Preis der Schuld

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Preis der Schuld
Michael Harvey
Preis der Schuld
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von
Anke und Eberhard Kreutzer
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007
unter dem Titel »The Chicago Way« bei Alfred A. Knopf, New York
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe März 2010
Copyright © 2007 by Michael Harvey
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe
by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Gettyimages / Hiroyuki Matsumoto
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50251-8
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Zum Gedenken an
Michael Marchetti
2002 – 2005
Fallon O’Toole McIntyre
2002 – 2004
Matthew Christian Larkin
1958 – 1999
Der Wut kann man sich kaum widersetzen.
Denn was immer sie erstrebt, erkauft sie mit
dem Leben.
Heraklit
Du willst Capone erwischen? Also, das geht so.
Er zieht ein Messer, du ziehst eine Knarre. Er
bringt einen von deinen Leuten ins Krankenhaus, du bringst einen von seinen ins Leichenschauhaus. So macht man das in Chicago …
Sean Connery als Officer Jim Malone in
Die Unbestechlichen
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ch saß im ersten Stock eines dreistöckigen Mietshauses an der North Side von Chicago. Draußen
blies der »Hawk«, jener berüchtigte scharfe Wind,
vom See herüber und stemmte sich gegen die Erkerfenster. Es machte mir nichts aus. Ich hatte die Füße
hochgelegt und arbeitete bei einer Tasse Earl Grey an
meiner Liste der zehn größten Momente in der Geschichte der Chicago Cubs.
Die erste halbe Stunde blieb ich bei Nummer eins
hängen. Dann wurde mir klar, dass die größten Momente im Wrigley-Field-Stadion immer kurz bevorstehen. Damit war der Anfang gemacht, und ich skizzierte die Starting Rotation für die Weltmeisterschaft
im nächsten Jahr. In diesem Augenblick sah ich ihn.
Besser gesagt, spürte ich John Gibbons, bevor ich ihn
sah, was typisch für ihn war. Von der Taille bis zu den
Schultern bildete der Mann eine einzige, kompakte
Masse. Sein Kopf krönte den Hals einer Bulldogge,
die kleinen Ohren saßen dicht am Schädel mit dem
kurzgeschnittenen grauen Haar. Seine Nase zeugte
von den finsteren Winkeln in Chicagos versteckten
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Seitenstraßen. Seine Augen waren immer noch klar,
kühl und blau.
»Hallo, Michael.«
Gibbons war Polizist und seit fünf Jahren im Ruhestand. Vor vier Jahren hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, doch das war egal. Wir waren zusammen viel
herumgekommen. Er schüttelte den Regen ab und
zog sich einen Stuhl neben meinen Schreibtisch. Er
setzte sich, als sei dies sein angestammter Platz. Ich
legte die Cubs beiseite, zog die oberste Schublade auf
und fand eine Flasche Powers Irish. John trank ihn
pur. Um kein Spielverderber zu sein, gab ich einen
Schuss in meinen Sir Earl.
»Was gibt’s, John?«
Er zögerte. Erst jetzt fiel mir sein schlecht sitzender,
billiger Anzug und seine Ansteckkrawatte auf. Mit
den Fingern spielte er an einem schlaffen Filzhut.
»Hätte ’n Fall für dich, Michael.«
Er nannte mich immer Michael, und ich hatte nichts
dagegen, da ich immerhin so hieß. Ich wollte ihn nicht
verprellen, doch meine Neugier siegte.
»Du liebe Güte, John, wer kauft dir eigentlich deine
Klamotten?«
Der schwere Mann wurde rot im Gesicht und sah an
sich hinunter.
»Ziemlich übel, was? Meine Frau. Hast du sie noch
kennengelernt, Michael?«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Kenntnisse über John
waren auf dem Stand von vor drei Jahren. Damals war
in seiner Personalakte Witwer vermerkt. Seine erste
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Frau, eine Irin aus Donegal, bekam eines Tages von
ihrem Arzt den Befund nach einer Röntgenaufnahme.
Zwei Wochen später war sie tot. Ich hatte John eine
Karte geschickt und ihn angerufen.
»Meine Frau, ich meine, die zweite, hat mich vor ungefähr einem Jahr verlassen«, sagte Gibbons. »Sie war
der junge, dynamische Typ, weißt du.«
Johns alte Schwäche. Frauen, meine ich. Nach meiner
Erfahrung machen einem Mann mit dieser Schwäche
die Jüngeren das Leben nur noch schwerer.
»Dann kaufst du dir deine Sachen selbst?«, fragte
ich.
»Seit einiger Zeit.«
»Und du wirfst dich in Schale, weil du in die Stadt
willst.«
Er nickte.
»Zu mir.«
Er nickte wieder. »Ich hab ’n Fall, Michael.«
»Schon klar.«
Ich füllte sein Glas auf und goss mir noch ein bisschen
heißes Wasser in den Henkelbecher.
»Du erinnerst dich an 1997.«
»Vor meiner Zeit«, entgegnete ich.
»Kaum. Na, jedenfalls war Heiligabend. Ich hatte die
Scheiben runtergekurbelt. Du erinnerst dich sicher,
ich hatte meistens die Fenster offen. Sogar, wenn es
kalt war. Na ja, ich bin also alleine auf Streife. Unten
in Süd-Chicago.«
Ich kannte Süd-Chicago. Eine Ansammlung von Waren- und Freudenhäusern. Trockendocks und Straßen11
strich. Ein übler Teil von Chicago, bröckelnder Putz,
alles grau in grau.
»Ich höre einen Schuss«, erzählte John. »Fahr langsam um die Ecke und sehe dieses Mädchen, das mitten
auf der Straße rennt. Von oben bis unten voller Blut.
Der Kerl ist direkt hinter ihr. In der einen Hand hat er
einen Achtunddreißiger, in der anderen ein Messer.
Sticht, während sie rennen, auf sie ein.«
Für einen Moment schloss John die Augen und war
weg. Als er sie öffnete, war er wieder da. Ich hatte ein
unbehagliches Gefühl.
»Hatte schon zig Dienstjahre auf dem Buckel, Michael, aber so was hatte ich noch nie gesehen. Ich
steig aus, sie kommt direkt auf mich zu. Ich halte sie
beide auf. Er ist oben, und ich höre immer noch dieses Messer. Dieses saugende Geräusch. Ich greife an
dem Mädchen vorbei und halte ihm meine Knarre an
den Kopf. Zum ersten Mal registriert er mich und
hört auf.«
»Kann mich überhaupt nicht an den Fall erinnern,
John.«
»Sollte man aber eigentlich meinen, oder?«
Ich nickte.
»Also, hör mir zu. Wir liegen alle drei auf dem Boden.
Ich mit der Knarre an seinem Kopf und das Mädchen
zwischen uns. Ich hab ihr Gesicht etwa fünfzehn Zentimeter vor meinem. Sie riecht schon nach Tod, weißt
du.«
Das konnte ich unschwer nachvollziehen.
»Irgendwie lösen wir uns aus dem Knäuel. Ich dreh
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den Kerl auf den Bauch und leg ihm Handschellen an.
Er sagt nichts. Ich knall ihm ein paar. Immer noch
nichts. Ich seh mir das Mädchen an. Sie ist grässlich
zugerichtet, hat mehr als einen Stich in die Brust abgekriegt. Ich fühl ihren Puls und rufe den Krankenwagen.«
John stand auf und ging ans Fenster.
»Furchtbar warm hier drinnen, findest du nicht?«
John öffnete das Fenster einen Spalt.
»Knapp über null, gefrierende Nässe und stürmische
Böen«, sagte ich.
»Stürmische Böen?« Er drehte sich zuerst halb, dann
ganz zu mir um.
»Laut Wetterbericht«, ergänzte ich. »Sturmböen.
Sturmböen verheißen nichts Gutes.«
John ließ das Fenster offen und kehrte zu seinem Stuhl
zurück.
»Wir verfrachten die Kleine also in einen Krankenwagen. Sie war übrigens ein Hingucker, Michael. Hatte
ich das erwähnt?«
Ich hatte nur darauf gewartet. »Lass mich raten. Du
warst scharf auf sie.«
»Du lieber Himmel, Michael. Sie war blutüberströmt
und halb tot. Außerdem war sie fast noch ein Kind.«
»Erzähl weiter.«
»Jedenfalls, wie sich herausstellt, ist sie aus seinem
Wagen geflohen. So eine Scheißkarre, alter Chevy, der
mitten auf der Straße steht. Ich mach den Kofferraum
auf und was finde ich?«
»Lass hören.«
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»Plastikfolie. Ganze Rollen von dem Zeug. Und Stricke. Jede Menge Stricke. Ich mach die Fahrertür auf.
Alles voller Blut. Unter beiden Sitzen finde ich maßgefertigte Transportbehälter. In einem hat er ein großkalibriges Gewehr. Im anderen ist eine Machete festgeschnallt. Über beiden Sonnenblenden weitere
Lederriemen, einer für die Handfeuerwaffe, die er
dabeihat. Den anderen für das Messer.«
»Demnach nicht die erste Nummer von dem Burschen?«
»No, Sir«, antwortete John. »Ich nehm ihn also mit
ins Revier und steck ihn in den Bau. Es ist nach Mitternacht, ich sag mir also, ich knöpf ihn mir morgen
vor.«
»Und?«
»Ich komm am nächsten Tag rein, und er ist weg.«
»Weg?«
»Der damalige Chief, du hast ihn nicht gekannt. Dave
Belmont.«
»Hab den Namen schon mal gehört«, überlegte ich.
»Netter Kerl. Karrieretyp. Lebt nicht mehr. Wollte
keinen Ärger, so nach dem Motto: Halt die Schnauze
und sitz deine Zeit ab. Dieser Typ, verstehst du? Jedenfalls ruft er mich in sein Büro. Sagt, vergiss die
ganze Sache. Sagt, der Kerl ist weg, Ende der Geschichte. Das Ganze ist nie passiert. Dann gibt er mir
die hier.«
John Gibbons zog ein Stück grünen Samt aus der Hosentasche. Daran war ein silberner Polizeiorden angeheftet. Die höchste Auszeichnung, die ein Cop in
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Chicago bekommen kann. Eine davon, und du bist
ein gemachter Mann.
»Nicht leicht daran zu kommen, an die Dinger,
John.«
»Gehörte zu dem Deal. Ich krieg den Orden, eine Gehaltserhöhung und eine Beförderung. Als Gegenleistung …«
»Vergisst du das Ganze.«
»Genau. Hab ich auch.«
»Und neun Jahre später willst du was genau tun?«
»Na ja, eigentlich will ich gar nichts tun. Aber ich hab
das hier bekommen.«
Aus der anderen Tasche zog John Gibbons einen
Brief.
»Und was ist das?«
»Ein Brief.«
»Das sehe ich.«
»Von dem Mädchen. Dem Mädchen von damals.«
»Von vor neun Jahren?«
»Ebender.«
»Demnach ist sie nicht gestorben.«
»Wir müssen ihr helfen, Michael.«
»Wir …«
»Hab ein bisschen herumgestochert.« Gibbons zuckte mit den Achseln. »Bin nicht weit gekommen.«
Als Detective war mein alter Partner ein Draufgänger
gewesen. Jemand, der die Tür einschlägt, bevor er
weiß, was dahinter zu finden sein könnte.
»Du bist der Beste, mit dem ich je gearbeitet habe«,
fuhr Gibbons fort. »Das weißt du so gut wie ich. Das
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wusste jeder auf dem Revier. Wenn du mir helfen würdest, wär ich dir dankbar.«
Der Ire warf einen Briefumschlag über den Tisch. Ich
machte ihn auf und genoss das angenehme Gefühl,
das Geld einem manchmal geben kann. Dann sah ich
zu ihm auf.
»Erzähl mir von dem Mädchen.«
Gibbons fing an zu reden. Ich nahm seinen Brief und
las ihn widerstrebend.
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m nächsten Morgen klingelte das Telefon um halb
vier. Ich schätzte es nicht, wenn das Telefon um
halb vier Uhr morgens klingelte. Aber ich wurde nicht
gefragt.
Ich griff nach dem Hörer, warf das ganze Ding um, so
dass es laut krachend zu Boden fiel. Dann stand ich
auf, um Licht zu machen, und stieß mit der Zehe an
die Stahlfüße des Nachttischs. Ich fluchte entsprechend und nahm den Hörer zur Hand. Die unbekannte Stimme am anderen Ende klang belegt.
»Mr. Kelly?«
»Ja«, sagte ich.
»Spreche ich mit Mr. Kelly?«, fragte die Stimme.
Ich antwortete: »Mit wem wohl sonst?«, und versuchte mir das Gesicht zur Stimme vorzustellen.
»Mr. Kelly, mein Name ist Lisa Bange von Channel
Six Action News.«
Drei Fragen dröhnten durch die frühmorgendlichen
Nebelschwaden in meinem schläfrigen Gehirn: Wie
konnte eine Frau Bange mit Nachnamen heißen? Wieso rief mich Channel Six Action News um halb vier
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Uhr morgens an? Und könnte eine Frau mit Nachnamen Bange heißen?
»Hi, Lisa Bange«, grüßte ich. »Was kann ich für Sie
tun?«
»Ich rufe an, um Sie zu fragen, ob –«
Lisa verstummte, und ich hörte am anderen Ende erhobene Stimmen.
»Mr. Kelly?«
»Ich bin noch dran«, sagte ich.
Bange hielt den Atem an. »Tut mir leid.«
»Also, Lisa. Da wären wir nun. Nur Sie und ich um
halb vier Uhr morgens.«
»Ja, Mr. Kelly. Ich rufe an, weil ich gerne wüsste, ob
Sie mir etwas zur Ermordung von Mr. John Gibbons
sagen können.«
Auf dem Nachttisch neben meinem Bett habe ich die
Ilias im griechischen Original. Daneben Richard Lattimores Übersetzung. Soweit ich es beurteilen kann,
die einzige befriedigende Übersetzung. Hinter diesen
beiden Büchern liegt eine Beretta, Kaliber neun im
Holster. Lattimore wäre von dieser Zweckentfremdung vielleicht nicht gerade begeistert; Odysseus
schon. Ich überprüfte das Magazin der Beretta, dann
die Sicherung. Lisa redete währenddessen weiter.
»Es wurden zwei Schüsse auf ihn abgefeuert. Ich glaube, in den Bauch. Unten am Navy Pier. Genauer gesagt,
unter dem Pier. Aber nicht im Wasser. Mr. Kelly?«
»Ja, Lisa.«
»Also, man hat Ihre Visitenkarte bei ihm gefunden.
Und deshalb haben wir gedacht …«
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»Wo sitzen Sie eigentlich, Lisa?«
Sie schien überrascht. In Chicago wusste eigentlich
jeder, wo Channel Six Action News seinen Sitz hatte.
»300 North McClurg Court.«
»Haben Sie Filmmaterial vom Leichenfundort?«,
fragte ich.
»B-Roll? Selbstverständlich.«
»Sie bekommen von mir ein Statement, und Sie zeigen
mir, was Sie haben, abgemacht?«
Das überstieg Lisas Kompetenzen. Doch ich hatte die
Stimmen im Hintergrund gehört. Nach kurzer Zeit
meldete sie sich wieder.
»Abgemacht.«
»Bis dann, Lisa.«
Ich legte auf und zog mich an.
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