Neue Zürcher Zeitung vom 25. Juli 2015
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Neue Zürcher Zeitung vom 25. Juli 2015
Neuö Zürcör Zäitung Samstag, 25. Juli 2015 V Nr. 170 FEUILLETON 49 GLÜCKSMOMENTE Ein Topf, so klein wie eine Kinderfaust Von Martin Kubaczek Am Tag nach meiner Ankunft, in der Nacht hatte ein Januar-Blizzard die Stadt eingehüllt, nun tropfte und taute alles wieder in der Wärme, Schneehäubchen auf den Mauern, wir spazierten die Allee hinunter, die nassschwarzen Zweige der alten Kirschbäume, weit ausladend und gewunden, begleitet wie von weissen Schatten, Schneelinien gegen den blitzblauen Himmel im gleissenden Sonnenlicht, von Mauerstein zu Mauerstein springend begleitete uns eine japanische Wacholderdrossel, schön gemustert die stolze Brust. Im Flugzeug hatte ich ein Buch zu lesen begonnen, dessen Untertitel mich verwirrt hatte: «Haiku endlos». Die kürzeste denkbare Form des Gedichts, aber ohne Ende? Und war in diesem Buch, einem work in progress, das sich als tägliches Exerzitium mit zwei Zeilen zu fünf und sieben Silben fortschreibt, wieder auf eine Stelle aus Yasushi Inoues «Tod eines Teemeisters» gestossen, einer Erzählung über den Begründer der Teezeremonie Zen Rikyu, die auch mich einmal in einem Detail ratlos zurückgelassen hatte: Da war von Teetöpfen die Rede, die der Teemeister mit sich bringe zur Teezeremonie. Irdene Töpfe für ein wenig Grünteepulver? Ich hatte mir keine rechte Vorstellung machen können. Tee, Tusch und Tatami Und da stand ich nun plötzlich in der Stille des Nezu-Museums, mitten in Tokio, im winterlichen Garten, rot-rote Kamelienblüten in Häubchen aus glitzernden, tropfenden, in der Sonne schmelzenden Schneekristallen. Kaichiro Nezu, aus einfachen Verhältnissen zum Besitzer einer der grössten privaten Bahnlinien Japans aufgestiegen, hatte unter anderem in vormoderner japanischer und chinesischer Kunst investiert: Keramiken, Kalligrafien, buddhistischen Statuen, Paravents, kostbaren gegossen in einer Sandform, die man dann zerschlägt, das Unikat auf einem Dreifuss in der Asche des Glutbehälters, und jeder dieser Gegenstände bekommt einen Namen, wird weitergegeben über Generationen: Keramikschalen mit ihren Unregelmässigkeiten und Zufallszeichnung in den Glasuren der beim Brennvorgang verschmelzenden Mineralien, helle Quirl aus fein gesplittetem Bambus, Teller, auf denen die Kostproben aus buntem Zucker oder dunklem Süssbohnengelee zum Tee gereicht werden, schlanke, schmale Löffelstäbchen aus Bambus mit Schaufelspitzen zur Entnahme des Grünteepulvers aus dem Behälter. Plötzlich dieses Ding LENA ERIKSSON Gegenständen für die Teezubereitung. Aus seiner Villa in einem alten Landschaftsgarten mit gewundenen Wegen, Wasserläufen und kleinen Brücken, Teehäusern wurde ein Kunstforschungsinstitut, Kengo Kuma, der bekannt ist für seine kühle und klare Architektur zwischen Archaik und Moderne, hat vor einigen Jahren den Umbau in ein Museum durchgeführt, im oberen Stock befindet sich ein Raum mit nach Jahreszeit wechselnden Gegenständen für die Teezubereitung. Gedämpftes Licht, die Gegenstände in den von hinten beleuchteten Vitrinen mit durchsichtigen feinen Nylonfäden und kleinen Stiften verankert auf rotem Samt, der Duft vom Reisstroh der Tatami-Matten im Beispiel eines Teezimmers: da die Schriftrolle mit einer Tusch-Pinselzeichnung in der Wandnische, dazu der eiserne Wasserkessel, Und da, an diesem glitzernden Schneetag in Tokio, war es plötzlich vor mir, dieses Ding, von dem Inoue erzählte, das der Schweizer Lyriker wieder erwähnte, das vor fünfhundert Jahren Zen Rikyu benutzte, der es weitergegeben hatte an seinen Schüler Oribe, dieser Gegenstand, von dem ich mir kein Bild hatte machen können, ein Topf, ja, aber so klein wie eine Kinderfaust, ein bauchiger Keramikbehälter, goldbraun die Zeichnung der Glasur, in der Form wie von gewundenen japanischen Kieferzweigen, eingepasst der winzige Deckel aus Elfenbein, und da ging ich in die Knie, legte die Stirn ans Glas und las: Cha-ire, Teebehälter mit Namen Matsuya, 13./14. Jahrhundert, Herkunft China, von einem, den wir nicht kennen, und darüber eine Schriftrolle mit dem Schriftzeichen: Dai Tenchi, grosser Himmel, von Ryokan. ....................................................................................................... Martin Kubaczek. geboren 1954, lebt als Schriftsteller und Literaturvermittler in Wien. Vor kurzem ist in der Edition Korrespondenzen der Gedichtband «Nebeneffekte» erschienen. Die Kupferschmiede als Kaderschmiede Die Langnau Jazz Nights bringen für das 25-Jahre-Jubiläum Stars und Nachwuchs gleichermassen auf die Bühne Florian Bissig V Gemischt und erstaunlich jung ist das Publikum, das sich in der Spielstätte der Kupferschmiede für die Konzerte der Langnau Jazz Nights einfindet. Dass sich die Reihen nicht allein mit den Ergrauten füllen, von denen nicht wenige dem Festival seit 25 Jahren die Treue halten, liegt am Konzept der Jazz Nights. Ein Grundbestandteil sind die Workshops für angehende Musiker sowie das Junior Jazz Meeting, das junge Musiker auf die nachmittägliche Off-Bühne am Viehmarktplatz bringt. Am Abend finden auch sie sich vor der Hauptbühne ein, um zu sehen und zu hören, was die Arrivierten und Stars zu bieten haben, die der Veranstalter und Bassist Walter Schmocker und sein Team in den Hochsommertagen immer wieder für das Emmental gewinnen können. Virtuose Zwillinge Viel junges Publikum also, und erst noch jazzkundiges. Da brauchte der Pianist Jean-Michel Pilc, der mit seinem Trio das Festival am Dienstag auf der Hauptbühne startete, nur wenige Fetzen des Themas von «Someday My Prince Will Come» zu spielen – und schon kriegt man die ganze Melodie rund um die Kupferschmiede einen Abend Ron Winkler verliebt zu Protokoll ich habe mich in dich verstört, vibriere dich mit meinen weichen Wimperlingen, du schwimmst den Schnee dir frei. deine Lippen sind schon beim A ein Beben Leben und auch die Wangen klingen gut, du bist so flauscher Rausch, führst mich an dir aus, wir haben beide Flimmernellen fast, sind wie verstrangt, o tross mich zart, ich habe nicht nur Herz, ich hab auch «heart», von deinen Früchten nehm ich nur den süssen Nebel: das ist mein Hebel zu so etwas wie Sonne hin. lang um die Ohren gesummt und gepfiffen. Was Pilc mit den Zwillingsbrüdern François und Louis Moutin an Bass und Schlagzeug bietet, ist überhaupt eine Vorzeige-Performance. Die drei Franzosen sprühen in jedem Augenblick vor Ideen und interagieren derart aufmerksam und gleichberechtigt miteinander, dass die Frage, wer gerade soliert und wer begleitet, kaum je zu beantworten ist. Die Zwillinge, die ihre Instrumente beide souverän virtuos bedienen, haben den Applaus jedenfalls mindestens so oft in der Tasche wie Pilc. Das Trio überlässt sich oft ganz der Spontanität und vertraut auf die offensichtliche Vertrautheit der Kollegen. Dass dann einmal ein Break oder Schluss nicht klappt, gehört zum Risiko und ist die Kehrseite des freien Interplays. Weniger solche Risikos nahm Snarky Puppy in Kauf, die Band, die nach Pilc auftrat. Das Oktett aus Texas trägt dick auf. Das Schlagwerk ist doppelt besetzt, ebenso die Tasteninstrumente. Und der Bandleader Michael League unterlegt mit seinem fetten, lauten Bass. Allein, die Rhythmusgruppe hämmerte die Beats, die gewiss eine eigenständige Mischung aus Funk, Soul und Pop darstellen, mit solcher Wucht in den Saal hinaus, dass für solistische Entfaltung nicht mehr viel Raum blieb. Die beiden Bläser kämpften meist um Gehör. Und wenn der Pegel dann einmal tiefer lag, mochten sie doch nicht allzu viel anfangen. Die Spezialität dieser Funk-Soul-Brüder ist halt das Grooven und Rocken. Im Grunde müsste man hüpfen und tanzen, so wie es der schwarze Keyboarder Shaun Martin tat. Der Mann hat etwas von B. A. aus der Actionserie «A-Team» und sorgt mit Gags und Grimassen für heitere Stimmung. Dass die Workshop-Studenten und die Stars auf der Hauptbühne nicht zwei Gruppen sind, die auf ewig getrennt bleiben müssen, dafür trat am Mittwoch die Gruppe E:Scape den Beweis an. Das Trio um Michael Haudenschild ist quasi in Langnau gross geworden, wie der Berner Pianist dem Publikum erzählte. Als er mit dem Bassisten Benjamin Muralt vor acht Jahren zum ersten Mal nach Langnau gefahren sei – die Musiker müssen gerade im ersten Bart gewesen sein –, hätten sie all diese JazzAkkorde als ach so schwer empfunden. Dass jetzt längst alles leicht sei, das hätten sie auch den Jazz Nights zu verdanken. Den Sympathiebonus, den sich die Kollegen von E:Scape mit dieser Respektbezeugung gegenüber der Kaderschmiede Langnau erschlichen, hätten sie entbehren können. Haudenschilds Kompositionen sind raffiniert, und insbesondere sein Zusammenspiel mit dem Bassisten klang fein ausgearbeitet. Clever ist, wie Haudenschild den Flügel und das Rhodes-Keyboard kombiniert und die Phrasen hin und her fliessen lässt. Etwas gar zahm und kontrolliert agierte Schlagzeuger Paul Amereller, der die Rhythmen seiner Kollegen stets artig unterstrich, aber nie selbst für Drive sorgte. Insgesamt schien das Trio manchmal etwas auf der Bremse zu stehen und seine Übungen im Stand zu machen. Umso eindrücklicher war danach, wie The Bad Plus und Joshua Redman zwischen rasend schnellen und gebremsten Passagen wechselten. Auch rhythmisch und dynamisch lotet das Quartett Extreme aus. Das mit dem Tenorsaxofonisten Redman erweiterte Trio um den Pianisten Ethan Iverson spielte weitgehend die Stücke ihres gemeinsamen Albums, allesamt Eigenkompositionen. Es dominieren die klaren, einfachen Formen. Kurze Vamps über wenigen Akkorden bilden oft das Gerüst, das die Improvisatoren dann mit schelmischer Spielfreude demontieren. Iverson und Redman begeisterten in Langnau mit witzigen und spektakulären Soli, die jedoch nie ausuferten, sich vielmehr einer kurzweiligen Dramaturgie fügten. Am Donnerstag konnte man sich in der Kupferschmiede gleich noch einmal den – pädagogisch wohl unverwertbaren – Unterschied zwischen einer guten und einer ausgezeichneten Band vor Ohren führen. Das niederländische Tineke Postma Quartet lieferte soliden Jazz nach den Mustern des Bebop und Hardbop. Die Alt- und Sopransaxofonistin spielt ihre subtil vertrackten Eigenkompositionen mit einem weichen und warmen Klang, die Soli waren wohlstrukturiert und halsbrecherisch virtuos. Die Rhythmusgruppe swingte und begleitete durchwegs «lege artium», wirkte dabei allerdings zu kontrolliert und etwas angestrengt. Witz und Ernst Das nachfolgende Quartett von Branford Marsalis hingegen strahlte die Lockerheit bereits beim Gang auf die Bühne aus. In Anzug und Krawatte machte der Saxofonist ein paar Sprüche, dann war Showtime. Für das Festivalpublikum stellte Marsalis ein mitreissendes Set zusammen. Witz und Ernst wechselten sich ab in seinem Spiel. Einmal gemahnt sein Solo an den feierlichen Ton des späten Coltrane, doch meist ging es fröhlich zu und her. Die Momente grösster Ekstase gingen auf das Gemeinschaftskonto des Pianisten Joey Calderazzo und des jungen Drummers Justin Faulkner, die sich in funkensprühenden Interplays trafen. Sichtlich Spass hatten die Männer bei ihren Ausflügen in den Blues und die Two-Beat-Rhythmen aus New Orleans. Auf den Heimweg gab Marsalis dem begeisterten Publikum quasi eine Botschaft mit – eine süffige Interpretation von Duke Ellingtons «It Don’t Mean a Thing (If It Ain’t Got That Swing)». AUSSTELLUNGEN ....................................................................................................... Kristallnatur edz. V Zwei massive, ausgehöhlte Amethyste in Schuhform stehen zur Abreise bereit. «Shoes for Departure» heisst das Werk von 1991 von Marina Abramović (* 1946). Die Schuhe sind Teil ihrer sogenannten «Transitory Objects», also Übergangsobjekte, und enthielten ursprünglich die Anweisung, in die Schuhe zu steigen und bewegungslos mit geschlossenen Augen abzureisen. Wie die Ausstellung «Stein aus Licht. Kristallvisionen in der Kunst» zeigt, gesellt sich Abramović mit ihrer Vorstellung, dass Kristalle geistige Horizonte eröffnen, zu Kunstschaffenden seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch diese sahen in kristallinen Formen und Gitterstrukturen das Kennzeichen einer Kunst, welche die oberflächlichen Erscheinungsformen der Welt durchdrang und sie zugunsten einer geistigen Weltvision überwand, der eben kristalline Strukturen eine Einheit und Ästhetik gaben. Verwandlung und Utopien bewegten damals die Kunstwelt. Paul Klee (1879–1940) hangelte sich mit offenen Gitterstrukturen in geistige Welten, Franz Marc (1880–1916) schuf prismatisch aufgefächerte Naturbilder, und Lyonel Feiningers (1871–1956) Städteansichten sind von kristalliner Transparenz. Kunst bis zum Zweiten Weltkrieg stellt einen Schwerpunkt der Ausstellung dar, doch thematisiert sie Kristalle als Inspirationsquelle für Kunstschaffende seit dem späten 18. Jahrhundert. Damals entrückte die Bergmalerei die Gebirgswelt mittels kristalliner Formen in überweltliche Sphären, wie «Le grand Eiger» (1844) von Alexandre Calame (1810–1864) zeigt. Auf dem Gemälde leuchtet der von Sonnenlicht angestrahlte Berg wie ein riesiger Kristall, dessen Flanke zu verschwimmen beginnt – so als könnten die Gegensätze zwischen Irdischem und Überirdischem verschmelzen. Denn die Vereinigung von Gegensätzen gehört ganz wesentlich zur Faszination von Kristallen. Kristalle wachsen in absoluter Dunkelheit und funkeln wie Licht, sie sind aus harter Materie und so transparent, als wären sie schwerelos. Wie der stringent aufgezogene Parcours darlegt, macht sie dies bis in die Gegenwartskunst zu inspirierenden Symbolen. Stein aus Licht. Kristallvisionen in der Kunst. Kunstmuseum Bern. Bis 6. September 2015. Katalog Fr. 49.–. Der Krieg am Horizont S. K. V «Wie reagieren Künstlerinnen und Künstler aus der Ostschweiz auf die besondere Situation des Zweiten Weltkriegs in ihrer Region?», fragt das Kunstmuseum Thurgau in seiner gegenwärtigen Ausstellung. Mit dem dramatischen Stimmungsbild von Adolf Dietrich «Abend am See» (1939) gelingt der Schau ein eindrücklicher Auftakt, scheint doch das in gleissend gelbes Licht getauchte gegenüberliegende deutsche Ufer des Untersees in Flammen zu stehen. Neben Gemälden, Grafik- und Zeichnungszyklen sind es nicht zuletzt die Fotografien von Hans Baumgartner und Theo Frey, welche einen vertieften Einblick in den damaligen Alltag ermöglichen. Baumgartner hielt den Aufmarsch des Militärs am Zollamt Kreuzlingen fest oder die Entlassung von Armeebataillonen, während Theo Frey im offiziellen Auftrag der AM MONTAG IM FEUILLETON Religion auf dem Rückzug – der Politologe Olivier Roy über den Säkularismus Schweizer Armee mit der Kamera unterwegs war. Wir sehen Bilder des Rütlirapports vom 25. Juli 1940, als General Henri Guisan seine Offiziere auf die Reduit-Strategie einschwor, oder erhalten mit der Kartoffelernte in Stammheim Einblick in die «Anbauschlacht». Theo Freys Porträts von internierten jüdischen Flüchtlingen in Tänikon sind ebenso berührend wie seine Serie von Tagesflüchtlingen, die mit wenigen Habseligkeiten mit dem Fahrrad oder zu Fuss an der Schweizer Grenze strandeten. Neben etwas zufällig ausgewählten Beispielen künstlerischer Auseinandersetzung mit dem nahen Krieg gibt es überraschend Unbekanntes zu entdecken, etwa den Holzschnittzyklus «Du Noir au Blanc» des aus Belgien stammenden Künstlers Franz Masereel, der eine Art Schöpfungsgeschichte von den Tieren im Urwald bis zur zerstörerischen Gewalt des Krieges zeigt. Eher skurril präsentiert sich die 92-teilige Serie «Der Zweite Weltkrieg» von Jakob Greuter, welche der Autodidakt nach Bildern aus illustrierten Zeitungen malte. In Hörstationen erhalten wir unter anderem Einblick in das «Tagebuch zur Grenzbesetzung» des Grafikers und Künstlers Ernst Graf, das mit Zeichnungen, Fotos und Text von seinem Soldatenleben erzählt. In der Art von Käthe Kollwitz’ expressiven Zeichnungen sind auch einige Porträts von Flüchtlingsfrauen oder die Serie «Nachkriegsjugend» von Ernst Graf zu sehen. Der Himmel brennt am Horizont. Kunst in der Ostschweiz im Banne des 2. Weltkriegs. Kunstmuseum Thurgau. Kartause Ittingen. Bis 30. August 2015.