenoberen können das Leben der Sektenaussteiger erheblich erschweren und bei ihnen zu unkritischer Passivität oder hyperkritischen Einstellungen führen. Es ist für die Zukunft eines Aussteigers entscheidend, die pluralistische Gesellschaft mit ihren unzähligen teilweise entgegengesetzten Angeboten zur Lebensgestaltung und ihren differierenden Wertvorstellungen nicht pauschal zu verdammen, sondern eine eigene Lebensweise mit spezifischen persönlichen Überzeugungen für sich neu zu entwickeln. Dies stellt eine große Herausforderung dar, vor der manche Aussteiger auch kapitulieren und lieber in die Sekte zurückkehren, als den schwierigen Prozeß durchzustehen. Steven Hassan hat diese Gefahr deutlich vor Augen, wenn er schreibt: „Auch haben viele Sektenanhänger schon lange ohne eine richtige Arbeit oder eine normale soziale Existenz gelebt, daß es ihnen sehr schwerfällt, sich im Alltag wieder zurechtzufinden. Manche gehen schon nach kurzer Zeit freiwillig in die Sekte zurück.“ 639 Über die Schwierigkeit, einen neuen Standort zu finden, äußert sich auch Monika Deppe. Sie meint: „Bestand sein bisheriges Lebensziel darin, andere Menschen für die Organisation zu gewinnen und seine eigenen Aktivitäten mit deren Zielen in Einklang zu bringen, ist nach dem Ausschluß sein Leben erst einmal ziellos geworden, und er muß lernen, sich selbst neue Ziele zu stecken.“640 Oft ist nach dem Ausstieg eine große Passivität der ehemaligen Sektenmitglieder zu beobachten. Diese läßt sich allerdings durch die Strapazen des Ausstiegs erklären.641 Diese Passivität sollte jedoch nicht 639 Vgl. Hassan, Steven, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 277. Deppe, 82. 641 „Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören wollten.“ (Waß, 240). 640 207 zu lange dauern und durch Bemühungen abgelöst werden, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren und ein neues persönliches und soziales Netz aufzubauen. Gerade der Kontakt mit Menschen außerhalb des sektiererischen Sozialgefüges ermöglicht es den Aussteigern meist, einen Ausweg aus ihrer Passivität zu finden. Dadurch können sie die durch die Indoktrination geprägten Verhaltensmuster überwinden und ihr allgemeines Mißtrauen allmählich abbauen 4.3.2 Nachwirkungen des Sektenvokabulars Die Übernahme der Sektensprache stellt ein großes Hindernis auf dem Weg zur Befreiung aus der Sekte dar. Gewöhnliche Begriffe werden durch eine verschlüsselte Sprache ersetzt, deren wahre Bedeutung von Außenstehenden nicht erschlossen werden kann.642 Die Sektensprache bestärkt die Mitglieder zudem in ihrer Überzeugung, einer auserwählten, alleinseligmachenden Organisation anzugehören. Durch die Schaffung und die Benutzung einer eigenen Sprache bestimmt die Sekte auch das Denken der Anhänger, so daß es sich fast nur noch im Rahmen des eigenen Systems bewegt.643 Diese Feststellung gilt gleichermaßen für Scientology644 und die Zeugen Jehovas. Norbert Potthoff spürt die Nachwirkungen der scientologischen Sprache noch lange nach seinem Ausstieg und seinem beruflichen Neuanfang, so daß er sich eingestehen muß: „Meine Sprache, so merkte ich damals, und damit auch mein Denken und Fühlen, war immer noch scientologisch geprägt.“645 Erst als er beginnt, die Sprache und die Gedankenwelt von Scientology zu analysieren, gelingt es ihm, eine gewisse Distanz zu 642 „Der Jargon erzeugt in der Gruppe ein Gefühl von Elite, Solidarität und Zugehörigkeit; gleichzeitig wird die Möglichkeit einer lockeren Unterhaltung mit Außenseitern abgeschnitten.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 353). 643 „Die mit Begriffsinhalten ‚besetzte‘ Sektensprache durch reale Sprache zu ersetzen, kann die Rehabilitation beschleunigen.“ (Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, 288). 644 Stamm erwähnt im Zusammenhang mit der Sektensprache bei Scientology ein fast achthundert Seiten umfassendes Bedeutungswörterbuch, welches das Ausmaß der Sprachmanipulation bei Scientology deutlich macht. (Vgl. Stamm, Sekten, 119ff.). 645 Potthoff, 285f. Vgl. auch: Potthoff / Kemming, Scientology Schicksale, 350ff. 208 erreichen. Eine Loslösung von der allein seligmachenden Organisation gelingt nur, wenn man sich auch von der Sektensprache und den von ihr vorgegebenen Denkweisen lösen kann. Das kann man unter anderem daran erkennen, wie Frau Potthoff den lebensgefährlichen Unfall ihres Mannes als Strafe für seinen Abfall von der Sekte deutet. Dadurch zeigt sie, wie sehr sie in den Sprach- und Denkmustern von Scientology verhaftet ist, was ihr unmöglich macht, ihrem Mann bei seinem Ausstieg zu folgen.646 Einen zentraler Begriff der Sektensprache der Zeugen Jehovas ist das Wort „Harmagedon“. Dieser Begriff stammt aus der Offenbarung des Johannes und dient zur Disziplinierung der Sektenmitglieder, da die Angst vor der Vernichtung durch „Harmagedon“ bei den Mitgliedern stets geschürt und in Verbindung mit Darstellungen von Vernichtungsszenen wachgehalten wird. Durch die Androhung des Strafgerichts „Harmagedons“ sollen die Zeugen Jehovas auch von einem Ausstieg abgeschreckt werden.647 Selbst nach einem Ausstieg werden Menschen durch „Harmagedon“ geängstigt. Die Nachwirkungen dieser Vorstellungen mitsamt den hierfür verwendeten Begriffen lassen sich auch in den Äußerungen Monika Deppes nachweisen. Sie beschreibt den Zwiespalt zwischen den immer noch durch die Zeugen Jehovas geprägten gegenwärtigen Vorstellungen von Aussteigern und der neu gewonnenen Freiheit nach dem Ausstieg mit folgenden Worten: „So leben sie in einem ständigen Zwiespalt, einerseits möchten sie jetzt endlich wieder in Frieden und ohne psychischen Druck leben, andererseits möchten sie aber auch dem Gericht Gottes entgehen und einmal auf einer paradiesischen Erde leben. Dieser Zwiespalt kann so gravierend sein, daß ihre seelische Gesundheit dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird.“648 Diese Angstvorstellungen nennt Monika Deppe das „Post-Jehovas-ZeugenSyndrom“.649 646 Potthoff, 271. Vgl. Pape, Klaus-Dieter, Die Angstmacher, 158-160. 648 Deppe, 82f. 649 Ibid., 83. 647 209 4.3.3 Aufbau eines neues sozialen Umfeldes und die Angst vor erneuten Bindungen Sektenaussteiger lassen ihr bisheriges vertrautes Umfeld bei einem Austritt aus der Sekte hinter sich. Soll es nicht zur Vereinsamung und Isolation kommen, muß das ehemalige Sektenmitglied ein neues soziales Umfeld aufbauen. Hierbei ist zunächst die Überwindung des Mißtrauens gegenüber der Welt außerhalb der Sekte vordringlich, andernfalls ist die Schaffung eines neuen Freundes- und Bekanntenkreises nicht möglich. Dies stellt einen langwierigen und schwierigen Prozeß dar, der viel Mut erfordert. Ein Aussteiger, der keinerlei Rückhalt in der Familie oder im Bekannten- und Freundeskreis hat, ist von Einsamkeit und Isolation bedroht. Doch der Ausstieg kann fast nie allein bewerkstelligt werden. Hierbei braucht der Aussteiger einen oder mehrere Menschen, die nach dem Bruch mit der Sekte auch als erste Kontaktpersonen des neuen sozialen Umfeldes dienen können. Elke Nietsche hat großes Glück. Sie bleibt stets in Kontakt mit ihren Eltern und ihrer Tochter, und auch ihr Bruder und ihre Schwägerin spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg, Scientology zu verlassen. Es sind ihre Angehörigen, die ihr Kontakte zu einer Betroffeneninitiative und zur Lebensberatung vermitteln, die sie dann zusammen mit ihrer Tochter besucht.650 So kann sie von Glück sagen, daß während ihrer sechswöchigen Mitgliedschaft bei Scientology keine totale Trennung von ihrer bisherigen Umwelt stattgefunden hat. Im Rückblick wird sie sich allerdings bewußt, daß dieser Trennungsprozeß bereits eingesetzt hatte, als sie mit Scientology brach.651 Bei Ehepaaren ist es ideal, wenn beide zusammen die Sekte verlassen können, wie dies den Familien Deppe, Waß und auch Familie Wunderlich gelungen ist. So können die Eheleute gemeinsam neue Kontakte knüpfen. Dabei ist die Angst vor erneuten Bindungen zu beobachten, die den Prozeß des Aufbaus von Beziehungen grundsätzlich erschwert. Es dauert lange, bis die Angst vor erneuter Manipulation und Vereinnahmung 650 651 Vgl. Nietsche, 92. Ibid. 93. 210 allmählich abgebaut werden kann. Demgegenüber gelingt es dem Ehepaar Deppe, bereits kurze Zeit nach dem Ausstieg, Kontakt zu einer christlichen Gemeinschaft aufzunehmen. Auch sie sind bei diesem Schritt anfangs von Angst und Unsicherheit erfüllt. Doch wird dieses Hindernis relativ schnell überwunden. Wie es gelingen kann, das anfängliche Mißtrauen zu überwinden, kann man bei Monika Deppe nachlesen: „Vorgenommen hatten wir uns besonders kritisch zu sein, denn wir wollten unter keinen Umständen in eine neue Sekte hineinschlittern. Schon beim Eintritt in das Wohnzimmer waren wir angenehm überrascht. Wir spürten sofort, hier herrschte eine völlig andere Atmosphäre als bei den Zeugen.“652 Auf diese Weise begegnen Herr und Frau Deppe zum ersten Mal einem christlichen Hauskreis, der ihnen den Zugang zu einem befreiten christlichen Glauben eröffnet. Doch nicht immer sind ehemalige Sektenmitglieder gewillt, sich nochmals religiösen Gemeinschaften oder Gruppen anzuschließen. In einem solchen Fall ist es ratsam, soziale Kontakte ohne einen religiösen Hintergrund herzustellen.653 652 653 Deppe, 79. „Dies kann durchaus eine gesunde Reaktion sein. Wir, die mit ehemaligen Sektenmitgliedern arbeiten, raten ihnen zur Zurückhaltung vor jedweder Gruppe, die Versprechungen auf ein besseres Leben macht, und empfehlen statt dessen normale Sozialarbeit oder ausbildungsbezogene Aktivitäten, bis die Person die Sektenerfahrung ganz verarbeitet hat und das Rekrutierungsphänomen besser versteht.“ (Thaler Singer / Lalich, Sekten, 364). 211 Kapitel 3: Der Sektenausstieg als Herausforderung und Chance für eine Beratung und Therapie auf nichtchristlicher und explizit christlicher Basis Die Erfahrungsberichte von Aussteigern aus der Sekte der Zeugen Jehovas und der Psychosekte Scientology haben die Methoden von Sekten und deren negative psychische Folgen für ihre Mitglieder deutlich vor Augen gestellt. Der nach einem offiziellen Ausstieg notwendige Prozeß der Aufarbeitung des erfahrenen Unrechts und der psychischen Verletzungen stellt für die Beratung bzw. Therapie von Menschen mit einer Sektenvergangenheit eine große Herausforderung dar. Einzelne, für die Beratung und Therapie zu berücksichtigende Bereiche, sind bereits beschrieben worden. Um eine effiziente Hilfe zu gewährleisten, bedarf es einer qualifizierten Begleitung durch fachlich kompetente Personen, seien es Psychologen oder Seelsorger. Manche durch Sekten geschädigte Menschen wünschen dabei ausdrücklich eine nicht religiös geprägte Beratung, weil sie befürchten, möglicherweise wieder religiös vereinnahmt zu werden. Ich möchte im folgenden zwei verschiedene Beratungs- und Therapieansätze vorstellen und versuchen, aus diesen mögliche konkrete Hilfen für die Sektenaussteiger aus Scientology und der Sekte der Zeugen Jehovas zu entwickeln. Der erste Ansatz auf nichtchristlicher Basis, der sowohl für durch Scientology geschädigte Menschen als auch für Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas von Bedeutung sein dürfte, ist die sogenannte existenzanalytisch ausgerichtete Logotherapie nach Viktor Frankl. Das zweite Beratungs- und Therapiekonzept, welches speziell für Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas entscheidende Hilfen bieten dürfte, ist das auf explizit christlicher Grundlage ausgerichtete Beratungs- und Therapiekonzept des Priesters und Psychotherapeuten Jörg Müller. 212 1 Die existenzanalytische Logotherapie Viktor Frankls und ihr Beitrag zur Genesung von Sektenaussteigern 1.1 Gründe für die Entstehung des logotherapeutischen Beratungs- und Therapiekonzeptes 1.1.1 Frankls Kritik am Therapiekonzept Sigmund Freuds Bei der Aufarbeitung leidvoller Lebenserfahrungen stellt sich unweigerlich die Frage nach Sinn und Zweck des erfahrenen Leids. Hierbei können die klassischen psychotherapeutischen Verfahren, die im wesentlichen auf Sigmund Freud und seine Schule zurückgehen, nur einen ungenügenden Beitrag leisten. Viktor Frankl, der ein Schüler Freuds ist, hat zahlreiche Defizite der traditionellen Ansichten und Vorgehensweisen Freuds erkannt und dessen therapeutische Ansätze weiterentwickelt, um durch die Hervorhebung der Sinnproblematik und durch das Aufzeigen eines zu entdeckenden tieferen Lebenssinns eine in die Zukunft ausgerichtete und das eigene Leben bejahende und verantwortende Hilfe in Form der Logotherapie weiter auszubauen. Frankl meint, die bisherige psychologische Schule nach Sigmund Freud654 habe eine fehlerhafte Sichtweise des menschlichen Wesens hervorgebracht. Diese werde vor allem am mechanistischen Menschenbild Freuds deutlich und zeige sich an der Sichtweise von Lust und Wert und der Verhältnisbestimmung zwischen Trieb und Sinn.655 654 Die drei bedeutendsten psychologischen Richtungen sind die Psychoanalyse nach Sigmund Freud, die Individualpsychologie Alfred Adlers und die analytische Psychologie nach Carl Gustav Jung. 655 Vgl. Frankl, Der leidende Mensch, 28ff. 213 1.1.1.1 Das mechanistische Menschenbild Freuds Freud hat sicherlich entscheidende Verdienste im Bereich der Psychotherapie erworben, so vor allem die Entdeckung des Einflusses des Unbewußten auf das menschliche Leben656 . Seine Sicht des Menschen, die die menschliche Psyche in das „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ einteilt,657 bleibt jedoch sehr mechanistisch. Im „Es“ liegen die naturgegebenen menschlichen Triebe und Bedürfnisse. Das „Ich“ kommuniziert mit der Außenwelt und vermittelt zwischen „Es“ und „ÜberIch“. Dieses „Über-Ich“ kann als Gewissen betrachtet werden und ist durch erziehungsbedingte Gebote und Verbote geprägt. Dabei sind Störungen der Psyche auf Fehlfunktionen innerhalb des aus diesen drei Schichten bestehenden psychischen Apparates zurückzuführen. Diese naturalistische Sichtweise des Menschen, wie sie auch für Freud charakteristisch ist, sieht den Menschen im wesentlichen als lust- und triebdeterminiert an. Frankl hebt dagegen das menschliche Streben nach Verwirklichung von Werten und das Orientiertsein auf Sinn hervor. Denn die geistige Dynamik des Menschen kann seiner Meinung nach nicht nur durch Triebe erklärt werden, weil durch die Beschränkung des Menschen auf seine Triebe die freie und verantwortliche Entscheidungsfreiheit des Menschen enorm eingeschränkt wäre. Das Ich des Menschen würde so zu einer „Marionette“ von Lust- und Triebbefriedigung. 1.1.1.2 Lust und Wert Für Freud besitzt die menschliche Psyche einen eher sachhaften, materiellen Charakter, wobei das Ausgleichsprinzip oder sogenannte „homöostatische Prinzip“ eine zentrale Rolle spielt.658 Dieses Ausgleichsprinzip verlangt die Gleichgewichtserhaltung im Bereich des 656 Vgl. Funke, Dieter, Gott und das Unbewußte. Glaube und Tiefenpsychologie, München 1995, 36ff. 657 Vgl. Federspiel, Krista / Lackinger Karger, Ingeborg, Kursbuch Seele. Was tun bei psychischen Problemen? Beratung, Selbsthilfe, Medikamente. 120 Psychotherapien auf dem Prüfstand, Köln 1996, 250. 658 Vgl. Böschemeyer, 38. 214 Körperhaushalts. Dieses physiologische Prinzip hat Freud auch auf die menschliche Psyche übertragen, welche demnach ständig damit beschäftigt ist, äußere und innere Reize zu verarbeiten. Freud bezeichnet die Triebansprüche des Menschen als „Lustprinzip“. Diese Triebansprüche seien als Ursache des menschlichen Handelns anzusehen. Die Lust wird so zum zentralen Faktor menschlichen Lebens und Handelns. Viktor Frankl beschreibt dagegen Lust als Effekt, nicht aber als Objekt einer gewollten menschlichen Handlung. Er sieht das Scheitern einer solchen intendierten Lust vorprogrammiert. Je mehr sich der Mensch auf die Erfüllung einer solchen Lust konzentriere, desto eher werde er ihrer überdrüssig.659 Handelte der Mensch nur aufgrund des Getriebenseins durch Lust, so würde er lediglich um sich selbst kreisen und in keiner angemessenen und verantworteten Beziehung mehr zur Welt stehen. Dabei blieben auch wesentliche im menschlichen Leben und in der Gesellschaft zu verwirklichende Werte unberücksichtigt. Ein solcher Mensch wäre in höchstem Maß egozentrisch und neurotisch.660 1.1.1.3 Trieb und Sinn Freud läßt die Sinnorientiertheit des Menschen außer acht, statt dessen sind für ihn das Lustprinzip und die Triebbefriedigung von zentraler Bedeutung.661 Die kulturellen Errungenschaften des Menschen seien 659 Böschemeyer, 36. Frankl kritisiert die Auffassung Freuds, Lust sei die entscheidende Triebfeder des menschlichen Lebens, ja letztlich dessen Sinn. Er führt den Lustbegriff ad absurdum, wenn er schreibt: „Wollten wir wirklich in der bloßen Lust den ganzen Lebenssinn sehen, dann müßte das Leben letzten Endes sinnlos erscheinen. Wäre Lust wirklich der Sinn des Lebens, dann hätte das Leben eigentlich gar keinen Sinn. Denn was ist Lust schließlich? Ein Zustand. Der Materialist - und der Hedonismus geht mit Materialismus gewöhnlich einher – würde sogar sagen: Lust ist nichts anderes als irgendein Vorgang in den Ganglienzellen des Gehirns. Und um der Erreichung eines solchen Vorganges willen soll es dafürstehen zu leben, zu erleben, zu leiden und etwas zu tun?“ (Frankl, Ärztliche Seelsorge, 69). Vgl. auch Böschemeyer, 35ff. 661 Dies hat sich in der Ansicht Freuds über die Religion, die er als kollektive Zwangsneurose bezeichnet, niedergeschlagen. Dieter Funke bemerkt in diesem Zusammenhang: „Was Freud als Grund für die Neurosenbildung annimmt, das schreibt er auch dem religiösen Bewußtsein der Gläubigen zu. Dessen tiefere Wurzeln und unbewußten Motive liegen in der sexuellen und aggressiven Triebnatur des Menschen, das heißt, in seinen egoistischen und sozial unverträglichen Wünschen, 660 215 aufgrund der Unterbewertung des Geistigen lediglich das Ergebnis sublimierter Triebe. Was das Gewissen anbetrifft, behauptet Freud, es sei nichts anderes als ein durch die Aufnahme frühkindlicher Verhaltensmuster erworbenes „Über-Ich“, in welchem elterliche und gesellschaftliche Gebote und Verbote wirksam sind. Auf diese Weise degradiert Freud das eigentlich Geistige zu einer Randerscheinung.662 Diese von Freud propagierte Sichtweise des menschlichen Geistes spiegelt sich auch in der Form seines psychotherapeutischen Vorgehens wieder. Frankl Verkennung der kritisiert die geistigen durch den Dimension Psychologismus menschlichen bewirkte Lebens. Ein Menschenbild, das den Menschen lediglich aus sich heraus verstehen will, aus seinem „Bios“, seiner Psyche und seinem sozialen Umfeld, bleibt auf einer rein menschlichen Basis, die das von Frankl aufgezeigte Sinnlosigkeitsgefühl in unserer Gesellschaft begünstigt.663 1.1.1.4 Frankls Erfahrungen in der Zeit des 2.Weltkriegs und die Entdeckung der sogenannten „geistig-noetischen Dimension menschlicher Existenz“ Nachdem Frankl während des zweiten Weltkrieges aufgrund seiner jüdischen Herkunft in ein Konzentrationslager eingeliefert worden war664 , wurde ihm das Ungenügen des Freudschen auf Lust und triebhafte Regungen reduzierten Menschenbildes deutlich bewußt. Als KZ-Häftling machte er schließlich eine Entdeckung, welche die Grundlage und der Bedürfnissen und Neigungen. Weil solche Wünsche zu unbewußten Schuldgefühlen führen, wird zur Abwehr dieser Schuldgefühle die religiöse Betätigung gesucht.“ (Funke, Dieter, Gott und das Unbewußte, 24f.). 662 Selbstverständlich hat Freud menschliche Werte anerkannt. Frankl wendet sich allerdings gegen den von ihm betriebenen Psychologismus, alles auf Funktionen bzw. Fehlfunktionen im psychischen Apparat zurückzuführen. 663 Vgl. Böschemeyer, 44. 664 Vgl. Frankl, Viktor E., Die Sinnfrage in der Psychotherapie, München 1981, 129. Vgl. auch: Simmerding, Gertrud, Viktor E. Frankl – Mensch und Werk, in: Lukas, Elisabeth, Geist und Sinn: Logotherapie – die 3. Wiener Schule der Psychotherapie, München 1990, 1-12. Gertrud Simmerding liefert eine detaillierte Lebensbeschreibung Frankls, 216 Motor für seine später als existenzanalytische Form der Psychotherapie bekannt gewordene Logotherapie menschenverachtenden, leidvollen werden und sollte.665 hoffnungslos Inmitten der erscheinenden Lebenssituation, in welcher sich die Häftlinge befanden, fiel Frankl auf, daß diejenigen, die ihrer Lage einen Sinn abgewinnen konnten, sich nicht einfachhin dem Schicksal ergaben, sondern aufgrund eines wie auch immer gearteten „Wofür“ dem Schicksal trotzten und daher eher überlebten. Obwohl Frankl während der Naziherrschaft seine gesamte Familie verloren hatte, verzweifelte er nicht, sondern der Drang nach einer Überwindung der Situation im Konzentrationslager und die spätere Aufklärungsarbeit über die Verbrechen der NS-Zeit hielten ihn aufrecht. Er kam zu der Überzeugung, daß es eine von äußeren Gegebenheiten unabhängige innere Freiheit gebe, Situationen gegenüber bestimmte Einstellungen zu verwirklichen. Der Mensch besitzt also die Freiheit, eine bestimmte Haltung und Bewertung seiner Lage vorzunehmen, die über seine psychische und oftmals auch physische Verfassung entscheidet. Frankl war von der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz aufs tiefste überzeugt. So überlebte er das Konzentrationslager und begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Psychotherapie um seine neuen Erkenntnisse zu bereichern.666 Er entwickelte die Logotherapie als psychotherapeutische Methode, die auf der Grundlage seiner Erkenntnisse arbeitet.667 Erst die Einbeziehung der sogenannten geistig-noetischen Dimension wird der menschlichen Existenz gerecht. In diesem Zusammenhang drängt sich die Sinnfrage als eine für den Menschen spezifische Problematik auf. Die Beantwortung der Frage nach in welcher auch die einzelnen Stationen der Entwicklung der Logotherapie sehr gut veranschaulicht werden. 665 Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 135ff. 666 In bezug auf seine Erfahrungen im Konzentrationslager schreibt Frankl: „Die ganze Symptomatologie des Konzentrationslagers, die wir vorhin in ihrer scheinbar schicksalhaften, zwangsläufigen Entwicklung aus körperlichen und seelischen Ursachen herleiteten, stellt sich als etwas heraus, das vom Geistigen her gestaltungsfähig ist.“ (Frankl, Ärztliche Seelsorge, 139). 667 Vgl. Schwarzkopf, Wolfgang, Logotherapie im seelsorglichen Kontext. Die Existenzanalyse und die Logotherapie Viktor E. Frankls als methodische Hilfe für die begleitende Seelsorge?, Hamburg 2000, 15ff. 217 dem Sinn menschlichen Lebens verlangt Antworten, die über das Gelingen desselben einen wesentlichen Einfluß ausübt. Der Sinn des Lebens und der von einzelnen Erlebnissen kann nicht von außen verordnet werden, sondern er stellt eine übermenschliche, transzendentale Größe dar. Den Willen zu einem solchen Lebenssinn trägt jeder Mensch in sich, wobei ihn dieses Verlangen dazu antreibt, geistig über sich selbst hinauszuwachsen und schließlich zu sich selbst zu finden. 1.1.2 Zentrale Inhalte und Ziele des von Frankl entwickelten logotherapeutisch-existenzanalytischen Therapiekonzeptes 1.1.2.1 Bewußtmachen von Freiheit und Verantwortlichkeit Die Existenzanalyse hebt die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Leben aufgrund seiner Einmaligkeit und zugleich Endlichkeit deutlich hervor.668 Endlichkeit Sinnlosigkeit, sondern bedeutet die aber zahlreichen nicht gezwungenermaßen Lebenssituationen müssen aufgrund der Endlichkeit des Lebens verantwortlich gestaltet werden. Das Schicksal jedes Menschen besitzt ebenfalls diese Einmaligkeit. „Mit seinem einzigartigen Schicksal steht jeder einzelne Mensch sozusagen im ganzen Kosmos einzig da. Sein Schicksal wiederholt sich nicht.“669 Er hat diesem seinem Schicksal mit Einstellungswerten entgegenzutreten. Die Freiheit steht mit dem Schicksal in enger Verbindung. Frankl spricht in diesem Zusammenhang Schicksal“. 670 von einem „freien Sich-verhalten zum Das Schicksalhafte wird durch biologische Faktoren bestimmt und durch die Summe einzelner äußerer Situationen. Dieser Sachverhalt kann auch als Anlage-Umwelt-Problematik bezeichnet werden. Die beiden genannten Faktoren zusammengenommen bilden die sogenannte „Stellung des Menschen“, gegenüber der eine Einstellung 668 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 118. Vgl. auch Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, 97ff. Vgl. auch Lukas, Psychologische Vorsorge, 79ff. 669 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 119. 670 Ibid. 218 erfolgen muß. Diese Einstellung wird durch das Schicksalhafte nicht beeinträchtigt.671 Die Freiheit des Geistes und die Verwirklichung der verschiedenen Werte geben dem Menschen die Macht, seinem biologisch, psychologisch und soziologisch bestimmten Schicksal zu trotzen. 1.1.2.2 Der Aufgabencharakter des Lebens und die Verwirklichung von Werten Jeder Mensch hat während seines Lebens eine spezielle Aufgabe zu erfüllen, für die er Verantwortung trägt. Diese Aufgabe besteht in der Verwirklichung situationsbedingter Werte. Nutzt der Mensch eine bestimmte Gelegenheit nicht, ist sie unwiederbringlich verloren. Aufgrund möglicher Zweifel am Daseinssinn oder an der Sinnhaftigkeit von Teilgeschehnissen ist es vonnöten, Menschen, die am Sinn ihrer Existenz zweifeln, eine erfüllende Aufgabe aufzuzeigen. „Diese Spezifität der Aufgabe ist eine doppelte. Denn die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person –, sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation.“672 Jedes Menschenleben besitzt ein einzigartiges Ziel mit seinem dazugehörigen Lebensweg, den es zu beschreiten gilt. Auf diesem Hintergrund existieren keinerlei aussichtslose Situationen. 1.1.2.2.1 Schöpferische Werte Für Frankl sind es vor allem drei Wertkategorien, die im Leben der Verwirklichung bedürfen. Es handelt sich hierbei um schöpferische Werte, 671 672 Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 124. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 91. Frankl verweist in diesem Zusammenhang auf die von Max Scheler vorgebrachte Unterscheidung zwischen „Situationswerten“ und „ewigen“, allgemeingültigen und zeitlosen Werten. Die Situationswerte haben ihren eigenen Zeitpunkt, an dem sie verwirklicht werden müssen, um nicht verwirkt zu werden. 219 Erlebniswerte und Einstellungswerte. „Das Leben verlangt vom Menschen diesbezüglich eine ausgesprochene Elastizität, eine elastische Anpassung an die Chancen, die es ihm bietet.“673 Mit diesen Worten kennzeichnet Frankl die schöpferischen Werte, die dem Menschen gestatten, auch in scheinbar ausweglosen Lagen noch eine Chance zu erblicken. Er erläutert seine Vorstellungen anhand einiger Fallbeispiele, bei denen Patienten aufgrund unbefriedigender Tätigkeiten an dem Sinn ihres Daseins zweifelten, weil ihnen diese schöpferischen Werte fehlten. 674 In der Existenzanalyse tritt dabei nicht so sehr die Art einer Tätigkeit als solche in den Blick, als vielmehr das „Wie“, also die Einstellung, mit der ein Mensch die von ihm geforderten Tätigkeiten erledigt. Frankl schreibt in diesem Zusammenhang: „Wichtig ist also nicht, wie groß sein Aktionsradius ist; wichtig ist allein, ob er seinen Aufgabenkreis erfüllt.“675 Dabei sei ein einfacher Mensch, der seine beruflichen und familiären Aufgaben gewissenhaft erfüllt, höher einzuschätzen, als etwa ein Politiker, der gewissenlose Entscheidungen trifft.676 1.1.2.2.2 Erlebniswerte und Einstellungswerte Erlebniswerte können verwirklicht werden, indem sich ein Mensch beispielsweise den Eindrücken der Natur und der Kunst hingibt, ohne selbst schöpferisch tätig werden zu müssen.677 Auch der Besuch eines Konzertes kann für Menschen ein tiefes, beglückendes Erlebnis sein, welches eine sinnstiftende Wirkung haben kann. Ebenso kann die Besteigung eines Berges ein überwältigendes Ereignis darstellen. Frankl erklärt dies wie folgt: „Denn wenn es sich auch nur um einen Augenblick 673 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 91. Ibid. Vgl. auch Lukas, Elisabeth, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie. Logotherapie in der Beratungspraxis, Freiburg i. Br. 1983, 216ff. Vgl. auch Lukas, Elisabeth, Psychologische Vorsorge, Krisenprävention und Innenweltschutz aus logotherapeutischer Sicht, Freiburg i. Br. 1989, 148ff. 675 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 81. 676 Ibid. 677 Ibid. Vgl. auch Lukas, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 217. Sie beschreibt Situationen, in denen Erlebniswerte verwirklicht werden können, so: „Erlebniswerte krönen die Freude an den Kindern, sie durchdringen das Abenteuer einer Reise, sie 674 220 handelt – schon an der Größe eines Augenblicks läßt sich die Größe eines Lebens messen: die Höhe einer Bergkette wird ja auch nicht nach der Höhe irgendeiner Talsohle angegeben, sondern ausschließlich nach der Höhe des höchsten Berggipfels.“678 Ebenso sind für ein als sinnvoll zu bezeichnendes Leben die Höhepunkte desselben entscheidend, nicht ausschließlich die Tiefen menschlicher Existenz. Selbst wenn keine zu verwirklichenden schöpferischen Werte und Erlebniswerte mehr vorhanden sind, behält das Leben des Menschen seinen Sinn. Dazu verhelfen ihm die Einstellungswerte.679 Sogar in den größten Entbehrungen menschlichen Lebens, etwa durch Not, Krankheit oder Alter, kann der Mensch noch Stellung gegenüber seiner Situation beziehen. „Denn wie der Mensch sich zu einem unabänderlichen Schicksal einstellt, darauf kommt es hier an.“680 In diesem Fall spricht man von Einstellungswerten, die dem Dasein eines vom Schicksal geschlagenen Menschen einen Sinn geben. Die Verantwortung für die Verwirklichung dieser Werte bleibt ein Leben lang bestehen. 1.1.2.3 Die Frage nach dem Sinn des Leidens Die Frage nach dem Sinn des Leidens steht in engem Zusammenhang mit den zu verwirklichenden Einstellungswerten. Diese drängen dort zur Verwirklichung, wo negative schicksalhafte Begebenheiten anzutreffen sind und hingenommen werden müssen. Die Vorstellung eines nur durch schöpferische Leistungen sinnvoll gestalteten Lebens erfährt auf diese Weise eine entscheidende Korrektur. Frankl bemerkt hierzu: „Solche Gedankengänge sind jeder trivialen Erfolgsethik verschlossen.“681 Der Mensch mißt den Lust- bzw. Unlustgefühlen meist eine zu große Bedeutung bei und zeigt, so Frankl, „eine ungerechtfertigte Wehleidigkeit klingen an in den Mußestunden der Einkehr und in der Rückschau auf beglückende Ereignisse.“ (Lukas, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 217). 678 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 82. 679 Ibid., 81f. Vgl. Frankl, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, 106ff. Vgl. auch Lukas, Von der Tiefen- zur Höhenpsychologie, 218f. 680 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 82f. 681 Ibid., 144. 221 gegenüber dem Schicksal“.682 Auch von Erfolglosigkeit geprägtes Leben ist sinnvolles Leben und im scheinbaren Scheitern kann Leben seine Erfüllung finden. Frankl kommt in diesem Zusammenhang auf schmerzhafte Liebeserlebnisse zu sprechen und antwortet auf die Frage nach dem möglichen Sinn und Zweck solcher Erfahrungen: „Im Gegenteil, im Leiden ist er gereift, an ihm ist er gewachsen, es hat ihm mehr gegeben als so mancher erotische Erfolg ihm hätte geben können.“683 Die menschliche Sprache verrät einiges über den Grund menschlichen Leidens. Die Äußerung „etwas oder jemanden nicht leiden mögen“ beschreibt den Grund des Leidens. Der Mensch leidet unter etwas oder jemandem, weil er dem Gegenstand seines eigenen Leidens keine Existenzberechtigung zugesteht. Die Auseinandersetzung mit diesem bewirkt eine gewisse Distanz zwischen der leidenden Person und ihrem Leid. Durch das Leiden gerät der Mensch in einen Spannungszustand, der ihm durch die Zumutung des Leids als etwas, was nicht sein soll, dieses Leid überhaupt erst zu Bewußtsein bringt.684 Dem Schmerz kommt bereits auf der biologischen Ebene eine große Bedeutung als Warnfaktor und Wächter über den Körper zu. Im geistigseelischen Bereich beugt die Erfahrung des Schmerzes einer seelischen Erstarrung vor und dient der seelischen Reifung und dem Wachstum. Oft wird versucht, unangenehme und schmerzvolle Zustände mit Hilfe von Medikamenten zu beseitigen, um dem Menschen seine Situation erträglicher zu gestalten; jedoch drängt sich in der Praxis zunehmend der Verdacht auf, als seien Ärzte und Psychiater oftmals zu schnell dabei, medikamentös, etwa durch die Verordnung von Psychopharmaka, einzugreifen. Der Mensch unserer Tage muß lernen, schmerz- und leidvolle Erfahrungen nicht vorschnell durch Verdrängung oder durch Verabreichung von Medikamenten zu unterdrücken, sondern sich diesen zu stellen und durch die Verwirklichung von Werten entgegenzutreten. „Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn 682 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 146. Ibid. 684 Ibid., 147. 683 222 nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen.“685 Notsituation stellen eine Herausforderung dar, sie wollen gestaltet und, wenn nicht anders möglich, getragen werden.686 Wenngleich Frankl eine religiöse Sinndeutung innerhalb der Logotherapie nicht in ihrem vollen Umfang zuläßt, so mißt er dieser dennoch eine große Bedeutung bei. Er erwähnt in diesem Zusammenhang das Beispiel eines sterbenskranken Menschen, den der Arzt nicht mehr vor dem Tod retten konnte. Dieser Mensch wies jedoch eine religiöse Sinndeutung auf, so daß Frankl in diesem Zusammenhang bemerkt: „Der Patient steht als ein Mensch da, der dem Schicksal standhält, indem er es in stillem Leiden auf sich nimmt und damit auf einer metaphysischen Ebene eine echte Leistung vollbringt – während der Arzt in der physischen Welt, im ärztlichen Leistungsbereich, soeben versagt.“687 1.1.2.4 Die Frage nach dem Sinn des Todes Die Einzigartigkeit und Einmaligkeit menschlicher Existenz ist für den Sinn des Lebens ausschlaggebend. Mit der Frage nach dem Sinn des Lebens ist aber auch unweigerlich die nach dem Sinn des Todes verbunden. Wird nicht durch die Tatsache der Endlichkeit menschlichen Lebens die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens in Zweifel gezogen? Die Tatsache des Sterben-Müssens zwingt den Menschen, Entscheidungen zu bestimmten Zeitpunkten verantwortlich zu fällen und diese nicht ins Unendliche aufzuschieben. Die Lebenszeit will so verantwortlich genutzt werden. „Die Lebensverantwortung eines Menschen ist daher nur dann zu verstehen, wenn sie als eine Verantwortung im Hinblick auf Zeitlichkeit und Einmaligkeit verstanden wird.“688 685 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 150. Vgl. Lukas, Psychologische Vorsorge, 269ff. Vgl. auch Lukas, Gesinnung und Gesundheit, 205ff. 687 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 154. 688 Ibid., 109. 686 223 Die Gewißheit des Todes und das Bewußtsein der Endlichkeit des Lebens werden in der logotherapeutischen Praxis genutzt. Das Nutzen der Lebenszeit ist wesentlich für ein sinnvolles und verantwortlich gestaltetes Leben. Durch den Vergleich des menschlichen Lebens mit der Arbeit eines Bildhauers veranschaulicht Frankl das Moment der Verantwortung und der sinnvollen Lebensgestaltung angesichts des Todes besonders treffend. Dem Bildhauer wird für die Fertigstellung seines Werkes eine bestimmte Zeit zugestanden. Er selbst jedoch kennt in diesem Fall den Termin der Fertigstellung nicht und ist angehalten, sein Werk in jedem Moment so gut und vollkommen wie möglich zu gestalten, um jederzeit für die Präsentation seines Werkes gewappnet zu sein.689 Das Nichtvollenden seines Werkes würde die Arbeit nicht wertlos machen, sondern auch ein scheinbar unvollendetes Werk besäße immer noch einen, wenn auch unsichtbaren qualitativen Wert. Die Länge eines Lebens muß nicht mit dessen Intensität und Qualität übereinstimmen. Es ist dem Menschen aufgegeben, im Bewußtsein seiner Endlichkeit und somit begrenzten Lebenszeit ein möglichst hochwertiges Lebenswerk zu schaffen. Eine weit verbreitete Auffassung besagt, der Sinn menschlichen Lebens liege in der Zeugung von Nachkommenschaft und eines so über den Tod hinausreichenden Fortlebens in der eigenen Nachkommenschaft. Frankl hält dieser Behauptung entgegen, daß auch Nachkommenschaft und ganze Sippen aussterben können. Er meint: „Entweder das Leben hat einen Sinn, dann behält es ihn auch unabhängig davon, ob es lang oder kurz ist, ob es sich fortpflanzt oder nicht; oder das Leben hat keinen Sinn, dann erhält es auch keinen, wenn es noch so lange dauert oder sich unbegrenzt fortpflanzen könnte.“690 Das Leben ist also ebenso wie die Fortpflanzung kein Selbstzweck. Der Sinn des menschlichen Lebens im Angesicht des Todes läßt sich nur aus nichtbiologischen, transzendenten Bezügen heraus finden. 689 690 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 110. Ibid., 112. 224 1.1.2.5 Die Bedeutung „wirklicher Liebe“ Die menschliche Existenz mit ihren zu verwirklichenden Werten kommt nicht nur in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft als ganzer zu ihrer Entfaltung, sondern besonders in der Form der Zweierbeziehung. Hierbei stehen nicht schöpferische Werte im Vordergrund, sondern es handelt sich um einen eher passiven Weg um die Einzigartigkeit und Einmaligkeit der eigenen Person herauszustellen. Frankl schreibt hierüber: „Dieser Weg ist der Weg der Liebe – oder, besser gesagt: der Weg des Geliebtwerdens.“691 Hier wird der Mensch als Du wahrgenommen und wird so für den Partner einmalig und unersetzlich. Auf diese Weise entdeckt er den Wert der eigenen Persönlichkeit. Das Ergebnis dieser Liebesbeziehung stellt der biologische Nachwuchs, das Kind, dar. Jedoch reicht Liebe über die reine Körperlichkeit weit hinaus, was vor allem die Endlichkeit des physischen Lebens deutlich macht. Der Mensch besitzt eine Seinsform, die nicht mit seinem physischen Tod beendet ist. Frankl bemerkt im Zusammenhang mit dem körperlichen Tod eines Menschen: „Damit sei aber noch gar nicht gesagt, daß die Person selber nicht mehr existiere, vielmehr dürfte man höchstens behaupten, daß sie sich bloß nicht mehr kundgeben kann; denn zur Kundgabe bedarf sie der physischen bzw. physiologischen Ausdrucksvorgänge (Sprache usw.).“692 Die Liebe reicht über die körperliche Seinsform hinaus. Sie ist zu ihrer Erweckung und Erfüllung nicht existentiell auf die Körperlichkeit angewiesen, sondern bedient sich lediglich derselben. Frankl geht in diesem Zusammenhang auch auf die scheinbar schwierige Situation von körperlich wenig anziehenden Menschen ein. Das Liebesleben in Form der körperlichen Ausdrucksweise wird oftmals überbewertet. Die verkrampfte Suche nach Liebesglück programmiert das Scheitern und die Enttäuschung bereits vor.693 691 Frankl, Ärztliche Seelsorge, 167. Vgl. auch Lukas, Psychologische Seelsorge, 148 ff. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 175. 693 Ibid., 178. 692 225 1.1.2.6 Schulderfahrung als Umdenkmöglichkeit Schuld ist eine anthropologische Konstante, die in zahlreichen Erlösungsmythen immer wieder thematisiert wird. Die Schuldhaftigkeit des Menschen wird oft als Grund menschlichen Elends angesehen.694 In der Psychologie wird die Möglichkeit des Schuldig-Werdens auf zahlreiche Abhängigkeiten innerhalb der Gesellschaft zurückgeführt, wobei jedoch das Moment der eigenen Freiheit und Verantwortung oft zu kurz kommt. Elisabeth Lukas hebt im Zusammenhang mit der Schuld die Notwendigkeit von Unterscheidungskriterien hervor, anhand derer sich echte von unechten Schuldgefühlen trennen lassen. Die Trennung dieser beiden Arten von Schuldgefühlen ist für die Beratung und Therapie von Menschen von großer Bedeutung. Unechte Schuldgefühle können ihre Ursache in einem Irrtum oder einer Krankheit haben, während wirkliche Schuldgefühle auf eine freiheitlich verantwortete Entscheidung zurückgehen. Eine solche Schuld bedarf zur seelischen Bewältigung der Wiedergutmachung. Diese kann auf verschiedene Weise vollzogen werden. Lukas erwähnt in diesem Zusammenhang die „Wiedergutmachung an dem selben Objekt“, die „Wiedergutmachung an einem anderen Objekt“ und die „Wiedergutmachung durch Umdenken“.695 Über die Wiedergutmachung in Form des Umdenkens schreibt Elisabeth Lukas: „Besonders letzteres ist eine ungewöhnliche psychotherapeutische Idee, die den direkten Schritt hinüber ins Gebiet der Seelsorge wagt, aber wer wollte ein Verbotsschild aufstellen auf einer Brücke, die einen Abgrund überspannt?“696 694 Vgl. Lukas, Psychologische Seelsorge, 184. Ibid., 188. 696 Lukas, Psychologische Seelsorge, 188. 695 226 1.2 Die Verwirklichung logotherapeutischer Inhalte durch die Sektenaussteiger Das existenzanalytisch-logotherapeutische Konzept Frankls bietet meines Erachtens eine Möglichkeit nach der Sekte wieder zu einer positiven, das Leben bejahenden Lebenseinstellung zu gelangen. Eine interessante Feststellung ist hierbei, daß einige Personen, deren Ausstieg bereits dargestellt worden ist, ohne explizite logotherapeutische Hilfe, etwa durch einen Therapeuten, bereits viele der von Frankl und für sein Konzept bedeutsamen Inhalte verwirklicht haben. Wie dies geschehen ist, soll an den folgenden Ausführungen verdeutlicht werden. In allen Aussteigerberichten wird dabei deutlich, daß die von Frankl zurecht kritisierte auf Lust- und Triebregungen basierende Sichtweise unzureichend ist. Ein durch eine Sekte geschädigter Mensch strebt nicht nach Lust, sondern sucht Sinn, er braucht eine geistige Neuorientierung, die transzendente Bezüge nicht ausschließt. 1.2.1 Die Verwirklichung von Einstellungswerten und schöpferischen Werten bei Hans-Jürgen Twisselmann Hans-Jürgen Twisselmann hat kurz vor und vor allem nach seinem Bruch mit den Zeugen Jehovas die schöpferischen Werte in einzigartiger Weise verwirklicht. Die Verwirklichung dieser Wertkategorie hat es ihm, neben seiner intellektuellen und geistigen Stärke, ermöglicht, die Sekte endgültig zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Die Aufklärungsarbeit in Form seiner Initiative für ausstiegswillige und ehemalige Zeugen Jehovas, des sogenannten Bruderdienstes, hat bei Twisselmann geistige Kräfte wachgerufen, durch die er über sich selbst hinausgewachsen ist. Er konnte der einst bedrückenden Situation trotzen, indem er sich nicht mit dem Leben in der Sekte zufriedengegeben, sich der einstigen Situation gegenüber nicht ergeben und aufgegeben hat, sondern Stellung bezogen hat. Er hat also zunächst die von Frankl 227 propagierten Einstellungswerte, anschließend die schöpferische Wertkategorie verwirklicht. Um seine schöpferische Tätigkeit genauer zu verdeutlichen, soll an dieser Stelle der sogenannte Bruderdienst dargestellt werden, ein Projekt der Beratung und Betreuung ausstiegswilliger und bereits ausgestiegener Zeugen Jehovas. Nachdem er die Unhaltbarkeit der Lehren und die Irreführung der Menschen durch die Sekte der Zeugen Jehovas erkannt hatte, verspürte er den Drang, sich hier einzusetzen und seine Kräfte für die Aufklärungsarbeit und für durch die Sekte betroffene Menschen zu verwenden. 1.2.1.1 Hans-Jürgen Twisselmann und der „Bruderdienst“ – schöpferische Werte und eine neue Lebensperspektive 1.2.1.1.1 Entstehung des Bruderdienstes Die Anfänge des Bruderdienstes reichen in das Jahr 1954 zurück. Anläßlich eines Treffens ehemaliger Zeugen Jehovas, bei welchem auch Hans-Jürgen Twisselmann anwesend ist, reift durch einen gemeinsamen Gedankenaustausch mit anderen Aussteigern der Entschluß, noch aktiven Zeugen durch eine gut organisierte Aufklärungsarbeit zu Hilfe zu kommen. Durch Verteilen von Handzetteln und Zusendung von die WachtturmGesellschaft kritisch betrachtendem Informationsmaterial sollen aktive Zeugen erreicht und informiert werden. Es finden sich zahlreiche Ehemalige, die auch die notwendigen finanziellen Hilfen zur Bewerkstelligung dieser Arbeit aufbringen. Der Bruderdienst will keine neue Religionsgemeinschaft sein, sondern auf der Grundlage der christlich-biblischen Lehre eine effiziente Seelsorge an ehemaligen und an noch in der Missionsarbeit aktiven Zeugen Jehovas leisten. Seit den fünfziger Jahren schlossen sich dem zunächst bescheidenen Werk immer mehr Ehemalige Zeugen Jehovas an, und bald wurden die Aktivitäten des Bruderdienstes auch auf Österreich und die 228 Schweiz ausgedehnt.697 Trotz heftiger Kritik und zahlreicher Drohungen seitens der Wachtturm-Gesellschaft konnte die Arbeit bis in unsere Tage unbeirrt fortgesetzt werden. 1.2.1.1.2 Grundsätze der Tätigkeit des Bruderdienstes Die Grundsätze der Arbeit des Bruderdienstes beschreibt Twisselmann anhand von fünf Thesen, auf welche im folgenden Bezug genommen wird. Er bezeichnet das Engagement des Vereins als „seelsorgerliche Apologetik“.698 Damit meint er keine generelle Verurteilung und Diskriminierung anderer religiöser Anschauungen, sondern er will vor allem die Notwendigkeit und das Feststehen im eigenen, christlichbiblischen Glauben betonen, wobei die Kenntnis biblischer Lehren und Zusammenhänge eine entscheidende Rolle spielt, um optimale Voraussetzungen für eine effiziente Hilfe gegenüber ausstiegswilligen Zeugen Jehovas gewährleisten zu können. In seinen ersten beiden Thesen über die Grundsätze der Arbeit des Bruderdienstes geht Twisselmann auf die Notwendigkeit der Überwindung historisch bedingter und gewachsener religiöser Feindbilder ein. Er lehnt eine Übertragung der Verurteilung neutestamentlicher sektiererischer Gruppierungen auf heutige Sekten, besonders auf die der Zeugen Jehovas, ab, da solche Verurteilungen oftmals in Polemik enden. Auch die durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion des römischen Reiches bedingte Verurteilung und Verfolgung der Heiden und der als Ketzer bezeichneter Christen hat für ihn einen negativen Beigeschmack. Dagegen begrüßt Twisselmann ausdrücklich die heutzutage festzustellende Überwindung des alten Gegensatzes zwischen Kirche und christlichen Sekten, die durch die Ersetzung des Begriffs 697 698 Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 115. Vgl. Twisselmann, Hans-Jürgen, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, in: Brücke zum Menschen, Nr. 135, 3.Quartal 1998, 15ff. 229 „Sekte“ durch den Begriff „Religionsgemeinschaft“ zum Ausdruck gebracht wird.699 Der Wahrheitsanspruch des Christentums muß sich seiner Meinung nach in der Auseinandersetzung mit anderen religiösen Gemeinschaften innerhalb eines „fairen und freien Gespräches“ jedes Mal neu verifizieren, denn, so schreibt er: „Nur ein Glaube, der bereit ist, sich in Frage stellen zu lassen, kann wirklich auch den, der nicht glaubt, was wir glauben, veranlassen, sich in Frage stellen zu lassen!“700 Es ist für das seelsorgliche Gespräch entscheidend, den einzelnen Menschen für sich zu betrachten und polemische Verurteilungen seines bisherigen Umfeldes, mit welchem er sich noch in einem gewissen Maß identifiziert, zu unterlassen. Der Seelsorger darf daher nicht den Eindruck erwecken, er oder seine religiöse Gemeinschaft habe den überlegeneren Glauben, dem sich der Hilfesuchende nun zuzuwenden habe. In seiner vierten These warnt Twisselmann vor einem Gruppen- und Vereinsdenken, welches Wahrheiten gegeneinander auszuspielen sucht, wenn er meint: „Seelsorgerliche Apologetik sucht das Vereinsdenken ebenso die Neigung, die ‚anderen‘ als Organisation en bloc abzufertigen, zu überwinden und sieht stattdessen den Einzelnen, der unserer Hilfe bedarf.“701 Das ehemalige Sektenmitglied und der Seelsorger, der es betreut, sind beide suchende Menschen vor Gott, weshalb ein Überlegenheitsgefühl des Seelsorgers unangemessen ist. „Seelsorgerliche Apologetik verzichtet bei aller Bemühung, dem anderen, soweit er irregeht, zurechtzuhelfen – auf jeden Anspruch und jede Gebärde der Überlegenheit, sei es in dogmatischer, ethischer oder in konfessioneller Hinsicht, sondern stellt sich grundsätzlich auf die gleiche Stufe mit dem Andersdenkenden.“702 699 Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 18. Twisselmann nimmt hiermit wohl besondere Rücksicht auf die Sensibilität von ausstiegswilligen Sektenmitgliedern. Da sie sich in der Anfangszeit noch sehr stark mit den Zeugen Jehovas und deren Lebensweise identifizieren, könnte eine scharfe Verurteilung der Sekte als persönliche Kritik und Diffamierung aufgefaßt werden und möglicherweise einen Rückzug in die Sekte bewirken. Aufgrund seiner eigenen Vergangenheit im System der Wachtturm-Gesellschaft sind ihm die Denkstrukturen und die Verletzlichkeit der Ausstiegswilligen bestens vertraut. 700 Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 18ff. 701 Ibid. 702 Ibid. 230 1.2.1.1.3 Ratschläge für ein Seelsorgsgespräch Der Seelsorger muß bei seinem Gespräch zunächst beachten, daß die Lehre der Sekte und somit auch die Denkweise der Gruppe noch im Bewußtsein des Aussteigers verankert sind, was Twisselmann zu der Bemerkung veranlaßt: „Hinter der Rede-Schablone steht eine DenkSchablone.“703 Das Weiterwirken der alten Denkweise erschwert ein freies und offenes Seelsorgegespräch. Infragestellungen der Lehre und Diskussionen über Glaubensthemen waren während der Sektenzeit untersagt. Twisselmann plädiert deshalb für ein behutsames Vorgehen und lehnt es ab, von „hoffnungslosen Fällen“ zu sprechen. Durch seine eigene Sektenvergangenheit und seinen gelungenen Ausstieg ist ihm die Erfahrung des Beistands Gottes zuteil geworden. „Gott kann Menschen umwandeln, mögen sie auch eine Zeitlang in sektiererische Bedingungen, religiösen Fanatismus und blinde Selbstüberschätzung verstrickt sein.“704 Geduld ist hierbei eine notwenige Tugend. Dabei darf der Seelsorger nicht vergessen, daß er, auch wenn der Hilfesuchende nur bescheidene Fortschritte erzielt, einen enormen Einfluß auf seinen Gesprächspartner ausübt. Vorwürfe und Anschuldigungen haben daher zu unterbleiben. Trotzdem soll keine Gleichsetzung von Verführern und Verführten erfolgen, da eine solche dem seelsorglichen Anliegen Schaden zufügt. Es geht bei den Seelsorgegesprächen darum, die betroffene Person aus der Umklammerung der Sekte zu befreien, und nicht darum, daß der Berater seine Position auf Kosten des Betroffenen als überlegen darstellt. Der Seelsorger hat daher zunächst auch ihm unangenehme und abstrus erscheinende Äußerungen und Überzeugungen hinzunehmen. Manches muß er auch schlicht übergehen, um sich die wesentlichen Punkte zu konzentrieren und eine gemeinsame Basis zu erarbeiten. Erst wenn ein Vertrauensverhältnis entstanden ist und eine betroffene Person sich in der rechten Weise verstanden, angenommen und wertgeschätzt fühlt, kommt der Seelsorger an den Punkt, an dem er versuchen kann, irrige Lehren der 703 Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern 20f. 231 Wachtturm-Gesellschaft durch die Verkündigung der wahren biblischen Lehre zu korrigieren. Hier bietet sich dem Seelsorger, wie Twisselmann betont, eine große Chance, die es zu nutzen gilt. „Unser Gesprächspartner erwartet das von uns. Er erwartet auch ein persönliches Bekenntnis des eigenen Glaubens. Ein biblisch gefülltes Zeugnis von dem, was Jesus Christus für uns tat, findet zumeist ein offenes Ohr.“705 Das zwischen dem Seelsorger und dem Aussteiger entstandene Vertrauensverhältnis kann neben der sachlichen Argumentation über die Überwindung der sektiererischen Verzerrungen der christlichen Lehre entscheiden. Der Seelsorger stellt eine wichtige Bezugsperson dar, die dem Aussteiger einen entscheidenden geistig-religiösen Halt vermittelt. „Wie unerträglich für ihn die Sekte drinnen gewesen sein mag, draußen weht ein kalter Wind ihn an.“706 Um den Anforderungen und Schwierigkeiten der neuen Umgebung standhalten zu können, benötigen die Aussteiger eine neue religiöse Stärkung. Ein gelebter und erlöster Glaube ist wohl das beste Vorbild für sie, um neu zu einem echten christlichen Leben zu finden. Nach einer erfolgreichen seelsorglichen Betreuung wäre es daher wünschenswert, daß ehemalige Sektenmitglieder den Zugang zu einer intakten christlichen Gemeinschaft finden, sei es zu einem christlichen Hauskreis oder zu einer lebendigen Kirchengemeinde. Die neue Gruppe darf jedoch die der Sekte Entronnenen nicht erneut vereinnahmen. Sie muß ihnen vielmehr Raum für freie Entscheidungen lassen, ohne erneute Zwänge und Druckmittel. „Ziel unserer Bemühungen muß es sein, ihm zu helfen, in der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ zu leben, zu der uns Christus befreit hat.“707 Auf diesem Weg stellt die Gemeinschaft von Gläubigen eine entscheidende Hilfe dar. Twisselmann wünscht sich in diesem Zusammenhang christliche Gemeinden, die sich einer solchen Herausforderung stellen und ihre Mitglieder auf diese neue Aufgabe sorgfältig vorbereiten. Er meint: „Ziel des Gesprächs ist dann, dem Menschen um Gottes Willen zu dienen, um 704 Ibid. Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 22. 706 Ibid. 705 232 mit ihm gemeinsam zu ‚wachsen zu dem hin, der das Haupt ist: Christus‘! Zu einem solchen Gespräch sollte die christliche Gemeinde ihre Glieder zurüsten.“708 An dieser Stelle wird auch die Bedeutung der von Frankl beschriebenen und aus transzendenten Bezügen heraus lebendiger wirklicher Liebe ersichtlich. Twisselmann nimmt seine hilfesuchenden Gesprächspartner so an, wie sie sind. Aufgrund seiner religiösen Überzeugung sind ihm die ehemaligen Mitbrüder sympathisch im wahrsten Sinne des Wortes, er leidet mit ihnen, indem er, allerdings selbst geistig gefestigt, ihnen Trost und Hilfe spenden kann. Twisselmann nimmt somit seine Verantwortung dem Leben gegenüber wahr, er gewinnt seiner einstigen Situation positives ab und setzt sich für andere verantwortungsvoll ein. Sein Leben hat somit ein „Wofür“, er kann es nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas als sinnvolles Leben sehen. 1.2.2 Wirkliche Liebe und Wertschätzung als Ausweg aus der bedrückenden Situation der Sekte bei Barbara Waß Barbara Waß lernt während ihrer Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas eine Frau kennen, die sie als Frau I. bezeichnet. Statt diese Frau für die Wachtturmgesellschaft zu werben, entwickelt sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Frau Waß nimmt sich Frau I. an, deren Sohn schwer behindert ist. Entgegen dem Verbot der WTG unterhält sie eine Freundschaft mit einer Frau, die nicht den Zeugen Jehovas angehört. Frau Waß wird bewußt, daß ein Zitieren von Wachtturm- und Bibelzitaten nicht die persönliche Zuwendung ersetzen kann, die Frau I. so dringend benötigt. Dieses gegenseitige Gefühl des Angenommenseins ist ein entscheidender Schritt hin zum späteren Verlassen der Sekte. 707 708 Ibid., 23. Twisselmann, Für behutsamen Umgang mit Sektenopfern, 20. 233 Frankl hebt die Bedeutung wirklicher Liebe deutlich hervor, die sich besonders in einer Zweierbeziehung verwirklichen läßt, hier zwischen zwei Frauen. Sie ist somit keine sexuelle, sondern eine sich vor allem auf transzendente Bezüge gründende Liebe. Barbara Waß nimmt zugleich Verantwortung für eine andere Person wahr und ihr Leben gewinnt somit trotz der Sektenmitgliedschaft an sinnvollen Momenten. Es entwickelt sich aber darüber hinaus noch eine weitere Freundschaft mit einer Familie, die zwar auch den Zeugen Jehovas angehört, der Organisation gegenüber aber ebenfalls kritisch eingestellt ist. Herr Waß nimmt Kontakt zu dieser Familie auf, worüber Frau Waß bemerkt: „In der Folge wurde zwischen uns Freunden öfters über manche Dinge gesprochen, die uns zu denken gaben.“709 Gegenseitige Annahme und Wertschätzung spielen auch bei dieser Beziehung eine entscheidende Rolle. Diese Beziehungen helfen Familie Waß dabei, ihrer Situation sinnvolles abzugewinnen und begünstigen ihren späteren Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas. Sie beziehen zugleich Stellung ihrer Situation gegenüber und ergeben sich nicht ihrem Schicksal, sondern ihre Einstellung gegenüber der Lage führt zu einer Verhaltensänderung. 1.2.3 Die Verwirklichung von Erlebnis- und Einstellungswerten bei Jutta Elsässer Jutta Elsässer bietet sich inmitten ihrer bedrückenden Situation während ihrer Mitgliedschaft bei Scientology die Möglichkeit, die sonst üblichen arbeitsreichen Wochenenden bei Scientology, für Ausflüge und Wanderungen mit ihrem Freund zu nutzen. Dabei macht sie bedeutsame Erfahrungen, die ihre Gedanken beflügeln und eine geistige Distanz zur Scientology-Organisation bewirken. Dies sind die von Frankl beschriebenen Erlebniswerte. Jutta Elsässer gibt diese Erfahrungen wie folgt 709 wieder: Waß, 203. „Unsere gemeinsamen Spaziergänge an der Isar, 234 Tagesfahrten an den Starnberger See oder an den Ammersee und kleine Wanderungen in der Münchner Umgebung ließen uns bewußt werden, was wir in den vergangenen Monaten und Jahren entbehrt hatten. Es war eine vollkommen neue Erfahrung, an den Wochenenden nicht nur stundenweise zusammensein zu können.“710 Die Verwirklichung dieser Erlebniswerte gemeinsam mit ihren Freund wirkt sich sehr positiv auf ihre Gesundheit und auch auf ihre weitere Lebenseinstellung aus. Jutta Elsässer meint hierzu: „Meine Gesundheit verbesserte sich von Woche zu Woche, und das erste Mal seit über zwei Jahren streifte ich mir einen Badeanzug über. Ich hatte ganz vergessen, wie schön Schwimmen sein konnte:“711 Diese Erfahrungen bewirken eine Veränderung ihrer Einstellung sich selbst und der Scientology-Organisation gegenüber. Um Positives in der Welt bewirken zu können, muß sie eine Veränderung ihrer bisherigen Denkweise vornehmen. „Kopfschüttelnd wurde mir allmählich klar, daß ich über viele Monate hinweg regelrechten Raubbau an meiner Seele und meinem Körper betrieben hatte. Ich sah ein, daß Menschen, die an der Grenze zum psychischen und physischen Wrack stehen, niemals die Kraft aufbringen würden, etwas tatsächlich Positives in dieser Welt zu bewirken.“712 1.2.4 Schuldgefühle und das Bewußtmachen von Verantwortlichkeit bei Elke Nietsche Elke Nietsche muß für ihre Tätigkeit bei Scientology lange Wege und Trennungen von ihrer schulpflichtigen Tochter auf sich nehmen. Neben erheblichen Beeinträchtigungen ihrer eigenen Gesundheit leidet die Tochter sehr unter der Abwesenheit und schlechten Verfassung der Mutter, was sich vor allem in den stetig sich verschlechternden schulischen Leistungen ihrer Tochter Friederike niederschlägt. 710 Elsässer, 230f. Ibid., 231. 712 Ibid., 234. 711 235 In Gesprächen mit einem Sektenberater erfährt Frau Nietsche die Hintergründe über Scientology und erkennt damit den Grund ihrer Befindlichkeit. Dabei wird ihr erst bewußt, in welchem Maß ihre Tochter unter der Abwesenheit der Mutter gelitten hat, was bei Frau Nietsche Schuldgefühle weckt. Sie ist fest entschlossen, der Organisation nicht mehr zu erlauben, künftig noch Macht über ihre Person auszuüben und Verantwortung für ihre Tochter zu übernehmen. Dies stellt nicht nur eine Änderung ihrer bisherigen Denkweise dar, sondern führt letztlich auch zum Bruch mit der Scientology-Organisation. Das Wahrnehmen der Verantwortung für ihre Tochter gibt ihrer auch nach dem Sektenausstieg noch schwierigen Situation eine sinnvolle Bedeutung. Die von Frankl herausgestellte Bedeutung der Schulderfahrung als Umdenkmöglichkeit kommt hierbei zum tragen denn als Frau Nietsche bewußt wird, daß sie für ihre Tochter unersetzlich ist, erkennt sie letztlich durch die schuldhafte Vernachlässigung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Tochter den besonderen Wert dieser Beziehung, entdeckt dabei aber auch ihren Wert als Mensch, als Person, ganz neu. 1.2.5 Die Verwirklichung von schöpferischen Werten und Einstellungswerten bei Norbert Potthoff Norbert Potthoff hat nach seinem Sektenausstieg aus Scientology den Wunsch, kreativ tätig zu werden. Er äußert sich in diesem Zusammenhang wie folgt: „Ich muß meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig von irgendeinem System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten schreiben, will sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik schielen oder auf eine schwebende Nadel am E-Meter.“713 Potthoff wird zunächst schöpferisch tätig, indem er die Wohnung, die ihm von einem Freund zur Verfügung gestellt wird, renoviert. Er hat seine Frau zwar an die Scientology-Organisation verloren, indem er jedoch 713 Potthoff, 263. 236 diese schöpferischen Werte verwirklicht, wird es ihm möglich, seine Situation sinnvoll zu gestalten. Als er seine Frau endgültig an die Sekte verloren hat, wertet er dies nicht nur als Verlust, sondern kann in die Zukunft gewandt erleichtert feststellen: „Wenn ich jetzt durch die Tür des Gerichtssaals hinausgehe, verlasse ich endlich nach sieben Jahren das Labyrinth von Scientology.“714 So bezieht Norbert Potthoff Stellung gegenüber seiner Situation, wobei seine schöpferische Tätigkeit eine sinnvolle Wertung seiner Lage unterstützt. 1.3 Mögliche logotherapeutische Hilfen für die Sektenaussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas und aus Scientology Neben der von den Aussteigern selbst schon geleisteten Verwirklichung zentraler logotherapeutisch relevanter Inhalte, ist es möglich, innerhalb eines sich an den Sektenausstieg anschließenden logotherapeutischen Gespräches, den Aussteigern noch entscheidende Hilfestellungen durch die sogenannte Paradoxe Intention und die Dereflexion zu bieten, die zu den wichtigsten großen logotherapeutischen Methoden zählen, die sich auf die sogenannten Therapiebewährungskriterien gründen. 1.3.1 Die drei “Therapiebewährungskriterien“ für das logotherapeutische Gespräch Entscheidend für das Gespräch zwischen einem Logotherapeuten und einem Klienten ist eine offene und wohlwollende Beziehung zwischen beiden Personen. Elisabeth Lukas nennt Erwartung und Hoffnung als zwei wichtige Voraussetzungen für eine gelingende Therapie. Der Glaube an die Wirkung einer Medizin, so Elisabeth Lukas, „macht mindestens schon 714 Potthoff, 282. 237 die Hälfte ihrer Wirkung aus“, ebenso können negative Erwartungen einen schädlichen Einfluß ausüben.715 Die Hoffnung auf Genesung sowie der eigene feste Wille einer „Grundentscheidung fürs Leben, sein 716 Wiedergesundung“ sind hierbei bedeutsam. letztendliches Ja zur Der Therapeut steht vor der schwierigen Aufgabe, diese Grundentscheidung des Patienten zu wecken. Hierbei spielt die Liebe eine zentrale Rolle, die sich in der Beziehung zwischen Menschen verwirklicht. Echte Liebe setzt allerdings Echtheit und Natürlichkeit voraus. Elisabeth Lukas bemerkt in diesem Zusammenhang: „Das aber ist genau der Punkt, an dem auch die Psychotechniken an ihre Grenzen kommen: eingebettet in die Liebe sind sie von großem Wert, isoliert davon leisten sie nichts.“717 Das Verhältnis zwischen Therapeut und Klient soll dabei von echter Mitmenschlichkeit bestimmt sein, damit sich der Patient ihm öffnen und anvertrauen kann. Eine notwendige Frage hierbei ist nach der Überzeugung des Therapeuten, nach dessen Wertmaßstäben und Zielen, die seiner therapeutischen Tätigkeit zugrunde liegen, nach seiner Lebensphilosophie. Für die Logotherapie ist der sogenannte Logos die Antwort auf diese Frage. Unter dem Logos versteht sie dabei ein Etwas, das sowohl für den Therapeuten als auch den Patienten gilt, ein Prinzip, eine letzter sinngebender Weltgrund, der für beide Therapiepartner ausschlaggebend ist. Für die Vorgehensweise der Logotherapie sind also drei Kriterien für eine gelingende Therapie von Bedeutung, zum einen erzeugt sie eine Atmosphäre der Hoffnung und positiven Erwartung auf der Seite der Patienten, der Patient muß selbst von einer Möglichkeit zur Hilfe überzeugt sein und diese wollen, zum anderen spielt die Beziehung der Therapiepartner insofern eine zentrale Rolle, als der Therapeut gefordert ist, eine selbsttranszendierende, liebevolle Haltung gegenüber dem Patienten einzunehmen, um beim Patienten das Gefühl zu verstärken, daß sich jemand um ihn sorgt und bemüht und so brachliegende geistige 715 Lukas, Gesinnung und Gesundheit, 166. Ibid. 717 Ibid., 167. 716 238 Möglichkeiten in ihm zu wecken. Das dritte Kriterium für eine gelingende Therapie ist der Verweis auf den personenübergreifenden Logos, der den Geist des Patienten letztlich auf sinnvolle Aufgaben richtet und dessen persönliche Reife vorantreibt.718 1.3.2 Die drei großen Methodengruppen der Logotherapie und ihre Bedeutung für eine Therapie an Sektenaussteigern Den drei großen Methodengruppen der Logotherapie liegt die Überzeugung zugrunde, daß jeder Mensch auf etwas hin existiert. Die erste Methodengruppe ist die sogenannte „Paradoxe Intention“, die zweite die Dereflexion, die dritte die Einstellungsmodulation“. Die vorgenannten drei Therapiebewährungskriterien sind wesentlich für jedes logotherapeutische Gespräch und bilden die Grundlage für die drei Methodengruppen.719 1.3.2.1 Die „Paradoxe Intention“ Durch die Methode der paradoxen Intention sollen negative Erwartungen des Patienten abgebaut werden und das Gefühl der Hoffnung soll die einstigen Angstgefühle mehr und mehr ersetzen. Angst zieht den Gegenstand der Angst oftmals erst herbei. Die Bedeutung dieser Behauptung wird ersichtlich, wenn man sich einige Beispiele vor Augen führt. Das häufige Waschen der Hände aus Angst vor einer Infektion beispielsweise kann aufgrund der überstrapazierten Hände erst recht eine Infektion begünstigen. Durch die paradoxe Intention soll die durch Angst geschaffene Welt ihrer Wirkmächtigkeit entkleidet werden. Durch das bewußte Herbeisehnen einer angstbesetzten Situation und die Übertreibung dieser verliert der Gegenstand der Angst allmählich seine 718 719 Gesinnung und Gesundheit, 169. Ibid., 169. 239 bedrohliche, angsterzeugende Wirkung, wobei dem Humor oftmals eine Schlüsselfunktion zukommt. Ängste spielen bei Aussteigern aus den Reihen der Zeugen Jehovas und Scientology eine große Rolle. Verschiedene Ängste, die solche Menschen bestimmen, sind vor allem die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Sekte, die Angst, aufgrund des durch die Sektenmitgliedschaft belasteten Lebenslaufes keine Arbeitsstelle mehr zu bekommen, die Angst vor sich selbst und die Angst vor erneuten Bindungen nach dem Sektenausstieg. Ziel der paradoxen Intention ist die schrittweise Reduzierung bzw. Aufhebung der angstauslösenden Situationen. Wie dies konkret geschehen könnte, soll an folgenden Beispielen verdeutlicht werden. Die Angst vor der Sekte kann schrittweise reduziert werden, indem sich der Aussteiger bewußt eine für ihn bedrückende, angstauslösende Situation vorstellt, sich diese regelrecht herbeiwünscht und auf diese Weise allmählich erfährt, daß ihm die ehemaligen Mitglieder der Sekte nach seiner Trennung von dieser eigentlich nichts mehr anhaben können. Hierbei muß allerdings eine wirkliche, endgültige Trennung in Form einer zeitlichen und auch örtlichen Distanz zur Sekte vorausgesetzt werden, um eine mögliche reale Begegnung und eine damit verbundene Angst vor den einstigen Mitgliedern zu gewährleisten. Diese paradoxe Intention soll ja auf einer geistigen Ebene stattfinden und ist keine Probe am Lebenden Objekt. Diese Methode kann sowohl von Aussteigern aus den Reihen der Zeugen Jehovas als auch von Scientology praktiziert werden, jedoch soll sie keine angstverstärkende Wirkung entfalten, ansonsten wäre sie tunlichst zu unterlassen bzw. durch eine andere Methode zu ersetzen oder zu ergänzen. Hierbei bietet sich die Dereflexion als zweite große logotherapeutische Methode an. Gegen die Angst, aufgrund des belasteten Lebenslaufes keine Arbeitsstelle mehr zu bekommen, wäre es im Sinne der paradoxen Intention sinnvoll, sich eine konkrete Situation vorzustellen, in der ein etwaiges Bewerbungsgespräch zwischen dem Aussteiger und einem potentiellen Arbeitgeber stattfindet und der Aussteiger seinen Ängsten freien Lauf lassen kann, bis er schließlich die Unbegründetheit seiner 240 Angst vor einem solchen Gespräch einsieht und sich mit der Situation gewissermaßen „anfreunden“ oder vertraut machen kann. Die zweite Angst, die Sektenaussteiger oft befällt, ist die vor erneuten Bindungen nach einem vollzogenen Sektenausstieg. Diese Angst entfaltet meist eine sehr große Wirksamkeit, weil hierbei zahlreiche Enttäuschungen und Vertrauensmißbräuche der betroffenen Person durch die Sekte vorangegangen sind. In diesem Fall, wie auch im Fall der Angst vor sich selbst, die sich im Auftreten vergangener Verhaltensweisen zur Zeit der Sektenmitgliedschaft bemerkbar machen können, ist eine Anwendung der paradoxen Intention schwierig. In einem solchen Fall muß ein Logotherapeut diese Methode zurückstellen und versuchen die Therapiebewährungskriterien in den Mittelpunkt zu rücken, allen voran eine liebevolle selbsttranszendente Haltung gegenüber dem Patienten und diesem Möglichkeiten aufzeigen, sich wieder neu auf Bindungen, zunächst vor allem im familiären Bereich einzulassen. Dabei nimmt das vertraute Gespräch und die positive Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine nicht zu unterschätzende Beispielfunktion ein. 1.3.2.2 Die Dereflexion Die Dereflexion kann man mit „einem Fernrohr vergleichen, das dazu dient, eine durch übermäßige Selbstbeobachtung aus den Augen verlorene Welt wieder ins Visier zu bekommen“.720 Diese Aussage von Elisabeth Lukas macht deutlich, warum viele Patienten nicht gesunden. Eine zu intensive Konzentration auf die eigene Person fördert die Begrenztheit und Enge der eigenen Lebenswelt. Durch eine zu starke Selbstbeachtung verliert der Mensch den Blick für die Welt um sich herum, auf die er einwirken soll. Ziel der Dereflexion ist es, dem Patienten die Bedeutung der Zurückstellung der eigenen Person zu vermitteln. Elisabeth Lukas formuliert den Sinn dieser Forderung wie folgt: „Denk nicht an dich, stell dich etwas zurück, vergiß dich, es gibt noch anderes außer dir, schau 720 Gesinnung und Gesundheit, 178. 241 hin auf das andere, geh auf im anderen, und du wirst dich selber geschenkt bekommen.“721 Der Patient soll verstehen lernen, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die er selbst vom Therapeuten erfährt, an die Welt weiterzugeben. Ein solcher Mensch wird sein erfahrenes Leid und seinen Schmerz nicht zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit machen, sondern kann durch die Hinwendung nach außen eine Relativierung seiner Situation vornehmen. Indem der Patient sich nach außen wendet und nicht in seiner negativen Situation aufgeht, schöpft er zugleich Hoffnung.722 1.3.2.2.1 Dereflexion bei Hans-Jürgen Twisselmann Hans-Jürgen Twisselmann hat die Dereflexion im logotherapeutischen Sinn voll und ganz verwirklicht. Durch seine Hinwendung nach außen, seinen Einsatz für ehemalige Zeugen Jehovas in Form des von ihm initiierten Bruderdienstes ist es ihm gelungen von sich wegzuschauen, hin auf die Sorgen und Nöte anderer. Er nimmt die Betroffenheit von durch die Zeugen Jehovas geschädigte Menschen ernst, ohne sein eigenes Schicksal immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Er bezieht Stellung seiner Situation gegenüber, indem er Verantwortung gegenüber anderen wahrnimmt, und wird selbst zu einem Berater und Therapeuten, bei dem die von der Logotherapie geforderte Liebe in Form eines liebevollen Umgangs mit betroffenen Menschen nicht zu kurz kommt, sondern wesentliche Voraussetzung für jedes Gespräch ist. Twisselmann schöpft seine Hoffnung dabei aus explizit transzendenten Bezügen, dem Glauben und Vertrauen Gott gegenüber. 721 Gesinnung und Gesundheit, 181. „Sobald er [der Patient] das verstanden hat, daß seine Liebe gebraucht wird, und er sich deswegen nicht in seinem Schmerz verkriechen und in seinem Kummer total vergraben darf, hat er zugleich auch schon Hoffnung geschöpft; vielleicht nicht die Hoffnung auf ein langes, angenehmes und glückliches Leben, aber zumindest die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben, unter welchen Umständen auch immer, und das ist der Kernpunkt einer jeden Heilung und eines jeden Heil-seins menschlicher Existenz.“ (Gesinnung und Gesundheit, 181). 722 242 1.3.2.2.2 Gerd Wunderlich Alle Sektenaussteiger haben eine tiefen Vertrauensmißbrauch und viele Enttäuschungen erfahren. Das durch die Sektenmitgliedschaft erfahrene Unrecht und Leid hat sich in der Persönlichkeit eingenistet. Verschiedene Schikanen von Seiten der Wachtturmgesellschaft haben bei Aussteigern aus der Sekte der Zeugen Jehovas eine oft psychisch zermürbende Wirkung nach sich gezogen. Das erfahrene Unrecht und das Entsetzen seiner Frau über die Methoden der WTG schildert Gerd Wunderlich sehr eindringlich, indem er schreibt, seine Frau habe solche Methoden niemals für möglich gehalten, wenn sie nicht selber an der Verhandlung vor dem Rechtskomitee teilgenommen hätte.723 Der tiefe Vetrauensmißbrauch durch die WTG wird Wunderlichs deutlich, als die Wachtturm-Organisation als Geschäftsfirma entlarvt wird. Die zahlreichen Schikanen, denen Gerd Wunderlich auch als Dienstamtsgehilfe ausgesetzt ist, zehren an den Kräften der Eheleute Wunderlich. Als ihre kritische Haltung der WTG gegenüber bekannt wird und die Ruhe innerhalb der Versammlung gefährdet ist, werden Herr und Frau Wunderlich von Seiten der Zeugen Jehovas durch Nichtbeachtung bzw. Verachtung gestraft. Seine Frau wird in eine Außenseiterrolle gedrängt, sie wird von anderen Mitgliedern der Zeugen Jehovas beispielsweise nicht mehr gegrüßt, selbst von solchen Zeugen Jehovas, zu denen Familie Wunderlich langjährige Freundschaften unterhalten hat. Die Verwandtschaft, soweit sie Mitglied der Sekte ist, distanziert sich von ihnen und es kommt zu einer familiären Zerreißprobe. Die aktiven Zeugen Jehovas führen gegen Familie Wunderlich auch öffentliche Verleumdungskampagnen durch, so werden Wunderlichs durch aktive Zeugen auch bei Unterredungen auf offener Straße in Verruf gebracht.724 Bei der im Rahmen der Logotherapie angewandten Methode der Dereflexion kommt es nun darauf an, den Vertrauensmißbrauch und die Verleumdungen durch die WTG zu relativieren, indem durch eine Konzentration nach außen, etwa durch die Verwirklichung der von Frankl 723 Vgl. Wunderlich, 141. 243 geforderten schöpferischen Wertkategorie der Blick von der eigenen Person bzw. Familie weggelenkt wird. Das Aufgehen in einer erfüllenden Aufgabe, die Hingabe an die andere Person, etwa die der Eheleute Wunderlich untereinander, kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ein Kreisen um das erfahrene Unrecht zu verhindern. Diese Konzentration auf andere Dinge soll keine Verdrängung der Negativen Erlebnisse darstellen, sondern gerade durch die Hingabe an einen anderen Menschen und die Verwirklichung echter Liebe findet sich der Mensch schließlich selbst. Der Aufbau von Beziehungen außerhalb der Familie wäre bei Familie Wunderlich sicherlich dringend erforderlich, um den familiären Rahmen, in dem sich die Ereignisse und Erfahrungen mit der Sekte abgespielt haben, zu erweitern und auch neue Gedanken und Ideen aufzunehmen und Bekanntschaften und Freundschaften nach der Zeit in der Sekte zu schließen. 1.3.2.2.3 Monika Deppe Monika Deppe und ihr Ehemann hatten während ihrer Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas unter zahlreichen Reglementierungen und Verboten zu leiden, die sie auch nach dem Sektenausstieg noch belasten. Zu den zahlreichen persönlichen Einschränkungen zählt beispielsweise das Verbot einen Bart zu tragen, was Herr Deppe als Eingriff in seinen Intimbereich wertet. Als er sich weigert seinen Bart zu entfernen, wird es ihm verboten, bei den Zusammenkünften im Königreichssaal weiterhin aus den Schriften der Zeugen vorzulesen.725 Das Ehepaar Deppe ist nicht mehr bereit, die Schikanen der Sekte hinzunehmen. Allerdings ist der Schritt des Ausstiegs mit zahlreichen Ängsten verbunden. Dies bedeutet vor allem für Monika Deppe eine enorme psychische Belastung. Sie verleiht ihrer inneren seelischen Zerrissenheit und ihrem seelischen Druck durch Weinen Ausdruck. Der Sohn der Eheleute Deppe weigert sich 724 725 Ibid., 172. Vgl. Deppe, 59. 244 angesichts des erfahren Leids seiner Eltern noch Kontakt zu den Zeugen Jehovas zu halten. Familie Deppe sucht schließlich Zuflucht im Gebet. Das letzte Druckmittel der WTG, der Ausschluß aus der Versammlung, kann Familie Deppe letztlich nicht mehr treffen, da der enge familiäre Zusammenhalt den gemeinsamen und endgültigen Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas begünstigt und unterstützt.726 Bei einer Dereflexion als logotherapeutischer Methode wäre zunächst sicherzustellen, inwieweit die Ereignisse aus der Zeit in der Sekte und vor allem auch die während des Ausstiegsprozesses bei Familie Deppe eine negative Lebenseinstellung bewirkt haben. Ist eine zu intensive Konzentration auf das der Familie und den einzelnen Familienmitgliedern angetane Unrecht zu verzeichnen, wäre es im Sinne der Dereflexion, den Blick der einzelnen Familienmitgliedern auf bestimmte Dinge zurichten, die einem Kreisen um die eigenen negativen Erfahrungen entgegenwirken. Hier würde sich die von Frankl propagierte Wertkategorie der schöpferischen Werte anbieten, die durch die Ausübung eines Hobbys verwirklicht werden könnte. Die Familie als ganze könnte die von Frankl genannten Erlebniswerte Spaziergänge und verwirklichen, andere Ausflüge indem sie unternehmen gemeinsame könnte. Die Verwirklichung dieser beiden Wertkategorien würde einer zu starke Konzentration auf die eigene Person entgegenwirken. 1.3.2.2.4 Barbara Waß Barbara Waß leidet während ihrer Sektenmitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas unter mancherlei körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Durch die Hinwendung zu Frau I., welche sich um ihren schwerbehinderten Sohn kümmern muß, entwickelt sich zwischen Barbara Waß und dieser Frau I. ein freundschaftliches Verhältnis, das ein entscheidender Faktor für den Sektenausstieg von Frau Waß ist. 726 Vgl. Deppe, 75ff. 245 Diese Freundschaft zwischen Frau Waß als Zeugin Jehovas und Frau I., welche Barbara Waß für die WTG werben soll, verhindert bereits während der Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas eine zu starke Konzentration auf die eigene Person bei Frau Waß. Durch ihre Sorge und ihre Anteilnahme gegenüber Frau I. wird Frau Waß immer deutlicher, daß die Lehren und Vorgehensweisen der WTG sich nicht mit den Forderungen der aktuellen Situation, Frau I. beizustehen, in Einklang bringen lassen. Frau Waß will Verantwortung für Frau I. und vor allem auch für ihr eigenes Leben wahrnehmen, indem sie erklärt: „Ich war nun nicht mehr bereit, mich bei allem bevormunden zu lassen. Ich wollte selbst die Verantwortung für mein Handeln tragen.“727 Indem sie Verantwortung für ihr eigenes Handeln und für Frau I. übernimmt, sich einer anderen Person in freundschaftlicher Weise hingibt, verwirklicht sie die von Frankl beschriebene echt Liebe und Hingabe und hat somit ein Wofür, für das es sich einzusetzen gilt und das ihre Situation sinnvoll erscheinen läßt. Eine Dereflexion im Sinne der Logotherapie ist eigentlich bereits durch die Hingabe an etwas außerhalb der Sekte im Gange. Für die Zeit nach der Sekte wäre es auch bei Familie Waß ratsam, Kontakte zu Menschen außerhalb der Sekte aufzubauen. Die Freundschaft zu Frau I. ist hierbei bereits ein günstiger Anfang. Letztlich bleibt Familie Waß aber auf sich allein gestellt und ist psychisch sehr ausgezehrt. Dies macht folgende Anmerkung von Frau Waß deutlich: „Wir wollten unsere Ruhe haben. Wir waren nicht mehr bereit, uns den Dingen zu unterwerfen. Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören wollten.“728 Diese Einstellung darf nicht zur Resignation führen. So wäre dieser Situation mit den von Frankl geforderten Einstellungswerten und schöperischen Werten entgegenzutreten, die eine allmähliche Dereflexion nach sich ziehen könnten. Wie für Familie Wunderlich ist es auch für Familie Waß vonnöten, durch eine Hinwendung nach außen, den Rahmen der eigenen Familie und dem 727 728 Waß, 213. Ibid., 240. 246 damit verbundenen Leid zu sprengen und den eigenen Horizont um neue Erfahrungen, gegebenenfalls auch Bekanntschaften und Freundschaften, zu erweitern. 1.3.2.2.5 Jutta Elsässer Jutta Elsässer hat durch ihre Mitgliedschaft bei Scientology großen seelischen Schaden erlitten, der sich auch in psychosomatischen Reaktionen äußert.729 Durch die Verwirklichung von Erlebniswerten zusammen mit ihrem Freund, bessert sich jedoch ihr seelisches und körperliches Wohlbefinden zunehmend. Ihre unerträgliche psychische Situation und ihre finanziell bedrückende Lage ändern sich mit dem Ausstieg aus Scientology. Sie fordert von der Scientology-Organisation nach ihrem Ausstieg eine finanzielle Entschädigung für die hohen Geldsummen, die sie in die Organisation investiert hat. Da sie auf der Erstattung der Geldbeträge beharrt und rechtliche Schritte androht, läßt ihr die Organisation tatsächlich einen bestimmten Geldbetrag als Entschädigung zukommen. Die Anwendung der Dereflexion bei Jutta Elsässer bestünde wie auch bei den Aussteigern aus der Sekte der Zeugen Jehovas in einer Verwirklichung der von Frankl beschriebenen Wertkategorien. Erlebniswerte, beispielsweise durch Besuche von Theatern, Museen sowie schöpferische Werte, die durch eine Hinwendung und ein Aufgehen der Person in einer erfüllenden Tätigkeit zum Ausdruck kommen können, wären für Jutta Elsässe hilfreich. Sie hat während ihres Ausstiegs erheblich Willensstärke und Entschlossenheit entwickelt, die es ihr ermöglichen, sich von vergangenen Erlebnissen zu lösen. Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Freund, der ebenfalls Scientology verlassen hat, bietet darüber hinaus die Chance, gemeinsam die von Frankl propagierten Werte zu verwirklichen und gemeinsam den Blick nach vorne zu richten. 729 Vgl. Elsässer, 198f. 247 Zu zweit kann eventuellen Rückfällen in vergangene Verhaltensweisen und in mögliche Grübeleien über die in der Sekte erlittenen Verletzungen besser vorgebeugt werden, zumindest kann der eine Partner den anderen auf solche, sich negativ auf das Leben nach der Sekte auswirkende Verhaltensweisen aufmerksam machen und so korrigierend auf das Verhalten des anderen einwirken. 1.3.2.2.6 Elke Nietsche Auch Elke Nietsche erfährt aufgrund ihrer Mitgliedschaft bei Scientology vielerlei physische und psychische Beeinträchtigungen. Am schwersten trifft Frau Nietsche die Vernachlässigung ihrer Tochter, um die sie sich während ihrer zahlreichen Fahrten zur Zentrale nach München nicht mehr in ausreichender Weise kümmern konnte. Dies wird Elke Nietsche in besonderer Weise bewußt, als sie Zeit findet, über die ScientologyOrganisation und die Beziehung zu ihrer Tochter nachzudenken. Frau Nietsche hat nach ihrem Ausstieg aus Scientology entsetzliche Angst vor eventuellen Vergeltungsmaßnahmen der Sekte. Durch die Hilfe von Verwandten und Freunden und das Hinzuziehen eines Sektenberaters schafft sie es, endgültig mit der Sekte zu brechen. Im Fall von Frau Nietsche wäre eine Dereflexion durchaus hilfreich. Inwieweit sie ihre Erlebnisse mit der Sekte belasten, wird am Ende ihrer Ausführungen noch einmal sehr deutlich, wenn sie sich fragt: Wann kann ich endlich sagen, wirklich draußen, wirklich ausgestiegen zu sein? Es ist ein langwieriger Prozeß.“730 Bei diesem Prozeß ist es entscheidend, nicht nur eine örtliche Distanz zur Sekte und den einstigen Bezugspersonen aufzubauen, sondern auch eine geistige Distanz den Ereignissen gegenüber zu gewinnen. Die nach dem Sektenausstieg einsetzende verstärkte Sorge um ihre Tochter Fredericke ist eine Möglichkeit, um ihre Kräfte jetzt außerhalb der Sekte sinnvoll einzusetzen, jedoch wäre es erforderlich, verstärkt Kontakte 730 Nietsche, 91. 248 zu Bekannten und Freunden aufzubauen, um sich selbst nicht zu intensiv in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und immer wieder über die schmerzvollen Ereignisse während der Zeit in der Sekte nachgrübeln zu müssen. Der Aufbau von Bekanntschaften und Freundschaften als eine Hinwendung nach außen dient also der Dereflexion. Die von Frankl beschriebenen Erlebniswerte in Form von gemeinsamen Unternehmungen wären eine gute Möglichkeit, um das Verhältnis zu ihrer Tochter wieder zu intensivieren, die Dereflexion voranzutreiben und ihr Dasein nach der Sekte als sinnvoll erleben zu können. 1.3.2.2.7 Norbert Potthoff Aufgrund seiner Funktion als Leiter der Verbreitungsabteilung hat Norbert Potthoff tiefgreifende Einblicke in die Praktiken der Sekte gewonnen. Die bedrückende Situation innerhalb der Sekte gestaltet sich für ihn erträglicher als für andere Mitglieder, weil für ihn die Möglichkeit besteht, während der Zeit seiner Gebundenheit an die Sekte schöpferisch tätig zu sein. Er stellt für sich allerdings deutlich heraus, daß es die Tätigkeit ist, die er liebt, nicht das System von Scientology. Nach seinem Entschluß die Sekte zu verlassen, distanziert er sich zusammen mit seiner Frau örtlich von der Organisation und ihren Anhängern. Jedoch gelingt seiner Frau dieser Ausstieg nicht, sie nimmt wieder Verbindung zu Scientology auf und schließlich verliert er sie an die Sekte. Norbert Potthoff hat der Verlust seiner Frau an die ScientologyOrganisation hart getroffen, jedoch kann er nach der Ehescheidung auch erleichtert feststellen, damit die Sekte endgültig hinter sich gelassen zu haben.731 Die Verwirklichung von schöpferischen Werten spielt für Norbert Potthoff eine entscheidende Rolle. Eine Dereflexion könnte hieran anknüpfen und gerade nach seinem Sektenausstieg durch die 249 Verwirklichung schöpferischer Werte erfolgen. Das Verfassen des Aussteigerberichtes stellt an sich schon eine schöpferische Tätigkeit dar, die sich zwar mit den Ereignissen in der Sekte intensiv auseinandersetzt, aber zugleich eine gewisse Distanz den erfahrenen schmerzvollen Erlebnissen gegenüber bewirken kann. Um den Erfolg einer Dereflexion zu steigern, wäre es hilfreich, die schöpferischen Werte im künstlerischen Bereich umzusetzen, was sich bei Norbert Potthoff anbietet, da er von Beruf Graphiker ist. Eine Hinwendung nach außen wäre durch Freundschaften außerhalb der Sekte möglich und wünschenswert. Es ist entscheidend, wieder neues Vertrauen zu Personen außerhalb der Sekte aufzubauen und sich selbst einer Person oder einer Sache hingeben zu können. 1.3.3 Grenzen des logotherapeutischen Beratungs- und Therapiekonzeptes Das logotherapeutische Beratungs- und Therapiekonzept ist aufgrund seiner Ausrichtung an der geistig-noetischen Dimension menschlicher Existenz in der Lage, Sektenaussteigern vielfältige Hilfen bei der Rückkehr ins „normale Leben“ zu bieten. Die drei großen Methoden der Logotherapie und die diese unterstützenden Therapiebewährungsfaktoren können, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt, sowohl für Aussteiger aus der Scientology-Organisation als auch für ehemalige Zeugen Jehovas von Bedeutung sein und in diesen Menschen die Bereitschaft für ein gelingendes Leben nach der Sekte wecken. Dabei soll den Aussteigern durch die Verwirklichung der verschiedenen von Frankl propagierten Wertkategorien und der bereits erwähnten Methoden und Therapiebewährungsfaktoren ein gangbarer Weg in die Zukunft gewiesen werden und ihr Leben auf diese Weise an Sinn gewinnen. 731 „Wenn ich jetzt die Tür des Gerichtssaals hinausgehe, verlasse ich endlich nach sieben Jahren das Labyrinth von Scientology.“ (Potthoff, 282). 250 Insofern ist gutzuheißende die Logotherapie Therapieform, die sicherlich auch für eine hilfreiche und Sektenaussteiger von Bedeutung ist. Die Aussteigerberichte von Menschen, die mit der Sekte der Zeugen Jehovas gebrochen haben, zeigen allerdings, daß das Therapiemodell der Logotherapie trotz guter Einsatzmöglichkeiten eine ganz entscheidende Dimension menschlicher Wirklichkeit nur unzureichend in ihre therapeutische Arbeit mit aufnehmen kann, nämlich die religiöse Dimension menschlicher Existenz, die sich im Glauben an eine transzendente Wirklichkeit eines personalen Gottes orientiert und bei therapeutischen Gesprächen auch ganz gezielt das Gottesbild und die damit verbundene Gottesbeziehung des jeweiligen Patienten in ihre Arbeit mit einbezieht. An dieser Stelle ist also die Frage nach der Abgrenzung der Logotherapie gegenüber der Theologie zu thematisieren. Viktor Frankl beschäftigt sich mit diesem Verhältnis in einem seiner zentralen Werke, der „Ärztlichen Seelsorge“. Frankl beschreibt dieses Verhältnis zwischen Logotherapie und Theologie mit den Worten: „Das Ziel der Psychotherapie [die Logotherapie ist ja eine Form der Psychotherapie, wenn auch eine ganz besondere, wie in den Ausführungen Sigmund Freud deutlich geworden ist] ist seelische Heilung – das Ziel der Religion jedoch ist das Seelenheil.“732 Trotz der Verschiedenheit beider Bereiche entfaltet die Religion nach Meinung Frankls eine entscheidendende psychohygienische und psychotherapeutische Wirksamkeit. Sie bietet dem Menschen die Möglichkeit einer „Geborgenheit und eine Verankerung sondergleichen“, nämlich „Geborgenheit und die Verankerung in der Transzendenz, im Absoluten“.733 Einen ähnlichen Nebeneffekt sieht Frankl auch in der Psychotherapie, wenn auf Seiten des Patienten die Gläubigkeit neu an Bedeutung gewinnt, was vom Therapeuten allerdings nicht bewußt geschehen darf, da sonst eine Grenzüberschreitung stattfindet. Die psychologische und die religiöse Ebene sind insofern voneinander 732 733 Ärztliche Seelsorge, 271. Ibid. 251 verschieden, als die Dimension, in die der religiöse Mensch vorstößt eine höhere, umfassendere ist als die in der sich die Psychotherapie bewegt. Frankl stellt in diesem Zusammenhang eindeutig klar, daß ein Vorstoß in die höhere, religiöse Dimension nur im Glauben geschehen kann.734 Auch wenn die Logotherapie nicht ausdrücklich religiös motiviert vorgeht, beachtet sie religiöse Äußerungen und Bedürfnisse der Patienten, weil hierbei das Bedürfnis des Menschen nach geistigtranszendenten, sinnvollen Bezügen aufscheint. Die Logotherapie versucht bei den Patienten dabei das „Wofür“ ihres Lebens neu zu entdecken, das sogenannte „Wovor“ seines Verantwortlichseins bleibt ihm freigestellt. In der Religion ist er vor jemandem, nämlich der Gottheit gegenüber, verantwortlich. Die Logotherapie muß sowohl für gläubige Menschen, die diesen Glauben im Sinne des christlichen Offenbarungsglaubens verstehen ein möglicher Weg sein, als auch für Menschen, die einen Glauben an einen personalen Gott nicht bejahen können und statt dessen Gläubigkeit als umfassenden Sinnglauben verstehen. Den Sinn bezeichnet Frankl dabei als „Mauer, hinter die wir nicht weiter zurücktreten können, die wir vielmehr hinnehmen müssen“.735 734 735 Ärztliche Seelsorge, 272. Ibid., 274. 252 2 Das psychotherapeutische Vorgehen Jörg Müllers auf explizit christlicher Basis – ein Beratungs- und Therapiekonzept für Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas Für den christlichen Glauben und die Kirche stellt die Sorge für den Menschen, besonders für den in Not geratenen und enttäuschten, eine zentrale Aufgabe dar. Nach dem Verlassen der Sekte ist der Aussteiger erneut ein suchender Mensch, dessen transzendentes und religiöses Verlangen von der Sekte mißbraucht worden ist. Das Verlangen nach Sinn und Orientierung auf transzendent-religiösem Hintergrund liegt in der Natur des Menschen. Die christliche Tradition beschreibt dieses Verlangen nach Transzendenz, das letztlich ein Verlangen nach Gott ist, wie folgt: „Das Verlangen nach Gott ist dem Menschen ins Herz geschrieben, denn der Mensch ist von Gott und für Gott erschaffen.“736 Das zweite Vatikanische Konzil, dem die Erneuerung des kirchlichen Lebens ein Herzensanliegen war, betont gerade auch die Verantwortung und die Sorge der Kirche, und somit jedes Christen, für die Armen und Benachteiligten, wenn es in der Konstitution „Lumen Gentium“ heißt: „Christus wurde vom Vater gesandt, ‚den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind (Lk 4,18), zu suchen und zu retten, was verloren war‘ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“737 Der Dienst am Menschen um Gottes Willen und die Sorge um Arme und Leidende kann besonders bei der Sorge um durch Sekten geschädigte Menschen zum Einsatz kommen. Sorge um den Menschen ist zugleich immer Seelsorge, wobei eine ganzheitliche Seelsorge auch immer die religiöse Dimension menschlichen Lebens berücksichtigen muß. 736 Katechismus der katholischen Kirche. Taschenbuchausgabe der deutschen Ausgabe, München 1993, Kapitel 1, Abschnitt 1. 737 Lumen Gentium, 8. 253 Christlich motivierte Psychotherapie und Seelsorge versteht den Menschen nicht nur als biologisches, psychologisches und soziologisches, sondern vor allem auch als ein religiöses Wesen.738 Für eine ganzheitliche, dem Menschen auch in seiner religiösen Dimension gerechtwerdende Psychotherapie und Seelsorge ist die Sichtweise Frankls, die aufgrund des wissenschaftlichen Anspruchs die religiöse Komponente nur unzureichend in ihr Konzept einbezieht, ergänzungsbedürftig. Der Psychotherapeut, Theologe und Priester Dr. Jörg Müller vereinigt innerhalb seines therapeutisch-seelsorglichen Vorgehens in einzigartiger Weise psychologische und theologische Aspekte menschlicher Wirklichkeit, die speziell für eine Seelsorge und Therapie von Aussteigern aus der Sekte der Zeugen Jehovas unentbehrlich sind. Es sollen im folgenden wesentliche Gesichtspunkte des therapeutischseelsorglichen Vorgehens Müllers dargestellt und anschließend dessen Bedeutung für eine Beratung und Therapie ehemaliger Zeugen Jehovas herausgearbeitet werden. 2.1 Müllers Kritik an den heutigen Psychotherapien Es existiert keine wertfreie Form von Wissenschaft. Jörg Müller beklagt daher die auf psychologischem Gebiet anzutreffende unzureichende Hilfestellung, die in Not geratene Menschen in der Hoffnung auf Besserung und Heilung ihres Zustandes in Anspruch nehmen. Die ganzheitliche, d. h. geistlich-religiöse Dimension menschlichen Lebens bleibt meist aus Angst vor dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit einer 738 Vgl. Fraas, 42ff. Fraas beschreibt in diesem Zusammenhang die im Laufe der abendländischen Geschichte in Theologie, Philosophie und Psychologie anzutreffenden Sichtweisen über die religiöse Anlage des Menschen. Dabei hat die dominikanische Mystik wohl den nachhaltigsten Einfluß auf die Theologie ausgeübt. Fraas bemerkt dazu: „In der dominikanischen Mystik (‚Seelenfünklein’), in der Rede von der natürlichen Gotteserkenntnis, vom Gewissen als der Stimme Gottes, von der Unsterblichkeit der Seele spiegelt sich der Gedanke vom Angelegtsein des Menschen auf Gott wider: Die Gottesidee, der Hang zum Gottesglauben ist dem Menschen eingestiftet und bleibt lebenslänglich erhalten, wenngleich durch die Sünde verdunkelt und geschwächt.“ (Fraas, 42). 254 Therapie unberücksichtigt.739 Auch ein Psychologe oder Arzt kommt jedoch nicht ohne Entscheidungen aus, die subjektiv beeinflußt sind. Dabei fließen auch immer seine persönlichen Wertvorstellungen und seine weltanschaulichen Überzeugungen in seine Arbeit mit ein.740 So ist gerade auch ein Psychotherapeut in seinem Berufsalltag oftmals zur Preisgabe seiner eigenen weltanschaulichen Position gegenüber seinen Patienten herausgefordert. Leider ist hierbei oftmals auf Seiten des Therapeuten ein materialistisch-atheistischer Hintergrund nicht auszuschließen, welcher mit dem christlich-biblischen Menschenbild unvereinbar ist.741 Jörg Müller meint in diesem Zusammenhang: „Es ist klar, daß der in seinem Wesen zutiefst religiöse Mensch auf dieser Basis keine Kern-Gesundheit finden kann.“742 Er erwähnt ausklammernden hierbei, daß Therapien in das vielen die Phänomen religiöse der Dimension Religiosität des Menschen als neurotische Erscheinung aufgefaßt wird, welches durch langwierige analytische Gespräche, oftmals noch mit einer medikamentösen Behandlung gepaart, wegtherapiert werden soll.743 Zahlreichen Leiden liegt jedoch lediglich eine falsch verstandene Religiosität zugrunde, die meist in einem bedrohlichen, angsterzeugenden 739 Vgl. Müller, Jörg, Und heilt alle deine Gebrechen. Psychotherapie in christlicher Sicht, Stuttgart 1989, 7. Vgl. auch Müller, Jörg, Gott ist anders. Das Leiden an den falschen 2 Gottesvorstellungen. Wege zur Heilung, Stuttgart 1994 , 12f. 740 Die Entstehung wissenschaftlicher Theorien und Konzepte ist nicht rein objektiv. Die Auffassung Sigmund Freuds in bezug auf Religion als kollektive Zwangsneurose ist heute nicht mehr haltbar. Hierdurch wird auch die Relativität solcher Theorien deutlich. Was derzeit Aktualität besitzt, kann in kurzer Zeit schon als überholt gelten. Die Relativität wissenschaftlicher Theorien und Konzepte beschreibt Willem J. Ouweneel mit folgenden Worten: „So ist es erstaunlich, wie leicht manche sagen: Freud, Jung, ach, die werden heute von den Therapeuten nicht mehr so ernst genommen. Aber damals war das, was sie brachten, für Hunderttausende von Menschen die höchste und tiefste – nahe zu religiöse – Wahrheit. Heute sind es ganz andere Namen, die angeblich diese höchste Wahrheit vertreten – und in einer Generation werden es wieder ganz andere sein. So bewegt man sich auch in der Psychotherapie von der einen zu der nächsten ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘.“ (Ouweneel, Willem J., Säkulare Psychologie – eine Ersatzreligion?, in: Utsch, Michael (Hrsg.), Wenn die Seele Sinn sucht. Herausforderung für Psychotherapie und Seelsorge, Neukirchen – Vluyn 2000, 46f.). 741 Vgl. Müller, Jörg, Und heilt alle deine Gebrechen, 7. 742 Ibid., 8. 743 „Viele Therapeuten sind der Auffassung, die Religion sei der Grund solcher neurotischer Denk- und Verhaltensmuster, demzufolge versuchen sie nun, die Religion wegzutherapieren, dabei das Kind mit dem Bad ausschüttend.“ (Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 8). Vgl. auch Funke, 24f. 255 Gottesbild ihre Wurzeln hat. „Dabei werden viele Patienten, die ja nur einen unbeschwerteren und vertrauensvolleren Zugang zu ihrem Gott suchen, verunsichert und gehen mit größeren Schuldgefühlen aus der Therapie wieder heraus.“744 Jörg Müller gibt in diesem Kontext den Rat eines Psychotherapeuten an eine seiner Patientinnen wieder. Als diese versuchte, ihre Glaubensschwierigkeiten zu thematisieren, meinte dieser, sie solle eine bestimmte Sorte von Tabletten einnehmen und mit dem Gebet aufhören.745 Religion und Glaube stellen aber keine krankmachende, sondern eine heilsame, für die Sinnfindung- und Verwirklichung notwendige Dimension menschlicher Existenz dar. Christliche Seelsorger und Psychotherapeuten leiden beide unter den jeweiligen Grenzen ihres Kompetenzbereichs. Der christliche Seelsorger stößt im psychologischen Bereich schon bald an seine Grenzen. Umgekehrt erfährt auch der nicht christlich arbeitende Psychotherapeut im religiösen Bereich ebenfalls schnell seine Grenzen. Der Ausschluß religiöser Inhalte ist wohl auch eine Ursache für den mäßigen Erfolg mancher Therapie und erklärt die recht hohen Rückfallquoten von Patienten, die sich einer solchen Therapie ohne religiösen Bezug unterzogen haben. 2.2 Ziele christlich motivierter Beratung, Therapie und Seelsorge Christlich motivierte Beratung, Therapie und Seelsorge ist biblisch orientiert. Ihr Grobziel besteht in der Hinführung des Menschen zu einer befreiten und erlösten Gottesbeziehung, die den Menschen als ein mit einer verantwortlichen Weltoffenheit und einer von Gott verliehenen Begabung ausgestattetes religiöses Wesen betrachtet. Die eigentliche Wurzel vieler Erkrankungen wird hierbei in einem krankmachenden Gottesbild gesehen, welches als Mißtrauen gegenüber Gott, in Form 744 745 Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 8. Ibid., 9. 256 zahlreicher Ängste, in religiöser Leistung oder auch der völligen Ablehnung religiöser Bindungen auftreten kann.746 Ein falsch verstandener Glaube kann krankmachende Wirkungen aufweisen, erlöster Glaube hat eine heilende, befreiende Wirkung, wenngleich er keine Garantie für eine völlig krisenfreie Existenz ist. Jörg Müller schreibt in diesem Zusammenhang: „Wer das lebt, wird innerlich reich. Denn was krank macht, ist die innere Leere, die gefüllt sein möchte mit sattmachender Nahrung, nicht mit flüchtigen Ersatzfüllungen.“747 Herkömmliche psychologische Methoden haben durchaus ihre Berechtigung, jedoch gilt für Jörg Müller, daß „Arzt, Psychologe und Seelsorger sich ergänzen“.748 Es sind so vor allem drei Ziele, die eine christlich-biblisch ausgerichtete Therapie und Seelsorge verwirklichen soll, nämlich die Selbstannahme des Menschen aufgrund der ihm entgegengebrachten Liebe Gottes, die allmähliche Hingabe des eigenen Lebens an Gott sowie eine existentiell erfüllende Sinnfindung.749 2.3 Verschiedene Formen von Lebensangst und deren Bewältigung 2.3.1 Normale und krankhafte Angstreaktionen Normale und krankhafte Angstreaktionen unterscheiden sich im wesentlichen durch ihre Intensität.750 Als Beispiele für normale Angstreaktionen nennt Müller die Angst vor Spinnen, Flugangst und Lampenfieber. anzutreffen 746 Ängste und als sind fester in unterschiedlichen Bestandteil Lebensbereichen menschlichen Lebens zu Vgl. Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 110. Ibid., 21. 748 Ibid., 22. Müller warnt vor einer Kompetenzüberschreitung des medizinischen Bereichs, wenn er meint: „Die heutige Medizin hegt einen Versorgungsanspruch, dem sie nicht gewachsen ist. Sie übt Macht aus und klagt seit Jahren auch den psychologischen Bereich für sich ein, obwohl sie auf Grund ihrer Ausbildung und vornehmlich empirischen Ausrichtung dafür wenig kompetent ist.“ (Müller, Gott ist anders, 12). 749 Ibid., 111. Vgl. auch Müller, Gott ist anders, 23ff. Vgl. auch Veeser, Wilfried, Lebensfragen. Antworten und Beispiele aus der Beratungspraxis, Moers 2000, 161ff. 750 4 Vgl. Müller, Jörg, Lebensängste und Begegnung mit Gott, Stuttgart 1997 , 15. 747 257 betrachten. Auch Elisabeth Lukas schreibt der Angst eine wichtige Warnund Schutzfunktion zu. Steigern sich jedoch normale Angstreaktionen über ein erträgliches Maß hinaus, kann es zu Beeinträchtigungen des Lebens kommen. Eine krankhafte Verdrängung der Angst kann sich in Form von Zwanghaftigkeit, Depressionen, Aggressionen, Hypochondrie oder Hysterie zeigen. Wir sprechen dann von neurotischen Ängsten. Jörg Müller meint im Zusammenhang mit derartigen neurotischen Ängsten: „Der neurotische Charakter ist krank in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch in seiner Beziehung zu sich selbst.“751 2.3.2 Der Einfluß des Gottesbildes Eine zentrale Bedeutung im Bereich der Angstreaktionen kommt der Problematik angstbesetzter Gottesbilder zu, über die Jörg Müller bemerkt: „Fast alle Patienten, die unter irgendeiner neurotischen Erkrankung leiden, insbesondere Angstneurotiker mit Schuldkomplexen, haben ein verzerrtes oder fehlendes Gottesverhältnis.“752 Das Gottesbild, welches die religiöse Dimension des Menschen existentiell beeinflußt, ist im wesentlichen auf frühkindliche Erfahrungen zurückzuführen. Das erfahrene Elternbild übt einen prägenden Einfluß auf das Gottesbild aus. Es kann vertrauenerweckend oder aber angstauslösend sein.753 Bereits in der Kindheit gemachte helfende und erlösende Erfahrungen, etwa die versöhnende Vergebung von Schuld, wirken das gesamte Leben hindurch weiter nach. Ein schlechtes elterliches Vorbild, etwa die Erfahrung ständiger Drohungen, um bei Kindern Gehorsam zu erzwingen, 751 Müller, Lebensängste, 16. Ibid., 43. 753 Müller, Lebensängste, 43. Vgl. auch Fraas, 176. Fraas hebt die Bedeutung des mütterlichen Geborgenheits- und Vertrauensgefühls für die Übertragung auf die spätere Gottesvorstellung hervor, wenn er schreibt: „Darum ist das mütterliche Pflegeverhalten maßgebend für die Vertrauenshaltung und die Lebenshaltung des Menschen. Angesichts der zwangsläufigen Ablösung von der Mutter, die sich als fehlbar, als nicht allmächtig, nicht vollbergend zeigen muß (sei es durch Schuld oder Schicksal), erweist sich die Mutter als frühe Statthalterin eines hinter ihr stehenden Umgreifenden (in psychologischen Formulierungen hieß es, die Mutter sei der erste ‚Gott‘ des Kindes).“ (Fraas, 176). 752 258 wirkt sich in der Regel auf das Gottesbild verhängnisvoll aus.754 Erziehungsbedingte Einflüsse und Prägungen entbinden einen Menschen jedoch nicht von der Verantwortung, sein Gottesbild und seine Gottesbeziehung im Laufe des Lebens immer wieder zu überdenken und gegebenenfalls mit seelsorglicher Hilfe zu korrigieren. „Sonst läuft er Gefahr, sich immer weiter von seinem Schöpfer zu entfernen und diese selbstverschuldete Distanz ihm vorzuwerfen: Wo bist du Gott? Wie kannst du so etwas zulassen? Du bist kein Gott der Liebe. Warum hilfst du mir nicht?“755 Wahre Gottesfurcht ist von einer pathologischen Angst vor Gott zu unterscheiden, die eine mögliche Folge der Übertragung einer unbewältigten Vaterbeziehung auf Gott darstellt.756 Hierbei treten die Folgen einer verdrängten Angst vor der Person eines allmächtigen oder ohnmächtigen Vaters zutage.757 2.3.2.1 Das rächend-strafende Gottesbild Viele Menschen leiden unter der Vorstellung, Gott werde ihre schuldhaften Vergehen nicht vergeben und für schwere Sünden, etwa im Falle einer Abtreibung, einen Menschen trotz Reue und Buße für diese Tat auf ewig verdammen. Die Gottesbeziehung ist durch eine solche Auffassung von einem strafenden und rächenden Gott arg getrübt. Jörg Müller bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel einer Frau, die vor vielen Jahren eine Abtreibung hatte vornehmen lassen und aufgrund dieser Tat und ihres bedrohlichen, strafenden Gottesbildes schwere psychische Beeinträchtigungen hinnehmen mußte. Ihre Lebensgeschichte erlaubt einen Einblick in die elterliche Erziehung, die ihr Gottesbild wesentlich geprägt hat. Müller erwähnt erzieherische Inkompetenz der 754 Vgl. Fraas, 152. Müller, Lebensängste, 45. 756 Vgl. Fraas, 152. 757 Müller, Lebensängste, 45. 755 259 Eltern, rigoristische und bedrohliche Verhaltensweisen ihres Vaters und eine versäumte Abnabelung von den Eltern.758 Selbst nach einer Psychotherapie auf christlicher Basis betont Müller: „Noch heute ängstigt sie sich bei Gewitter, im Glauben, der nächste Blitz träfe ihr Haus als gerechte Strafe.“759 Das im Elternhaus geprägte Gottesbild aufgrund des erlebten Vaterbildes hat in diesem Fall zwanghaft angstneurotische Ausmaße angenommen. Die Auffassung von einem rächenden und strafenden Gott, der trotz eingestandener Schuld und Reue auf Rache bedacht ist, kann in vielen Variationen auftreten. Jörg Müller kommt in diesem Zusammenhang auf angsterzeugende Praktiken der Kirche zu sprechen, die Gott für pädagogische Zwecke mißbraucht und ihre Ziele unter Androhung von Höllenstrafen durchzusetzen versucht habe.760 Der Mißbrauch des Gottesbildes kann nicht selten in Haßgefühle umschlagen, die sich in aggressiven Verhaltensweisen zeigen.761 Verbotene und unterdrückte negative Gefühle Gott gegenüber können auch in Form von Verschiebung zum Ausdruck kommen. Sie können gegen andere Personen oder gegen die eigene gerichtet werden. Werden solche Gefühle ins Gegenteil verkehrt, kann sich Haß in übertriebener Freundlichkeit und Zuvorkommenheit äußern, die von einer großen Aufopferungsbereitschaft begleitet sein können. Über eine hiervon betroffene Person meint Jörg Müller: „Sie muß lernen, die Andersartigkeit Gottes zu akzeptieren und ihr jetziges Gottesbild größtenteils als Ergebnis ihrer eigenen, negativen Projektion zu entlarven.“762 Gleichwohl betont er die Notwendigkeit einer berechtigten Gottesfurcht als Ehrfurcht, die jedoch frei von Gedanken sein sollte, daß für gewisse Vergehen keine Vergebung möglich sei. Eine Liebeserfahrung, die stets durch Angst- und Rachegedanken getrübt wird, muß entzerrt und korrigiert werden, was durch konkrete positive Erfahrungen in diesem Bereich 758 Vgl. Müller, Lebensängste, 47. Bedrohliche und strafende Verhaltensweisen des Vaters können die Gottesvorstellung von Gott als einem „Weltraumpolizisten“ bewirken. (Vgl. Fraas, 213). 759 Müller, Lebensängste, 47. 760 Ibid. 761 Vgl. Fraas, 174f. 762 Müller, Lebensängste, 48. 260 verwirklicht werden kann und durch die Einbeziehung neutestamentlicher Texte, die über die Freundlichkeit und Liebe Jesu zu den Menschen berichten, unterstützt werden kann. „Die spürbare Anwesenheit Jesu verwandelt allmählich jeden Menschen, der sein Herz öffnet; nur wer sich angenommen weiß in einer Gemeinschaft gläubiger Menschen, wird die Liebe Gottes in sich aufnehmen.“763 2.3.2.2 Das Bild eines abwesenden, ohnmächtigen Gottes Die in der Kindheit erlebte permanente Abwesenheit eines helfenden Vaters kann zu der Vorstellung eines abwesenden, schwachen und ohnmächtigen Gottes führen, was sich häufig in einem deistischen Gottesverständnis äußert. Man hält zwar an der Existenz Gottes fest, jedoch wird dessen Wirksamkeit und Sorge um den Menschen verneint, ebenso die Möglichkeit, durch Gebet eine Beziehung zu diesem Gott aufnehmen und aufrechterhalten zu können. Jörg Müller spricht hier von einer „Geborgenheitsunsicherheit“.764 Fällt die Vorstellung von der Ohnmacht und Untätigkeit Gottes mit eigenem Unvermögen zusammen, kann dieser Mangel an Geborgenheit und die eigene Beschränktheit durch eine Form von narzißtischer Selbstsicherung kompensiert werden, was allerdings weitere Ängste und Unsicherheit nach sich zieht. „Alles ist machbar und geht ohne Gott scheinbar viel besser und schneller. Der Mensch hat sich zum Gott erhoben, weil Gott ihm zu menschlich, zu schwach und ohnmächtig erschien.“765 763 Müller, Lebensängste, 59. Vgl. auch Heise, Irene, Einführung in eine Theologie der Empathie. Leitfaden für einen einfühlsamen Umgang bei Scheitern, Scheidung und 2 Wiederverheiratung aus Theologie, Psychologie und Philosophie, Wien 2000 , 172. Heise betont die bei einem Menschen im seelsorglichen Gespräch notwendige Empathie und Wertschätzung, die wohl auch eine charakteristische Eigenschaft Jesu war. Sie unterscheidet drei verschiedene Weisen des Auftretens Jesu, zum einen sein „Auftreten im Streitgespräch“, seine „Verkündigung als Prediger“ und das „Auftreten als Seelsorger“, welches sich durch Erbarmen und Mitgefühl auszeichnet. 764 Müller, Lebensängste, 49. 765 Ibid., 50. 261 Unsicherheiten und Ängste mit einhergehenden Schuldgefühlen treten bei vielen Patienten in der therapeutischen Praxis durch überhebliche Äußerungen gegenüber religiösen Themen zutage. Jörg Müller verdeutlicht dies am Beispiel einer 34-jährigen Frau, die seit langer Zeit an epileptischen Anfällen leidet und sich in der Hoffnung auf therapeutische Hilfe bei ihm in Behandlung begibt. Als er unter anderem auch auf die religiöse Überzeugung der Frau zu sprechen kommt, reagiert diese überheblich und aggressiv zugleich, wodurch ihre religiöse Verbitterung in Erscheinung tritt. „Solche Verbitterung kann dem Menschen zur Resignation, zum Zynismus oder auch zu einer maßlosen Überschätzung seiner Möglichkeiten führen, doch stets verbunden mit verdrängten Schuld- und Angstgefühlen angesichts einer doch für möglich gehaltenen Gottesexistenz.“766 Ein Leben ohne Gott hat oftmals einen enormen Leistungsdruck zur Folge, der durch übertriebene Eigenregie gekennzeichnet ist. Ein solches Leben begnügt sich oftmals mit Süchten und Abhängigkeiten jeder Art als Ersatzbefriedigung. Der scheinbare Erfolg von Menschen, die ohne Gott ihr Leben gestalten, läßt gläubige Christen manchmal an ihrem eigenen Glauben oder an Gott zweifeln. Jedoch ist die für ungläubige Menschen lächerlich anmutende biblische Aussage, daß Gott Unkraut und Weizen gleichzeitig wachsen und gedeihen läßt, für glaubende Menschen eine ungeheuere Ermutigung, da sie das Eingreifen Gottes innerhalb der menschlichen Existenz, biblisch als Ernte bezeichnet, als eine sichere Tatsache darstellt, auch wenn der genaue Zeitpunkt ihres Eintreffens dem Menschen nicht bekannt ist. 2.3.3 Abwehrmechanismen und ihre Symptome Die Abwehr unangenehmer Empfindungen und Ängste stellt eine gängige 766 767 Praxis menschlichen Verhaltens dar.767 Viele Menschen Müller, Lebensängste, 51. „Das Leben ist ohne Verdrängung nicht möglich. Wir müssen vieles verdrängen, um uns zu schützen. Das muß nicht zwangsläufig krank machen; die Kanalisierung dieser 262 verdrängen neben ihren elementaren Gefühlen wie Schuld, Zorn, Wut und Trauer auch die Angst. Dieser Mechanismus ist jedoch nicht immer leicht zu durchschauen. Die im religiösen Bereich häufigsten Abwehrmechanismen sind das Leugnen, der Starrsinn, die Projektion, die Intellektualisierung und die Privatisierung. 2.3.3.1 Leugnen Einem leugnenden Menschen schreibt Jörg Müller verdeckte Ängste zu.768 Um die Wahrhaftigkeit von Aussagen nicht in Frage stellen lassen zu müssen, bestreitet er sie, wobei im Falle von kritischen Gegenäußerungen eine besonders unduldsame Form von Rechthaberei auftreten kann. Bei Menschen mit Tendenz zum Leugnen zeigt sich mitunter eine Angst vor Bloßstellung ihrer tatsächlichen Gedanken und Empfindungen sowie die Furcht, ihr instabiles Denkgebäude könnte von anderen zum Einsturz gebracht werden. Ein solcher Mensch zeigt in verschiedenen sozialen Bereichen widersprüchliches Verhalten. Jörg Müller bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel einer Frau, die sich in einem Teufelskreis von verdrängten Gefühlen und Emotionen befindet. Sie versucht seit langem ihren Mann zur Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen zu bewegen, muß jedoch die ablehnende, bisweilen auch aggressive Ablehnung ihrer Bitten hinnehmen. Auffällig ist bei dieser Frau, daß sie innerhalb der Kirchengemeinde eine masochistisch anmutende Aufopferungsbereitschaft zeigt, zu Hause dagegen ihrem Mann gegenüber vor allem aggressive Verhaltensweisen an den Tag legt. Sie will die Bekehrung und religiöse Betätigung ihres Mannes als persönlichen Erfolg verbuchen, wozu Jörg Müller bemerkt: „So aber will sie alles selber machen; Gott hat keinen Raum in ihrem Alltag, sie sieht in der erhofften Bekehrung ihrer Familie einen ganz persönlichen Erfolg, der ihre Eitelkeit Kräfte in die Erfüllung normaler Lebenspflichten reicht für gewöhnlich aus, um die Spannung solcher Wünsche erträglich zu halten oder gänzlich herabzusetzen.“ (Müller, Gott ist anders, 30). Übersteigt die Verdrängung ein erträgliches Maß, kommt es zu psychischen Auffälligkeiten und Abwehrmechanismen. 768 Vgl. Müller, Lebensängste, 53. 263 nähren würde. Und da sie nichts ausrichten kann, ist sie verbittert.“769 Als Jörg Müller ihre Reaktionen aufzudecken bestrebt ist und sie mit ihrem Haß und Groll auf ihren Mann konfrontiert, leugnet sie diese Gefühle, um nicht in einen unangenehmen Gewissenskonflikt zu geraten. Da sie ihre Eitelkeit nicht wahrhaben will, läßt sie sich zu einem solchen Verhalten verleiten. 2.3.3.2 Starrsinn Jörg Müller ist der Ansicht, der gläubige, sich Gott gegenüber öffnende Mensch sei ein lebendiger und dynamischer Mensch.770 Doch die Realität zeigt oftmals ein anderes Bild. Selbst Menschen, die sich als gläubige Christen bezeichnen, zeigen mitunter eine Lebensweise, die eher abschreckend, denn überzeugend wirkt. „Starrgläubige klammern sich verbissen an überkommene Regeln und Gewohnheiten, bis schließlich alles Lebendige in einem Korsett von Gesetzen, Verboten, Vorschriften und von Leistungsgläubigkeit erstickt ist.“771 Lebendigkeit und Spontaneität sind entscheidend für einen lebendigen Glauben, was zahlreiche Einrichtungen wie etwa Taizé und neue geistliche Bewegungen innerhalb der Kirche deutlich machen. Jörg Müller sieht einen Zusammenhang zwischen einem Mangel an „religiöser Lebendigkeit und den antisozialen Verhaltensformen in unserer Gesellschaft“.772 2.3.3.3 Projektion Das Übertragen eigener Gedanken und Motive auf andere Menschen ist ein häufig anzutreffendes Phänomen.773 In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Äußerung zu sehen, die Leute gingen nur zur Kirche, 769 Müller, Lebensängste, 55. Ibid., 57. 771 Müller, Lebensängste, 58. 772 Ibid. 773 Vgl. Müller, Gott ist anders, 31ff. 770 264 um ihre neue Kleidung oder ihre eigene Person zur Schau zu stellen. Jörg Müller sieht in Wunschdenkens, dieser Äußerung beispielsweise versteckte selber eine Motive solche eigenen Modenschau durchführen zu wollen, es sich jedoch nicht einzugestehen, oder aber diese Behauptung soll eine Rechtfertigung eigener Bequemlichkeit darstellen, die das Fernbleiben von der Kirche entschuldigen soll.774 Selbst die Negierung Gottes, die atheistische Behauptung seiner Nichtexistenz, kann eine Projektion darstellen. Jörg Müller schreibt in diesem Zusammenhang: „Wem die Existenz Gottes nicht in den Kram paßt, wird sie rasch verdrängen; er wird den religiösen Glauben ersetzen, durch den Glauben an die Wissenschaft.“775 Die Projektion eigener Wünsche, Fehler und Schwächen auf andere Menschen stellt den Versuch dar, diese zu verwirklichen bzw. zu beseitigen. Dies führt auf Dauer zu einer großen Belastung der zwischenmenschlichen Beziehung. 2.3.3.4 Intellektualisierung und Privatisierung Die meisten Pfarrgottesdienste sind Ausdruck deutlich intellektuell bestimmter Glaubensäußerungen. Dies hat durchaus seine Berechtigung. Jedoch weist Jörg Müller auch auf eine durch die Verarmung des Gefühlslebens bedingte Verarmung der religiösen Erlebnisfähigkeit hin. Die Art des Betens offenbart zuweilen eine Angst vor spontanen religiösen Gefühlsäußerungen. „Ein Großteil der Christen ist nicht imstande, frei und laut zu beten; er hält sich lieber an vorformulierte Texte und ist froh, wenn möglichst Gefühle außer acht gelassen bleiben.“776 Die Überbetonung der intellektuellen Seite hat eine Versachlichung von Gefühlen zur Folge777 , wodurch im Glaubensbereich die Gefahr der 774 Müller, Lebensängste, 61. Ibid., 62. 776 Müller, Lebensängste, 65. 777 Die Versachlichung der Gefühle und Verschleierung der eigentlichen Gründe kann durch Intellektualisierung erfolgen. Diese verhindert eine als unangenehm oder peinlich empfundene Bloßstellung der eigenen Person. Das Beispiel der Verliebtheit veranschaulicht dies sehr humorvoll. „Wer kennt nicht jenen Vorgang, wo alle 775 265 Verwaltung des Glaubens gegeben ist. Die Verarmung der emotionalen Dimension des Glaubens kirchlicherseits läßt die Angebote vieler neureligiöser Gruppierungen und Sekten attraktiv erscheinen. Hier zeigt sich der soziale Charakter des christlichen Glaubens und seine den einzelnen ermutigende, gemeinschaftsstärkende Funktion. Die Kurzsichtigkeit von Menschen in bezug auf diese gemeinschaftliche Tatsache läßt sich so beschreiben: „Sie übersehen die solidarische Struktur des Christentums, in der Gott anwesend ist, sobald sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln (Mt 18,20).“778 2.3.4 Mögliche Folgen der Angstverdrängung „Der Mensch ist aufgefordert, über sich nachzudenken und seine bisherige Lebens- und Denkweise umzukehren.“779 Dies erfordert jedoch auch eine Auseinandersetzung mit unbequemen, schmerzlichen und angstvollen Situationen des Lebens. Viele Menschen wollen sich diesem Prozeß jedoch nicht stellen und verdrängen lange Zeit die notwendige Auseinandersetzung, was zu psychosomatischen Beschwerden führen kann.780 2.3.4.1 Vergebungsunfähigkeit Jahrelang schlummernde seelische Verletzungen und verdrängte Wut können zur Vergebensunfähigkeit führen. Verborgene Wut und Groll müssen bewußtgemacht, reflektiert und verarbeitet werden. Da die emotionale Belastung hierbei meist sehr stark ist, muß eine vorrangig möglichen Gründe arrangiert oder vorgetäuscht werden, um eine geliebte Person so oft wie möglich zu treffen? Auf die Frage nach dem Grund des Kommens lassen sich nun die verschiedensten Argumente nennen, nur nicht das wirkliche, nämlich die Verliebtheit.“ (Müller, Gott ist anders, 33). 778 Müller, Lebensängste, 68. 779 Ibid., 70. 266 verstandesmäßige Verarbeitung erfolgen. Jörg Müller meint: „Es ist gut zu wissen, daß oft erst der Verstand dem Herzen vorangehen muß; das heißt, ich vergebe willentlich: Ich bin bereit, meinem Mitmenschen zu verzeihen, auch wenn meine verletzten Gefühle noch nicht in der Lage sind, jene Verzeihung zu begleiten.“781 2.3.4.2 Berechtigte und unberechtigte Schuldgefühle Abwehrmechanismen dienen, wie bereits beschrieben, der Verdrängung unangenehmer Empfindungen, so auch von Schuldgefühlen. Es gibt neben berechtigten, auf eine objektive Schuld zurückzuführende Schuldgefühle auch solche, deren Ursache nicht ersichtlich ist. Ursachen solcher nicht ersichtlichen Schuldgefühle liegen sicherlich in der Erziehung begründet. Das stetige Zurückstellen eigener Interessen und Bedürfnisse zugunsten anderer, der permanente Verzicht und die Unterdrückung berechtigter Ansprüche und Wünsche können zu solchen unberechtigten Schuldgefühlen führen.782 „Während jeder normale Schuldige im reumütigen Sündenbekenntnis Vergebung erhält und auch Befreiung verspürt, gelingt es dem neurotisch Schuldigen nicht, sich jener Vergebung zu erfreuen.“783 780 Vgl. Müller, Gott ist anders, 78ff. Jörg Müller erwähnt in diesem Zusammenhang Beschwerden wie Hautausschläge als Folge verdrängten Ärgers, Kopfschmerzen als Folge von nicht gelösten Konflikten. 781 Müller, Lebensängste, 73. Vgl. auch Veeser, Lebensfragen, 119ff. Veeser beschreibt die Möglichkeit der schrittweisen Entschärfung und der Beseitigung von Wutgefühlen. Vgl. auch Grom, Bernhard, Umschau, Forgiveness. Die Bereitschaft zu vergeben. Ein aufstrebendes Thema psychologischer Beratung und Forschung, in: Stimmen der Zeit 220 (2002), 640-643. 782 Dies soll durch ein Beispiel veranschaulicht werden. Eine Mutter, die ihre Tochter emotional bindet, ihr existentielle Bedürfnisse nach freundschaftlichen außerfamiliären Beziehungen untersagt und ihrer Tochter vorhält, sie selbst bedürfe ihrer Zuwendung, erzeugt auf Dauer bei ihrer Tochter eine Haßliebe, die mit Schuldgefühlen einhergehen kann. Setzt sich die Tochter über die Verbote der Mutter hinweg, muß sie Vorwürfe der Mutter über sich ergehen lassen. Dies erzeugt bei der Tochter unechte Schuldgefühle, aufgrund eines an sich berechtigten natürlichen Vorganges der Abnabelung, die die Mutter ihrer Tochter jedoch nicht zugestehen will. (Vgl. Müller, Lebensängste, 73). 783 Müller, Lebensängste, 76. Vgl. Veeser, Lebensfragen, 66ff. Vgl. auch Heise, 178ff. Heise hebt die Notwendigkeit des Einfühlungsvermögens auf Seiten des Seelsorgers in Bezug auf das Aufdecken von Schuld hervor. 267 Für einen Seelsorger und Therapeuten ist es nicht immer einfach, den Unterschied zwischen echten und unrechtmäßigen Schuldgefühlen festzustellen. Werden diese unrechtmäßigen Schuldgefühle nicht als solche erkannt, kann die Therapie und Seelsorge nicht in der erwünschten Weise wirken. 2.3.4.3 Medikamentierung Bereits bei der Darstellung der existenzanalytischen Logotherapie nach Viktor Frankl wurde die Bedeutung der geistig-noetischen Dimension für das therapeutische Gespräch hervorgehoben. Die religiöse Dimension wurde hierbei allerdings nicht ausführlich genug berücksichtigt. Werden religiös begründete Konflikte nicht in der rechten Weise erkannt und auf religiöser Grundlage behandelt, kann sich die Situation für den betreffenden Patienten verschlimmern, was zu einer vorschnellen Verabreichung von Medikamenten führen kann. Jörg Müller kritisiert dies sehr scharf. „Das ärztliche und psychologische Sprechzimmer hat sich in ein Beichtzimmer verwandelt, die Lossprechung der Schuld erfolgt durch Wegrationalisieren der Sünde; die Reue bleibt unvollkommen; die Buße äußert sich in der Einnahme von dreimal täglich zehn Tropfen eines beliebigen Medikaments mit beliebigen Nachwirkungen.“784 Existentielle Ängste, Schuld, Leid und Tod lassen sich nicht durch chemische Therapie beseitigen. Medikamente können eine Therapie begleiten, jedoch nicht ersetzen. Christlich motivierte Psychotherapie ist immer auch Seelsorge, wenn sie zur Kerngesundheit führen soll, und bezieht den Glauben und die Gottesbeziehung mit ein. Die in der heiligen Schrift zu findende Bezeichnung Gottes als Arzt zeugt von dieser ganzheitlichen auch religiös bestimmten Dimension menschlicher Existenz.785 784 785 Müller, Lebensängste, 78. „Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt.“ (Die Bibel. Einheitsübersetzung, Ex 15, 26). 268 2.3.5 Ersatzglaube und andere Ersatzbefriedigungen als Ausdruck innerer Sinnleere Wird die geistlich-religiöse Dimension menschlichen Lebens nicht in entsprechender Weise angesprochen, fehlt das entscheidende sinnstiftende Element. Nur in Beziehung zu seinem Schöpfer findet der Mensch seine wahre Bestimmung. Zunehmende Haltungen wie Verzweiflung, Selbstmordabsichten und Erscheinungen von Sarkasmus, Zynismus und Fatalismus sind resignative Haltungen und meist Folge mißlungener Sinnfindung. Sexuelle Ersatzbefriedigungen, Aberglaube, Okkultismus und die Hinwendung zu sektiererischen Gruppierungen sind Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Erfüllung und Verwirklichung religiös-spirituellen Potentials,786 ohne welche eine geistige Leere zurückbleibt. Der zerstörerische Einfluß solcher Ersatzbefriedigungen liegt auf der Hand. Am Beispiel der Sektenproblematik ist die Intensität des Verlangens nach hervorgetreten. verwirklichtes religiös-spiritueller Die religiös-spirituelle Menschsein, macht Erfüllung Leere, für d.h. sehr im sektiererische deutlich Kern nicht Angebote empfänglich. Der Mißbrauch fundamentaler menschlicher Regungen wie Angst, Schuld, Hoffnung, Glaube und Liebe durch Sekten spricht eine deutliche Sprache. Statt wirkliche Sinnerfüllung zu finden, geraten suchende Menschen in neue Abhängigkeiten und Ängste und sogar Versklavung. Der langwierige Ausstiegsprozeß und die meist notwendige anschließende Therapie und Seelsorge an Sektenopfern stellt für die christliche Psychotherapie eine enorme Herausforderung dar. Jörg Müller stellt in diesem Zusammenhang einige zentrale Strategien der Angstbewältigung auf der Grundlage christlicher Therapie und Seelsorge vor. 786 Vgl. Biser, Eugen, Das Christentum auf der Suche nach seiner Mitte. Auf der Schneide der Zeit – Durchbruch zum Gott der Liebe, in: Schlemmer, Karl, (Hrsg.), Ausverkauf unserer Gottesdienste? Ökumenische Überlegungen zur Gestalt von Liturgie und zu alternativer Pastoral, Würzburg 2002, 127ff. 269 2.3.6 Angstbewältigung und Sinnfindung durch Hinwendung zu Gott 2.3.6.1 Die Angstbewältigung Jesu als Beispiel Jesu Umgang mit der Angst angesichts seines nahe bevorstehenden Todes macht deutlich, wie selbst die Todesangst schrittweise besiegt werden kann. Im Matthäusevangelium heißt es im Zusammenhang mit dem Angstbekenntnis Jesu: „Da ergriff ihn Angst und Traurigkeit, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!“787 Das Eingeständnis der Angst ist der erste entscheidende Schritt zu deren Bewältigung.788 Der zweite Schritt besteht darin, diese im Gebet vor Gott zu bringen. Der Evangelist Markus bemerkt in diesem Zusammenhang: „Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, daß die Stunde wenn möglich, an ihm vorübergehe.“789 Der dritte und letzte Schritt auf dem Wege der Überwindung der Angst ist die Konfrontation mit der angstauslösenden Situation. Obwohl seine Begleiter die Flucht ergreifen, stellt Jesus sich der Lage. Sein Beispiel kann für Menschen eine große Ermutigung sein, sich ihren eigenen Ängsten und Schwierigkeiten zu stellen. Dem Gebet als Ausdruck einer intensiven Gottesbeziehung kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Durch die Verdrängung der Angst beraubt sich der Mensch entscheidender Möglichkeiten der geistigen Reifung. Das offene Eingeständnis von Angst kann im sozialen Umfeld, etwa der Familie, zu ablehnenden Reaktionen führen. „Hier fehlt es an der nötigen Aufklärung und am mangelnden Einfühlungsvermögen, wohl auch deswegen, weil die Familie ihre eigenen Ängste verdrängt und nicht wahrhaben will.“790 Trotz allem behält das Eingeständnis von Angst seine wesentliche Bedeutung. Gelungene zwischenmenschliche Beziehungen sind auf 787 Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 26, 37b. Vgl. Müller, Lebensängste, 126. 789 Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mk 14, 35. 790 Müller, Lebensängste, 128. 788 270 gegenseitige Akzeptanz und Offenheit angewiesen, was auch das Eingeständnis belastender Empfindungen und Gefühle, einschließlich der Angst, einschließt. 2.3.6.2 Ergebnisse erlöster Gottesbeziehung und Lebenshingabe an Gott 2.3.6.2.1 Vergebungsfähigkeit Das Vergeben von Schuld ist ein charakteristisches Merkmal des Lebens Jesu. In seinen Gleichnissen und Begegnungen mit den Menschen wird seine Vollmacht zur Sündenvergebung deutlich hervorgehoben. Dabei stellt die Vergebung von Schuld oftmals eine Voraussetzung für eine spätere körperliche Heilung dar.791 Das Gebot zu vergeben wird auch im „Vater Unser“ deutlich formuliert und als Voraussetzung für die Vergebung Gottes angesehen. Bei Matthäus heißt es: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlung vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“792 Vergebung setzt allerdings auch Reue über begangenes Unrecht voraus, welche durch Einsicht in schuldhaftes Verhalten zustande kommt. Das Eingeständnis eigener Schuld befähigt dazu, auch anderen Menschen Verfehlungen nachzusehen. Die Gewißheit, daß Gott alle Menschen trotz aller ihrer Fehler und ihres Versagens liebt und bedingungslos annimmt, erleichtert die Vergebungsbereitschaft gegenüber den Mitmenschen. 791 In der Geschichte von der Heilung eines Gelähmten in Mk 2, 1-12 heißt es in diesem Zusammenhang: „Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage Dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh nach Hause! Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle außer sich; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen.“ (Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mk 2, 10ff.). 792 Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 6, 14f. 271 2.3.6.2.2 Sinnfindung und Selbstannahme Die Sinnproblematik ist bei der Darstellung der existenzanalytischen Logotherapie Frankls bereits dargestellt worden. Jedoch ist die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens und der Welt als ganzer dort als Reservat des Glaubens bezeichnet worden. Der christliche Erlösungsglaube läßt die Frage nach dem universalen Sinn des Lebens und der Schöpfung in einem neuen Licht erscheinen. Zeitliche Werte können die ungestillte Sehnsucht nach Transzendenz, letztlich nach Gott, die ja bereits im zwischenmenschlichen Bereich der Liebe deutlich wird, nicht ersetzen. Die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu ist für die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz primär. Sinnleere ist Folge des Verlustes desjenigen Wertes, dem der erste Platz in der Wertehierarchie zukommt. Hierbei kann es sich sowohl um einen materiellen Wert als auch um Personen handeln.793 Der Verlust eines obersten Wertes und eine dadurch bedingte Sinnleere stellt in zunehmendem Maße eine Erklärung für Fälle von Suizid dar. Doch die Krise bietet auch eine große Chance, die vernachlässigte religiöse Dimension des Lebens wiederzuentdecken. Jörg Müller bemerkt in diesem Zusammenhang: „Doch kann ein solcher akuter Ausbruch von Sinnleere und Todessehnsucht auch eine Chance zur Heilung sein, nämlich dann, wenn er [der Mensch] erkennt, daß ihn der Schicksalsschlag lediglich aus einer latenten Verzweiflung aufgerüttelt hat. Dies kann zu einem Gesinnungswandel führen, zu einer Umkehr im Denken.“794 Gott als Sinn und Ziel des Lebens stellt eine wichtige sinnerfüllende Größe dar. Auch im Falle durch Menschen erfahrener Ablehnungen und Enttäuschungen behält das Leben als ganzes seinen Sinn. Der bereits von Frankl beschriebene Aufgabencharakter des Lebens in Form einer Suche nach den wahren Werten im Leben kommt im christlichen Kontext 793 794 Vgl. Müller, Lebensängste, 109. Ibid. 272 besonders in dem von Jesus vorgetragenen Gleichnis von den Talenten zum Ausdruck.795 Eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Möglichkeiten spielt die Selbstannahme. Das eigene Leben wird nicht immer als Geschenk Gottes dankbar angenommen, sondern durch vielerlei Faktoren, etwa durch ein negatives Selbstbild oder Gottesbild geschädigt. „Gerade der depressive Charakter tut sich schwer, sein Leben als vor Gott und den Menschen berechtigt zu erachten, ohne Leistung erbringen zu müssen. Er fühlt sich durch sein bloßes Dasein schuldig.“796 Eine christlich motivierte und verantwortete Verwirklichung der von Gott gegebenen Möglichkeiten, ist stets von einem positiven Selbst- und Gottesbild getragen. Sich selbst ablehnende Menschen zeigen mitunter zwei auffällige Verhaltensweisen, entweder sie leben ihre negativen Empfindungen rücksichtslos aus oder aber unterdrücken diese um den Preis psychischer Erkrankungen. Die von Jesus verkündete und oft zitierte Selbsterniedrigung meint keine totale Selbstentwertung der eigenen Personen. „Er verbietet uns nicht ein selbstbewußtes Auftreten oder das Bewußtsein um unsere Fähigkeiten und Vorzüge. Er mahnt uns aber zu einer demutsvollen Haltung, die den Nächsten als den gelten läßt, der er im positiven Sinn ist oder sein könnte.“797 795 Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 25, 14-30. Wer seine Talente vergräbt und nicht zum Einsatz bringt, wird folgendermaßen zurechtgewiesen: „Hättest Du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.“ (Die Bibel. Einheitsübersetzung, Mt 15, 27-30). 796 Müller, Lebensängste, 112. 797 Ibid., 115. Vgl. auch Müller, Jörg, Stell dein Licht auf den Leuchter. Verständnis und Mißverständnis christlicher Demut, Stuttgart 1986. In dem zuletzt zitierten Werk zeigt Müller anhand neutestamentlicher Texte, was mit christlicher Demut gemeint ist. Sie hat nichts mit Selbstablehnung und Selbsterniedrigung in Form von zerstörerischer Selbstentwertung zu tun. Die von Jesus geforderte Selbstverleugnung warnt vor der Verabsolutierung eigener menschlicher Maßstäbe und ihrer Verwirklichung auf Kosten anderer Menschen. Der Einsatz für Gott erfordert zwar manchmal eine Zurückstellung eigener Wünsche, jedoch besteht das Ziel darin, durch die eigene Lebensweise andere Menschen auf Gott hinzuweisen. Dies wird in der Aufforderung Jesu im Matthäusevangelium deutlich, die Müller als Leitspruch an den Anfang seines Werkes „Stell dein Licht auf den Leuchter“ (Seite 7) übernimmt: „Auch zündet man nicht ein Licht an und stellt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, dann leuchtet es allen, die im Hause sind. So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Zitat nach Müller). 273 2.3.6.3 Geistliches Leben als Grund erfüllter und sinnvoller menschlicher Existenz Die bewußte Lebensgestaltung auf der Grundlage des christlichen Glaubens bedeutet nicht Lebensfeindlichkeit, Weltfremdheit oder religiöse Isolation. Für einen geistlich lebenden Menschen hat die Welt als ganzes einen religiös, von Gott garantierten Wert. Allerdings stellt ein geistliches Leben auch Forderungen, vor allem diejenige, sein Leben jeden Tag neu auf Gott auszurichten und das eigene Denken und Handeln an dem Jesu zu orientieren. In diesem Zusammenhang spielt die Selbsterkenntnis eine zentrale Rolle, wobei die Frage nach dem Gottesbild für die Art des Betens entscheidend ist. Voraussetzung für eine geistliche Lebensgestaltung ist die regelmäßige Lektüre in der Heiligen Schrift, sowie auch der Umgang mit gläubigen Christen mit dem Ziel, Gedanken und Erfahrungen auszutauschen. Die Einrichtung fester Gebetszeiten und die Suche geeigneter Orte für das Gebet erleichtern Meditation und Reflexion. Neben diesen Grundlagen geistlichen Lebens sollen einige positive Merkmale eines hierdurch geprägten Menschen herausgestellt werden. Geistliches Leben führt zu einer sinnvollen, erfüllten menschlichen Existenz. Die Fähigkeit, Konflikte durchzustehen und Verzicht zu üben, und die Bereitschaft, dem Nächsten zu vergeben, sind typische Merkmale einer solchen Lebensweise. Jörg Müller skizziert das Portrait eines geistlichen Menschen wie folgt: „Der geistliche Mensch fühlt sich für das Reich Gottes verantwortlich; dafür riskiert er etwas. Er hat keine Angst vor dem Streß des sozialen Engagements, dem er sich mutig aussetzt. Er denkt, bevor er handelt, und betet bevor er denkt.“798 2.3.6.4 Die therapeutische Bedeutung der „Jesus-Imagination“ Innerhalb Therapeuten des die psychologischen Kenntnis und Vorgehens ist Verwendung auf Seiten des verschiedenster 274 therapeutischer Vorgehensweisen von Vorteil. Bei gläubigen Menschen verwendet Jörg Müller auch die Methode der sogenannten „JesusImagination“.799 Bei dieser Behandlungsmethode nimmt ein Patient eine liegende Haltung ein und wird durch eine leise angenehme Hintergrundmusik zu Ruhe und Entspannung geführt. Dabei produziert das menschliche Gehirn vielfältige Bilder fiktiver oder tatsächlich geschehener Situationen. Dies macht sich der Therapeut zunutze, indem er den Patienten zur Vorstellung biblischer Szenen anhält. „In der Imagination soll der Patient nicht allein mit der Person Jesu konfrontiert werden, sondern mit allen Personen, die ihn in besonderer Weise verletzt haben, gegenüber denen er Zorn und Bitterkeit empfindet.“800 Dabei kommen verdrängte Gefühle an die Oberfläche, werden dem Therapeuten offenbar, können so bewußt und unschädlich gemacht werden. Der Patient soll sich eine Begegnung mit Jesus vorstellen und ihm in der Überzeugung seiner tatsächlichen Gegenwart alle Verletzungen und schwierigen Situationen vortragen, was auf den Patienten eine heilende Wirkung hat. Menschen, bei denen die Jesus-Imagination nicht gelingt, können durch Rollenspiele und erneute Konfrontation mit ihren Verletzungen gegenüber ihren negativen Gefühlen und Empfindungen neu Stellung beziehen. 2.3.6.5 Ein Vergleich des christlich motivierten psychotherapeutischen Konzeptes Jörg Müllers mit dem logotherapeutischen Konzept Frankls Die christlich motivierte Psychotherapie nach Jörg Müller, auch als Seelsorge in Form ganzheitlicher Sorge um den Menschen verstanden, zeigt eine mit christlich-biblischen Grundsätzen vereinbare und verantwortbare Form der Bewältigung von Lebenskrisen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen auf. Müller erweitert auf diese Weise das 798 Müller, Jörg, Zur Unterscheidung der Geister. Wege zum geistlichen Leben, Hamburg 1995, 93. 799 Vgl. Müller, Und heilt alle deine Gebrechen, 89ff. 800 Ibid. 275 existenzanalytisch-logotherapeutisch orientierte Therapiekonzept Frankls um einen zentralen Inhalt, bei welchem es sich um die religiös-spirituelle Dimension menschlichen Lebens handelt. Ihm gelingt es, trotz seiner oft sehr scharf formulierten Vorstellungen, einen gangbaren Weg christlicher Psychotherapie als Teil einer ganzheitlichen Seelsorge, aufzuzeigen. Er bezieht wesentliche Realitäten menschlichen Lebens in seine therapeutische Tätigkeit mit ein, so die Angst als Ursache vieler psychischer Störungen und Erkrankungen und die Folgen einer oft verdrängten und doch obersten Wertkategorie menschlicher Existenz, nämlich der Sinnfrage als Frage nach Gott. Diese Problematik behandelt er vor allem auf der Grundlage der christlichen Überzeugung von der Existenz eines personalen Gottes als Sinn und Ziel menschlichen Lebens. Müller vereinigt in seiner Person in einzigartiger Weise psychologische und theologische Überzeugungen, wobei er seine Vorgehensweise stets biblisch-theologisch zu hinterfragen und bewerten sucht. 2.4 Anknüpfungspunkte für eine Therapie und Seelsorge an ehemaligen Zeugen Jehovas aufgrund der christlich motivierten therapeutischen Vorgehensweise nach Jörg Müller Jörg Müller bezieht als Theologe und Priester die religiös-spirituelle Dimension menschlichen Lebens in seine therapeutische und seelsorgliche Tätigkeit mit ein. Dabei steht die von Frankl aufgeworfene Sinnfrage für ihn in engem Zusammenhang mit der Gottesfrage und der Gottesbeziehung des Menschen. In einer negativen, angstbesetzten Gottesvorstellung liegt nach Meinung Müllers die Ursache vieler psychischer Störungen und Ängste. Diese Problematik wird besonders an den Aussteigerberichten ehemaliger Zeugen Jehovas deutlich. Die gesamte Psychologie der Wachtturm-Gesellschaft ist durchzogen von der Vorstellung eines bedrohlichen, strafend-rächenden Gottes, der alle NichtZeugen vernichten wird. 276 Der Erfahrungsbericht Monika Deppes schildert eindrucksvoll die Angst vor einem Verlassen der Wachtturm-Gesellschaft: „Wenn die Zeugen Jehovas tatsächlich den richtigen Glauben hatten, dann würden wir in Harmagedon von Gott erschlagen werden, wenn wir uns von ihnen trennen würden. Dieses Risiko wollten wir auf keinen Fall eingehen.“801 Auf der Furcht vor einem strafenden Gott basiert auch die Motivation der Zeugen Jehovas für ihre zahlreichen Missionseinsätze. Der als Leistungsfrömmigkeit zu charakterisierende religiöse Eifer wird bei HansJürgen Twisselmann treffend beschrieben: „Bei uns aber wird der Dienst als Mittel zur Erlangung der Seligkeit hingestellt: ‚Ohne Felddienst keine Rettung‘, heißt die Devise.“802 Der Leistungsdruck innerhalb der Sekte und die Abwertung der restlichen Welt als unglaubwürdig und systemfeindlich, bietet den Mitgliedern der Sekte die Möglichkeit, eigene Ängste und Unsicherheiten und die der Glaubensgemeinschaft als ganzer durch Abwehrmechanismen zu unterdrücken. Die von Jörg Müller beschriebenen Abwehrmechanismen, das Leugnen, der Starrsinn und die Projektion, spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Müller meint: „Starrgläubige klammern sich verbissen an überkommene Regeln und Gewohnheiten, bis schließlich alles Lebendige in einem Korsett von Gesetzen, Verboten, Vorschriften und von Leistungsfrömmigkeit erstickt ist.“803 Die Aussteigerberichte ehemaliger Zeugen Jehovas lassen diesen Starrsinn sehr anschaulich zutage treten. Die Äußerungen von Barbara Waß über den der Wachtturm-Gesellschaft geschuldeten absoluten Gehorsam und das grundsätzliche Verbot jeglicher Kritik und die Ahndung jedweder Abweichung von der vorgeschriebenen Linie der Organisation, geben hiervon einen einschlägigen Eindruck. Sie bemerkt in diesem Zusammenhang: „Sie war alles, ja sie war eigentlich das ‚goldene Kalb‘, 801 Deppe, 72. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43. 803 Müller, Lebensängste, 58. 802 277 das angebetet wurde. Man mußte ganz untertan sein, jedwede Kritik war unmöglich und wurde gleich als Rebellion ausgelegt.“804 Der Starrsinn wirkt sich in dem Augenblick voll aus, als Barbara Waß die Sekte verläßt; denn nun wird sie das Opfer zahlreicher Schikanen und Verleumdungskampagnen durch die linientreue Zeugen sie für ihren Abfall von der Wachtturm-Gesellschaft bestrafen. Das Leugnen gehört ebenfalls zum Alltag von Sektenmitgliedern. Das bewußte Verdrängen unangenehmer, den eigenen Glauben gefährdender Sachverhalte, führt zur Leugnung dieser unangenehmen Dinge. Am anschaulichsten zeigt sich dies am Verhalten der Begleiterin von Barbara Waß während eines gemeinsamen Missionseinsatzes. Die Mitschwester muß sich mit der heftigen Kritik eines Mannes auseinandersetzen, der die Korrektheit der Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas unter Hinweis auf die Lutherbibel bezweifelt. Daraufhin leugnet sie die Richtigkeit dieses Vorwurfes und bestreitet die Korrektheit der Lutherübersetzung, mit der dieser Mann sie konfrontiert.805 Sie ist absolut nicht bereit, auf seine Argumente einzugehen, sondern sie bestreitet sie, um nicht die Schlüssigkeit und Wahrhaftigkeit der eigenen Lehre in Frage stellen zu müssen. Die Projektion stellt einen weiteren bei Sektenmitgliedern anzutreffenden Abwehrmechanismus dar. Um sich die Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit des eigenen Sektensystems nicht eingestehen zu müssen, werden Menschen außerhalb der Sekte unlautere Absichten unterstellt und soziale und religiöse Gemeinschaften, wie die Großkirchen, seitens der Zeugen Jehovas als verdammenswerte Einrichtungen deklassiert. Um sich der Kritik von außen nicht stellen zu müssen, werden die Fehler und Unvollkommenheiten anderer Gruppen, besonders der Kirchen, in den Publikationen der Sekte immer wieder thematisiert und in historisch unkorrekter Weise oftmals verzerrt dargestellt.806 804 Waß, 227. Vgl. Deppe, 94. 806 Man betrachte in diesem Zusammenhang die Publikationen der Zeugen Jehovas. In den aktuellen Zeitschriften „Erwachet“ und „Der Wachtturm“ lassen sich immer wieder Darstellungen finden, die Priester und Bischöfe als Helfer des Satans erscheinen lassen. Durch eine psychologisch durchdachte Aufmachung, durch kontrastreiche 805 278 Durch solche Abwehrmechanismen überdeckte Ängste und Unsicherheiten können auf Dauer zu psychischen Beeinträchtigungen der Gesundheit führen. In einem Therapieprozeß müssen diese in Sekten üblichen psychologischen Mechanismen berücksichtigt werden, um eine möglichst gute Hilfe zu gewährleisten. Der Aufbau neuer sozialer Kontakte erfordert ein gewisses Maß an Offenheit, Vertrauen und Ehrlichkeit gegenüber Menschen, die bisher als der Sekte Fernstehende und feindlich Gesinnte verachtet worden sind. Daher muß das durch die Sekte geprägte eigene Denken und Verhalten kritisch durchleuchtet werden, ehe ein Aussteiger neue Beziehungen zu anderen Mitmenschen knüpfen kann. Die psychotherapeutische Vorgehensweise Jörg Müllers bietet dabei nicht nur wichtige Hilfen zur Aufdeckung solcher Zusammenhänge, sondern auch entscheidende, die Dimension des Glaubens einbeziehende Perspektiven zu einer, den Menschen in seiner Ganzheit betrachtenden Therapie. Die Möglichkeit durch eine solche ganzheitliche Therapie zu einer intakten und erlösten Gottesbeziehung zu finden, macht dabei die Quintessenz der christlich motivierten psychologischen Vorgehensweise Müllers aus. Durch die Annahme der eigenen Lebensgeschichte und ihre Einordnung in einen sinnvollen transzendenten Zusammenhang ist eine Versöhnung mit der Vergangenheit besser möglich. Im folgenden sollen konkrete Therapievorschläge für die Aussteiger aus der Sekte der Zeugen Jehovas entwickelt werden, die auf der von Jörg Müller angewandten Methode der Jesus-Imagination fußen. Durch die Bewußtmachung der sich destruktiv auswirkenden Gottesvorstellung der Zeugen Jehovas und durch eine Konfrontation mit dem Gottesbild Jesu und dem Vorbild seiner Lebenspraxis kann eine aufbauende und heilende Korrektur der gestörten Gottesbeziehung vorgenommen werden. Bilder und Karikaturen wird dort versucht, neben Verurteilungen in Textform auf diese Weise eine Beeinflussung und Manipulation der Anhänger zu erreichen. 279 2.5 Müllers Methode der Jesus-Imagination und die Revision eines angstbesetzten Gottesbildes Die Korrektur eines angsterzeugenden und bedrohlichen Gottesbildes stellt für die christliche Therapie eine große Herausforderung dar. Durch die Bewußtmachung der sich destruktiv auswirkenden Gottesvorstellung der Zeugen Jehovas und durch eine Konfrontation mit dem Gottesbild Jesu und dem Vorbild seiner Lebenspraxis kann eine aufbauende und heilende Korrektur der gestörten Gottesbeziehung vorgenommen werden. 2.5.1 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Monika Deppe Monika Deppe leidet nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas unter ihrem bedrohlichen Gottesbild, das sich in der Angst vor Bestrafung äußert. Die Revision dieses Gottesbildes und die Annahme ihrer schmerzvollen Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas sollen im folgenden durch die von Jörg Müller angewandte therapeutische Methode der Jesus-Imagination angegangen werden. Therapeut: Frau Deppe, sie haben mir nun von vielen Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas berichtet, auch von ihren zahlreichen Verletzungen, die Sie dort erlitten haben. Ich kann mir vorstellen, daß Sie jetzt nach ihrer Trennung von den Zeugen Jehovas nicht nur Wut auf die Wachtturmgesellschaft als solche haben, sondern auch auf Gott, der Ihnen dies alles zugemutet hat. Frau Deppe: Das können Sie mir glauben! Aber es ist doch verboten Wut oder Groll gegenüber Gott zu äußern. Sehen Sie, Jehova kann mich dafür strafen, daß ich ihm gegenüber aufmüpfig bin, er ist doch der absolute Herr über alles. 280 Therapeut: Sie meinen, Gott könnte in ihr Leben eingreifen und sie mit Krankheit oder gar Vernichtung schlagen? Frau Deppe: Sie sagen es. Ich habe immer diese Angst vor dem Gericht Jehovas, andererseits glaube ich ja, daß er unendlich barmherzig ist und stets bereit zu verzeihen. Wissen Sie, ich habe mich erst kürzlich von den Zeugen Jehovas getrennt und es gibt noch so viele Dinge, die ich erst einmal verdauen muß. Therapeut: Sie haben sicher viele schmerzliche Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas gemacht? Frau Deppe: So ist es. Wissen Sie, die ständigen Demütigungen von Seiten der Wachtturm-Gesellschaft , die permanente Kontrolle und moralischen Reglementierungen haben ihre Spuren bei mir hinterlassen. Ich fühle mich oft unfähig freie und von Ängsten losgelöste Entscheidungen zu treffen. Ich möchte andererseits nicht immer im Hinterkopf haben, alles was ich möchte sei verboten und wird von Gott stets kritisch beäugt. Therapeut: Sagen Sie, Frau Deppe, haben Sie mit Ihrem Mann über diese Tatsache schon gesprochen? Frau Deppe: Der Zusammenhalt innerhalb meiner Familie hat es uns ermöglicht, den Schritt des Ausstiegs aus den Zeugen Jehovas gemeinsam zu vollziehen. Aber mein Mann leidet unter denselben Vorstellungen wie ich. Therapeut: Frau Deppe, wenn Sie einverstanden sind. möchte ich mit Ihnen folgende Übung durchführen, die ich die Jesus-Imagination nenne. (Der Therapeut erklärt Frau Deppe die Methode der Jesus-Imagination) Frau Deppe liegt entspannt auf einer Couch, im Hintergrund läuft leise Musik. 281 Der Therapeut führt die Methode durch. Es sollen hierbei möglichst viele der schmerzlichen Erlebnisse zur Sprache kommen, gewissermaßen noch einmal durchlebt werden. Am Ende steht dann die Begegnung mit der Person Jesu. Frau Deppe kommen zahlreiche Erlebnisse und Begegnungen mit einem der Ältestem der Versammlung und mit anderen Mitgliedern der Zeugen Jehovas in Erinnerung. Sie durchlebt die schmerzlichen Situationen noch einmal. Am Ende steht die Begegnung mit Jesus. Therapeut: Sie befinden sich auf einer großen, bunten Wiese. Sie erfreuen sich an den Farben und Formen, am Gesang der Vögel, an den Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der sich gerade auf einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie eine Begegnung mit dem Ältesten der Zeugen Jehovas haben, der Sie am meisten verletzt hat. Sie können ihm alles sagen, was Sie belastet und ärgert. Da erscheint der Älteste auf der Wiese. Er kommt Ihnen entgegen. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihm und lassen ihn dann auch zu Wort kommen. (ca. 5 Minuten Pause) Das Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus auf Sie zukommt. Deutlich erkennen Sie seine Gesichtszüge. Er nimmt Sie bei der Hand und geht mit Ihnen etwas abseits. Er weiß um Ihre Gefühle, um Ihre Ängste, um Ihren Groll. Er möchte Ihnen etwas sagen. Hören Sie gut zu. (Pause) Jetzt können Sie ihn bitten, in Ihrem Auftrag auf den Ältesten der Zeugen Jehovas zuzugehen, der am Rand der Wiese steht. Wenn es Ihrem innersten Gefühl entspricht, dann tragen Sie Jesus auf, er möge ihm in Ihrem Auftrag vergeben. Danach tritt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt Sie und entschwindet Ihren Blicken. Sie befinden sich jetzt allein auf der Wiese. Nein, nicht allein. Sie sehen plötzlich neben sich ihre Familie, Ihren Mann und Ihren Sohn, beide lachen fröhlich. Tun Sie jetzt das, was Sie schon immer tun wollten. (Pause) Sie sind wieder allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt. Öffnen Sie die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben. 282 Frau Deppe berichtet nun dem Therapeuten im Detail ihre phantasierten Bilder und Gespräche. Dabei können folgende Bemerkungen und Erkenntnisse berichtet werden: Frau Deppe: Ich sehe jetzt manches anders. Ich glaube auch, daß der Älteste der Zeugen Jehovas gar nicht in böser Absicht an uns gehandelt hat. Er hat Befehle der Wachtturmgesellschaft ausgeführt, er ist ein verirrtes Schaf, ein Mensch, der noch nicht erkannt hat oder nicht erkennen will, welcher Organisation er eigentlich dient. Therapeut: Hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt? Frau Deppe: Ja, Er sagte: Liebe Monika, alles was man dir und deiner Familie in meinem Namen angetan hat, schmerzt mich ebenso wie dich und deine Familie. Hab’ keine Angst, ich werde dir und deiner Familie immer wohl gesonnen sein. Laßt nicht von mir ab, ich werde alles zu einem guten Ende führen und euch Kraft geben. Am Ende dieser Jesus-Imagination besteht die Möglichkeit, daß Frau Deppe befreiter und mit neuer Kraft in den Alltag geht. Die befreiende und liebevolle Begegnung mit Jesus zeigt ihr, daß Gott ganz anders ist, als Sie ihn bei den Zeugen Jehovas vermittelt bekommen hat. Gott ist kein unberechenbarer, straflüsterner Tyrann, sondern ist den Menschen in Liebe zugewandt und spricht Mut zu. Er straft Frau Deppe und ihre Familie nicht für das Verlassen der Zeugen Jehovas, sondern spricht ihr im Gegenteil Kraft und Mut für den weiteren Lebensweg zu. 283 2.5.2 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Gerd Wunderlich Auch Gerd Wunderlich und seine Frau haben, wie in dem Aussteigerbericht ja schon sehr eindringlich geschildert wurde, während ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas viel Leid erfahren. Als mögliche therapeutische Methode soll auch in diesem Fall die Jesus-Imagination zum Tragen kommen. Therapeut: Herr Wunderlich, Sie haben sicherlich viele schmerzliche Erfahrungen während ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas gemacht. Herr Wunderlich: Das kann man wohl sagen. Aber nicht nur ich, sondern auch meine Frau hat, selbst nach dem offiziellen Austritt aus der Wachtturm-Gesellschaft, einiges hinnehmen müssen. Therapeut: Wollen Sie mir hierüber genaueres berichten? Herr Wunderlich: Sehen Sie, der ständige Widerspruch zwischen den ethischen Forderungen der Zeugen Jehovas und dem tatsächlichen Verhalten gegenüber den eigenen Mitgliedern und den Außenstehenden hat uns oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Als meine Frau und ich an der Organisation und den ihr verbreiteten Wahrheiten zu zweifeln begannen, wurde dies der Versammlungsleitung sehr bald bewußt und wir wurden des öfteren besucht. Als wir in den Augen der Aufseher als uneinsichtig und als Gefahr für die übrigen Zeugen bloßgestellt wurden, begannen eine Reihen von Schikanen seitens der WTG. Therapeut: Inwiefern? Herr Wunderlich: Als wir zu einem Verhör vor dem Rechtskomitee geladen wurden und die Ältesten der Versammlung keinerlei Einsicht bei uns feststellen konnten, wurde ich aus der Versammlung ausgeschlossen, meine Frau jedoch noch nicht. 284 Aktive Zeugen versuchten mit Rufmordkampagnen gegen mich vorzugehen, indem sie Bekannten und anderen Leuten von meiner angeblich kriminellen Vergangenheit berichteten. Daraufhin mieden mich viele ehemalige gute Bekannte. Die aktiven Zeugen wechselten sogar die Straßenseite, wenn ich oder später auch meine Frau, auf der Straße unterwegs waren. Von der Zerreißprobe im familiären Bereich ganz zu schweigen. Therapeut: Haben Sie denn auch andere Verwandte, die den Zeugen Jehovas angehören? Herr Wunderlich: Ja. Sie haben sich allesamt von mir und meiner Frau distanziert. Ich frage mich manchmal, wieso kann eine solche Organisation, die sich durch göttliche Vollmacht legitimiert, Menschen in einer so niederträchtigen Weise mißbrauchen? Therapeut: Fühlen Sie sich mißbraucht? Herr Wunderlich: Sehen Sie, ich habe jahrelang mitbekommen, wie Mitschwestern bei den Zeugen Jehovas sich bis zur Erschöpfung für Jehova und seine Organisation aufgeopfert haben. Der ständige Leistungsdruck führte bei ihnen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Therapeut: Besteht denn in Reihen der Zeugen Jehovas ein solch enormer Leistungsdruck? Herr Wunderlich: Leider ja. Bei uns, ich meine bei den Zeugen Jehovas, steht ja der Dienst, in Form des Haus-zu-Haus-Dienstes im Vordergrund. Es geht darum, möglichst viele Menschen vor dem drohenden Gericht Jehovas beim Eintreffen von Harmagedon zu retten, indem sie sich der Organisation anschließen. Die Angst vor der Vernichtung durchzieht das gesamte System der Zeugen. Ich habe ab und an, selbst nachdem ich mit 285 meiner Frau die WTG verlassen habe, noch dieses bedrückende Gefühl, dem drohenden Gericht entrinnen zu müssen. Therapeut: Sie sind sich nicht im klaren darüber, ob Ihr Ausstieg aus den Zeugen Jehovas von Gott mißbilligt werden könnte? Herr Wunderlich: Warum läßt Gott zu, daß die Wachtturm-Gesellschaft Menschen zur Verzweiflung treibt und statt der geforderten Nächstenliebe nicht nur Außenstehenden, sondern auch gerade ihren eigenen Mitbrüdern und Mitschwestern in einer menschenverachtenden Weise gegenübertritt? Therapeut: Herr Wunderlich, sind Sie einverstanden, wenn ich mit Ihnen die sogenannte Jesus-Imagination durchführe? (Der Therapeut erklärt Herrn Wunderlich, worum es bei dieser Methode geht und was das Ziel der Jesus-Imagination ist). Herr Wunderlich erkärt sich einverstanden. Herr Wunderlich liegt entspannt auf einer bequemen Couch, im Hintergrund läuft leise Musik. Der Therapeut führt die Methode durch. Therapeut: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf einer großen, bunten Wiese. Sie erfreuen sich an den Farben und Formen, am Gesang der Vögel, an den Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der sich gerade auf einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie eine Begegnung mit dem Versammlungskomitee haben, das Sie und Ihre Frau in einer solch abscheulichen Weise gedemütigt hat. Sie können den Ältesten des Komitees alles sagen, was Sie belastet und ärgert. Da erscheinen die Ältesten auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann auch zu Wort kommen. (ca. 5 Minuten Pause) Das Gespräch geht zu Ende. Als nächstes kommt die Person auf Sie zu, die die zahlreichen Verleumdungen über Sie in Umlauf gebracht hat. Sie können dieser Person alles sagen, was sie belastet und ärgert. Da 286 erscheint diese Person auf der Wiese. Sie kommt Ihnen entgegen. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihr. (ca. 5 Minuten Pause) Das Gespräch geht zu Ende. Als letztes erscheinen ihre Verwandten auf der Wiese. Sie kommen Ihnen ebenfalls entgegen. Sprechen Sie mit ihnen. (ca 5 Minuten Pause) Auch dieses Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus schließlich auf Sie zukommt. Sie können seine Gesichtszüge ganz deutlich erkennen. Er weiß um Ihre Gefühle, um ihre Ängste, um Ihren Groll. Er möchte Ihnen etwas sagen. Hören Sie genau hin! (Pause) Jetzt können Sie ihn bitten in ihrem Auftrag auf die Ältesten der Versammlung, auf den Verleumder und ihre Verwandten zuzugehen, die am Rand der Wiese stehen. Wenn es ihrem innersten Gefühl und Wunsch entspricht, tragen Sie Jesus auf, er möge all diesen Menschen in Ihrem Namen vergeben. Danach kommt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt Sie und entschwindet Ihren Blicken. Sie sind jetzt allein auf der Wiese. Nein, nicht allein, Sie sehen plötzlich neben sich Ihre Frau, sie lächelt fröhlich. Tun Sie jetzt, was Sie schon immer tun wollten. (Pause) Sie sind wieder allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt. Öffnen Sie die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben. Herr Wunderlich berichtet dem Therapeuten nun im Detail seine phantasierten Bilder und Gespräche. Dabei könnten folgende Erkenntnisse berichtet werden: Herr Wunderlich: Die Ältesten waren so uneinsichtig, sie meinten, sie verteidigten die Wahrheit, aber Jesus war selbst betrübt über die Vorgehensweise der Wachtturm-Organisation. Er sagte, es täte ihm leid, das Menschen in seinem und seines Vaters Namen Dinge täten, die er nie gepredigt habe. Die Person, die mich verleumdet hat, ist so stark von den Ältesten vereinnahmt worden und steht unter solchem Druck, daß sie gar nicht anders kann, als mich und meine Frau als Abgefallene, unter den Einfluß des Bösen geratene Kreaturen zu bekämpfen. 287 Therapeut: Hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt? Wunderlich: Ja. er sagte, ich solle mich nicht irre machen lassen. Er habe für mich und meine Frau einen besonderen Weg vorgesehen. „Vertrau auf mich und meine Barmherzigkeit. Ich werde dir und deiner Frau zur Seite stehen und euch einen neuen Weg zeigen. Hab nur Vertrauen! Habt keine Angst!“ Am Ende einer solchen Jesus-Meditation sollte auch Herr Wunderlich befreiter und zuversichtlicher in seinen Alltag gehen können. 2.5.3 Eine mögliche Jesus-Imagination bei Barbara Waß Barbara Waß und ihre Familie sind nach dem Bruch mit den Zeugen Jehovas physisch wie psychisch erschöpft. Frau Waß bemerkt in diesem Zusammenhang: „Wir wollten unsere Ruhe haben. Wir waren nicht mehr bereit, uns diesen Dingen zu unterwerfen. Außerdem waren wir durch die vielen inneren und auch äußeren Kämpfe so zermürbt, daß wir nichts mehr sehen und hören wollten. Sollten sie doch tun, was sie wollten.“807 Eine mögliche Jesus-Imagination könnte bei Barbara Waß an diesem letzten Punkt anknüpfen. Therapeut: Frau Waß, Sie sagen, Sie seien durch Ihre Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas seelisch wie auch körperlich völlig ausgelaugt. Frau Waß: Das ist richtig. Wissen Sie, was diese Organisation mir und meiner Familie, ich habe drei Kinder, angetan hat, ist kaum mit Worten zu beschreiben. 807 Waß, 240. 288 Therapeut: Wollen Sie es mir trotzdem erzählen? Frau Waß: Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Therapeut: Berichten Sie mir doch zunächst einfach, wie es zu Ihren ständigen Kopfschmerzen kam. Frau Waß: Wissen Sie, bei den Zeugen Jehovas muß man alles geben, ich meine, sie müssen ihre ganze Freizeit, ihre ganze Familie, ihr ganzes Leben auf die Organisation und deren Ziele ausrichten. Therapeut: Was sind die Ziele der Organisation? Frau Waß: Alle Menschen müssen zu Jüngern Jehovas gemacht werden. Das erfordert viel Einsatz. Therapeut: Sie meinen, man muß viel Zeit und vor allem Kraft in diese Aufgabe investieren? Frau Waß: Man muß, andernfalls wird Jehovas Gott jeden, der sich nicht den Zeugen Jehovas anschließt, bestrafen. Harmagedon ist eine immer gegenwärtige Möglichkeit, die diejenigen ereilen wird, die sich nicht bekehren. Therapeut: Haben Sie und Ihre Familie Ihren Einsatz für die Organisation aus Furcht vor einer möglichen Bestrafung Gottes geleistet? Frau Waß: Ich denke schon, daß dieser Gedanke eine zentrale Rolle bei unserem Einsatz für die Versammlung gespielt hat. Aber so richtig weiß ich das nicht, wissen Sie, ich habe die Zeugen Jehovas doch erst vor kurzem verlassen und es fällt mir sehr schwer über all diese Dinge zu reden. Es tut sehr weh zu realisieren, wie ich mich habe mißbrauchen lassen. Wenn ich so zurückblicke, könnte ich vor Schmerz laut weinen. Eigentlich war mir bis vor kurzem noch alles egal. Aber es tut weh, wenn 289 man von neuem daraufhin angesprochen wird. Wir haben unsere Kinder sogar im Winter bei größtem Schnee unter wahnsinnigen Strapazen mit zu den Versammlungen genommen. Als die Mitbrüder und Mitschwestern aber merkten, daß ich mich um jemand kümmerte, der meine menschliche Nähe und Hilfe brauchte und diese Person nicht zu den Zeugen Jehovas bekehren wollte, war es mit der Geschwisterlichkeit in den eigenen Reihen vorbei. Therapeut: Wie haben die anderen Zeugen Jehovas reagiert? Frau Waß: Man teilte mir mit, ich hätte der Organisation Jehovas unter allen Umständen Gehorsam zu leisten. Eines Tages kamen sogar zwei Zeuginnen zu uns nach Hause, um unsere Einstellung der Organisation gegenüber auszukundschaften. Dabei haben sie unser Gespräch auf Band aufgezeichnet, wie wir erst später erfuhren. Irgendwann war das Faß voll. Ich konnte und wollte diese üblen Praktiken nicht mehr länger hinnehmen. Wir haben mit Menschen, von denen wir glaubten, sie seien unsere Brüder und Schwestern, geweint, zusammen schwierigste Situationen durchgestanden und auf einmal werden wir wie Aussätzige behandelt, schikaniert, bespitzelt und schließlich völlig ignoriert. Das tut sehr weh. (Frau Waß berichtet dem Therapeuten von zahlreichen Verletzungen und Schikanen seitens der Zeugen Jehovas). Therapeut: Sagen Sie, Frau Waß, nachdem Sie mir alle Ihre Verletzungen und Enttäuschungen berichtet haben, sind Sie da nicht auch sauer auf Gott, der Ihnen dies alles zugemutet hat? Frau Waß: Manchmal frage ich mich, was habe ich in meinem Leben bloß falsch gemacht, daß Gott mich und meine Familie so hart bestraft hat? Therapeut: Sie meinen, Gott hat Sie und Ihre Familie durch Ihre Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas für etwas bestraft? 290 Frau Waß: Ich weiß es nicht. Meinen Sie, Gott straft Menschen für ihre Vergehen? Die Vorstellung, daß Gott beim Gericht alle, die nicht den richtigen Glauben haben bestraft, geht mir irgendwie noch immer nach. Ich weiß es einfach nicht. Ich möchte nur meine Ruhe vor den Zeugen Jehovas haben. Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Therapeut: Frau Waß, wären Sie damit einverstanden, wenn wir alle Ihre Erlebnisse vor Jesus bringen? Frau Waß: Wie wollen Sie das machen? Therapeut: Ich führe mit meinen Patienten, vor allem mit gläubigen Menschen, die therapeutische Methode der sogenannten JesusImagination durch. (Der Therapeut erklärt Frau Waß genau, was sie erwartet und sie willigt ein). Frau Waß liegt entspannt auf einer bequemen Couch, im Hintergrund läuft leise Hintergrundmusik. Therapeut: Sie befinden sich auf auf einer großen, bunten Wiese. Sie erfreuen sich an den Farben und Formen, am Gesang der Vögel, an den Sonnenstrahlen. Sie beobachten einen Schmetterling, der sich gerade auf einer Blume ausruht. In wenigen Momenten werden Sie eine Begegnung mit denjenigen Zeugen haben, die Sie und Ihre Familie zutiefst verletzt haben. Zunächst mit den Zeuginnen, die sie zuhause besucht haben, um sie auszukundschaften. Sie könne ihnen alles sagen, was Sie belastet und ärgert. Da erscheinen sie auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann auch zu Wort kommen. (Pause von 5 Minuten). Das Gespräch geht zu Ende. Als nächstes sehen Sie den Kreisaufseher auf Sie zukommen, der Ihnen die absolute Unterordnung unter die Organisation befohlen hat. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihm und 291 lassen Sie ihn dann auch zu Wort kommen. (erneute Pause von 5 Minuten). Das Gespräch geht zu Ende. Nun werden Sie noch eine letzte Begegnung haben, und zwar mit den Familien, von denen Sie dachten, sie seien ihre Freunde und die Sie dann bitter enttäuscht haben. Sie können ihnen alles sagen. Da erscheinen sie auf der Wiese. Sie kommen Ihnen entgegen. Führen Sie jetzt das Gespräch mit ihnen und lassen Sie sie dann ebenfalls zu Wort kommen. (Pause ca 5 Minuten) Auch dieses letzte Gespräch geht zu Ende. Sie sehen, wie Jesus auf Sie zukommt. Deutlich erkennen Sie seine Gesichtszüge. Er nimmt Sie bei der Hand und geht mit Ihnen etwas abseits. Er weiß um Ihre Gefühle, um Ihre Ängste, um Ihren Groll. Er möchte Ihnen etwas sagen. Hören Sie gut zu. (Pause) Jetzt können Sie ihn bitten, in Ihrem Auftrag auf die Zeuginnen zuzugehen, die Sie besucht haben, ebenso auf den Kreisaufseher und die Familien, die sich von Ihnen distanziert haben. Sie alle stehen am Rande der Wiese. Wenn es Ihrem innersten Gefühl entspricht, dann tragen Sie ihm auf, er möge ihnen in Ihrem Auftrag vergeben. Danach tritt Jesus noch einmal auf Sie zu, umarmt Sie und entschwindet Ihren Blicken. Sie befinden sich jetzt allein auf der Wiese. Nein, nicht allein. Sie sehen plötzlich neben sich Ihren Mann und Ihr Kind, die fröhlich lachen. Tun Sie jetzt das, was Sie immer schon tun wollten. (Pause) Sie sind allein, aber nicht einsam. Sie fühlen sich entspannt. Öffnen Sie die Augen und lassen Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie mir jetzt erzählen, was Sie erlebt haben. Frau Waß berichtet im Detail ihre phantasierten Bilder und Gespräche. Dabei könnten folgende Bemerkungen fallen: Ich sehe einige Dinge jetzt völlig anders als vorher. Es ist gut, daß ich noch einmal intensiv mit allen denjenigen Personen konfrontiert worden bin, die mich und meine Familie verletzt haben. Die beiden Zeuginnen, die uns zu Hause besuchten, waren dermaßen von den Lehren der WTG indoktriniert und hatten eine solche Angst vor den Ältesten, daß sie meinten, richtig gehandelt zu haben. Der Kreisaufseher wollte seine Organisation vor uns in Schutz nehmen und uns gefügig machen. 292 Eigentlich hätten wir direkt jeglichen Kontakt mit den Zeugen Jehovas abbrechen sollen. Irgendwie kann ich ihn ja auch verstehen. Die Familien, von denen wir dachten, sie seien unsere Freunde, sind von der WTG irregeleitete Menschen, die mir im Nachhinein so richtig leid tun. Therapeut: Frau Waß, hat Jesus etwas zu Ihnen gesagt? Frau Waß: Ja. Er sagte: Sieh, durch diese für Dich und deine Familie sehr schmerzlichen Ereignisse seid ihr in der Liebe und Verbundenheit untereinander gewachsen. Es tut mir auch weh, wenn ich mit ansehen muß, wie Menschen in meinem Namen andere Menschen mißbrauchen. Schreitet mutig voran und habt Vertrauen. Ich führe Euch in eine gute Zukunft. Bleibt in meiner Liebe. Therapeut: Wollen Sie mir sagen, was Sie am Schluß mit Ihrem Mann und Ihrem Kind besprochen haben? Frau Waß: Wir haben nichts besprochen. Ich habe beide in meine Arme genommen. 293 Kapitel 4: Der Sektenausstieg als Herausforderung für die katholische Kirche und deren Gemeinden Nachdem zentrale Inhalte der beiden Sekten Zeugen Jehovas und Scientology dargelegt wurden, die Berichte von Aussteigern auf ihre Erfahrungen mit diesen Sekten hin untersucht wurden und mögliche therapeutische Hilfen entwickelt worden sind, soll nun im 4. Kapitel der Frage nachgegangen werden, ob unsere Kirchengemeinden, und hierbei möchte ich beschränken, mich in auf die römisch-katholischen der Lage sind, Kirchengemeinden Aussteigern angemessen gegenüberzutreten und diese womöglich in ihre Reihen aufnehmen zu können. Es sei vorweg angemerkt, daß die meisten unserer Gemeinden keine idealen Orte sind, um diesem Anliegen gerecht zu werden. In einem ersten Abschnitt sollen zunächst diejenigen Phänomene von Sekten, die sich aus den Erfahrungen der Aussteiger aus der Wachtturm-Organisation und aus Scientology ergeben, herausgestellt werden, die zu den negativen Erfahrungen mit diesen Sekten geführt haben und aus denen sich Probleme und Fragen von Aussteigern ergeben, denen sich eine christliche Gemeinde stellen müßte, um solchen Menschen angemessen zu begegnen und diese eventuell in ihre Reihen aufnehmen zu können, um ihnen eine neue Heimat zu geben. In einem zweiten Abschnitt erfolgt eine Darstellung der Situation, wie sie in vielen, wenn auch nicht generell in allen Kirchengemeinden vorherrschend ist. Dabei erfolgt zunächst ein kurzer historischer Abriß von Zulehner, der die Entwicklung der Kirche bis hin zur Auflösung der traditionellen Volkskirche beschreibt und dem sich einige Gedanken Zulehners für eine mögliche Erneuerung der kirchlichen Situation anschließen. Um diese Situationsbeschreibung konkreter durchzuführen, bediene ich mich anschließend der Ergebnisse des Pastoralgesprächs, wie es im Erzbistum Köln 1994 durchgeführt wurde. Warum die Situation der meisten Gemeinden für eine Begegnung und eine Aufnahme von Sektenaussteigern nicht ideal ist, soll durch die Gegenüberstellung der Situation von Aussteigern und deren Bedürfnissen mit den Ergebnissen des Pastoralgespräches erwiesen werden, das die 294 Situation vieler Kirchengemeinden im Erzbistum Köln, aber auch in anderen Bistümern, charakterisiert. Auf diese Weise sollen zugleich entscheidende Punkte herausgestellt werden, die für eine Gemeindeerneuerung im Hinblick auf die Situation von Sektenaussteigern hilfreich sein können. In einem weiteren dritten Abschnitt sollen zentrale Inhalte der Theologie der Befreiung dargestellt werden, durch welche zahlreiche lateinamerikanische Gemeinden geprägt sind, und es soll hier nach interessanten und hilfreichen Anknüpfungspunkten gefragt werden, die für die Motivation eines Einsatzes unserer Gemeinden für Sektenaussteiger im Hinblick auf deren Situation relevant sein können. 1 Welche Phänomene von Sekten haben zu den negativen Erfahrungen von Aussteigern geführt? Die Gründe Sektenmitglieder für die sowohl negativen ehemalige Erfahrungen, Zeugen die Jehovas ehemalige als auch Scientologen gemacht haben, liegen zum einen in der jeweiligen Organisationsstruktur der Wachtturm-Organisation und der ScientologyOrganisation, zum anderen in dem von der jeweiligen Organisation vertretenen Lehrsystem und dessen Konsequenzen für das Leben der einzelnen Mitglieder. 1.1 Eine Leistungsgesellschaft in der Leistungsgesellschaft Nach der Überzeugung der Zeugen Jehovas und der Lehre der Wachtturmgesellschaft ist die WTG eine theokratische Organisation, das heißt, sie ist kein Menschenwerk, sondern Gottes eigene Schöpfung. Der theokratische Ursprung der Organisation schließt demokratische Züge vollends aus. Das Führungsgremium der WTG ist das Sprachrohr Gottes, 295 der „Kanal Jehovas“. In der Zentrale in Brooklyn laufen gewissermaßen alle Fäden der WTG zusammen. Die Zentrale ist allen Ortsversammlungen weltweit übergeordnet. Ebenso wie das Führungsgremium an der Spitze der Zeugen Jehovas, gelten die Ältesten der Versammlungen als von Gott eingesetzte Obere, deren Anordnungen ohne jegliche Kritik Folge zu leisten ist. Die Gläubigen sind die Empfänger der göttlichen Botschaften, die durch die Hand der Organisation und der diese vertretenden Oberen in den einzelnen Ortsversammlungen, konkret der Ältesten, mitgeteilt werden. Die überschaubare Größe der einzelnen Versammlungen von 60 bis 70 Gläubigen gewährleistet dabei eine intensive Betreuung und Kontrolle der Mitglieder. Die Aufteilung der verschiedenen Ämter innerhalb der Versammlung, angefangen von den Ältesten bis hin zum Versammlungsbuchstudienleiter, zeugt von der klaren Struktur und Hierarchie der Wachtturmgesellschaft. Die Stellung des einzelnen Zeugen in der Versammlung ist geprägt von einer völligen Unterordnung unter die Wachtturm-Organisation. Diese verlangt den Gläubigen neben dem geforderten Gehorsam enorme Leistungen ab, so daß man von einer Leistungsgesellschaft innerhalb unserer als Leistungsgesellschaft bezeichneten Gesellschaft sprechen kann. Die ständige Präsenz von Harmagedon und die durch ein rächendstrafendes Gottesbild hervorgerufene Motivation für den Einsatz für die Wachtturmorganisation bewirken eine Leistungsfrömmigkeit, das heißt, die Gläubigen versuchen durch religiöse Leistungen und einen unermüdlichen Einsatz für die WTG sich ihres Heils zu vergewissern und den möglichen Zorn Gottes auf diese Weise zu besänftigen. Dies stellt Hans-Jürgen Twisselmann deutlich heraus, wenn er im Gespräch mit einem Mitzeugen bemerkt: „Bei uns aber wird der Dienst als das Mittel zur Erlangung der Seligkeit hingestellt: ‚Ohne Felddienst keine Rettung’, heißt die Devise.“808 808 Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 43. 296 Im Leben der Gläubigen läßt sich die Situation folgendermaßen kennzeichnen: Zur Werktagshektik am Arbeitsplatz kommt die Abend- und Wochenendhektik. Die zahlreichen wöchentliche Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas müssen regelmäßig besucht werden. Bei Barbara Waß wirkt sich die Überbelastung in diesem Zusammenhang besonders drastisch aus, nachdem sie ihr zweites Kind bekommen hat und ihren Pflichten als Mutter und Ehefrau nachkommen muß. Nach der Geburt des dritten Kindes gestaltet sich die Fahrt zu den verpflichtenden Zusammenkünften oft wie folgt: „Im Winter passierte es uns, daß wir auch noch Schneeketten anlegen mußten und oft gerade noch zurechtkamen. Es konnte auch passieren, daß man gar nicht ganz bis ans Ziel fahren konnte.“809 .Vor allem aber der Predigtdienst für Jehova, ohne den niemand das Ende dieses gottfeindlichen Zustandes der Welt überleben könne, erfordert viel Zeit. Neben dem Dienst von Tür zur Tür müssen die Zeugen Straßendienst leisten. Darüber hinaus stehen Nachbesuche und Heimbibelstudien bei interessierten Leuten auf dem Wochenplan jedes einzelnen Zeugen Jehovas! Die Fülle der Verpflichtungen führt zur Überbelastung vieler Zeugen, die sich in physischen und psychischen Beeinträchtigungen äußert. Die ständigen Leistungsanforderungen verhindern sinnvolle Pausen und Reflexionen über die eigene Tätigkeit für die Wachtturmorganisation. Die Folge einer zeitweisen Befreiung von dieser pausenlosen Beschäftigung ist eine Reflexion über die eigene Arbeit für die WTG. Sobald ein Zeuge trotz dem von der WTG geforderten Dauereinsatz für die Organisation etwas Freiraum hat, beispielsweise indem er die Versammlung einmal nicht besucht, kann genau das geschehen, was Barbara Waß schildert, wenn sie schreibt: „Langsam begannen wir unser Gedankengut zu revidieren. Hatten wir früher immer gedacht, es würde uns etwas fehlen, wenn wir die Zusammenkünfte nicht mehr besuchten, so stellten wir jetzt fest, daß es eine Wohltat war, einmal nicht weggehen zu müssen. Besonders für die Kinder war es eine ganz große Erleichterung. Endlich konnten sie in Ruhe ihre Aufgaben machen und 809 Vgl. Waß, 143. Die Folgen dieser Strapazen sind körperliche wie seelische Beeinträchtigungen. 297 auch spielen.“810 Nach dieser positiven Erfahrung ist Familie Waß nicht mehr bereit, ihre persönlichen Angelegenheiten der WTG wegen weiterhin zurückzustellen. Der einzelne Zeuge Jehovas ist stets beschäftigt , sei es mit dem Studium eines von der WTG neu herausgebrachten Buches, sei es der Besuch einer Zusammenkunft oder der Rückbesuch bei Menschen, die Interesse für die Lehre der Zeugen Jehovas gezeigt haben. Es existieren dabei keine klar abgesteckten Ziele, die regelmäßig überprüft werden können und auch nicht sollen. Neben dem Ausbleiben von Erfolgserlebnissen leiden viele Zeugen Jehovas unter der Eintönigkeit, hervorgerufen durch die ständige Wiederholung von bereits bekannten Inhalten und Tätigkeiten. An jeder Tür werden Monat für Monat und Jahr für Jahr die gleichen Gedanken besprochen. Eine Zusammenkunft nach der anderen wird besucht. Die Gläubigen hören dort im wesentlichen immer dieselben Grundgedanken. In den beiden gängigen Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“ stehen in jeder Ausgabe immer ähnliche Dinge. Die Eintönigkeit zeigt sich dabei besonders an der sich immer wiederholenden Verwendung derselben Zitate.811 Ebenso wie die WTG zeichnet sich auch die Scientology-Organisation durch eine streng hierarchische Struktur aus. Zwar unterscheidet sich die Scientology-Organisation von der WTG dadurch, daß erstere nicht göttlichen Ursprungs ist, da sich das System Scientology nicht auf ein göttliches Einwirken zurückführt wird, jedoch müssen auch die Scientologen die Ziele der Organisation, das heißt die Lehre Hubbards über alles stellen und ihr ganzes Leben an den Zielen und Lehren der Scientology-Organisation ausrichten. Daß den Mitgliedern von Scientology enorme Leistungen abverlangt werden, die für die Mitglieder negative Folgen nach sich ziehen, machen die Aussteigerberichte deutlich. Die Aussagen von Jutta Elsässer führen diese Tatsache sehr eindringlich vor Augen, wenn sie bemerkt: „Wieder und wieder wies Hubbard darauf hin, 810 Waß, 234f. 298 daß man sich am Riemen reißen und die vorgegebenen Richtlinien zur Erhaltung der Scientology mit größter Härte und Unnachgiebigkeit durchsetzen solle.“812 Die Motivation für die von Scientology geforderten enormen Leistungen resultiert nicht wie bei den Zeugen Jehovas aus einem negativen rächend-strafenden Gottesbild, sondern an die Stelle der Gottesvorstellung tritt hier die Angst, unser ganzer Planet könnte durch negative Kräfte, vor allem durch die Engramme, wie dies im Lehrsystem deutlich wird, zerstört werden. Das Überleben der Scientology-Organisation und deren Mitglieder ist für den Fortbestand und das Wohl der Welt überlebenswichtig. Scientology stellt gewissermaßen das rettende Prinzip inmitten einer von negativen Kräften besetzen und bedrohten Welt dar. Ein ungenügender Einsatz für die Organisation begünstigt eine Ausbreitung der negativen Kräfte und gefährdet den Fortbestand unseres Planeten. In den Ausführungen von Jutta Elsässer kommt diese Vorstellung deutlich zum Tragen, wenn sie bemerkt: „Denn letztlich komme es darauf an, daß das Individuum an sich sowie die Scientology-Organisation fortbestehe – und ohne Scientology und ihre befreiende Technologie gebe es keine Chance, Planet Erde wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.“813 Welche Folgen dieser unermüdliche Einsatz für die ScientologyOrganisation und das dadurch verursachte Zurückstellen eigener legitimer Bedürfnisse mit sich bringt, haben die Aussteigerberichte zu genüge gezeigt. Die gesundheitlichen Folgen der Erfüllung der von Scientology geforderten Leistungen schildert Elke Nietsche sehr eindringlich, wenn sie über ihre physischen und psychischen Störungen berichtet. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang Kopfschmerzen, Durchfälle, Übelkeit, Ekzeme und vieles mehr.814 Wie bei den Zeugen Jehovas, so verhindert auch bei den Scientologen der Dauereinsatz für die Organisation eine eingehende Reflexion über die eigene Tätigkeit und somit auch eine Selbstreflexion. Die Scientology811 Monika Deppe aüßert sich über die Eintönigkeit und die Kritik ihres Mannes an diesem eintönigen Programm der WTG mit den Worten: „Ich verstand ich gut, auch ich konnte diese ‚Schwarzweißmalerei’ manchmal nicht mehr ertragen.“ (Vgl. Deppe, 53). 812 Elsässer, 123. 813 Ibid., 192. 299 Organisation stellt das oberste Lebensziel dar. Sobald sich ein auch nur geringer Freiraum für die Erfüllung eigener Bedürfnisse bietet, merkt ein Scientology-Mitglied bald, welche Verluste und Entbehrungen es bisher zugunsten der Organisation auf sich genommen hat. Bei Jutta Elsässer beginnt aufgrund der Nutzung eines geringen Freiraumes der Prozeß der Selbsterfahrung und Selbstreflexion, der für die spätere Loslösung von der Sekte ausschlaggebend ist. 1.2 Der Faktor Entmutigung und das Ausbleiben von Erfolgserlebnissen Die Tatsache, daß die Tätigkeiten für die Wachtturm-Organisation allen persönlichen Interessen der Gläubigen übergeordnet sind, die Sache der WTG also oberstes Ziel und höchster Wert des eigenen Lebens darstellt815 , und daß Erfolge hierbei in keinerlei Hinsicht anerkannt und honoriert werden816 , ist dafür verantwortlich, daß jedes Versagen im Dienst für die WTG zugleich auch als persönliches Versagen betrachtet wird. Die Tätigkeit der Zeugen Jehovas ist von Natur aus reich an Fehlschlägen. Bevor auch nur ein Interessent ein Heimbibelstudium beginnt, müssen hunderte von Hausbesuchen erfolgen. Viele von denen, die sich zunächst hierauf einlassen, wenden sich schon bald wieder von den Zeugen ab. Der enorme Einsatz und der Kraftaufwand für die Sache der WTG wird also von vielen negativen Erfahrungen begleitet, die ohne 814 Ibid., 198 ff. Frau Waß bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es bedeutete, daß wir im Lauf der Zeit unser ganzes zukünftiges Leben mehr und mehr darauf einstellten, daß wir das Königreich an die erste Stelle setzten und alles andere danach ausrichteten.“ (Waß, 125). 816 Das Nichtanerkennen selbst enormer Leistungen von Gläubigen wird deutlich an den Aussagen Wunderlichs über zwei Zeuginnen, die sich trotz Krankheit keine Schonzeit zugestehen, da die WTG aufgrund deren Vollzeittätigkeit keine Vergütung mehr bezahlt. Wunderlich kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Jetzt verstand ich auch, warum sehr viele Pioniere aus gesundheitlichen Gründen ihren ‚beglückenden’ Dienst aufgeben mußte. Wahrlich, die ‚Früchte’ der Nächstenliebe stehen bei dieser Organisation nur auf dem Papier.“ (Wunderlich, 65). 815 300 eine positive Rückmeldung von Seiten der Versammlung, vor allem der Ältesten, auf Dauer nur schwer zu verkraften sind. Eine Methode, die die WTG anwendet, um den Gläubigen den Umgang mit solchen negativen Erlebnissen zu erleichtern, ist die Konditionierung der Zeugen Jehovas, das heißt, es wird im Vorhinein eine negative Erwartungshaltung erzeugt, die, wenn sie sich bestätigt, besser hinzunehmen sein soll. Eine Zeuge Jehovas rechnet damit, daß man ihm die Tür vor der Nase zuschlägt. Er erwartet, daß die meisten Leute nicht zuhören wollen und seinen Worten nur ein geringes Interesse entgegenbringen. Doch die Mißerfolge lassen sich mit einer solchen Methode nicht so einfach in den Griff bekommen, ohne daß die Gläubigen Schaden nehmen. Die Enttäuschungen durch negative Erfahrungen im Einsatz für die WTG führen meist zu einer Intensivierung der ohnehin schon strapazierenden Aktivitäten der Mitglieder der Zeugen Jehovas. Es bleibt kaum noch Zeit für private Interessen, weder für ein Hobby, noch für legitime Bedürfnisse innerhalb der Familie und des Berufes außerhalb der WTG. Das Ausüben von Tätigkeiten außerhalb der WTG wird als Selbstsucht und Zeitverschwendung für weltliche Dinge abgewertet . Wer sich dennoch mit solchen weltlichen Dingen abgibt, wird von Seiten der Versammlung ermahnt, er oder sie solle achtgeben, daß derartige Dinge nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Statt dessen wird auf einen vermehrten Einsatz für die Belange der WTG gedrungen. Ebenso wie bei den Zeugen Jehovas stellt auch bei Scientology der Einsatz für die Sache der Organisation das oberste Ziel im Leben des Anhängers dar. Zwar wird Erfolgen der Mitglieder bei Scientology eine gewisse Anerkennung beigemessen, jedoch sind die Anforderungen, das Erreichen immer höherer geistiger Zustände, derart unrealistisch, daß Fehlschläge und das Gefühl des eigenen Versagens an der Tagesordnung sind. Das Versagen in Form des Zurückbleibens hinter den von der Organisation vorgegebenen Zielen wird dabei auf einen mangelnden persönlichen Einsatz für die Sache der Organisation zurückgeführt. Dieses Versagen in Form des Zurückbleibens hinter den geforderten Leistungen wird von der Scientology-Organisation durch die 301 Androhung und das Ausführen von Strafmaßnahmen geahndet. Körperlichen und seelische Strapazen wird mit den von Hubbard angeordneten Verfahren des Ignorierens und des „Handhabens“ entgegengetreten. Eine zu intensive Konzentration oder gar Reflexion über diese Zustände sei überlebensfeindlich. Diese Vorgehensweise beschreibt Elke Nietsche in ihrem Aussteigerbericht sehr deutlich.817 1.3 Konformitätsdruck durch das Erzeugen von Schuldund Minderwertigkeitsgefühlen Der bereits erwähnte Konflikt zwischen den persönlichen Interessen der Gläubigen, ihren Verpflichtungen in Beruf und Familie, und den Ansprüchen und Leistungsanforderungen der Wachtturmgesellschaft wird von dieser zur Einimpfung von Schuldgefühlen genutzt. Ein Zeuge Jehovas steht so ständig unter einem Gewissensdruck, was zu erheblichen persönlichen Belastungen und Konflikten führt. Aufgrund der Schuldgefühle unter denen ein Zeuge Jehovas leidet und der Priorität der WTG, entscheidet er sich im Zweifelsfall meist für die Organisation und stellt seine persönlichen Belange zurück. Die Einhaltung der von der WTG erlassenen Gesetze und Vorschriften wird von den Kreisaufsehern und den Ältesten der Versammlung rigoros überprüft und Verstöße werden zügig geahndet818 . Die das Lehrsystem der WTG durchziehende Vorstellung eines strafend-rächenden Gottes und die damit verbundene Angst vor einer Bestrafung durch Jehova führt bei den meisten Zeugen zu der Auffassung, er oder sie sei schuld daran, daß Gott der Versammlung als ganzer seinen Geist entziehe. Schon eine geringe Übertretung einer der zahlreichen Vorschriften der WTG kann so zu einem inneren Schuldgefühl führen. Dieses Phänomen 817 818 Vgl. Nietsche, 60. Die zügige Reaktion der WTG auf kritische Anfragen und abweichende Ansichten kommen in den Äußerungen von Gerd Wunderlich deutlich zum Tragen, wenn er bemerkt: „Doch die Ältesten unserer Versammlung, die inzwischen von der Pionierschwester Maria H. und deren Freundin Emmy H. informiert worden waren, waren anderer Meinung. Aufgeschreckt durch diese ‚gefährlichen’ Informationen, beschlossen sie deren Verbreitung im Keim zu ersticken.“ (Wunderlich, 75). 302 zeigt sich besonders dann, wenn die WTG gerade neue Gesetze erlassen hat oder Modifikationen bereits bestehender Vorschriften durchgeführt hat. Ein von der WTG erlassenes Gesetz, das Männern das Tragen eines Bartes verbietet, führt für Herrn Deppe zum Verbot, in der Versammlung weiterhin Abschnitte eines Studienartikels von der Bühne aus vorzutragen. Daneben wird ihm das Privileg einer bisher üblichen Bibelauslegung nicht mehr gestattet. 819 Die Befolgung und das Erfüllen aller Gesetze und Vorschriften der WTG ist gar nicht möglich, was das Gefühl der Unvollkommenheit der Gläubigen verstärken soll und einen intensiveren Einsatz für die WTG bewirken soll. Die Unzufriedenheit über diese nicht erfüllbaren gottgegebenen Ansprüche einerseits und dem Zurückstellen eigener Bedürfnisse andererseits führt zu einem Schuldgefühl, das sich nach außen als Aggression bemerkbar machen kann, die sich sowohl innerhalb der eigenen Reihen als auch außerhalb entladen kann. Verleiht ein Zeuge Jehovas seinen Gefühlen und eventuellen Zweifeln, die auch oft existieren, und Fragen in Bezug auf bestimmte Wachtturmlehren Ausdruck, so wird er von seinen Mitbrüdern als glaubensschwach oder unreif abqualifiziert. Dies hat zur Folge, daß er sich niemandem mehr anvertraut, seine Gefühle für sich behält, was zu einer Entladung der Aggressionen in Form von körperlicher Gewalt, besonders gegen Familienangehörige, besonders den eigenen Kindern führen kann. Dieses Verhalten wird dann oft noch mit der biblischen Aufforderung zur Züchtigung der Kinder gerechtfertigt. Werden Aggressionen nicht artikuliert, wenden sie sich nach innen und ein solcher Mensch leidet unter Nervosität oder Depressionen, die von der Versammlung als dämonische Einwirkungen ausgelegt werden können. Der psychisch beeinträchtigte Mensch, der die Anteilnahme und Fürsorge jetzt besonders nötig hat, wird von seinen Mitbrüdern und Schwestern gemieden und ausgegrenzt, wodurch sich seine Situation nur verschlimmert. 819 Vgl. Deppe, 59. 303 Die von der WTG auf diese Weise erreichte Konformität der Gläubigen wird mit der Gesundheit der Zeugen teuer erkauft. Die zahlreichen Mißerfolge während des Predigtdienstes, beispielsweise die Zurückweisung an der Haustür und die Ablehnung des Zeugen durch Freunde und Verwandte bedeutet ein Zurückbleiben hinter den Vorgaben der WTG und begünstigt das Gefühl der Minderwertigkeit. Der ständige Vergleich mit anderen führt zu einem religiös- leistungsmäßigen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Zeugen. Für ein Zurückstehen hinter den Anforderungen werden die Gläubigen von Seiten der Ältesten, aber auch von Mitbrüdern und Mitschwestern getadelt. Um sich selbst gegenüber anderen aufzuwerten, kommt es unter den Zeugen Jehovas sehr schnell zu Geschwätz. Hierdurch gewinnt der Schwätzer an Ansehen, denn er erweckt den Anschein, auf dem Laufenden zu sein und zum inneren Führungskreis zu gehören. Die Ältesten der Versammlungen sind über die durch das Geschwätz hervorgerufenen Verleumdungen und Gehässigkeiten zwar informiert, sie versuchen diesem jedoch durch weitere Verbote entgegenzuwirken, wodurch sich die Situation weiter zuspitzt. Die auf diese Weise verleumdeten und gedemütigten Personen versuchen, durch eine intensivere Leistung und bessere Ergebnisse beim nächsten Einsatz, die anderen zu übertrumpfen und der Kreislauf der Abwehrmechanismen, vor allem der der Verdrängung und Herabsetzung anderer, beginnt von neuem. Im Falle von kritischen Äußerungen gegen die WTG äußert sich die Demütigung durch die Versammlung nicht nur im Geschwätz und in einer damit verbundenen Herabsetzung von anderen Menschen, sondern in der Vorladung vor das Rechtskomitee der Versammlung, das die Aufgabe hat, den Abweichler durch Demütigungen wieder konform zu machen. Die Vorladung vor das Rechtskomitee ist ein in den verschiedenen Aussteigerberichten Versammlungsleitung häufig den anzutreffendes Argumenten Phänomen. Wunderlichs Als nichts die mehr entgegenzuhalten vermag, wird er kurzerhand aus der Versammlung ausgeschlossen und er wird jetzt sowohl innerhalb der Versammlung als 304 auch außerhalb verleumdet, indem die Zeugen Jehovas die Tatsache einer verbüßten Gefängnisstrafe publik machen, die er allerdings für die WTG in Kauf genommen hatte, da er keinen Wehrdienst und keinen Ersatzdienst leisten durfte. Den Grund seiner Inhaftierung verschweigen die Zeugen dabei aus taktischen Gründen.820 Auch bei Scientology wird der Konflikt zwischen persönlichen Interessen, beispielsweise den Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie und den Leistungsanforderungen der Organisation von der Sekte genutzt, um eine Person intensiver an die Sekte zu binden. Der Gewissenskonflikt wird meist zugunsten der Scientology entschieden, allerdings nicht ohne Schuldgefühle. Erfolgt eine zu starke Konzentration auf persönliche Belange, besteht ein Schuldgefühl gegenüber der Organisation. Anhand der Ausführungen von Elke Nietsche wird dieser Konflikt greifbar. Der ständige Einsatz für Scientology und die damit einhergehende Überforderung von Frau Nietsche führt zu einer Vernachlässigung der mütterlichen Pflichten ihrer Tochter gegenüber. Kümmert sie sich um ihre Tochter, hat sie Schuldgefühle der Organisation gegenüber. Sie entscheidet den Konflikt zunächst zugunsten von Scientology, bis der Leidensdruck derart wächst, daß sie sich schließlich für ihre Tochter entscheidet und das System Scientology verläßt. Der innere Zwang, auf den Stufen des Erreichens der vollkommenen geistigen Freiheit voranzuschreiten zu müssen und die immer wieder gemachte Erfahrung hinter den propagierten Zielen zurückzubleiben, führen zu einem bei vielen Scientologen anzutreffenden Minderwertigkeitsgefühl, das zu einem verstärkten Engagement des Scientologen führt. Die als vorbildhaft gerühmten Leistungen und das Erreichen höherer geistiger Zustände einiger weniger Scientologen werden den übrigen vor Augen gehalten, was die eigenen Minderwertigkeitsgefühle verstärkt, aber ganz im Sinne der Scientology ein vergrößertes Engagement bewirkt. 820 Vgl. Wunderlich, 172. 305 Neben den von Minderwertigkeitsgefühlen Scientology sollen die bewußt Anhänger erzeugten durch persönliche Demütigungen systemkonform gemacht und gehalten werden. Die ständige Furcht vor einer möglichen Internierung in eines der von Scientology eingerichteten Straflager oder das Überwachen der eigenen Tätigkeit durch Ethikoffiziere garantieren die vom System geforderte Konformität der Mitglieder und ermöglichen eine relativ große und reibungslose Funktion des Systems Scientology. Die Überprüfung der eigenen Tätigkeit durch Ethikoffiziere und die mögliche Internierung in eines des Straflager verstärken zum einen das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und Minderwertigkeit, zum anderen bewirken sie eine erhöhte Motivation der Mitglieder. Auf die Überwachung durch zwei Ethikoffiziere und die Konfrontation mit zwei Scientologinnen, die in einem Straflager interniert waren, reagiert Norbert Potthoff mit Bestürzung. Über die Überwachung seiner Tätigkeit bemerkt er: „Dunkle Erinnerungen an ein Wahrheitsministerium, die allgegenwärtige Kontrolle eines militärischen Systems, kommen in mir hoch.“821 Ein weiteres Mittel der Zurechtweisung und Demütigung besteht in der Vorladung vor das Kaplansgericht, ähnlich dem Rechtskomitee bei den Zeugen Jehovas. Diese erfahrenen Zurechtweisungen und Demütigungen, zumindest aber die Angst vor diesen Maßnahmen, bleiben für die Mitglieder der Organisation auf Dauer nicht ohne Folgen, wie die bereits in den Aussteigerberichten beschriebenen physischen und psychischen Störungen deutlich gemacht haben 1.4 Das Überlegenheitsgefühl und die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit Je länger ein Zeuge Jehovas in und für die Organisation lebt und arbeitet, desto ärger leidet er unter dem sich immer wieder zeigenden Widerspruch zwischen dem, was von der WTG in den zahlreichen 821 Potthoff, 206. 306 Vorträgen, Gesprächen und Schriften mit vielen paradiesischen Bildern ausgestaltet wird und der tatsächlichen, alltäglichen Wirklichkeit. Diese rauhe Wirklichkeit zeigt sich nicht nur außerhalb der WTG-Organisation, sondern diese müssen die Zeugen auch innerhalb den eigenen Reihen immer wieder erfahren. Als Frau Waß aufgrund des Verkaufs von alten Wachtturmjahrgängen einem Ältesten der Versammlung ihren Unmut über diese Praxis kundtut, wird sie von diesem schroff zurechtgewiesen und zum Gehorsam der WTG gegenüber ermahnt. Der Älteste teilt ihr mit, sie habe seinen Anordnungen als Vertreter der WTG selbst dann Folge zu leisten, wenn diese irrtümlich seien. Diese Reaktion des Ältesten erschüttert Barbara Waß tief.822 Die WTG gilt als Kanal Jehovas, als göttliche Einrichtung, ihre Lehren und Gesetze sind damit göttlichen Ursprungs, sie selbst ist eine unfehlbare Einrichtung, deren Entscheidungen unhinterfragbar sind. Völlig im Widerspruch zu dieser Vorstellung steht die Realität, mit der die Zeugen tagtäglich konfrontiert werden. Die Abgrenzung gegenüber allen Nicht-Zeugen, die bei Harmagedon umkommen werden, führt zu einem Überlegenheitsgefühl, zu der Vorstellung, die Zeugen seien die reinen, moralisch einwandfreien Menschen. Die Unzutreffendheit dieser Vorstellung wird Herrn und Frau Waß bewußt, als sie entgegen der Vorschrift der WTG keine Beziehungen und Freundschaften zu Außenstehenden zu unterhalten, eine Einladung von Verwandten annehmen, die keine Zeugen Jehovas sind. Barbara Waß meint: „Nun stellten wir fest, daß diese Menschen bestimmt nicht anders waren als die Brüder.“823 Damit wird den Gläubigen von Seiten der WTG eine schwere Last aufgebürdet, die zu tragen auf Dauer unmöglich ist. Um diese Vorstellung aufrechterhalten zu können, bleibt oft nur eine Flucht in die Selbstlüge und Heuchelei als Abwehrmechanismus oder das Verfallen in Depressionen nicht aus.824 Diese Flucht in die Selbstlüge und Heuchelei kann und will Barbara Waß nicht länger tragen. Als sie sich um eine Frau kümmert, die sie eigentlich für die WTG werben soll, unterstützt sie diese ohne Hintergedanken, das heißt, ohne die Absicht, sie zu einer 822 Vgl. Waß, 204. Ibid., 216. 824 Ibid., 219. 823 307 Zeugin Jehovas zu bekehren, im Gegenteil, sie teilt dieser Frau sogar negative Erfahrungen mit der WTG mit, weil sie aufgrund der bedrückenden Situation von Frau I. nicht mehr zur Selbstlüge und Heuchelei, also zum Vorspielen falscher Tatsachen fähig ist. Auch einem Scientologen bleiben die zahlreichen Wiedersprüche zwischen den hehren Zielen der Organisation und der alltäglichen Wirklichkeit nicht verborgen. Die negative Seite der Organisation wird besonders drastisch und anschaulich in den Worten von Norbert Potthoff, wenn er davon spricht, daß Scientology selbst „ihre eigenen Kinder frißt“.825 Der menschenverachtende Umgang mit den eigenen Mitscientologen ist für Potthoff in keiner Weise mit dem von Hubbard verkündeten Ideal der vollkommenen geistigen Freiheit zu vereinbaren. Auch Jutta Elsässer muß diesen Widerspruch zwischen dem verkündeten Ideal und der Realität schmerzlich erfahren. Sie kommentiert die Unfaßbarkeit ihrer Erfahrungen mit den Worten: „Das konnte nicht Scientology sein! Nein, ganz unmöglich, diese Verhaltensweise konnte mit dieser Philosophie nicht das geringste zu tun haben!“826 Ein weiteres Phänomen ist das Überlegenheitsgefühl der Scientologen. Da sich alle Scientologen mit Hilfe des Auditing darum bemühen, immer höhere Stufen hin zur vollkommenen geistigen Freiheit zu erklimmen, fühlen sie sich anderen Menschen, besonders Außenstehenden, die diese Notwendigkeit des Erreichens der totalen geistigen Freiheit und der damit verbundenen Rettung des Planeten Erde nicht einsehen, aber auch den eigenen Mitscientolgen, die noch nicht eine so hohe Stufe wie sie selbst erreicht haben, überlegen. Daß diese Vorstellung innerhalb der eigenen Reihen zu einem Leistungs- und Elitedenken führt, liegt auf der Hand. 825 826 Vgl. Potthoff, 228. Elsässer, 191. 308 1.5 Mangelndes Verantwortungsbewußtsein und die Ablehnung von Gewissensfreiheit Das Eingebundensein der Zeugen Jehovas in das System der Wachtturmorganisation zieht ein schwach ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein und eine mangelnde Verantwortungsfähigkeit der Gläubigen nach sich. Die zahlreichen Gesetze und Verordnungen der WTG, vor allem der vorgegebene Moralkodex nehmen den Gläubigen viele selbständige Entscheidungsfindungsprozesse ab. Genau diese Vorschriften und die damit verbundene Bevormundung sind für Monika Deppe und ihren Mann auf Dauer unerträglich. Sie schreibt hierüber: „Wir störten uns daran, daß versucht wurde, durch unzählige Verordnungen das Verhalten der Mitglieder, selbst in deren ganz persönlichen Lebensbereichen, zu beeinflussen.“827 Da die Wachtturm-Organisation für die Zeugen schon alle Entscheidungen getroffen hat, ist es nur selten notwendig, moralische, ethische oder andere Fragen selbständig zu entscheiden. Der einzelne Zeuge braucht nur herauszufinden, welche Lösung eines Problems die WTG vorsieht. Der Gläubige braucht ein bestimmtes Konzept nur zu übernehmen und danach zu handeln. Die WTG hält für alle theoretischen und praktischen Fragen Antworten und Konzepte bereit. Dies gilt sowohl für den bereits erwähnten Moralkodex als auch für das richtige Verständnis von biblischen Aussagen. Diese Tatsache stellt für HansJürgen Twisselmann ein enormes Problem dar, als er selbständig, ohne Anleitung durch die Literatur der WTG die Bibel studiert. Er erkennt auf diese Weise zahlreiche Irrtümer der WTG hinsichtlich der Wiedergabe und der Interpretation von biblischen Aussagen.828 Auch Monika Deppe und ihr Mann erkennen die Unkorrektheit einiger Aussagen der Bibelübersetzung der WTG. Frau Deppe fragt sich deshalb zurecht: „Wie konnte wir uns führen lassen von Schriftaussagen, die unser gesunder Menschenverstand anzweifelte? Wir konnten doch unseren eigenen Geist 827 828 Deppe, 56. Vgl. Twisselmann, Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, 45ff. 309 nicht vergewaltigen?“829 Die Vorausentscheidung der WTG gilt auch für die praktische Frage nach der richtigen Berufswahl. Man braucht sich keine Sorgen wegen der Berufslaufbahn zu machen, denn man sollte keine andere haben, als sich für die WTG zu engagieren. Die Frage einer sinnvollen Freizeitgestaltung entfällt ebenfalls, weil der Einsatz für die WTG immer Vorrang vor privaten Interessen besitzt. Der für viele Menschen entscheidende verantwortliche Umgang mit den Medien und deren Informationsflut stellt für Zeugen Jehovas ebenfalls kein Problem dar, da organisationsexterne das Fernsehen Literatur. Statt ebenso zu meiden dessen wird eine ist, wie intensivere Beschäftigung mit organisationsinterner Literatur empfohlen. Lesenwerte Themen aus organisationsexterner Literatur wird die WTG nach Meinung der Zeugen schon in ihr Repertoire aufnehmen und die Gläubigen hierüber in gebotener Kürze informieren. Die Folge einer solchen Abnahme von selbständigen Entscheidungen in den verschiedenen Lebensbereichen ist ein unreifer, unmündiger geistiger Zustand bei vielen Gläubigen. Ein solcher Zustand verhindert oder beschränkt eine Ausbildung und Entfaltung entscheidender menschlicher Fähigkeiten und blockiert eine individuelle Persönlichkeitsentwicklung und ein eigenständiges reflektiertes und kritisches Denken. Auf der einen Seite ist diese Tatsache für viele Menschen eine Erleichterung und es ist bequem, nicht selbständig denken zu müssen. Daß dieser Zustand gerade für intellektuell rege Menschen aber auf Dauer unerträglich werden kann, machen neben den Aussagen von Twisselmann besonders auch die Aussagen von Monika Deppe deutlich, wenn sie sich fragt: „Wieso durften wir keine Kritik äußern? Warum wurden unser persönliches Gewissen und unsere eigene Meinung bei allen Anordnungen völlig übergangen?“830 Das Eingebundensein der Scientologen in das System von Scientology zieht ähnlich wie bei den Zeugen Jehovas ein schwach ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein und eine mangelnde Verantwortungsfähigkeit nach sich. Die Einordnung in das hierarchisch strukturierte System von Scientology verlangt von den Mitgliedern einen Gehorsam, der sich mit 829 830 Deppe, 65. Deppe, 63. 310 dem Begriff Kadavergehorsam bezeichnen läßt. Die Tatsache der Straflager und die Bezeichnung der Überwacher als Ethikoffiziere macht dabei die militärische Prägung der Sekte deutlich. Die persönliche Meinung des einzelnen oder gar ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein sind hinderlich und störend. Der einzelne hat seine Arbeitskraft für die Belange der Scientology-Organisation zur Verfügung zu stellen. Als Norbert Potthoff sich innerlich schon von Scientology entfernt hat, bemerkt er in diesem Zusammenhang: „Ich kann mein Selbstbewußtsein nicht länger davon abhängig machen, wie ich zu diesem System Scientology stehe. Ich muß meinen eigenen Wert wiederentdecken, unabhängig von irgendeinem System dieser Welt. Ich will Bilder malen, Geschichten schreiben, will sehen, was ich kann, und dabei nicht auf eine Statistik schielen oder auf eine schwebende Nadel am E-Meter.“831 Norbert Potthoff will also wieder Verantwortung für sein Leben übernehmen, selbständig Entscheidungen treffen und seine Persönlichkeit entwickeln. Daß dies innerhalb der Sekte bisher überhaupt nicht, beziehungsweise nur sehr eingeschränkt möglich gewesen ist, machen seine Aussagen deutlich. Bei Elke Nietsche äußert sich das durch Scientology hervorgerufene mangelnde Verantwortungsbewußtsein in der Vernachlässigung ihrer Tochter. Sie ist dermaßen mit dem Einsatz für die Organisation beschäftigt, daß sie gar nicht mehr wahrnimmt, wie sehr ihre Tochter unter der ständigen Abwesenheit der Mutter leidet, was sich nicht zuletzt in den abnehmenden schulischen Leistungen der Tochter widerspiegelt. Frau Nietsche entscheidet sich letzten Endes für ihre Tochter und gestattet Scientology nicht mehr Macht über sie auszuüben, das heißt, sie läßt sich nicht mehr länger durch Scientology bevormunden und übernimmt Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Tochter.832 831 832 Potthoff, 168. Vgl. Nietsche, 86ff. 311 2 Die Situation der Kirchengemeinden 2.1 Die Auflösung der traditionellen Volkskirche und der diese bestimmenden Versorgungsseelsorge Der von Thomas Luckmann beschriebene Rückgang kirchlich gebundener Religiosität ist Teil eines vielschichtigen, im ersten Kapitel bereits dargestellten, gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Die Auswirkungen dieses Prozesses machen auch vor dem religiösen Bereich nicht halt.833 In unserer pluralistischen Gesellschaft existieren, wie bereits erwähnt, vielfältige Wert- und Orientierungsmuster. Doch inmitten dieser Fülle von Angeboten zur Lebensorientierung erhebt das Christentum den Anspruch, allgemeingültige und verbindliche Wert- und Orientierungsmaßstäbe zu besitzen, die in der Lehre Christi verankert sind. Der Ort der Weitergabe des Glaubens und seiner Maßstäbe ist dabei die Kirchengemeinde. Hier ist jedoch der Rückgang der Kirchenbesucherzahlen und die Abwanderung von Menschen von der Kirche eine schmerzliche Tatsache. Eine existentielle, sinnerfüllende und erlösende Begegnung mit dem Gott des Christentums findet offenbar trotz vielfältiger gemeindlicher Aktivitäten immer seltener statt. Der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner bezeichnet dieses Phänomen als Kirchenkrise und bemerkt in diesem Zusammenhang: „Vielfach herrscht bei Verantwortlichen eine arge Beklommenheit ob der unaufhaltsamen kirchlichen Entwicklung. Gebannt werden Krisensymptome wahrgenommen: der Rückgang an Pfarrern und Kirchgängern, das lautlose Verdunsten von Glaubenswissen, die Schwierigkeit, modernes Leben evangeliumsgemäß zu gestalten.“834 Die traditionelle Seelsorgskonzeption war nach Meinung Zulehners auf die sogenannte „Leutereligion“ ausgerichtet. Zulehner versteht hierunter die „verbreitete Religiosität der Leute“, wie sie für die traditionelle gesellschaftliche Situation typisch war, als die Kirchen noch eine Monopolstellung 833 834 innehatten. Hier gaben sich die Menschen Vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, 170. Vgl. Zulehner, Paul Michael, Grundkurs gemeindlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Düsseldorf 1992, 9. im 312 wesentlichen mit Ritualen zufrieden, die für sie eine schützende und beruhigende Wirkung ausübten. Die traditionell enge Verschmelzung von Staat, Kirche und Gesellschaft begünstigte die Auffassung von der Überlegenheit und legitimen Herrschaft der Kirche. „Die Leute hatten es mit einer religiösen, einer geistlichen Obrigkeit zu tun, (die vielmehr identisch war mit der weltlichen Obrigkeit). Auch war die Seelsorge in Europa tendenziell flächendeckend. In den Missionsländern war die Arbeit von kolonialistischen Interessen stark durchsetzt. Deshalb betrieb die Kirche eine Art ‚obrigkeitliche Pastoral’. Kurz: Die christentümlichen Gesellschaften der nachkonstantinischen, der mittelalterlichen, der nachreformatorischen Gesellschaft waren ein guter situativer Boden für die überkommene Grundkonzeption der Versorgungsseelsorge. Seelsorge hatte sozusagen ‚funktioniert’. Es gab lange keinen Grund, das Konzept zu bezweifeln oder gar zu ändern.“835 Mit der Ausdifferenzierung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche ging zugleich auch eine Auflösung der traditionellen Volkskirche und der diese bestimmenden Versorgungsseelsorge einher. Diese Entwicklung konnte auch die bereits auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil herausgestellte Mitverantwortung der Laien für die Kirche und den christlichen Glauben nicht verhindern. Aus dieser Situation ergibt sich die Forderung einer notwendigen Erneuerung der Kirche und der Kirchengemeinden. 2.2 Die Notwendigkeit einer Kirchen- und Gemeindereform „Der eigenen Berufung ‚auf der Spur’ zu sein, sie ‚aufzuspüren’, dieser Vorgang muß allen bisherigen Bemühungen, das Volk zu fördern, noch hinzugefügt, oder noch genauer, zugrundegelegt werden.“836 Mit diesen Worten betont Paul Michael Zulehner die Notwendigkeit, den Gläubigen 835 Zulehner, Paul Michael, „Denn du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor …“ Zur Theologie der Seelsorge heute. Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner, 2 Düsseldorf 1984 , 36f. 313 ein Fundament für ihr Leben und Wirken als Christen in der Welt zu vermitteln. Die Verantwortung für die Gemeinde und die Welt soll ihnen dabei neu bewußt gemacht werden. In diesem Zusammenhang betont Zulehner die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung von der Basis her, die in einigen österreichischen Gemeinden bereits mit Erfolg durchgeführt worden sei. Bei der Erneuerung des Glaubenslebens einer Gemeinde spielen Mystik, Geschwisterlichkeit und Politik eine zentrale Rolle.837 Dies seien drei bedeutende Merkmale für eine Kirchen- und Gemeindeerneuerung.838 Was Zulehner unter diesen Begriff versteht, soll in den folgenden Abschnitten dargelegt werden. 2.2.1 Mystik Die Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz und letztlich nach Gott ist eine nicht zu leugnende, durch die christliche Glaubenstradition erhärtete Tatsache. Die Erlösungstat Gottes durch Jesus Christus ist Grundlage und Anknüpfungspunkt unseres Fragens nach Gott. Das Leben Jesu besitzt für die Menschen einen Vorbildcharakter. „Unsere Bestimmung, unser Schicksal wird an Jesus, dem Christus, anschaulich. Noch mehr: Er wird zum Weg für uns. Wer mit ihm (mystisch) eins wird, gelangt auf diesem Weg an das Ziel seiner wahren Sehnsucht.“839 Die Kirche hält diese Verbindung zu Christus in jeder Zeit lebendig. Sie macht den Menschen ihre Bestimmung und ihre Verantwortung für das Reich Gottes bewußt und versteht die Gläubigen als Volk Gottes, unter dem er selbst anwesend sein will und auch anwesend ist. Die Sehnsucht des Menschen nach Gott ist heute jedoch bei vielen Menschen verschüttet, so 836 Vgl. Zulehner, Sie werden mein Volk sein, 78. Vgl. Zulehner, Paul Michael, Das Gottesgerücht. Bausteine für eine Kirche der Zukunft mit Texten von Josef Fischer und einer Meditation von Rolf Zerfaß, Düsseldorf 1987, 62. 838 „Drei Aufgaben werden genannt, zu denen Gott sein ganzes Volk erwählt hat, drei Merkmale werden beschrieben, welche die Kirche von morgen schmücken werden: Sie wird eine Kirche der Mystik sein, und deshalb eine geschwisterliche und eine politische Kirche.“ (Zulehner, Das Gottesgerücht, 31). 839 Vgl. Zulehner, Das Gottesgerücht, 38. 837 314 daß viele Menschen ihr Heil in Ersatzbefriedigungen suchen. Zulehner charakterisiert die gesellschaftliche Situation, in der die religiöse Suche des Menschen heute stattfindet besonders drastisch, wenn er schreibt: „Es ist auch unbestritten, daß in unserer Alltagskultur die Themen der Religion (wie auch andere menschliche Themen wie Alter, Tod, Leid) nicht ausdrücklich vorkommen, diese Kultur somit als ‚gottfrei’, ‚gottlos’, ‚atheistisch’ gelten kann.“840 Auch Christen sind nicht von der Versuchung frei, ihre religiösspirituelle Sehnsucht durch Ersatzbefriedigungen zu stillen und auf diese Weise ihre religiöse Veranlagung verkümmern zu lassen. Der christliche Glaube der Gegenwart Gottes tritt besonders in der Gemeinschaft der Gläubigen, der Kirche als Volk Gottes, deutlich zutage. Eine Kirche, die in der Gewißheit der Gegenwart Gottes lebt, nennt Zulehner eine „mystische Kirche“.841 Indem die Kirche am Mysterium Gottes teilhat, wird sie selbst zum Mysterium, zu einer nie vollkommen ergründbaren transzendenten Größe innerhalb der Welt und der menschlichen Gesellschaft. Das Leben der Gläubigen muß von der Gewißheit der Anwesenheit Gottes getragen sein. Dieser Glaube muß sich auch im gegenseitigen Umgang mit den Mitmenschen, den Nächsten, zeigen. „Gottes menschenfreundliche Praxis soll nämlich in der Praxis der Kirche vorkommen und durchkommen. Eine Lehre von der Kirche gibt es daher nicht ohne eine Lehre von Gott: Ekklesiologie ist Theologie.“842 2.2.2 Geschwisterlichkeit Der Begriff Geschwisterlichkeit wird von Zulehner in Anlehnung an den auf dem Zweiten Vatikanum bedeutsamen Begriff Brüderlichkeit gebraucht.843 Das Wort Geschwister schließt beide Geschlechter ein und ist nach Meinung Zulehners die zutreffende Anrede für Brüder und 840 Zulehner, Das Gottesgerücht, 39. Ibid., 65. 842 Ibid. 843 Ibid., 66. 841 315 Schwestern. So betont er die Sehnsucht vieler Menschen nach einer geschwisterlichen statt einer nur brüderlichen Kirche. 2.2.2.1 Die Sehnsucht des Menschen nach dauerhafter Gemeinschaft Die Sehnsucht nach freundschaftlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen und die Suche eines Lebenspartners kennzeichnen den Menschen laut Zulehner als soziales Wesen. Jeder Mensch bedarf der Anerkennung und der Wertschätzung durch andere, um sich in der rechten Weise als Mensch entfalten zu können. Doch die moderne pluralistische Gesellschaft mit ihrer Ablehnung eines verbindlichen Wertekanons höhlt Werte wie Verläßlichkeit und Treue zunehmend aus. Die Fähigkeit einzugehen, des wird Selbstverwirklichung heutigen immer Menschen, mehr erschwert. durch Zulehner dauerhafte das Beziehungen erstrebte charakterisiert Ziel der dieses Phänomen so: „Was im Umkreis dieses kulturell antrainierten Strebens nach materieller und sozialer Belohnung gewachsen ist, ist ein verbreiteter Individualismus, der sich in Sätzen äußert wie ‚auf andere kannst Du Dich nicht verlassen’ oder ‚Jeder muß für sich selber sorgen’.“844 Diese Defizite im gesellschaftlichen Beziehungsnetz treten besonders in den hohen Scheidungsraten zutage. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch eine echte und dauerhafte Gemeinschaft oder Partnerschaft erfährt, ist sehr gering geworden. Dennoch sieht Zulehner in diesem Sachverhalt für die Kirche die einmalige Chance, den Menschen geschwisterliche Lebensorte zu schenken. „Wenn Kirche ist, was sie zu sein berufen ist, kann sie für die Menschen auf ihrer Suche nach Gemeinschaft, Treue, Verläßlichkeit, Verbindlichkeit und Verbundenheit, nach Solidarität ein Hoffnungsort werden.“845 Durch den Rückgriff auf die Bibel, vor allem durch die 844 845 Zulehner, Das Gottesgerücht., 67. Ibid., 69. 316 Betrachtung der zahlreichen Begegnungen Jesu mit den Menschen, läßt sich verdeutlichen, daß dort, wo Menschen dem Ruf Gottes folgen, sich ihnen auch echte Chancen für eine tragfähige und dauerhafte Gemeinschaft bieten. Die ersten Christengemeinden sind anschauliche Beispiele, wie derartige tragfähige geschwisterliche Gemeinschaft im Glauben entstanden sind. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben jedoch nie konfliktfrei, wie sich bereits im Neuen Testament (1. Kor) erkennen läßt. Zulehner hält es daher für unbedingt notwendig, eine christlich geprägte Kultur zum Austragen von Konflikten und ihrer Lösung zu finden. In dieser Beziehung gibt es in den christlichen Gemeinden allerdings noch viel zu tun. 2.2.2.2 Die „Volk-Gottes-Geschwisterlichkeit“ Eine mögliche kirchliche Strukturreform muß zugunsten einer geschwisterlich ausgerichteten Kirche ausfallen und stellt eine große Herausforderung dar. Geschwisterlichkeit sieht Zulehner dort, wo sich Menschen unter den Augen Gottes zum Fest versammeln (vgl. Dtn 16, 912). Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen und in allen möglichen Lebensphasen kommen bei der gottesdienstlichen Feier zusammen. Die Geschwisterlichkeit verlangt, daß es im Gottesdienst keine Trennung oder Diskriminierung durch soziale Barrieren geben sollte. Doch die Wirklichkeit belehrt uns häufig eines anderen. Zulehner meint, daß es in den Gemeinden häufig Auseinandersetzungen zwischen Gläubigen aus verschiedenen sozialen Schichten gebe und daß Arbeiter von akademisch gebildeten Pfarrangehörigen oft als Gläubige zweiter Klasse angesehen und entsprechend behandelt würden. Ein solches Verhalten sei mit der in der Taufe grundgelegte Würde jedes Christen unvereinbar. Auch in Art der Ausübung der kirchlichen Ämter sucht Zulehner den Volk-Gottes-Gedanken und die damit verbundene Geschwisterlichkeit häufig vergeblich. Im Zusammenhang mit der Ausübung der kirchlichen 317 Amtsgewalt und der Wahrnehmung ihrer Autorität bemerkt Zulehner: „Heute, auf dem Boden der biblischen Volk-Gottes-Theologie und der daran orientierten Kirchen-Theologie des II. Vatikanischen Konzils kann die Regel nicht mehr lauten: Das Volk gehört dem Amt, sondern: das Amt gehört dem Volk. Und beide gehören Gott.“846 Die Würde des Christen und das Prinzip der Geschwisterlichkeit dürfen durch die Ausübung der kirchlichen Amtsgewalt keinen Schaden erleiden. Die Geschwisterlichkeit sollte in den christlichen Gemeinden eine „lebensmäßige Verbindlichkeit“ besitzen, damit aus Kirchenbesuchern „Kirchenbewohner“ werden können.847 Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird ein Christ auch seine wirkliche Heimat in der Gemeinde haben und sich durch diese in allen Lebenssituationen unterstützt und getragen wissen. Diese geschwisterliche Geborgenheit in der Gemeinde gestattet den Gläubigen dann, auch schwierige Situationen, beispielsweise eine Ehekrise, zu meistern. „Und wenn Christen, die in Ehe leben, vom Seilakt ihrer Ehe abstürzen, werden sie vom geschwisterlichen Netz aufgefangen.“848 2.2.3 Die politische Gemeinde Die Verbindung von Gott, Kirche und Politik stellt für viele Menschen unserer Zeit eine inakzeptable Konstellation dar. Eine politische Kirche erweckt Anstoß, vor allem wegen der zum Teil folgenschweren Auswirkungen der Verbindung von Staat und Kirche im Verlauf der abendländischen Geschichte. Als Beispiel nennt Zulehner Inquisition und Hexenverfolgungen, die das Bild der Geschichte im Mittelalter und der frühen Neuzeit trüben. Viele Zeitgenossen kennen derartige Ereignisse, und sie machen den Mißbrauch religiöser und politischer Macht hierfür verantwortlich. Dies bewirkt vielfach einen Argwohn gegenüber jeglicher religiöser Einmischung in die Gesellschaft und in staatliche Belange. 846 847 Zulehner, Das Gottesgerücht, 74. Ibid., 76. 318 Diese Auffassung verkennt jedoch zutiefst die Tatsache, daß Christen als Bürger auch ihre Vorstellungen, vor allem ethischer Art, in Staat und Gesellschaft artikulieren und ihre Verantwortung für die Kirche und die Welt wahrnehmen wollen. Politik im Hinblick auf eine Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft meint daher nicht mehr eine Verschmelzung von Kirche und Staat, sondern einen gegenseitigen Austausch und Dialog zwischen diesen beiden Institutionen. Für die Kirche bedeutet dies, sich um eine gerechte Ordnung, eine gerechte Verteilung der begrenzten Lebenschancen in der Welt einzusetzen, die sowohl geistige als auch materielle Güter umschließt. „Die Sehnsucht nach einer gerechteren Verteilung der Lebenschancen wächst innerhalb der heutigen Menschheit, immer mehr Menschen werden von ihr gepackt. Dies hat seinen Grund darin, daß ein Meer von Ungerechtigkeit heute das Überleben der ganzen Menschheit bedroht. Hier ist besonders die Ausbeutung der armen Länder der dritten Welt zu nennen, wobei eine Minderheit über die natürlichen Ressourcen und finanziellen Mittel verfügt. Aber auch in unseren Breitengraden machen sich zahlreiche soziale Probleme bemerkbar, für welche zum großen Teil die politische Arbeitslosigkeit Mißwirtschaft bei verantwortlich gleichzeitigem technischen ist.“849 Eine Fortschritt hohe bedroht zunehmend die Existenz vieler Menschen in unserem Land. Angesichts unzähliger weltweiter Ungerechtigkeiten und Verbrechen kann die Kirche als Trägerin des christlichen Glaubens nicht schweigen. Paul Michael Zulehner meint in diesem Zusammenhang: „Wieder kann gezeigt werden, daß die Kirche, wenn sie wahrhaft Volk jenes Gottes ist, mit dem uns die Bibel bekanntgemacht hat, ein Hoffnungsort sein kann für die Opfer einer ungerechten Verteilung von Lebenschancen.“850 Die Kirche ist dem Vorbild Jesu entsprechend dazu aufgerufen, den Menschen ein Anwalt zu sein, der ihnen bei der Linderung und Beseitigung ihrer bedrückenden Lage zur Seite steht. 848 Ibid., 77. Zulehner, Das Gottesgerücht, 78. 850 Ibid., 81. 849 319 Daß die Auflösung der traditionellen Volkskirche im vollen Gange ist und welche Probleme sich hierbei konkret für die Kirchengemeinden stellen, spiegelt sich besonders in den Ergebnissen des Pastoralgespräches wider, das 1994 im Erzbistum Köln durchgeführt wurde. Ich möchte ergänzend zu der allgemeinen Situationsbeschreibung Zulehners aus den Ergebnissen diese Pastoralgespräches vor allem diejenigen Probleme herausgreifen, die deutlich machen, warum die meisten Gemeinden, zumindest momentan noch keinen idealen Ort für eine mögliche Aufnahme von Sektenaussteigern sind. Hierin finden sich auch die von Zulehner genannten Forderungen nach Mystik, Geschwisterlichkeit und Politik wieder, die für eine Kirchen- und Gemeindeerneuerung zentral sind. 2.3 Die Situation der katholischen Kirchengemeinden nach dem Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln Diejenigen, die zu den Mitgliedern des Pastoralgespräches gehörten, sind Menschen, die in den Gemeinden und Verbänden der Kirche aktiv tätig sind. Im Vorwort zu den Ergebnissen des Pastoralgespräches heißt es in diesem Zusammenhang: „Vielmehr haben sich jene Katholiken zu Wort gemeldet, die in Gemeinden, Dekanaten, Verbänden und Einrichtungen die Säulen sind und sich selbst einbringen in die Kirche vor Ort, sie zusammen mit anderen lebendig und erfahrbar machen.“ 2.3.1 Mangelhafte Seelsorgssituation und mangelndes Verantwortungsbewußtsein der Gläubigen In den Voten zum Thema Seelsorge kommt die „Sehnsucht nach Seelsorge“ deutlich zum Ausdruck. Die Gläubigen in den Kirchengemeinden möchten eine echte Beziehung zu Christus aufbauen 320 und dabei von Seelsorgern, möglichst von Priestern begleitet und unterstützt werden. Die Teilnehmer des Pastoralgesprächs kritisieren eine zu große Organisation und Verwaltung der Kirche, die sich zulasten der Seelsorge auswirkt. In den Kirchengemeinden sollten Seelsorger anwesend sein, die nicht durch unzählige Verwaltungsaufgaben überlastet sind. Die Gläubigen erwarten von ihren Priestern, daß diese ein offenes Ohr für sie haben und auf ihre Sorgen und Nöte eingehen. Das Gefühl des Alleingelassenseins in religiösen Dingen und in den täglichen Sorgen und Nöten des Alltags führt bei vielen Gläubigen zum Rückzug und zu Resignation. Die vom Bistum eingerichteten Pfarrverbände und Seelsorgebereiche bieten hierfür keine adäquate Lösung, weil sie zu neuen Problemen, wie beispielsweise einem Konkurrenzdenken zwischen den verschiedenen bisher selbständigen Pfarreien führen und der Seelsorger keinen intensiven Kontakt zu den Gläubigen aufbauen könne. Viele Gläubige erleben ihre Seelsorger, vor allem ihre Pfarrer als völlig überlastet, „als Funktionäre, die Dinge tun oder tun müssen, die sie davon abhalten, mit offenen Ohren und Herzen für die Anliegen, Themen und Sorgen der Gemeindemitglieder dazusein“.851 Die nötige Verbundenheit mit einer Gemeinde geht auf diese Weise verloren, beziehungsweise kommt erst gar nicht zustande. Die Überforderung der Seelsorger, besonders der Pfarrer wird von den Gläubigen als schmerzliche Entfremdung wahrgenommen. Die Mitglieder Zusammenhang des von Pastoralgespräches einer sprechen „Notversorgung“852 , der in durch diesem neue Zugangswege zu den kirchlichen Ämtern und „wirklichen Verantwortungsund Mitbestimmungsstrukturen für Laien“ Abhilfe geschaffen werden könnte. Da Seelsorge die gesamte Gemeinde betrifft und jeder Getaufte und gefirmte Christ Verantwortung für die Gemeinde übernehmen sollte, kann die Lösung von Problemen nicht allein von der Kirchenleitung, von Bischöfen oder den Priestern der Gemeinden erwartet werden. Seelsorge 851 Presseamt des Erzbistums Köln, Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut not“, zitiert aus: http://www.kath.de/svpk/1/pastoral.html vom 18.3.2005 / 21.15 Uhr. 852 Vgl. Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut not“. 321 beschränkt sich nicht nur auf Priester und andere Hauptamtliche. Auch Laien nehmen bereits vielfältige Möglichkeiten wahr, die Menschen auch außerhalb der Gemeinde zu erreichen. Diese Kontakte sind dabei für viele Menschen außerhalb der Kirche die einzigen Kontakte mit Kirche überhaupt. Die Form des Wirkens wird als „Geh-Hin-Kirche“853 bezeichnet, für die es auch beispielsweise zahlreiche den Beispiele Pfarrbesuchsdienst, Krankenhausbesuchsdienst. Der Pfarrer in den den Gemeinden Pfarrbrief oder die gibt, und den Pastoral- und Gemeindereferenten nehmen auch die Möglichkeit von Hausbesuchen von Gemeindemitgliedern zu bestimmten Anlässen wahr. Die Gemeinden bieten den Gläubigen darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und sich über Lebens- und Glaubensdinge auszutauschen. Es existieren vielfältige Angebote wie Erstkommunion- und Firmvorbereitungen, Einladungen zu Kinder- und Jugendgottesdiensten, Jugendarbeit. Es gibt in vielen Gemeinden Bibelgesprächskreise, Gespräche bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Es existieren Kontakte zu Schulen, ja sogar kirchliche Schulen und vieles mehr. Diese Angebote haben sicherlich ihren Wert und tragen das Ihre zu einem ebendigen Gemeindeleben bei. Sie sind jedoch zu stark auf die jeweiligen Hauptamtlichen konzentriert. Sobald diese ihren Dient nicht mehr in der vorgesehenen Weise ausüben können, bricht vieles zusammen. In den Ausführungen zum Pastoralgespräch wird deshalb ein neues Bewußtsein für die Wahrnehmung der eigenen Verantwortung gegenüber der Gemeinde gefordert und wie folgt begründet: „Alle Getauften haben Teil am Lebensreichtum, mit dem Gott uns beschenkt. Diese fundamentale Gleichheit aller Getauften ist ein grundlegendes Prinzip der kirchlichen Verfassung. Jeder Christ ist Empfänger der Gnade Gottes und Träger des kirchlichen Lebens.“854 Diese Überzeugung läßt keinen Raum für Machtausübung oder Manipulation. Diese sind negative Elemente von Seelsorge und kirchlicher Beratung. 853 Vgl. Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut not“. 854 Ibid. 322 Es soll in der Seelsorge bewußt auf Belehren und Moralisieren verzichtet werden. Beratung meint nicht Indoktrination und Bevormundung von Gläubigen, sondern ein begleitendes Mitwirken, bei dem die Freiheit des anderen respektiert werden muß. Dem Menschen darf kein Konzept aufgedrängt werden. Das Interesse am einzelnen Menschen sollte somit größeres Gewicht haben als das „Beharren auf Grundsätzen“. Dies erfordert von einem Seelsorger besondere Qualitäten. Nur so kann unseren Gemeinden gelingen lebendige Zellen des Glaubens zu werden. In den Ausführungen des Pastoralgespräches heißt es in diesem Zusammenhang: „Wo unsere Gemeinden im Seelsoremanagement ersticken, verlieren sie von selbst ihre Ausstrahlung als lebendige Oasen des Glaubens in den geistlichen Wüsten unserer Städte.“855 Die Amtskirche habe sich sehr weit von den Gläubigen entfernt. Dies äußere sich darin, daß jeder Gläubige mit religiösen und alltäglichen Problemen allein zurecht kommen müsse. Die wenigen Priester, die hier Hilfe bieten können, seien völlig überlastet, überfordert und von den Bischöfen allein gelassen. Alle Gläubigen müssen sich hier engagieren. Die Kirche gehe zu wenig zu den Menschen, dies müsse sich ändern. 2.3.2 Zu geringe „Sprachfähigkeit im Glauben“, zu wenig Glaubensgespräche, zu geringe Reflexion über den eigenen Glauben Es existieren in vielen Gemeinden Bibelgesprächskreise und sich daran anschließende Glaubensgespräche, allerdings beklagen die Telnehmer des Pastoralgespräches die zu geringen Möglichkeiten Jugendlicher, ihren Glauben zur Sprache zu bringen. Hier wird ein Bruch mit der Glaubenstradition der Kirche sichtbar, der sich durch ein mangelndes Glaubenswissen auszeichnet. Um diesem Mißstand abzuhelfen, sollte die Einrichtung von Glaubensgesprächskreisen verstärkt werden. Hierzu 855 Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Seelsorge tut not“. 323 eignen sich besonders kleine Gebets- und Glaubensgesprächskreise, in denen die Teilnehmer sich gegenseitig austauschen und auch gegenseitig bestärken können. Dabei soll den Teilnehmern die Bedeutung der Bibel durch eine zeitgemäße Erschließung derselben zugänglich gemacht werden. Wenn auch nicht alle Mitglieder einer Gemeinde sich von diesem Angebot ansprechen lassen, so sollten doch zumindest die aktiven Gruppen einer Pfarrei über ein ausreichendes Glaubenswissen verfügen, um anderen Hilfestellung geben zu können. Um die Sprachfähigkeit im Glauben und die damit verbundenen Glaubensgespräche zu fördern, muß die oftmals unzureichende religiöse Bildung der Gläubigen dringend verbessert werden, was durch Seminare und Glaubensschulung Pastoralgespräches geschehen sehen in der soll. Die Einrichtung Teilnehmer einer des offenen Gesprächsgruppe in der Gemeinde als Dauereinrichtung eine Möglichkeit, aktuelle Glaubenserfahrungen sowie Kritik zur Sprache zu bringen. Um möglichst intensive Glaubensgespräche führen zu können, müssen die Mitarbeiter aus- und weitergebildet werden, um kleine Gruppen begleiten zu können.856 2.3.3 Mangelnde Glaubwürdigkeit Die Glaubwürdigkeit der Kirche umfaßt verschiedene Bereiche, wie beispielsweise den Umgang mit der Macht aufgrund der kirchlichen Strukturen und den mit dem Geld sowie den Umgang mit der Sexualität. Ein Mangel an Glaubwürdigkeit wird hierbei vor allem begünstigt durch die Diskrepanz zwischen der frohen Botschaft des Evangeliums, das heißt dem Lehren und Handeln Jesu und dem Verhalten der Kirche. Dieses negative Verhalten der Kirche bezieht sich dabei vor allem auf moralische Verfehlungen der Gläubigen. Die Morallehre der Kirche wird von vielen Gläubigen als abgehoben und lebensfern angesehen, was einen Bruch zwischen den Anforderungen und der Lebenspraxis der Gläubigen nach 324 sich zieht. Ein weiterer Kritikpunkt besteht in einem unehrlichen und verdrängenden Umgang mit sich selbst und den eigenen Fehlern und Unvollkommenheiten. Gehorsamsforderung Des der weiteren Kirche wird gegenüber Kritik den geübt an der Gläubigen. „Die Menschen unserer Gesellschaft haben oft zwiespältige Bedürfnisse: Auf der einen Seite die Sehnsucht nach Geborgenheit, Halt und Orientierung und auf der anderen Seite ein starkes individuelles Freiheitsbewußtsein verbunden mit einer ausgesprochenen Scheu vor Bindungen. Eine religiöse Gemeinschaft, die blinden Gehorsam erwartet, ihr Autoritätsverlangen nicht begründet und auf die individuellen Bedürfnisse kaum eingeht, ist bei ihnen ohne Chance.“857 Die Kirche kann an Glaubwürdigkeit nur gewinnen, wenn sie sich am Denken und Handeln Jesu orientiert, sich Schwächen und Unvollkommenheiten eingesteht und dementsprechend auch den Menschen begegnet, das heißt, sie auch als Person in ihrer Individualität ernst nimmt. „Kirche muß glaubwürdig sein in ihrem Handeln, in ihren Vertretern den Christen gegenüber, weil diese Glaubwürdigkeit eine große Auswirkung auf die gesamte Pastoral hat.“858 2.3.3.1 Zu geringe Option für die Armen als Folge zu wenig gelebten Glaubens Die Teilnehmer des Pastoralgespräches konstatieren einen zu geringen Einsatz der Kirche für arme und benachteiligte Menschen und fordern ein verstärktes Engagement im sozialen Bereich. In den Verkündigungszusammenhang gehört unbedingt die Caritas als eine wesentliche Lebenssäule der christlichen Gemeinde. Die Kirche unterhält zwar zahlreiche caritative Einrichtungen, jedoch sollte diese Einheit von Heilsdienst und Weltdienst in den Gemeinden stärker zum Ausdruck kommen. Unter diesen Armen und Benachteiligten 856 Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Den Glauben bezeugen“. 857 Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“. 858 Ibid. 325 sind nicht nur Menschen zu verstehen, die materielle Not leiden, sondern auch solche mit seelischen Nöten. Daß ein Engagement in diesem Bereich bisher zu wenig erfolgt ist, machen die Ausführungen des Pastoralgespräches an mehreren Stellen deutlich, besonders aber die Forderung: „Wir als Kirche müssen sensibler werden für die Nöte unserer Mitmenschen. Wir sollten noch bewußter die versteckte Armut in unserem Umfeld aufspüren. Wir als Christen, aber auch Priester, sollten sich mehr Zeit für in Not geratene Mitmenschen, sei es seelischer oder finanzieller Art, nehmen, mit ihnen reden und zuhören können, um dann gezielter Hilfe anbieten zu können.“859 Jeder einzelne Christ ist letztlich gefordert sich in seinem Umfeld sozial zu engagieren, sei es in der Betreuung alter Menschen, sei es durch Krankenbetreuung, durch Nachbarschaftshilfe, durch die Betreuung Suchtkranker, durch Kinderbetreuung und vieles mehr. 2.3.3.2 Zu wenig Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz Die Glaubwürdigkeit der Kirche leidet unter einer ungenügenden Geschwisterlichkeit, Offenheit und Toleranz. Glaubwürdigkeit erleben die Gläubigen, wenn der einzelne Mensch persönlich ernst genommen und damit in seinem Inneren angesprochen wird, wo er respektiert wird und sich angenommen weiß, nicht zuletzt dort, wo er durch diese erfahrene Annahme seiner selbst eine positive Gotteserfahrung machen kann. Die Teilnehmer des Pastoralgespräches charakterisieren eine geschwisterliche, von Offenheit und Toleranz geprägte Kirche als „eine geschwisterliche Gemeinschaft von Frauen, Männern, Jungen, Alten, Laien und Amtsträgern, damit Menschen in den Gemeinden Heimat finden.“860 Die Gemeinden haben sich bisher zu wenig durch diese Merkmale ausgezeichnet. Ein durch diese Merkmale bewirktes glaubwürdiges Zeugnis kann mehr bewirken als sämtliche organisatorische Maßnahmen. Die Kirche verwaltet nach Meinung der 859 Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“. 326 Teilnehmer des Pastoralgespräches zu sehr einen Mangel und ist mit dem Flicken von Mangelsituationen beschäftigt, statt sich den längst notwendigen Veränderungen zu stellen. Ein Hindernis für die Entwicklung zu einer solchen geschwisterlichen und von Offenheit und Toleranz geprägten Kirche ist das Verharren in patriarchalisch-autoritären Strukturen, das heißt es entstehe der Eindruck, im Mittelpunkt des kirchlichen Interesses stünden lediglich die Aufrechterhaltung von Herrschaftsansprüchen und die Furcht vor einem möglichen Machtverlust. Viele Menschen haben den Eindruck, die Kirche sei nicht bereit, auf die Bedürfnisse der Gläubigen einzugehen und sie entziehe sich vor allem einem Dialog mit Andersdenkenden. Die Teilnehmer des Pastoralgespräches sehen den Ausweg aus dieser besorgniserregenden Geschwisterlichkeit Situation statt in einem Hierarchie, in Anstreben einer von Befreiung „mehr statt Unterdrückung, in einer Offenheit statt Abgrenzung, Konfliktfähigkeit statt Verdrängung, Förderung von Charismen statt Be- oder Verhinderung, Dialog statt Diktat, Einheit in der Vielfalt“861 . Die Lebenszusammenhänge der Menschen heute seien zu komplex, um durch einfache Lösungen geregelt zu werden, die von der kirchlichen Hierarchie vorgegeben werden. Sich aufgrund der Unterschiedlichkeit der Menschen ergebende Interessengruppen innerhalb der Gemeinde sollen sich gegenseitig tolerieren und offen über anstehende Schwierigkeiten diskutieren. „Abweichlern und Nonkonformisten“862 solle mit Achtung begegnet werden. Als abschließende Bemerkung zu diesem Punkt findet sich die Forderung: „Insgesamt muß die Kirche in unserer Zeit einen einladenden Charakter und nicht eine ausgrenzende Botschaft ausstrahlen.“863 Vor einfachen fundamentalistischen Lösungen wird dabei ausdrücklich gewarnt. Der Frage inwieweit die dargestellten Schwächen und Verbesserungsvorschläge der kirchlichen Situation für das Problem der Aufnahme von Sektenaussteigern relevant sein können, soll im folgenden 860 Ibid. Arbeits-Ergebnis des Pastoralgesprächs im Erzbistum Köln, Kapitel „Glaubwürdigkeit“. 862 Ibid. 861 327 nachgegangen werden. Können Gemeinden, die die in den Ausführungen des Pastoralgespräches aufgezeigten Schwächen und Probleme aufweisen Sektenaussteiger aufnehmen? Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, die bereits dargelegten Phänomene von Sekten mit der Situation der Kirchengemeinden zu konfrontieren. 863 Ibid. 328 2.4 Die Situation der Kirchengemeinden und die Probleme und Fragen von Sektenaussteigern In welcher Situation befinden sich Sektenaussteiger, was brauchen sie und welchen Problemen und Fragen von Aussteigern müßten sich Kirchengemeinden stellen, um diesen angemessen begegnen und diesen Menschen eine neue Heimat bieten zu können? Die Phänomene von Sekten, die zu den negativen Erfahrungen von Aussteigern geführt haben, zeigen zunächst deutlich, was diese Menschen bei einer Begegnung mit Christen aus Kirchengemeinden auf keinen Fall benötigen. Einige Phänomene von Sekten finden sich in ähnlicher Weise auch in der Kirche wieder, was für Aussteiger nicht unproblematisch sein dürfte. Ein zentraler Punkt ist hierbei die Organisationsstruktur der Kirche, die durch einen streng hierarchischen Aufbau gekennzeichnet ist. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den Kirchengemeinden wieder. Der Existenz des Papstamtes, die Bischöfe und Priester sind ein Ausdruck eben dieser hierarchischen Verfassung der katholischen Kirche. Daß katholische Christen mit bestimmten, durch diese hierarchische Verfassung bedingten Verhaltensweisen von Papst, Bischöfen und Priestern negative Erfahrungen gemacht haben, zeigen die Voten des Pastoralgespräches, wenn sie das Verharren der Kirche in patriarchalisch-autoritären Strukturen beklagen und dem Papst und der Kirchenleitung ein zu großes Interesse für die Aufrechterhaltung von Herrschaftsansprüchen vorwerfen, die sich in der Furcht vor einem Machtverlust äußert. Statt der Hierarchie wird mehr Geschwisterlichkeit gefordert, statt einer Abgrenzung von den Gläubigen eine Offenheit der Kirchenleitung für die Belange der Gläubigen. Diese hierarchische Ordnung wird kirchlicherseits durch die Bibel und die Tradition der Kirche legitimiert. Dabei steht der Papst in der besonderen Nachfolge des Apostels Petrus. Parallelen gegenüber dem Anspruch der WachtturmOrganisation sind hier nicht zu verkennen. Auch Scientology stellt ein hierarchisch straff organisiertes System dar. Einem Sektenaussteiger werden hier gewisse Parallelen wohl kaum verborgen bleiben. 329 Die Lösung dieses Problems ist sowohl dogmatischer Natur, das heißt, es müßten dem Aussteiger die biblischen und durch die Tradition der Kirche bedingten Hintergründe dieser Struktur erläutert werden. Die Lösung dieses Problems steht also im Zusammenhang mit dem Lehrsystem. Daß diese Tatsache der hierarchischen Verfassung der Kirche nicht automatisch zu den negativen Erfahrungen führen muß, wie sie der Aussteiger in der Sekte gemacht hat, kann sich weniger in einem Gespräch mit dogmatischen Erläuterungen, als vielmehr in den positiven Konsequenzen dieser Tatsache für das Leben der Gemeindemitglieder erweisen. Ein wohlwollender, geschwisterlicher Umgang zwischen Amtsträgern und Gläubigen kann in der Praxis Zeugnis davon ablegen, daß eine hierarchische Struktur nicht zwangsweise eine Unterdrückung von Menschen zur Folge haben muß, die sich etwa im Verbot von Meinungs- und Gewissensfreiheit äußert. Anfängliche Vorbehalte gegen eine hierarchische Struktur, die in den negativen Erfahrungen der Aussteiger mit der Sekte stehen, können nur durch ein positives persönliches Lebenszeugnis ausgeräumt werden. Die Schwierigkeit dieses Unterfangens wird in den Aussteigerberichten deutlich, wenn Aussteiger nach dem Verlassen der Sekte der Zeugen Jehovas oder der Scientology große Ängste davor äußern, sich beim Aufbau neuer sozialer Beziehungen wieder einer religiös geprägten Gemeinschaft anzuschließen, die insbesondere eine solche hierarchische Struktur aufweist. Sektenaussteiger benötigen im Zusammenhang mit dem Aufbau neuer sozialer Kontakte nach dem Sektenausstieg den Kontakt zu Menschen, die ihnen neben einer religiösen Anbindung zunächst vor allem das Gefühl vermitteln, als Mensch, als Person, wertgeschätzt, angenommen und ernstgenommen zu werden. In den Voten des Pastoralgespräches zeigt sich, daß unsere Kirchengemeinden hiervon noch zu wenig geprägt sind. Anstatt sich für die Menschen und deren Fragen und Probleme zu öffnen und sich auf sie einzulassen betreibt die Kirche vielerorts eine Notseelsorge. zahlreichen Die Priester, als eigentliche Seelsorger, Verwaltungsaufgaben überlastet und nur sind noch mit sehr eingeschränkt für die Menschen in den Kirchengemeinden erreichbar. Als 330 Konsequenz dieses Zustandes fordern die Votanten des Pastoralgespräches eine größere Mitsprache und Mitbestimmung von Laien und betonen das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und deren Mitverantwortung Sektenaussteiger Gemeinschaft, für ihre sich etwa Gemeinden. längerfristig der Unabhängig gesehen katholischen davon, einer Kirche, ob religiösen konkret einer Kirchengemeinde anschließen wollen, müssen Gemeindemitglieder ganz bestimmte Voraussetzungen aufweisen, um diesen Menschen angemessen begegnen und mit diesen in Dialog treten zu können. Sektenaussteiger können ihre Vorbehalte und Ängste vor einer erneuten religiösen Bindung nur überwinden, wenn die neue Gemeinschaft ihnen mit Achtung, Offenheit und Ehrlichkeit begegnet. Werden sich möglichst viele Gläubige ihrer Verantwortung als Christen bewußt und nehmen diese wahr, können sie sowohl innerhalb ihrer Gemeinde als auch außerhalb Zeugnis von der Botschaft des Evangeliums geben und auch in ihrem Alltag, in Familie, Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz auf Menschen aufmerksam werden, die aus Sekten ausgestiegen sind. Es kommt äußerst selten vor, daß ein ehemaliger Zeuge Jehovas oder ein ehemaliger Scientologe von sich aus die Initiative ergreift und sich beim Pfarrer einer Gemeinde meldet, um in die Kirche und die Pfarrei aufgenommen zu werden, vorausgesetzt, daß nach einem Ausstieg überhaupt noch Interesse an religiösen Fragen und Angeboten besteht. Um kirchlicherseits mit Sektenaussteigern in Kontakt zu kommen und mit solchen Menschen ins Gespräch zu kommen, sind meist nicht die sogenannten Hauptamtlichen, beispielsweise die Pfarrer, von entscheidender Bedeutung, sondern jedes Gemeindemitglied, das durch seine gesellschaftlichen Kontakte im Beruf, also am Arbeitsplatz, im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft mit zahlreichen Menschen, gerade auch außerhalb des Lebensraumes Gemeinde in Kontakt steht. Die Kirchengemeinde ist und bleibt zwar der wichtigste Ort der Weitergabe des Glaubens, die Anwendung des in der Gemeinde erworbenen Glaubenswissens und die christliche Lebenspraxis zeigen 331 sich aber in den verschiedenen Bereichen des Alltags. Der Christ lebt in der Kirche und in der Welt. Er trägt somit auch eine doppelte Verantwortung für Kirche und die Welt außerhalb der kirchlichen Lebensraumes. Die christliche Verantwortung für den Glauben und der Einsatz für das Reich Gottes betrifft jeden getauften Christen. Diese Tatsache bietet die einmalige Chance, dort, wo ich als Christ im Leben stehe, sei es am Arbeitsplatz, sei es im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft usw., für meinen Glauben Zeugnis abzulegen und offen zu sein, für die Nöte und Sorgen der Menschen um mich herum. Vielleicht ergibt sich gerade in den alltäglichen Bereichen des Lebens die Möglichkeit, in Kontakt mit Menschen zu treten die negative religiöse Erfahrungen in Form von Mißbrauch durch eine Sekte gemacht haben. Haben sich Kontakte zu einem Aussteiger ergeben, so darf das primäres Ziel der Kirchengemeinde nicht die Absicht der Bekehrung des aus der Sekte ausgestiegenen und von deren Vorstellungen ja immer noch irgendwie geprägten Menschen sein, da dieser aufgrund seiner Sensibilität für Manipulationen und Indoktrination den Kontakt mit solchen Gemeindemitgliedern rasch abbrechen würde. Die Erfahrungen, die Sektenaussteiger gemacht haben, dürfen dabei nicht durch überhebliche Äußerungen, etwa Sektenaussteigers durch als eine leichtgläubige mögliche und Verurteilung sektenanfällige des Person, herabgestuft und negativ bewertet werden. Dies widerspräche der Wertschätzung der Person des anderen. Gemeindemitglieder, die sich Aussteigern annehmen wollen, müssen ein hohes Maß an persönlicher und religiös-spiritueller Reife und Empathie aufweisen, um Sektenaussteigern angemessen begegnen, diese beraten und ihnen Hilfestellungen anbieten zu können. Menschen, die sich in der Gemeinde um Sektenaussteiger bemühen, müssen ein fundiertes Glaubenswissen besitzen, da Aussteiger, besonders ehemalige Zeugen Jehovas, dringend auf klärende Gespräche über Glaubensfragen angewiesen sind. Sie haben, wenn auch durch die WTG verzerrte, so doch fundierte Bibelkenntnisse und damit einhergehende Probleme und Fragen, denen sich Gesprächspartner aus den Kirchengemeinden stellen müßten. Daß 332 es um das Glaubenswissen in vielen Gemeinden nicht sehr gut bestellt ist, machen die Ergebnisse des Pastoralgespräches deutlich, wenn dort über eine oftmals unzureichende religiöse Bildung der Gläubigen geklagt wird und zur Behebung dieses Mißstandes die Einrichtung von Seminaren und Glaubensschulungen gefordert wird. In einer Kirchengemeinde sollte es mindestens ein bis zwei Ansprechpartner geben, die über solche Fähigkeiten im besonderen Maß verfügen, die für das Gespräch mit Aussteigern unerläßlich sind. Bei Aussteigern aus Scientology ist das Bedürfnis nach religiöser Anbindung und Klärung von biblischen Fragen meist viel geringer, was vor allen Dingen auf das Lehrsystem der Scientology-Organisation zurückzuführen ist, in dem biblische Lehren keine Rolle spielen. Ein weiteres akutes Problem von Aussteigern, dem sich eine Kirchengemeinde stellen müßte, ist das Verhältnis zwischen der eigenen Organisation und der Welt, also den Menschen außerhalb der eigenen Reihen. Während der Zeit der Sektenmitgliedschaft erfolgte eine strikte Trennung der beiden Bereiche, was sich sowohl bei den Zeugen Jehovas als auch bei Scientology deutlich gezeigt hat. Dies kommt vor allem in der von der Sekte propagierten negativen Weltsicht zum Ausdruck. Die Welt außerhalb der WTG gilt als böses, gottfeindliches, dem Einfluß Satans unterworfenes System. Dagegen stellt die eigene Organisation die ideale, Gott wohlgefällige und durch ihn legitimierte perfekte Gesellschaft dar, der sich jeder anzuschließen hat. Für die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern stellt sich daher die entscheidende Frage nach der Bewertung der eigenen Gruppe und der übrigen Menschen. Hierbei ergibt sich für ein Gespräch mit Sektenaussteigern ein zentrales Problem: Wie sollen religiöse und weltliche Vorstellungen, die sich für die meisten Christen innerhalb der Kirchengemeinden nicht ausschließen, zusammengebracht werden? Die Weltzugewandtheit der katholischer Christen stellt Sektenaussteiger vor enorme Probleme, was sich am eindringlichsten am Beispiel des Feierns von Karneval aufzeigen läßt. Bei der Lösung dieses und anderer Probleme muß ein Christ über ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl verfügen. Pauschale Verurteilungen der 333 Sektenlehre sind nicht ratsam, da sich der Aussteiger immer noch in einem gewissen Maß mit dieser identifizieren kann. Viele Probleme und Fragen von Aussteigern beruhen auf dem von der Sekte vermittelten Gottesbild und der damit verbundenen negativen Einstellung zur Welt. Ein rächend-strafendes Gottesbild, wie es für die meisten Zeugen Jehovas charakteristisch ist, bedarf daher unbedingt einer Korrektur. Dies kann durch spezielle therapeutische Maßnahmen geschehen, wie das therapeutische Vorgehen von Jörg Müller in Form der Methode der Jesus-Imagination gezeigt hat, aber mehr noch ist darüber hinaus die konkrete Kirchengemeinde aufgefordert, den Gedanken eines liebenden, fürsorglichen und versöhnlichen Gottes durch ihr persönliches Lebenszeugnis zu verkünden. Daß die Motivation der Christen in den Kirchengemeinden nicht auf einer Furcht vor dem Eingreifen Gottes beruht, können die Aussteiger im Umgang der Mitglieder untereinander erfahren. Verkündigung, Predigt und persönliches Lebenszeugnis bilden also eine nicht zu trennende Einheit. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Umgang mit Konflikten. Sektenaussteiger haben in diesem Bereich sehr viele negative Erfahrungen gemacht. Ein notwendiges Austragen von Konflikten wurde bisher durch Verordnungen und Gesetze verhindert. Da die Sektenmitglieder über ihre Tätigkeit und negativen Erlebnisse nicht ausreichend reflektieren können und persönliche Bedürfnisse allen Tätigkeiten für die Sekte unterzuordnen sind, ist das Konfliktpotential sehr groß. Die nicht erfolgte Austragung von Konflikten führt zu deren Verdrängung und ist die Hauptursache für psychosomatische Beschwerden. Der Umgang mit Enttäuschungen, mit Kritik, mit eigenen Schwächen und Fehlern, kann nur dort zufriedenstellend ausgetragen werden, wo Menschen sich diesen Dingen offen und ehrlich stellen. Sektenaussteiger müssen dabei erfahren, daß der Wert und die Annahme der eigenen Person durch Gott nicht auf religiösen Leistungen beruht. Das persönliche Heil kann man sich nicht durch Leistungsfrömmigkeit erkaufen. 334 Persönliches Versagen stellt in diesem Zusammenhang keine Minderung des Persönlichkeitswertes dar. Die Fehlerhaftigkeit, die sich in der Kirche und deren Gemeinden zeigt, darf nicht überspielt oder verdrängt werden.864 Die WTG und Scientology werden als perfekte, ideale Systeme dargestellt, die die Mitglieder mit überhöhten Leistungsanforderungen nicht nur motivieren, sondern auch entmutigen, um sie um so stärker an die Sekte zu binden. Die Überforderung der Mitglieder und die damit verbundene Unmöglichkeit des Erreichens bestimmter Ziele zieht ein Ausbleiben von Erfolgserlebnissen nach sich. Bei einem Gespräch mit Aussteigern müssen Christen der Kirchengemeinde Aussteigern vermitteln, daß das Erfüllen von Gesetzen und Vorschriften, die ja auch in der Kirche existieren, nicht zu einem krankmachenden, durch Leistungen geprägten Verhalten führen dürfen. Gott fordert keine perfekten Leistungen, der Mensch steht nicht innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden, um im Konkurrenzkampf mit anderen irgendwelche fragwürdigen Gesetze und Vorschriften zu erfüllen. Lebendiger Glaube erfordert vielmehr eine zeitweise Reflexion über das eigene Leben, dabei spielen das Bemühen des Menschen und vor allem das persönliche Gewissen eine zentrale Rolle. Das persönliche Gewissen ist letztlich die Instanz, vor der ein Christ seine Entscheidungen rechtfertigen muß. Die Furcht vor möglichen Sanktionen, wie bei den Sekten sollte in der Kirchengemeinde keine Rolle spielen. Sektenaussteiger benötigen also ein Umfeld, das auf ihre persönlichen Fragen und Problemen angemessen reagieren kann und Hilfestellung bieten kann. Dies bedeutet für die Kirchengemeinden eine große Herausforderung. Die von Zulehner aufgeworfenen und von den Votanten des Pastoralgesprächs aufgegriffenen Elemente für eine Gemeindeerneuerung sind hilfreiche Anregungen, um dem Ziel der angemessenen Begegnung und eventuell einer Aufnahme von Sektenaussteigern in unsere Kirchengemeinden näher zu kommen. Ob unsere Gemeinden Aussteigern letztlich eine neue Heimat bieten können, 864 Auch in den Voten des Pastoralgespräches wird das Verdrängen von Fehlern in den kirchlichen Reihen beklagt. Dies trägt nach Meinung der Votanten zur Unglaubwürdigkeit der Kirche nach außen hin bei. 335 hängt neben der Lösung der dargelegten Fragen und Probleme von Aussteigern und der Reaktion der Gemeinden auf diese nicht zuletzt von der für den Glauben entscheidenden Gnade Gottes ab. Die Kirchengemeinden können auf jeden Fall einiges tun, um diesen Prozeß voranzubringen. Neben den von Zulehner empfohlenen und von den Votanten des Kölner Pastoralgespräches geforderten Veränderungen innerhalb der Kirche und den Kirchengemeinden soll in einem letzten Abschnitt auf die Kirche Brasiliens und die diese prägende Theologie der Befreiung eingegangen werden. Die Kirche Brasiliens wird oft als eine Kirche auf dem Weg zu den Menschen bezeichnet und verwirklicht den für unsere Gemeinden notwendigen Gedanken der in den Voten des Pastoralgespräches mit dem Begriff „Geh-Hin-Kirche“ bezeichnet worden ist. Nach einer Darlegung zentraler Gesichtspunkte des befreiungstheologischen Konzeptes soll anschließend auch hier nach Anknüpfungspunkten gefragt werden, die für eine Gemeindeerneuerung im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern relevant sein können sowie für die grundlegende Frage nach der Motivation eines solchen Anliegens. 3 Die Kirche Brasiliens als Beispiel für eine Kirche auf dem Weg zu den Menschen Indem sich die Kirche für eine gerechte Verteilung von Lebenschancen, für Menschenwürde und Gerechtigkeit einsetzt, erfüllt sie einen entscheidenden Teil ihres missionarischen Auftrags. Dies geschieht jedoch nie losgelöst vom Evangelium Jesu Christi, welches das Fundament ihrer Existenz und die Richtschnur für die Evangelisierung der Kirche und der Welt darstellt. Am Beispiel der Kirche Brasiliens wird deutlich, wie sich ein Bewußtseinswandel der Armen und Unterdrückten innerhalb der Gesellschaft und der Kirche vollzogen hat. Diese im folgenden 336 dargestellten Veränderungen hin zu einer Kirche für die Menschen wären ohne die Theologie der Befreiung nicht denkbar. Deshalb sollen einige Grundzüge der Befreiungstheologie, wie sie für Lateinamerika charakteristisch ist, aufgezeigt werden und anschließend danach gefragt werden, welche Bezugspunkte es im Hinblick auf eine Veränderung der kirchlichen Situation in Deutschland gibt, um auch bei uns der Kirche einen neuen Weg zu den Menschen aufzuzeigen. 3.1 Die Befreiungstheologie als Begriff „Befreiung“ ist der zentrale und namengebende Begriff der Befreiungstheologie. Doch wovon soll befreit werden? Es existieren vor allem drei Ebenen auf denen eine Befreiung stattfinden kann. Die erste Ebene stellt eine Befreiung von politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit dar. Dabei geht es um die Befreiung der Menschen von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung. Ungerechte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen sollen aufgedeckt und verändert werden. Die Abhängigkeit und Unterdrückung der Länder der dritten Welt sind hierfür ein gutes Beispiel. In Hinblick auf diese Länder läßt sich sagen: „Befreiung hieße hier konkret, Strukturen zu schaffen, die eine Abhängigkeit möglichst ausschließen, so daß die eigenständige Entwicklung eines jeden Landes gewährt wäre [...].“865 Die alleinige Veränderung von Strukturen wäre jedoch nicht ausreichend, um eine wirkliche Verbesserung der Lebensqualität und ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung zu gewährleisten. Die Veränderung des menschlichen Denkens muß ebenfalls erfolgen. „Da den Strukturen menschliches Denken und Handeln zugrunde liegt und die Strukturen umgekehrt die in ihnen lebenden Menschen beeinflußt, also eine 865 Wechselwirkung vorhanden ist, müssen die Vgl. Kinzel, Klaus-Michael, Befreiungstheologie in Deutschland? (Religionspädagogische Perspektiven, Bd. 23), Essen 1995, 13f. Befreiung von 337 ungerechten Strukturen und die Befreiung des Menschen zeitgleich verlaufen [...].“866 Die Veränderung des menschlichen Denkens und Handelns stellt also die zweite Ebene für eine Befreiung dar. Schließlich ist das getrübte Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen zu nennen. Eine wesentliche Sünde besteht im eigenen Egoismus, der nur auf den eigenen Vorteil auf Kosten der anderen Menschen bedacht ist. Die Theologie der Befreiung bezieht alle drei genannten Ebenen in ihr Blickfeld ein und versucht, sündhafte Verhaltensweisen und ungerechte Strukturen aufzudecken und ihnen auf der Grundlage des christlichen Glaubens entgegenzutreten. 3.2 Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie Mit der Eroberung des südamerikanischen Kontinents durch Spanier und Portugiesen begann auch die Missionierung der einheimischen Bevölkerung und ihre Bekehrung zur katholischen Kirche. Die Eroberer waren die neuen Herren der unterjochten Völker und auch viele Missionare machten sich die militärische und vermeintlich kulturelle Überlegenheit der europäischen Kultur zunutze, um die Urbevölkerung der katholischen Kirche zuzuführen. Es kam allerdings immer wieder zu einem Aufbegehren gegen das unmenschliche und von Brutalität gekennzeichnete Vorgehen der Eroberer, dem christliche Missionare wie der Dominikaner Bartolomé de Las Casas entgegentraten. Über die persönliche Bekehrung des Bartolomé de Las Casas von einem Plantagenbesitzer zu einem Verteidiger der Rechte der indianischen Bevölkerung Südamerikas berichtet Leonardo Boff, einer der bekanntesten Vertreter der Befreiungsstheologie: „Bevor Bartolomé de Las Casas (1484 – 1566) Dominikaner, Bischof von Chiapas und großer Verteidiger der Urbevölkerung wurde, war er selbst in Hispaniola (heute Dominikanische Republik) Besitzer einer Kommende mit zahlreichen 866 Kinzel, 14. 338 Sklaven gewesen. 1502 kommt Las Casas nach Hispaniola. Dort hört er 1510 Fray Pedro de Córdoba seine berühmte Predigt über die Lage der Ureinwohner halten. Die Predigt legt in ihm das Samenkorn zu seiner Bekehrung. Vier Jahre später verzichtet er auf die Kommende und entwickelt sich fortan zu einem großen Verteidiger der einheimischen Bevölkerung.“867 Doch im großen und ganzen blieb die Kirche Lateinamerikas eine Kirche der Herrschenden. Urbevölkerung, jedoch Es blieben erfolgten die zwar Massentaufen Menschen meist ohne der eine angemessene Seelsorge sich selbst überlassen und pflegten weiterhin ihre traditionellen religiösen und kulturellen Bräuche. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschah dann eine einschneidende Veränderung des Denkens und Handelns der katholischen Kirche Südamerikas. Ursachen dieser Veränderung war vor allem die in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Lage Brasiliens. Die Welt wurde der wirtschaftlichen Situation entsprechend in eine erste, zweite und dritte Welt eingeteilt, zu welcher auch der südamerikanische Kontinent zählt. Die Drittweltländer gerieten in eine zunehmende finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit der Erstweltländer. Einer kleinen, vermögenden und unterdrückenden Oberschicht stand zunehmend die Masse der gegenüber. verarmten Dies unterdrückten veranlaßte einige und rechtlosen Bischöfe, die Bevölkerung Ursachen der bedrückenden Entwicklung zu erforschen. Auch christliche Gruppierungen und Vereine, allen voran die „Katholische Aktion“, engagierten sich für die Belange der verelendeten Menschen. „Diese [= Katholische Aktion], und das ist für das richtige Verständnis von Befreiungstheologie wichtig, beschränkte ihr Wirken ebenfalls nicht auf den kirchlichen Binnenraum, sondern war vorwiegend in den Landarbeitergewerkschaften tätig [...].“868 Doch die gesellschaftliche und politische Lage verschlechterte sich derart, 867 Vgl. Boff, Leonardo, Gott kommt früher als der Missionar. Neuevangelisierung für eine Kultur des Lebens und der Freiheit, Düsseldorf 1991, 131ff. 868 Vgl. Kinzel, 20. 339 daß immer mehr Priester und Bischöfe sich mit den Armen und Unterdrückten solidarisierten und das die Mächtigen unterstützende System kritisch hinterfragten. Mit dem Interesse und dem Einsatz vieler Priester und Bischöfe für das arme Volk wuchs zugleich der Einfluß und das Engagement der einfachen Menschen in und für die Kirche. Man kann daher sagen: „Die Theologie der Befreiung ist also nicht eine am Schreibtisch von Theologen entstandene Theologie, die ein Konzept für die Unterstützung der Armgemachten darstellen soll, sondern eine Theologie, die als Reflexion auf den Befreiungskampf der unterdrückten Massen aus der Sicht des Evangeliums der Armen gesehen werden muß [...].“869 Die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erfolgten Reformen innerhalb der Kirche ließen auch die Theologie der Befreiung in höherem Maß als bisher zum Gegenstand des Interesses der Kirche werden. In den Jahren 1968 und 1979 fanden Generalversammlungen der Bischöfe Lateinamerikas statt, bei denen die Befreiungstheologie im Mittelpunkt stand. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es jedoch zunehmend zu Spannungen mit dem Vatikan, wobei die Nähe der Befreiungstheologie zum Kommunismus für den Vatikan ein wesentlicher Stein des Anstoßes war. Diese Auseinandersetzungen hatten eine Besetzung wichtiger Bischofsstühle Lateinamerikas mit Bischöfen zur Folge, die die Befreiungstheologie ablehnten. Auf der vierten Generalsynode in Santo Domingo führten die Auseinandersetzungen über die Befreiungstheologie schließlich zu einer Spaltung dieser Versammlung. Das damals herrschende frostige Klima läßt sich wie folgt beschreiben: „Zwei Richtungen der lateinamerikanischen Kirchen standen sich dort gegenüber: die befreiungstheologische Richtung mit ihrer Option für die Armen und eine Richtung, die die vatikanischen Positionen vertrat.“870 Diese beiden Richtungen kennzeichnen bis heute lateinamerikanischen Kirche. 869 870 Kinzel, 21. Ibid., 22. die Situation der 340 3.3 Charakteristika der Theologie der Befreiung 3.3.1 Entwicklung und Gesellschaft Die Entwicklungstheorie sieht die Armut der Entwicklungsländer als unterste Stufe auf dem Weg zu einer entwickelten und fortschrittlichen Industriegesellschaft an. Durch Entwicklungshilfe sollten die Länder der dritten Welt nach und nach den Lebensstandard der Erstweltländer erreichen. Auf diesem Wege wolle man allen Menschen zu Wohlstand verhelfen. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Befreiungstheologie übernahm daher die Dependenztheorie (Theorie der Abhängigkeit der dritten Welt von den Industrieländern), die die Hauptursache aller Ungerechtigkeit in einem „Ungleichgewicht zwischen Erster und Dritter Welt“ sieht. Deshalb macht auch die Befreiungstheologie das Weltwirtschaftssystem für die politischen und wirtschaftlichen Mißstände Lateinamerikas verantwortlich.871 3.3.2 Option für die Armen Hunger und Armut in der Welt sind nach Überzeugung der Befreiungstheologen nicht gottgewollt. Armut wird hierbei nicht nur als materielle Armut gesehen, sondern meint auch gesellschaftliche Diskriminierung in Form von rassischer, ethischer und sexueller Unterdrückung. Armut ist in Beziehung zum ganzen Menschen zu sehen. „So gehören zu den Folgeerscheinungen von Armut oftmals auch z.B. zerrüttete Familien, weil sie durch die zusätzlichen Belastungen auseinandergebrochen sind.“872 Kirchliche Hilfe für Arme und Unterdrückte ist meist Hilfe zur Selbsthilfe. Die moralische Aufrichtung, die geistige Unterstützung in Form eines neuen Selbstbewußtseins ist ein entscheidender Schritt zur Verbesserung 871 872 Kinzel, 25. Ibid., 27. 341 der Situation. Christliche Selbsthilfegruppen und Gewerkschaften stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl und stellen den Menschen ein gemeinsames Ziel vor Augen. Doch die Veränderungen sollen vor allem auch auf der Grundlage des Evangeliums erfolgen. „Eine Option für die Armen ist nach Ansicht der Befreiungstheologen nicht allein durch eine ethisch begründete Betroffenheit und auch nicht allein durch ein bestimmtes Glaubensverständnis gedeckt, sondern auch durch die Bibel selbst.“873 Denn Gott ist es, der die Armen letztlich befreit und ihnen ein neues, freies und selbstgestaltetes Leben ermöglicht. 3.3.3 Die Bedeutung der lateinamerikanischen Basisgemeinden und ihre Stellung gegenüber den Pfarreien und der Gesamtkirche Die Basisgemeinschaft kann als „organisatorische Form“ des konkreten „brüderlichen Lebens in Jesus Christus“ in der Welt verstanden werden.874 Die in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern anzutreffenden Basisgemeinden sind ein solidarischer Zusammenschluß derjenigen Menschen, die von ungerechten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenschluß der Strukturen Betroffenen betroffen findet in sind. den „Dieser einzelnen Basisgemeinden, die in der Regel aus 20-30 Familien bestehen und vornehmlich auf dem Land und den Favelas der Städte zu finden sind, seine Konkretisierung [...].“875 Die Theologie der Befreiung kommt in den Basisgemeinden praktisch zur Anwendung. Die Mitglieder der kleinen überschaubaren Gruppen dieser Gemeinden tragen dasselbe Schicksal. Sie leiden unter Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Unterbezahlung. Der Zusammenschluß zu einer Basisgemeinde, die auch eine Lebensgemeinschaft einschließt, geschieht aus gemeinsamer Not heraus, wobei der christliche Glaube die innere Antriebskraft und die Garantie 873 Kinzel, 29. Vgl. Piepke, Joachim G., Die Kirche auf dem Weg zum Menschen. Die Volk-GottesEkklesiologie in der Kirche Brasiliens, Immensee 1985, 210. 875 Vgl. Kinzel, 31. 874 342 hierfür darstellt, ja noch mehr: „Die Basisgemeinschaft stellt die eigentliche Hauskirche dar, wie sie seit den Anfängen des Christentums bekannt ist, weil sie sich auf das Fundament der Familiengemeinschaft und ihrer Solidarität gründet.“876 Die Überforderung der Einzelfamilie in bezug auf eine Erstevangelisierung aufgrund der allgemeinen Wertediffusion fordert alternative Strukturen, um Menschen aus ihrer Anonymität der Massengesellschaft und aus ihren Nöten zu befreien. Die Schaffung neuer gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens in der Gestalt von Basisgemeinden, in welchem auch der Glaube wachsen und reifen kann, vermittelt eine neue Art der Sinngebung und dient der Wahrnehmung der eigenen Verantwortung für Kirche und Welt. Der eigentliche Grund für die Entstehung der Basisgemeinschaften liegt in der pastoralen Notsituation Brasiliens begründet. Der immer akuter werdende Priestermangel als Symptom einer Überforderung der traditionellen Kirchenstruktur führte in Brasilien zu einem vermehrten Engagement der Laien, um die pastorale Betreuung auch weiterhin gewährleisten zu können. „Die Aktivierung der Basisgemeinschaften bedeutet für die kirchliche Hierarchie eine aktuelle pastorale Antwort auf die allmähliche Entfremdung des Volks von der Kirche und eine neue konkrete Möglichkeit, die Botschaft des Evangeliums im Alltag der modernen Gesellschaft einzupflanzen.“877 Durch die Schaffung von Basisgemeinden als Ergänzung zur traditionellen Pfarrei wird die Pfarrei wesentlich entlastet. Die Basisgemeinschaft schlechthin existiert allerdings nicht. Jede dieser Gemeinschaften muß auf die spezifischen Probleme, auf das Suchen und Fragen, an das jeweilige Umfeld ihrer Mitglieder angepaßt sein. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ist jede Basisgemeinschaft eine Kirche im eigentlichen Sinne. Sie bleibt mit dem hierarchischen Amt der Kirche, das heißt mit Priestern und Bischöfen, eng verbunden. Durch die Nähe zu allen Menschen, durch die Teilnahme am Leben der Kirche und der Welt, wird eine Abkapselung und einem Sonderdasein entgegengewirkt. Die Solidarität untereinander bewirkt auch eine Stärkung des einzelnen Menschen, der innerhalb der Gruppe ein neues Selbstbewußtsein und 876 877 Vgl. Piepke, 210. Ibid., 211. 343 Selbstwertgefühl entwickeln kann. Vor allem aber kommt hier die gemeinschaftliche solidarische Sichtweise des christlichen Glaubens und des Evangeliums zum Tragen, indem Gottes Wort im Alltag erfahr- und erlebbar wird. Der Glaube bekommt eine verändernde und aktuelle Bedeutung für das Alltagsleben. „Damit wird ein Glaubensverständnis, das eventuell mehr auf das Jenseits bezogen war, auf das Diesseits verlagert. Durch die regelmäßigen Treffen und das gemeinsame Angehen von Problemen verbessert sich auch das Miteinander. Es entsteht eine Solidarität der Basisgemeindemitglieder, die sich auch auf die weitere Umgebung übertragen kann [...].“878 Die Beurteilung der gesellschaftspolitischen Situation aus der Sicht der Bibel bewirkt ein Politisierung des Glaubens, wodurch der christliche Glaube zu einem entscheidenden Faktor in der Gesellschaft wird. Die gegenseitige Durchdringung von Glaube und Leben verringert die Distanz zwischen Priestern und Gläubigen, die in Deutschland beispielsweise oftmals als hinderlich empfunden wird. Verglichen mit der Gesamtkirche Brasiliens sind die Basisgemeinden nur eine Minderheit innerhalb der katholischen Kirche Brasiliens, Repressionsmaßnahmen der jedoch mit Regierung großer und die Wirkung. Die zahlreichen lateinamerikanischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts lassen die Gefahr dieser Gemeinden für die Herrschenden und ein auf Ausbeutung und Unterdrückung gegründetes System deutlich werden. „Das Ideal der Heiligkeit, das in der Basisgemeinschaft angestrebt wird, besteht in der sich aufopfernden Hingabe für die Brüderlichkeit, welche Verfolgung, Verlust des Arbeitsplatzes, Verzicht auf ein bequemes Leben, sogar Gefängnis und Folter auf sich nimmt.“879 Die gelebte Brüderlichkeit läßt die Katholizität der Basisgemeinschaften besonders deutlich werden, da durch sie alle Bevölkerungsgruppen, vor allem aber die Masse des armen Volkes erreicht werden. „Das Reich Gottes mit seiner Forderung zur Umkehr und zur Hinkehr zu den Werten 878 879 Vgl. Kinzel, 32. Vgl. Piepke, 213. 344 des Evangeliums wird gleichermaßen allen angeboten.“880 Durch die Einheit von Glaube und Leben werden auch nicht religiös gebundene oder religiös anderweitig orientierte Menschen erreicht. Hierbei steht weniger der Glaube in Form der Lehre im Vordergrund, als vielmehr die Übereinstimmung des Geglaubten mit der eigenen Lebenspraxis. Innerhalb der Gesamtkirche sind die Basisgemeinschaften in ihrer Verbindung zu den geweihten Amtsträgern der Priester und Bischöfe ein authentisches Glaubens- und Lebenszeugnis der Kirche. „Auch die kleine Gemeinschaft der Gläubigen gibt Zeugnis der Einheit, der Mitverantwortung, des Sich-verstehens, der Mitarbeit, der Integration und des organischen Wachstums auf allen Ebenen kirchlicher Existenz und Dienstes.“881 Der im Neuen Testament geforderte Einsatz der verschiedenen Charismen kann in der Basisgemeinde in einzigartiger Weise verwirklicht werden. Die Kirche ist hier nicht bloß in statischinstitutioneller Weise vorhanden, etwa durch den bloßen Vollzug der offiziellen Liturgie, sondern „sie wird zum Ereignis, sie geschieht in der Zelebration des alltäglichen Lebens des Volks, das in Wort und Sakrament Gottes Menschwerdung und Christi Auferstehung als Zeichen der Hoffnung einer besseren Welt und der Verpflichtung auf ein brüderliches Hier und Heute inmitten einer anonymen Masse einpflanzt, um die Nachfolge Christi im radikalen Dienst am Mitmenschen zu vollziehen.“882 880 Piepke, 213. Ibid., 214. 882 Ibid., 215. 881 345 3.4 Befreiungstheologische Anknüpfungspunkte für eine Verbesserung der kirchlichen Situation in Deutschland im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern sowie eine mögliche Integration von Aussteigern in Kirchengemeinden Das zentrale Anliegen der Theologie der Befreiung stellt die Befreiung des Menschen von politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit dar. Dabei spielt die Befreiung von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung eine zentrale Rolle. Dieses Anliegen konkretisiert sich besonders in der Option für die Armen, wobei unter Armut nicht nur ein Mangel im materiellen Bereich zu verstehen ist, sondern Armut wirkt sich auf den ganzen Menschen aus und schließt auch schwierige Lebenssituationen von Menschen in Form von seelischen und religiösen Nöten mit ein. Diese umfassende Sichtweise von Armut bietet einen entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Frage, welche möglichen Aspekte der Theologie der Befreiung hilfreich sein können, um eine Verbesserung der Situation unserer deutschen Kirchengemeinden im Hinblick auf die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern zu erzielen, um diese eventuell in eine Kirchengemeinde aufnehmen zu können. Sektenaussteiger sind Menschen, die auch nach einem Ausstieg vielfältige Probleme und Fragen mit sich herumtragen. Die Situation von Aussteigern ist dabei manchmal von materieller Not geprägt, besonders, wenn ein ehemaliges Mitglied innerhalb der Sekte eine Vollzeittätigkeit ausgeübt hat, aber mehr noch ist sie geprägt von seelischen und religiösen Nöten, von Problemen und Fragen, denen sich eine Kirchengemeinde im Falle des Kontaktes mit Aussteigern stellen muß. Welchen Beitrag für eine Motivation sich um Aussteiger zu bemühen und welche möglichen Hilfen für ein fruchtbares Gespräch beziehungsweise für eine eventuelle Aufnahme von Aussteigern in eine Gemeinde lassen sich anhand der Theologie der Befreiung entwickeln? Bei der Option für die Armen stellt neben der materiellen Unterstützung die moralische Aufrichtung, die geistige Unterstützung in Form eines 346 neuen Selbstbewußtseins einen entscheidenden Schritt zur Verbesserung der Lage von in Not geratenen Menschen dar. Grundlage für jeglichen Einsatz für solche Menschen ist das Evangelium, denn nach christlicher Überzeugung ist es letztlich Gott, der die Armen befreit und das menschliche Leben von Grund auf erneuert. Daß dies durch konkrete Menschen geschieht, liegt auf der Hand. Ungerechte Zustände, Leiden und Not sind keine gottgewollten Zustände und erfordern daher den Einsatz der Christen für in Not geratene Menschen um des Evangeliums willen. Unerläßlich für eine effiziente Hilfe ist neben der materiellen Unterstützung eine Veränderung des menschlichen Denkens und Handelns und ein daraus erwachsendes neues Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen. Gerade Sektenaussteiger als Menschen, denen diese Option für die Armen gelten soll, sind auf die Hilfe von aktiven Christen angewiesen. Das Bewußtsein, das die ganze Gemeinde Träger des Geistes Gottes ist, daß sie somit als ganze Verantwortung für die Kirche und die Welt trägt, ist die Voraussetzung für eine solche Forderung einer Option für die Armen, das heißt, eines konkreten Einsatzes für diese Menschen. Die Verbindung von Glaube und Leben, das heißt die positiven Auswirkungen des Glaubens in den Situationen des Alltags, die in den Ausführungen über die Theologie der Befreiung und die Basisgemeinden deutlich wird, ist ein entscheidender Faktor, um für die Not von Menschen in allen Lebensbereichen sensibel zu sein, in der Verwandtschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz. Da Sektenaussteiger in den seltensten Fällen auf den Pfarrer, Diakon, Pastoralreferenten oder andere Gläubige zugehen, um von diesen Hilfestellungen in Bezug auf Glaubens- und Lebensfragen zu erbitten, muß die Kirche, im Sinne einer Geh-Hin-Kirche auf die Menschen zugehen und in den alltäglichen Begegnungen offen sein für die Anliegen, Sorgen und Nöte der Mitmenschen. Dies erfordert von Gemeindemitgliedern neben einem religiösen Wissen ein hohes Maß an geistig-spiritueller Reife, man könnte sagen, eine Spiritualität des Alltags, eine Sensibilität für das Wirken Gottes, für Gotteserfahrungen inmitten des alltäglichen Miteinanders in sämtlichen Lebenssituationen. Der von der Theologie der Befreiung ausgehende Gedanke der Einheit von Glaube 347 und Leben, einem Glauben, der mit Verantwortung für die Kirche und die Welt einhergeht, und für dessen Glaubwürdigkeit eine Option für die Armen wesentlich ist, kann sich gerade im Einsatz für Sektenaussteiger konkretisieren. Eine angemessene Begegnung mit Aussteigern, ein fruchtbares Gespräch mit diesen im Hinblick auf eine mögliche Integration solcher Menschen in eine Kirchengemeinde kann nur gelingen, wenn eine Gemeinde sich mit diesen Menschen solidarisiert, das heißt, wenn sie diese Menschen ernstnimmt, wenn sie diese trägt, wenn Aussteiger erfahren können, daß eine Gemeinde ein Ort ist, an dem offene Begegnungen und positive Gotteserfahrungen möglich sind, daß eine Gemeinde glaubwürdig ist durch das Wahrnehmen von Verantwortung, durch ihr konkretes Handeln. Auf diese Weise können auch unsere Kirchengemeinden zu Orten des Glaubens werden, die ihren missionarischen Auftrag im Sinne eines Hin-Gehens zu den Menschen glaubwürdig erfüllen. 4 Ausblick: Christliche Spiritualität des Alltags auf der Grundlage des „Dreifachen Weges“ nach Henri J. M. Nouwen – ein bedenkenswerter Ansatz für unsere Kirchengemeinden im Hinblick auf Probleme und Fragen von Sektenaussteigern und ihre mögliche Integration in unsere Gemeinden Um Sektenaussteigern angemessen begegnen zu können, sich ihren Problemen und Fragen zu stellen, ist es entscheidend, ihnen zunächst das Gefühl des Angenommenseins, des Willkommenseins zu vermitteln, man kann mit Henri Nouwen sagen, ihnen ein guter Gastgeber zu sein. In seinem Buch „Der dreifache Weg“ beschreibt Nouwen mit spiritueller Tiefe und Klarheit einen dreifachen Weg geistlichen Lebens: von der Einsamkeit zur stillen Einkehr, von der Feindseligkeit zur Gastfreundschaft, von der Illusion zum Gebet. Nouwen ist der Ansicht, daß dieser von ihm dargelegte dreifache Weg notwendig ist, um zu einem wirklichen geistlichen Leben zu finden, das sich zeigt in der Kenntnis und Annahme 348 der eigenen Person, in der Liebe zu unseren Mitmenschen und in einer Beziehung zu Gott, die durch das Gebet getragen wird. Ich möchte hier besonders den herausgreifen Gedanken und ihn in der Liebe Beziehung zu unseren setzen zur Mitmenschen Situation von Sektenaussteigern. Die Liebe zu den Mitmenschen kommt besonders dort zum Ausdruck, wo wir unseren ausschlaggebend, Mitmenschen gute inwieweit als wir Gastgeber Christen in sind. der Dabei Lage ist sind, Feindseligkeit in Gastfreundschaft zu verwandeln. Fremde Menschen und Dinge lösen beim Menschen oft ein Gefühl der Unsicherheit, der Angst und daraus resultierende Feindseligkeit aus, die eine Abwehr des unangenehmen Gefühls der Unsicherheit und Angst ist. Fremdheit schließt dabei ebenso den Prozeß der Entfremdung mit ein. Die Feindseligkeit aufgrund von Entfremdung und deren Folgen für das menschliche Leben beschreibt Nouwen wie folgt: „In unserer Welt mit ihrer Fülle von Fremden, die ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Kultur und ihrer Heimat, ihren Nachbarn, Freunden und Verwandten, ja, sogar ihrem eigenen Ich und ihrem Gott fremd geworden sind, können wir beobachten, wie man unter Schmerzen nach gastlichen Stätten sucht, an denen man ohne Furcht sein kann.“883 Die Pflicht eines Christen besteht nach Nouwen darin, diesen Fremden eine Tür zu öffnen und ihnen ein Heim und eine Heimat zu bieten. Dies geschieht nach Nouwen durch das Ablegen der Fremdheit, wodurch die anderen zu unseren Mitmenschen werden. Diese Aussagen von Nouwen bieten eine hilfreiche Anknüpfungsmöglichkeit im Hinblick auf die Situation von Sektenaussteigern. Auch der Sektenaussteiger ist für die Christen einer Gemeinde zunächst einmal ein Fremder, ein Mensch, der aufgrund des Lebens in und für die Sekte auch nach seinem Ausstieg von den Erfahrungen mit der Sekte und bestimmten Verhaltensweisen geprägt ist. Ebenso sind die Christen für den Sektenaussteiger Fremde, denen nicht zuletzt durch die Herabsetzung der Kirchenchristen durch die Sekte, besonders der Zeugen Jehovas, in den Augen des Aussteigers mit Vorsicht zu begegnen ist. Um einem 883 Nouwen, Henri J. M., Der dreifache Weg, Freiburg i. Br. 1984, 58. 349 Sektenaussteiger angemessen begegnen zu können und ihm womöglich eine neue Heimat bieten zu können, muß zunächst die gegenseitige Fremdheit abgebaut werden. Obwohl das Bemühen um Fremde nach Meinung Nouwens zum Wesen christlicher Spiritualität gehört, ist dies nicht immer leicht zu verwirklichen. Um auf andere Menschen offen zugehen zu können, muß sich ein jeder über seine eigenen Fehler, seine Ecken und Kanten im klaren sein. Selbsterkenntnis und die Annahme der eigenen Person sind Voraussetzungen für einen angemessenen, offenen, freundlichen und letztlich freundschaftlichen Umgang mit anderen Menschen. Gerade Sektenaussteiger sind auf einen solchen offenen, freundlichen und freundschaftlichen Umgang angewiesen. Daß einem Sektenaussteiger von Seiten einer Gemeinde nicht mit besserwisserischen, überheblichen Verhaltensweisen begegnet werden darf, ist bereits des öfteren erwähnt worden. Aktive Christen, die zu solchen Menschen Kontakte unterhalten, dürfen dies nicht mit der Absicht der Bekehrung tun und dem Wunsch, einen solchen Menschen möglichst rasch der eigenen Gemeinde zuzuführen. Einem solchen Menschen muß vielmehr mit Gastfreundschaft im Sinne von Nouwen begegnet werden. Dabei besteht diese Gastfreundschaft nicht darin, „Menschen zu verändern, sondern darin, ihnen den Raum zur Verfügung zu stellen, in dem Veränderung vor sich gehen kann. Sie besteht nicht darin, Männer und Frauen auf unsere Seite zu ziehen, sondern darin, eine Freiheit anzubieten, die von Parteigrenzen nicht beeinträchtigt wird.“884 Für die Begegnung und das Gespräch von aktiven Christen mit Sektenaussteigern bedeutet dies nicht, daß ein Christ einem Aussteiger seine Glaubensüberzeugung nicht kundtun darf, im Gegenteil, Aussteiger haben ja Probleme und Fragen, denen sich eine Gemeinde stellen muß, aber der eigene Standpunkt darf einem Aussteiger nicht aufgedrängt werden. Nouwen spricht im Zusammenhang mit der Darlegung der eigenen Position von Kompromißlosigkeit. „Dem Fremdling gegenüber gastfrei zu sein, heißt nicht, daß wir zum neutralen Niemand werden müßten.“885 Beziehungen zeichnen sich nach 884 885 Nouwen, 65. Ibid., 93. 350 Nouwen sowohl durch Gastfreundschaft als auch durch Kompromißlosigkeit aus, zwischen denen ein Mensch, gerade ein gläubiger Christ abwägen muß. Als eine gute Schule der Gastfreundschaft bezeichnet Nouwen die Armut. Unter Armut versteht er dabei die Abwesenheit des eigenen Verlangens nach völliger Erfüllung, um für andere Menschen leer zu sein. 886 Der Gedanke der Armut verhindert die Vorstellung etwas verteidigen zu müssen und begünstigt so die Fähigkeit, anderen angstfrei, offen und ehrlich begegnen zu können. Dabei unterscheidet Nouwen zwei Formen von Armut, Geistesarmut und Herzensarmut. Geistesarmut ist für ihn die Voraussetzung um für andere offen zu sein und ihnen zuhören zu können. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Unschwer kann man sehen, wie diejenigen, die schon alles wissen, ein Gespräch abwürgen und einen Gedankenaustausch verhindern können.“ 887 Die Geistesarmut ist eine geistliche Haltung, die das eigene Nichtwissen nicht aus den Augen verliert. Nouwen spricht in diesem Zusammenhang von einer „docta ignorantia“, einer „Gelehrsamkeit, die nichts weiß“.888 Auf diese Weise wird der Gesprächspartner ernst genommen und hat nicht den Eindruck bevormundet oder gar beschämt zu werden. Diese Haltung müssen sich Christen, die mit Sektenaussteigern umgehen, unbedingt zu eigen machen, denn auf eine Bevormundung, wie sie in der Sekte erfolgt ist, reagieren Aussteiger sehr sensibel, was zu einem Hindernis für eine echte Begegnung und ein fruchtbares Gespräch werden kann, beziehungsweise die Beziehung zwischen beiden Gesprächspartnern beenden kann. Die zweite Form der Armut ist die Herzensarmut. Nouwen meint, es gebe bei vielen Christen zwar ein inneres Erlebnis, eine Gotteserfahrung im Herzen des Menschen, jedoch kritisiert er, daß einige meinen, ihr Weg der persönlichen Gotteserfahrung sei der einzig wahre und für alle verbindliche. 886 Vgl. Nouwen, 97. Ibid., 98f. 888 Ibid., 99. 887 351 Dies kann anderen gegenüber zu Belehrung und Bevormundung führen. Ein solches Herz bezeichnet er als „aufgeblasen“.889 Um diese geistliche Haltung der Herzensarmut zu verdeutlichen, zitiert Nouwen einige Sätze von Johann Baptist Metz, der in diesem Zusammenhang meint, der andere könne in seiner Einmaligkeit nur wirklich bei uns ankommen, wenn wir uns ganz vergessen können, uns völlig zurücknehmen können.890 Für die Begegnung und das Gespräch mit Sektenaussteigern sind meines Erachtens neben der von der Theologie der Befreiung geforderten Option für die Armen auch diese beiden von Nouwen beschriebenen geistlichen Haltungen der Geistesarmut und der Herzensarmut für unsere Kirchengemeinden notwendig, um Sektenaussteigern mit ihren Problemen und Fragen in einer von dieser Gastfreundschaft geprägten Atmosphäre begegnen zu können und ihnen vielleicht auch eine neue Heimat in der Gemeinde bieten zu können. 889 890 Vgl. Nouwen, 102. Ibid. 352 Literaturverzeichnis Abel, Ralf B., Scientology. 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