Wo die Gurken Kult sind - VCS Verkehrs
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Wo die Gurken Kult sind - VCS Verkehrs
Den Spreewald südlich von Berlin kennt man vor allem wegen der Gurken. Auf dem Gurkenradweg entdeckt man noch viel mehr: Kanäle, Dörfer, die sorbische Sprache, die Tierwelt und den Braunkohlebau, der ganze Landstriche umpflügte. Wo die Gurken Kult sind Text und Fotos: Peter Krebs 26 E ine schöne kleine Kirche sei das, bemerke ich zu der älteren Frau, die mit der leeren Giesskanne in der Hand vom Friedhof der Schlepziger Kirche kommt, einem Fachwerkbau mit einem schmucken Holzturm. «Im Innern ist sie auch schön. Haben Sie die Wolken an der Decke gesehen?» «Ja. Die Decke wirkt sehr hell.» «Die Wolken sind hell aber auch dunkel, wie es so ist. Der Maler verstand etwas.» Sie wünscht einen schönen Tag, hängt die Kanne neben die anderen und macht sich auf den Weg. Schlepzig ist eines der anmutigsten Dörfer des Spreewaldes in der Lausitz im Süden von Brandenburg. Entlang der Strassen und des Kanals stehen niedrige Häuser aus Ziegelstein. In einer restaurierten Fabrik mit einem gepflegten Innenhof, dem Brauhaus, wird seit neustem Schnaps aus allen möglichen Früchten hergestellt. Im Laden gibt es Spreewälder Spezialitäten. Leinöl gehört dazu, das wegen des hohen Fettsäuregehalts äusserst gesund sein soll, aber auch schnell bitter wird. Es senke den Cholesterinspiegel, helfe wie eine Gesichtscrème gegen Falten und diene «zur vorbeugenden Magenstärkung bei Besäufnissen», steht auf einer Tafel. Die Ammen aus dem Spreewald sollen einst in Berlin besonders beliebt gewesen sein, weil sie sich mit Kartoffeln und in Leinöl getränktem Quark VCS MAGAZIN / Juli 2012 REISEN Velotour Die Kanäle, Fliesse genannt, werden heute vor allem touristisch genutzt. Einzelne Höfe sind aber weiterhin nur auf dem Wasserweg erreichbar. ernährten, was sich positiv auf das Wachstum der Kinder auswirkte. Natürlich fehlen die Gurken nicht. Es gibt sie in fast ebenso vielen Variationen wie das Feuerwasser: als Gewürzgurken, Senfgurken, Knoblauchgurken, Königsgurken und als saure Gurken. Um das Gemüse, das sonst in der Küche und im Sprachgebrauch keinen hohen Stellenwert geniesst, wird im Spreewald ein richtiger Kult betrieben. Die Spreewälder Gurke geniesst, wie der Meerrettich, europäischen Markenschutz. Es gibt sogar ein Gurkenmuseum und einen Gurkenradweg. Wie alle Spreewälder Dörfer besitzt Schlepzig einen Hafen. Wobei das Wort etwas hoch gegriffen ist. Eigentlich ist es bloss eine bescheidene Anlegestelle für die flachen Boote mit Bänken und Tischen, mit denen die Touristen zu einer Fahrt in die Kanäle aufbrechen. Diese «Fliesse» sind die Hauptattraktion des Spreewalds. Das ausgedehnte Labyrinth der Wasseradern entstand nach der letzten Eiszeit zunächst auf natürliche Weise durch die Verästelungen der Spree. Im 6. Jahrhundert begannen die slawischen Sorben (Wenden) das unwirtliche Gebiet zu besiedeln. Sie rodeten den Wald, um kleine Wiesen und Äcker anzulegen. Sie bauten auch die Kanäle aus, die ihnen als Transportwege dienten. Die Sorben stammten aus dem Stamm der Lusizer, die der Lausitz den Namen gaben. Im 12. Jahrhundert verloren sie ihre politische Unabhängigkeit. Ihre Sprache und das Brauchtum haben bis heute überlebt, wenn auch nur bruchstückweise. Mit dem Witaj-Projekt, das unter anderem die Zweisprachigkeit der Kinder fördert, soll die Sprache VCS MAGAZIN / Juli 2012 revitalisiert werden. Sichtbarstes Zeichen sind die doppelten Ortsund Städtenamen. Schlepzig heisst auf sorbisch Zloupisti; aus Cottbus wird das fast zärtliche Chóśebuz. Im Lauf der Besiedlung entstand westlich von Chóśebuz in einem 75 Kilometer langen und 16 Kilometer breiten Gebiet ein Kanalsystem von über 1500 Kilometern. Knapp zwanzig Prozent davon sind für die Touristenkähne und Paddelboote zugänglich. Motoren sind nicht erlaubt. Die Schiffer bewegen ihre Kähne mit einer langen Ruderstange aus Eschen- oder Erlenholz, dem Rudel, stakend vorwärts. Die Strömung ist schwach. Dafür ist die Ruhe in den eine Zugstunde südöstlich von Berlin gelegenen Wäldern gross. In den ursprünglichsten Teilen des Unesco-Biosphärenreservats ist nur der Ruf des Kuckucks zu hören sowie das Ächzen der Schwarzerlen, der Pappeln, Birken und der Buchen, die sich im Wind bewegen. Er weht hier häufig und aus allen Himmelsrichtungen. Regen ist hingegen selten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren viele Dörfer nur auf den Fliessen erreichbar. Der Strassenbau erwies sich auf dem nassen und oft sandigen Untergrund als schwierig. Heute sind bloss noch einzelne abgelegene Höfe ohne Anschluss an den Landverkehr. Hin und wieder sieht man aber einen Kahn, der einen Kühlschrank und Baumaterial befördert, oder eine durch einen idyllischen Kanal stakende Postbotin im gelben Hemd. Geblieben sind die lauschigen Orte am Wasser mit den Gasthöfen und Bauernschenken, die alle eine Anlegestelle besitzen. Oft sind es alte Wassermühlen. Der Petkampsberg im Unterspreewald südlich von Schlepzig ist so ein Gasthaus, wo man keine Hektik zu kennen scheint und die Welt noch in Ordnung ist. Ich bin mit dem Fahrrad un- terwegs und radle am Abend auf dem Spreeradweg, der hier mit dem Gurkenweg identisch ist, von Schlepzig Richtung Lübben. Auf einmal watschelt vor mir ein Biberpaar im Gänsemarsch über den Kiesweg und verschwindet im Schilf. Dann taucht es im Teich badend wieder auf, der auch ein Vogelparadies ist. Bergpieper, Eisvögel sowie Waldwasserläufer fühlen sich in den Biotopen des Spreewalds wohl, wie auch Störche. Das Velo ist nebst dem Boot zweifellos die beste Art, die Gegend kennen zu lernen. In den letzten Jahren haben die Behörden ein schon fast verwirrend dichtes Netz an meist gut beschilderten Radwegen geschaffen. Nebst eigens angelegten Pisten und den Nebenstrassen zählen Naturwege dazu. Sie führen manchmal über die Dämme, welche die Siedlungen und die landwirtschaftlich genutzten Flächen vor Hochwasser schützen. Manchmal sind es auch recht sandige Waldwege, auf denen man ins Schwimmen kommt und für einige Meter absteigen muss. Ein paar Strecken sind noch mit DDR-Betonplatten be- legt, deren Fugen einen gehörig durchschütteln. Jedenfalls bekommt man auf dem Velo einen guten Einblick in den Spreewald, der ja nicht nur aus Wald besteht. In Lübben au/Lubnjow leuchtet inmitten eines Parks ein stattliches gelbes Schloss. Es blickt auf eine turbulente Geschichte zurück. Der letzte Standesherr, Wilhelm Friedrich Graf zu Lynar, war 1944 an den Vorbereitungen zum missglückten Hitler-Attentat beteiligt und wurde vom Nazi-Regime hingerichtet. Nach dem Krieg diente das Schloss als Krankenhaus. In der späteren DDR-Zeit war es ein Computerausbildungszentrum. Nach der Wende im Jahr 1989 erfolgte die «Rückübertragung» an die Erben der alten Eigentümerfamilie, die ihr Schloss in ein Hotel umwandelten. Der Kaffee im Gartenres taurant ist übrigens erschwinglich. Unweit des Schlosses befindet sich das kleine Dorf Lehde mit dem Gurken- sowie einem Freilandmuseum aus traditionellen Holzhäusern mit Kreuzgiebeln. Gleich daneben verzweigen sich mehrere Kanäle: eine Was In der Lausitz hat der Braunkohleabbau wie hier bei Cottbus ganze Landschaften verändert. 27 REISEN Velotour serwegkreuzung ohne Rotlicht, Abgase und Lärm. Das Hafengelände ist auch ein Biergarten. Lehde gilt als der ursprünglichste Ort im Spreewald. Es ist vielleicht so etwas wie seine Seele. Über mehrere gebogene Holzbrücken gelangen die Landratten an kleinen Waldgärten vorbei auf den malerischen Spazierund Veloweg, der zwischen zwei Kanälen und durch eine Wald allee nach Leipe führt. Aber Achtung: Auf dem Spree radweg lernt man auch eine weniger idyllische Seite der Niederlausitz kennen. Er führt kurz nach Cottbus am Rand des riesigen Tagbaugebiets Cottbus-Nord entlang. Gigantische Bagger haben die Gegend seit 1978 in eine Mondlandschaft verwandelt, um Braunkohle zu gewinnen. Die Maschinen laufen noch. Im Jahr 2015 wird damit Schluss sein. Dann wird die Landschaft noch einmal umgestaltet, in eine «Bergbau-Folgelandschaft». Aus dem Riesenloch soll dann ein See werden. Langsam. Die Flutung soll erst 2030 beendet sein. Der Prozess dauert auch deshalb so lange, weil die einst feuchte Lausitz unter Wassermangel leidet. Im Zuge des Bergbaus wurde der Grundwasserspiegel massiv gesenkt. Die Niederlausitz ist geprägt vom Braunkohleabbau im offenen Gelände, der jeden Tag hektarenweise Kulturland ver- schlang. Allein um Cottbus mussten 50 Ortschaften den Baggern weichen. Nach der Wende wurde die Mehrzahl der Reviere stillgelegt. Fünf sind aber noch in Betrieb. Die anderen werden zu Folgelandschaften oder sind es schon, wie jenes von Senftenberg weiter im Süden an der Grenze zu Sachsen. Künstliche Seen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie werden teils touristisch genutzt, teils auch für den Naturschutz. Auf dem Spreedamm lässt es sich gemütlich radeln. Die bemalte Holzdecke in der Schlepziger Kirche. Auf dem Alten Markt im Zentrum von Cottbus. Entdeckungsreisen per Rad Anreise/Rückreise: Am besten mit dem Nachtzug der Citynightline nach Berlin HB (täglich ab Zürich/ Basel, mit Velo-Selbstverlad), von hier direkte IR-Züge nach Cottbus (mit Velo-Selbstverlad). Route: Es stehen zahlreiche Routen zur Auswahl. Wer es eher gemütlich mag, kann eine mehrtägige Rundtour (z.B. auf dem Gurkenweg) ab Cottbus unternehmen. Fernradler wählen den Spreeradweg; er beginnt bei Ebersbach östlich von Dresden und endet nach 28 420 km in Berlin; man kann auch erst in Cottbus oder Spremberg starten. Bootsfahrten: Sie lassen sich an zahlreichen Landestellen vor Ort buchen. Buchungen: Railtour Suisse führt die «Grosse Spreewald-Tour» im Angebot (7 Übernachtungen, ca. 250 km): www.railtour.ch; Tel. 031 378 01 01 Weitere Informationen: www.verkehrsclub.ch/touren VCS MAGAZIN / Juli 2012