Materialsammlung - Theater Marburg

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Materialsammlung - Theater Marburg
Emil und die
Detektive
Materialsammlung
Spielzeit 2011/12
Das verhexte Telefon
Neulich waren bei Pauline
Sieben Kinder beim Kaffee.
Und der Mutter taten schließlich
Von dem Krach die Ohren weh.
Deshalb sagte sie: "Ich gehe.
Aber treibt es nicht zu toll.
Denn der Doktor hat verordnet,
Dass ich mich nicht ärgern soll."
Doch kaum war sie aus dem Hause,
Schrie die rote Grete schon:
"Kennt ihr meine neuste Mode?
Kommt mal mit ans Telefon."
Und sie rannten wie die Wilden
An den Schreibtisch des Papas.
Grete nahm das Telefonbuch,
Blätterte darin und las.
Dann hob sie den Hörer runter,
Gab die Nummer an und sprach:
"Ist dort der Herr Bürgermeister?
Ja? Das freut mich. Guten Tag!
Hier ist Störungsstelle Westen.
Ihre Leitung scheint gestört.
Und da wäre es am besten,
Wenn man Sie mal sprechen hört.
Klingt ganz gut ...Vor allen Dingen
Bittet unsere Stelle Sie,
Prüfungshalber was zu singen.
Irgendeine Melodie."
Und die Grete hielt den Hörer
Allen sieben an das Ohr.
Denn der brave Bürgermeister
Sang: "Am Brunnen vor dem Tor."
Weil sie schrecklich lachen mussten,
Hängten sie den Hörer ein.
Dann trat Grete in Verbindung
Mit Finanzminister Stein.
"Exzellenz, hier Störungsstelle.
Sagen Sie doch dreimal "Schrank".
Etwas lauter, Herr Minister!
Tschuldigung und besten Dank."
Wieder mussten alle lachen.
Hertha schrie: "Hurra!", und dann
Riefen sie von neuem lauter
Sehr berühmte Männer an.
Von der Stadtbank der Direktor
Sang zwei Strophen "Hänschen klein",
Und der Intendant der Oper
Knödelte die "Wacht am Rhein".
Ach, sogar den Klassenlehrer
Rief man an. Doch sagte der:
"Was für Unsinn? Störungsstelle Grete, Grete! Morgen mehr."
Das fuhr allen in die Glieder
Was geschah am Tage drauf?
Grete rief: "Wir tun's nicht wieder."
Doch er sagte: "Setzt euch nieder.
Was habt ihr im Rechnen auf?"
Erich Kästner
INHALT
Emil und die Detektive – Entstehungsgeschichte und Rezeption
Emils Spielplätze: Mit Erich Kästner in Dresden von Michael Bienert
Erich Kästner
... und das Theater
... als Kinderbuchautor
Kinderliteratur der Jahrhundertwende, der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit
Das Schweigen des Satirikers
Über Kästner
Makkaroni, Schnürsenkel und Bleistifte von Michael Bienert
Die Dissoziation eines Schriftstellers in den Jahren 1934–1936 von Karsten Brandt
„Ich habe Erich Kästner zu danken und seinem Emil Tischbein, die mich mit Deutschland bekanntmachten.“
„Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? “
Emil und die Detektive – Entstehungsgeschichte und Rezeption
Erich Kästner wurde durch die Verlegerin Edith Jacobsohn angeregt, ein Kinderbuch zu schreiben. Bis zu
diesem Zeitpunkt hatte Kästner Gedichte veröffentlicht („Herz auf Taille“, 1928), als Redakteur bei
Tageszeitungen gearbeitet, Kritiken und Feuilletons verfasst.
Innerhalb weniger Wochen entstand die Geschichte von Emil, dem Jungen, der erfolgreich einen Dieb durch
Berlin verfolgt. Kästner griff mit dieser Geschichte auf ein Erlebnis aus seiner Kindheit in Dresden-Neustadt
zurück, bei dem er selbst ein Detektiv-Abenteuer zu bestehen hatte:
Erich Kästners Detektiverlebnis
"Als Erich elf oder zwölf Jahre alt war, hatte eines Tages, wie es häufig vorkam, eine Frau bei seiner Mutter
einen Großauftrag für eine Hochzeitsgesellschaft aufgegeben. Er stand dabei, als die Einzelheiten
besprochen wurden, und hörte neugierig zu, wie die Auftraggeberin, ein Fräulein Strempel mit Namen, von
der bestellten Brautkutsche und weiteren fünf Droschken schwärmte, vom Hotel Bellevue, das das Diner
liefere, dem engagierten Kellner im Frack und von einer riesigen Eisbombe als Nachtisch. Sie selbst sei die
Glückliche, die kommenden Sonnabend getraut werde. Zum Tag des vereinbarten Termins jedoch herrschte
bei Kästners Niedergeschlagenheit. Die Mutter weinte. Die angegebene Adresse war falsch. Sie war einer
Betrügerin aufgesessen.
Mißerfolge der Mutter, das war immer so im Haushalt der Kästners gewesen, bedrückten auch den Sohn. In
diesem Falle konnte er wohl nichts ändern. Bis ihm eines Tages der Zufall zu Hilfe kam. Auf dem
Nachhauseweg von der Schule sah er das angebliche Fräulein Strempel auf der Straße wieder. Blitzschnell
drückte er dem Jungen, der mit ihm war, den Schulranzen in die Hand mit dem Auftrag, ihn zu Hause
abzugeben und seiner Mutter auszurichten, »der Erich komme später«. Dann nahm er die Verfolgung auf. Da
ihn das Fräulein Strempel, die wahrscheinlich gar nicht Strempel hieß, nicht wiedererkannt hatte, brauchte
er sich nicht zu verstecken. Durch mehrere Straßen blieb er ihr auf den Fersen, bis zum Dresdner Altmarkt,
wo sie hinter den gläsernen Flügeltüren von Schlesinger & Co., einem Geschäft für »feinste
Damenkonfektion«, verschwand. Detektiv Erich marschierte hinterher und geriet damit in eine peinliche
Situation als männlicher Kunde inmitten von Damenkonfektion.
»Da stand ich nun zwischen Ladentischen, Spiegeln, fahrbaren Garderoben und unbeschäftigten
Verkäuferinnen und rührte mich, vor Schreck und Pflichtgefühl, nicht von der Stelle. Wenn wenigstens
Kundinnen dagewesen wären und anprobiert und gekauft hätten! Aber es war ja Mittagszeit, da war man
daheim und nicht bei Schlesingers! Die Verkäuferinnen begannen zu kichern. Eine von ihnen kam auf mich
zu und fragte mutwillig: ´Wie wär´s mit einem flotten Sommerkleidchen für den jungen Herrn? Wir haben
entzückende Dessins auf Lager. Darf ich Sie zum Anprobieren in die Kabine bitten?´ Die anderen Mädchen
lachten und hielten sich die Hand vor den Mund. Solche Gänse! ... Die Mädchen wollten sich vor Lachen
ausschütten. Ich wurde rot und wütend. Da erschien eine ältere Dame auf der Bildfläche, und die Etage
wurde mäuschenstill. ´Was machst denn du hier?´ fragte sie streng. Weil mir nichts Besseres einfiel,
antwortete ich: ´Ich suche meine Mutter.´ Eines der Mädchen rief: ´Von uns ist es keine!´, und das Gelächter
brach von neuem los.
In diesem Moment glitt der Wandspiegel lautlos zur Seite, und das Fräulein Nichtstrempel trat heraus. Ohne
Hut und Mantel. Sie strich sich über´s Haar, sagte zu den anderen: ´Mahlzeit, allerseits!´ und begab sich
hinter einen der Ladentische – sie war, bei Schlesinger im zweiten Stock, Verkäuferin! Und schon war ich auf
der Treppe. Ich suchte den Geschäftsführer. Hier war ein Gespräch zwischen Männern am Platze!«
Es stellte sich heraus, daß das Fräulein gar nicht Strempel, sondern Nitzsche hieß und von der Hochzeit
keine Rede sein konnte. »Ein alterndes Fräulein, das keinen Mann fand, hatte heiraten wollen, und weil sich
ihr Wunsch nicht erfüllte, log sie sich die Hochzeit zusammen. Es war ein teurer Traum. Ein vergeblicher
Traum. Und als sie erwacht war, bezahlte sie ihn ratenweise und wurde mit jeder Monatsrate ein Jahr älter.
Manchmal begegneten wir uns auf der Straße. Wir sahen einander nicht an. Wir hatten beide recht und
unrecht. Doch ich war besser dran. Denn sie bezahlte einen ausgeträumten Traum, ich aber war ein kleiner
Junge.«
Soweit das Dresdner Detektiverlebnis ..."
Das Buch „Emil und die Detektive“ erschien im Herbst
1929 und wurde ein großer Erfolg. Im November 1931
wurde die erste Verfilmung des Emil-Stoffes in Berlin
uraufgeführt.
Anzeige im Berliner Tageblatt, 3. Dezember 1929
http://www.zlb.de/projekte/kaestner/prolog/index.html
Emils Spielplätze
Mit Erich Kästner in Dresden
von Michael Bienert
Alle lieben Lottchen. Schon ist sie aus Dresden sowenig wegzudenken wie die Elbe, der Zwinger, der
Christstollen oder die Sixtinische Madonna. Dabei ist Lottchen gerade mal sieben Jahre alt. "Loddschn", wie
die Sachsen sagen, heißt die Dresdner Kinderstraßenbahn. Täglich kurvt sie durch die Stadt, um den
Kindern zu zeigen, was es mit dem höchsten Turm, der schmutzigsten Bahnhofsuhr, der buntesten Brücke
Dresdens auf sich hat.
Die Kinderstraßenbahn fährt auch an den Häusern vorbei, in denen Erich Kästner aufgewachsen ist. Die
Kinder kennen ihn als Vater von Emil, von Pünktchen und Anton, vom doppelten Lottchen. Ihm zu Ehren trägt
die von Kinderhand bunt bemalte Bahn ihren Namen. Aber auch sonst ist Erich Kästner in Dresden gegenwärtiger denn je. Seine Kindheitsautobiographie "Als ich ein kleiner Junge war", 1957 erschienen, ist in
jüngster Zeit zum Kultbuch geworden. Schulklassen ziehen auf den Spuren Erich Kästners durch die Stadt.
Es gibt Kästner-Tage, Kästner-Stadtführungen und Pläne, eine Gedenkstätte unweit seiner Kindheitsorte
einzurichten.
Noch sind es vor allem die Dresdner selbst, die mit dem Buch in der Hand auf Entdeckungsreise gehen.
Kästners Kindheitserinnerungen helfen Lücken zu schließen, die das im Sozialismus gepflegte Geschichtsbild und sein Zusammenbruch nach 1989 im historischen Bewußtsein der Stadt hinterlassen haben. Seit ein
paar Jahren beschäftigt man sich intensiver mit der lange unterbelichteten Industrie- und Militärgeschichte,
mit der verdrängten jüdischen Geschichte, mit kostbaren Erbstücken wie der Gartenstadt Hellerau. Kästners
Erinnerungsbuch ist das wichtigste literarische Zeugnis des kleinbürgerlichen Milieus in den Gründerzeitvierteln abseits der barocken Dresdner Schauseite. Die Orte seiner Kindheit lagen weit genug außerhalb, um
dem Feuersturm, der im Februar 1945 das alte Dresden auslöschte, zu entgehen. Wer in die Fußstapfen
Kästners tritt, findet daher immer noch authentische Spuren früheren Lebens vor, nicht bloß Imitationen.
Geboren wurde Kästner am 23. Februar 1899 in einem einfachen Mietshaus in der Königsbrücker Straße 66.
Später zog die Familie in die Nummer 48, dann in die Nummer 38. Alle drei Mietshäuser sind erhalten. Ihnen
ist anzusehen, daß die Kästners keine reichen Leute waren. Der Vater mußte seine selbstständige Existenz
als Sattlermeister aufgeben und sich in einer Dresdner Kofferfabrik als Facharbeiter verdingen. Seine junge,
ehrgeizige Frau empfand den sozialen Abstieg als Demütigung. Sie hatte ihren Mann nicht aus Liebe
geheiratet, sondern um sich abzusichern. Als sie nach sechseinhalb Jahren Ehe ihr erstes und einziges Kind
zur Welt brachte, stammte es von einem anderen Mann, dem jüdischen Hausarzt Dr. Zimmermann. 1 Beide
Väter des Jungen trugen denselben Vornamen: Emil.
Kästner hat seinen jungen Lesern mit großer Offenheit geschildert, welchen Kummer ihm die Disharmonie in
seinem Elternhaus bereitete. Die Mutter richtete ihre ganze Energie auf das Fortkommen des Jungen,
machte aus ihm einen Musterknaben, koste es, was es wolle: "All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen
Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie, fanatisch wie ein besessener
Spieler, auf eine einzige Karte, auf mich. Ihr Einsatz hieß: ihr Leben, mit Haut und Haar. Die Spielkarte war
ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste
Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die
vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel: Ich mußte der
vollkommene Sohn werden."
Um dem kleinen Erich eine höhere Schulbildung zu ermöglichen, holte die Mutter Untermieter in die
Wohnung – Lehrer, die in dem Kind den Wunsch weckten, Pädagoge zu werden – und erlernte mit
vierunddreißig Jahren das Friseurhandwerk. Die Kunden empfing sie im elterlichen Schlafzimmer. Der Junge
mußte der Mutter zur Hand gehen, in der Küche das Wasser für die Kopfwäsche heiß machen und es ins
Schlafzimmer schleppen. So wie die Romanfigur Emil, der Detektiv, am Tag seiner Abreise nach Berlin.
In seinen Büchern hat Kästner vielfach Erlebnisse und Schauplätze seiner Kindheit verarbeitet. Emils
Heimatstadt ist kein fiktiver Ort, wie ihr Dutzendname "Neustadt" glauben machen könnte. Es gibt in der
Nähe der Königsbrücker Straße tatsächlich eine alte Bahnstation, die "Bahnhof Dresden-Neustadt" heißt. In
der düsteren Bahnhofshalle spielten sich viele tränenreiche Abschiede von der Mutter ab. Auch seine
Romanfigur Fabian, der aus Berlin heim zu Mutters Rockzipfeln flieht, läßt der Autor Kästner am Neustädter
Bahnhof ankommen.
Der Stadtteil "Äußere Neustadt", in dem Kästner aufwuchs, ist heute Sanierungsgebiet. Im Sozialismus
dem Verfall überlassen, blühte nach 1989, in der kurzen Phase des Zerfalls der alten Gesellschaftsordnung,
buntes Leben aus den Halbruinen auf. Zahlreiche Häuser wurden instandbesetzt, schräge Kunstgalerien und
Cafés eröffnet, eine Bürgerinitative kämpfte für die behutsame Erneuerung des Viertels. Für drei Tage wurde
es zur "Bunten Republik Neustadt" mit eigener Währung, eigenen Pässen und eigener Regierung. Von den
Häusern flatterten alte DDR-Fahnen mit aufgenähten Micky-Maus-Köpfen. Erich Kästner hätte an dem
schrillen Straßenfest seine helle Freude gehabt.
Das ist nun auch schon Geschichte. Die anarchische Lebensfreude, den kindlichen Spieltrieb und die
1
Hier sitzt Bienert vermutlich jenem Gerücht auf, das nach Kästners Tod aufgekommen ist. Beweisen hat es sich nicht lassen, da
auch in den Privatnotizen Erich Kästners keine Andeutungen bzw. Belege dafür zu finden sind. (siehe dazu Hanuschek, S.: Erich
Kästner, rororo-monographie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2004, S. 14.)
Zukunftseuphorie der frühen neunziger Jahre sucht man in der Neustadt mittlerweile vergebens. Einige
Szenekneipen haben ihre Betreiber wohlhabend gemacht, etliche Häuser sind bereits saniert, manche
Alternativprojekte haben es geschafft, zu überleben – aber der alternative Gründergeist ist verflogen und die
Umwandlung des ehemaligen Armeleuteviertels in eine noble Wohn- und Geschäftsadresse am Rande des
Regierungsbezirks der sächsischen Landeshauptstadt bloß eine Frage der Zeit.
Am Kästner-Wohnhaus in der Königsbrücker Straße 48 ist der Trend abzulesen. Die Fassade mit ihren
schmucken Sandsteinornamenten wurde aufgefrischt, ins Erdgeschoß sind ein Teeladen und ein Reisebüro
eingezogen, darüber haben sich Rechtsanwälte und Architekten niedergelassen. Die Tür ist fest
verschlossen, anders als bei den sanierungsbedürftigen Nachbarhäusern. Dort liegen hinter den offenen
Einfahrten große Höfe mit viel Grün, Spielparadiese für Großstadtkinder.
An der Einmündung der Jordanstraße hat die Eckkneipe "Sibyllenort" überlebt, in die der kleine Kästner zum
Bierholen geschickt wurde, wenn es zuhause was zu feiern gab. Auf der anderen Seite der Königsbrücker
Straße, in der Scheunenhofstraße, zeigt ein baufälliges Haus die alte Außenreklame des Kohlenhändlers
Wendt. Nebenan lag der Trockenplatz, wo die Mutter die frische Wäsche aufzuhängen pflegte. An die
verträumten Nachmittage unter der flatternden Wäsche erinnerte sich Kästner besonders gern:
"Ich saß im Gras. Die Mutter ging nach Hause.
Die Wäsche wogte wie ein weißes Zelt.
Dann kam die Mutter mit Kaffee und Geld.
Ich kaufte Kuchen, für die Mittagspause
in dieser fast geheimnisvollen Welt."
Zum Spielen ging das Kind ins nahe Hechtviertel mit seinen ehemals dicht bevölkerten, jetzt still in sich
versunkenen Vorstadtstraßen. Dort ließen sich zwei Brüder von Kästners Mutter als Fleischer nieder, um sich
alsbald zu erfolgreichen Pferdehändlern hochzuarbeiten. Hinter den Häusern in der Hechtstraße 29 und 30
sind die Pferdeställe, als Autoställe genutzt, erhalten geblieben. Der kleine Kästner trieb sich besonders gern
hier herum, wenn frische Pferde eingetroffen waren und es wie auf einem Marktplatz zuging.
In den Mietshäusern leben noch alte Leute, die sich an das Hufgetrappel, das Knallen der Peitschen, die
Flüche der Knechte und das Feilschen auf den Höfen lebhaft erinnern. Frau Schlögel, vor 84 Jahren in der
Hechtstraße 29 geboren, war mit der Kästner-Familie bekannt und lebt heute in der Wohnung seines Onkels
Paul Augustin. Gern zeigt sie Schulklassen das Foto, auf dem sie als Dreijährige vor dem Laden des
"königlich-sächsischen Hoflieferanten" zu sehen ist. Sie erzählt von blutigen Ritualen, die auch Kästner
mitangesehen haben muß, aber in seinem Erinnerungsbuch mit Rücksicht auf die jungen Leser verschwieg:
"Auf dem Hof wurden die Pferde fein gemacht für den sächsischen Hof, das heißt, ihnen wurden die
Schwänze abgeschnitten. Da mußte immer jemand ein glühendes Eisen parat haben und die Wunde
versengen, damit die Tiere nicht verbluteten. Aus den Schwänzen kochten die Leute Suppe. Aber einmal soll
auch der König höchstpersönlich hiergewesen sein."
Die Brüder von Kästners Mutter verdienten viel Geld, doch anstatt ihre ärmeren Verwandten zu unterstützen,
stellten sie bloß ihre Überlegenheit zur Schau. Onkel Franz kaufte sich eine Villa am Albertplatz, Ecke
Antonstraße, die derzeit saniert wird. Der junge Kästner ließ sich dort von Tante Lina mit Kaffee und Kuchen
verwöhnen, und manchmal schickte sie den zu Treu und Redlichkeit erzogenen Knaben mit riesigen
Geldsummen aus den Pferdeverkäufen zur Bank. Am liebsten saß der Junge auf der Gartenmauer und
blickte wie aus einer baumbekränzten Loge auf den lauten Platz nebenan: "Die Straßenbahnen, die nach der
Altstadt, auf den Weißen Hirsch, nach dem Neustäder Bahnhof und nach Klotzsche und Hellerau fuhren,
hielten dicht vor meinen Augen, als täten sie´s mir zuliebe. Hunderte von Menschen stiegen ein und aus,
damit ich etwas zu sehen hätte. Lastwagen, Kutschen, Autos und Fußgänger taten für mich, was sie
konnten."
Von der Terrasse des "Café Kästner" genießt man heutzutage einen nicht minder lebhaften Ausblick auf den
Albertplatz. Das Lokal ist noch im Sozialismus eingerichtet worden und hat – anders als das "Café Kisch" in
Berlin – die letzte Zeitenwende glücklich überlebt. Etwas abseits der Stühle auf der Terrasse steht ein
einzelner rechteckiger Tisch mit einem mannshohen Aufbau. Ein Stapel schmaler Bücher bildet eine Säule,
und obenauf sitzt ein Hut. Drumherum liegen die Insignien des Kaffeehausliteraten: Notizblock und Bleistift,
Kaffeetasse und Wasserglas, eine zusammengerollte Zeitung. Alles aus Bronze, zum Anfassen.
Das 1990 aufgestellte, von Wolf-Eike Kutsche entworfene Kästnerdenkmal hemmt den Lauf vieler
Passanten, die eine Abkürzung über die Terrasse suchen. Immer wieder bilden sich kleine Menschenansammlungen um die Skulptur, denn es dauert ein wenig, ehe man sie einmal umrundet, alles betrachtet und
die Titel auf den Bücherrücken entziffert hat. Sie ist eines der wenigen Dichterdenkmäler, die nicht bloß
irgendwo herumstehen, sondern neugierig machen, gerade, weil es sich so unaufdringlich in den Weg stellt.
Von dem Denkmal führt die Alaunstraße, parallel zur Königsbrücker Straße, schnurgerade dahin, wo
Kästners Kindheit zuende ging. Die Alaunstraße ist militärisch exakt auf die Garnisonskirche und den
Alaunplatz ausgerichtet. Dort fand jedes Jahr am Geburtstag des letzten Sachsenkönigs eine riesige
Truppenparade statt – "die prächtigsten und teuersten Operetten und Revuen, die ich in meinem Leben
gesehen habe", so Kästner. Stolz vermerkt ein Reiseführer von 1912, auf dem Alaunplatz habe, Mann an
Mann gestellt, die gesamte deutsche Armee Platz. Sonntags allerdings werde hier nicht exerziert, sondern
Fußball gespielt. So ist es auch heute. Auf dem weiträumigen Rasenplatz üben die Rummeniges von
morgen; unter schattigen Linden sitzen alte Leute, Federbälle fliegen hin und her, es wird gespielt, gedöst,
geschmust. Vergessen scheint, daß noch vor wenigen Jahren Jugendlichen hier militärischer Schneid
beigebracht wurde. Nicht umsonst hieß der Ort im Sozialismus "Platz der Thälmann-Pioniere".
Der Alaunplatz war ursprünglich Teil der "Dresdner Kasernopolis", eines riesigen Militärgeländes, auf dem
Kästner seit Juli 1917 zum Rekruten gedrillt wurde. Ein Unteroffizier ließ ihn so lange strafexerzieren, bis er
mit einem Herzleiden ins Lazarett eingeliefert werden mußte. Das rettete Kästner davor, als Kanonenfutter
an die Front geschickt zu werden, aber unter den Folgen litt er ein Leben lang. In Gedichten und der
Erzählung "Duell bei Dresden" hat er die Menschenschinderei auf dem Kasernenhof geschildert. Sie machte
ihn zum überzeugten Pazifisten, und das blieb er, von seiner politischen Lyrik aus den Zwanzigern ("Kennst
Du das Land, wo die Kanonen blühn?") bis hin zu seinem Engagement gegen die Atomrüstung in den
fünfziger Jahren.
"Wenn es zutreffen sollte, daß ich nicht nur weiß, was schlimm und häßlich, sondern auch, was schön sei,
so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein." Wie allen Dresdnern ging Kästner
ein Stück eigenen Lebens verloren, als die barocke Altstadt kurz vorm Ende des 2. Weltkrieges sinnlos
zerstört wurde. Besonders schmerzte es ihn, daß die Kasernen dabei unversehrt blieben. Einige werden bis
heute militärisch genutzt: Nach der Roten Armee und der DDR-Volksarmee ist jetzt Bundeswehr eingezogen,
und auch das DDR-Armeemuseum hat man ins neue Deutschland herübergerettet. So ändern sich die
Zeiten.
1998
http://www.zlb.de/projekte/kaestner/prolog/dresden.htm
Erich Kästner
"Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? Du kennst es nicht? - Du wirst es kennenlernen.
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe, und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe, und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort..."
Er ist der scharfsinnig-bissige Analytiker des Zeitgeschehens und Vater von „Pünktchen und Anton“. Er
schreibt Romane und verfaßt Epigramme, ist Journalist und Lyriker, Lieferant für Kabarettnummern und
Drehbuchautor für Kinofilme, Redner und Selbstdarsteller. Er ist der geborene Provinzler und überzeugter
Großstädter, Beobachter des “lasterhaften Berlins“ und Anwalt der kleinen Leute. Er ist Kinderfreund und
Junggeselle, Pessimist und Lebenskünstler, sentimentaler Ironiker und Chronist der aufstiegsbesessenen
Angestellten. Der Sohn des Sattlermeisters Emil Richard Kästner und seiner Ehefrau Ida – zu der Kästner
Zeit seines Lebens ein sehr enges Verhältnis haben wird – geht nach dem Besuch der Volksschule ans
Lehrerseminar des Freiherrn von Fletscher und veröffentlicht 1919 sein erstes Gedicht „Die Jugend schreit!“
in einer Schülerzeitung. Nach Notabitur und anschließendem Studium der Germanistik, Geschichte,
Philosophie und Theatergeschichte in Leipzig arbeitet Kästner als Journalist (u.a. für die „Neue Leipziger
Zeitung“ und hat ab 1922 eine Stelle am Zeitungswissenschaftlichen Institut inne. Drei erste Gedichte
werden in „Dichtungen Leipziger Studenten zur Weihnachtszeit“ veröffentlicht. 1925 promoviert er zum Dr.
phil. Aufgrund der Veröffentlichung eines erotisch relativ freizügigen Gedichtes wird er von der „Neuen
Leipziger Zeitung“ entlassen und zieht nach Berlin, wo er als Theaterkritiker und freier Mitarbeiter bei
verschiedenen Zeitungen, unter anderem für Carl von Ossietzkys „Weltbühne“, schreibt. Der Schmelztiegel
Berlin wird für Kästner zur literarischen Inspiration – hier erlebt er die Welt als „Kino“ oder „Drehbühne“ und
charakterisiert sich selbst als „Zuschauer im Welttheater“. Ab 1928 werden Kästners erste Gedichtbände
veröffentlicht, darunter „Herz auf Taille“ (1928), „Lärm im Spiegel“ (1929), gefolgt von zeitkritischen,
politisch-satirischen Gedichten und Kabarett-Texten. Mit seinen Roman-Bestsellern „Emil und die
Detektive“ – 1929 erschienen und weltweit in mehr als 20 Sprachen übersetzt und verfilmt –, „Pünktchen
und Anton“ (1931), „Der 35. Mai“ (1931) und „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) schreibt sich Kästner in
die Herzen seiner großen – und vor allem kleinen! – Leser, wird zu einem der begehrtesten Kinderbuchautoren und findet nicht zuletzt in dem Illustrator Walter Trier seinen kongenialen Partner. Nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten gehören Kästners Werke zu denen, die verboten und bei der reichsweiten Bücherverbrennung 1933 ins Feuer geworfen werden. Darunter „Herz auf Taille“, „Ein Mann gibt
Auskunft“, „Gesang zwischen den Stühlen“ sowie sein satirischer Roman „Fabian“ aus dem Jahr 1931 –
alles Bücher, in denen Kästner mit treffsicherem Witz gegen spießbürgerliche Moral, Militarismus und
Faschismus Partei ergreift. Erich Kästner ist Zeuge der Verbrennung seiner Bücher am 10. Mai 1933 auf dem
Berliner Opernplatz: „Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniformen, den
Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden
des abgefeimten kleinen Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einer zerschlagenen Büste
Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und
her schwankte. Es war widerlich. Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: Dort steht ja Kästner! Eine junge
Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer
Verblüffung laut Ausdruck verliehen. Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in
diesen Tagen gerade sehr viel zu geschehen pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des
kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin. Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten,
die Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß und zu dem
psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen“. (Erich Kästner: „Kennst du das Land, in dem die Kanonen
blühen?“, Auszug aus dem Vorwort) Zwischen 1937 und 1940 wird Erich Kästner wiederholt verhaftet, jedoch
immer wieder freigelassen. Für den Ufa-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ schreibt er 1942 unter dem
Pseudonym Berthold Bürger das Drehbuch. Obwohl mit Schreibverbot belegt, emigriert er nicht, bleibt in
Deutschland – und schreibt weiter. Seine Romane „Drei Männer im Schnee“ (1934), und „Georg und die
Zwischenfälle“ (1938) erscheinen im Ausland. „Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein verbotener Schriftsteller
zu sein und seine Bücher nie mehr in den Regalen und Schaufenstern der Buchläden zu sehen. In keiner
Stadt des Vaterlands. Nicht einmal in der Heimatstadt. Nicht einmal zu Weihnachten, wenn die Deutschen
durch die verschneiten Straßen eilen, um Geschenke zu besorgen.“ (Erich Kästner, a.a.O.) Kästner arbeitet
als Feuilleton-Redakteur der „Neuen Zeitung“ und gibt ab 1946 die Zeitschrift „Pinguin. Für junge Leute“
heraus. Seine Gedichtauswahl „Bei Durchsicht meiner Bücher“ gehört zu Kästners ersten Buchveröffentlichungen nach Kriegsende. 1947 reist er zum Internationalen PEN-Kongreß in Zürich. 1949 wird sein
Bühnenstück „Zu treuen Händen“ uraufgeführt und die Kinderbücher „Das doppelte Lottchen“ und „Die
Konferenz der Tiere“ erscheinen. Gemeinsam mit Axel von Ambesser, Herbert Witt und Hellmuth Krüger
gehört Erich Kästner außerdem zu den Hausautoren des im Sommer 1945 von dem Schauspieler und
Regisseur Rudolf Schündler gegründeten Kabaretts „Die Schaubude“. In seiner Wahlheimat München
gründet Kästner 1951 mit „Die kleine Freiheit“ ein eigenes Kabarett. Im selben Jahr stirbt die von ihm
geliebte Mutter, mit der er fast täglich korrespondiert hat, in Dresden. Der Präsident des Westdeutschen
PEN-Zentrums (1951–1962) erhält 1956 den Literaturpreis der Stadt München und wird spätestens mit der
Verleihung des renommierten Büchner-Preises 1957 zu einem Klassiker deutschsprachiger Literatur, der bis
heute nichts von seiner Popularität eingebüßt hat. Mit der Publikation von „Notabene 45: Ein Tagebuch“
veröffentlicht Kästner 1961 seine Aufzeichnungen aus der Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. 1963
erscheint sein Kinderroman „Der kleine Mann“. Im Herbst 1964 wird eine große Kästner-Ausstellung des
Goethe-Instituts in der Internationalen Jugendbibliothek in München präsentiert und wandert anschließend
auch in andere europäische Länder, u.a. nach nach Stockholm und Kopenhagen. 1970 erhält Erich Kästner
den kulturellen Ehrenpreis der Stadt München, wo er 1974 auch im Alter von 75 Jahren an den Folgen eines
Krebsleidens stirbt.
http://www.exilarchiv.de/Joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=610
… und das Theater
Ich liebe das Theaterspielen von Herzen, aber als Zuschauer
Erich Kästners Liebe zum Theater ist wie viele andere Themen, die sein Leben durchziehen, auf Erlebnisse in
der Kindheit zurückzuführen. In seinen Erinnerungen “Als ich ein kleiner Junger war” schreibt er: “Meine
Laufbahn als Zuschauer begann sehr früh, und der Zeitpunkt war ein Zufall. Ich war sieben oder acht Jahre
alt, als meine Mutter bei Frau Wähner, ihrer Putzmacherin, eine gewisse Frau Gans kennenlernte und sich
mit ihr anfreundete.” Eine der Töchter von Frau Gans spielte leidenschaftlich gern Theater und war froh,
wenn sie außer ihrer Mutter und ihrer kranken Schwester, Frau Kästner und Erich als Zuschauer hatte. Durch
Hilde Gans kamen Erich und seine Mutter in Kontakt mit richtigen Bühnen und entdeckten schließlich die
Dresdener Theater: Das Alberttheater, das Schauspielhaus und die Oper wurden bald ein zweites Zuhause
für Erich Kästner. Regelmäßige Theaterbesuche gehören also zu den Dingen, die seine Mutter ihm
ermöglicht hat – auch wenn es z.T. auf Steh- oder billigen Sitzplätzen war. Der Theatergeschmack konnte
sich schon früh bilden, womit eine gute Grundlage für die späteren Theaterkritiken geschaffen war. Erste
Gehversuche in der schriftlichen Theaterkritik musste und durfte Erich Kästner während des Studiums
machen. Einer der Dozenten am Zeitungswissenschaftlichen Institut in Leipzig verlangte von seinen
Studenten, dass sie direkt im Anschluss an eine Aufführung eine Kritik verfassten und diese noch in der
gleichen Nacht an ihn absandten. Sie sollten sich nicht von der professionellen Theaterkritik beeinflussen
lassen. Eine harte, aber gute Schule, in der Erich Kästner wieder einmal erfolgreich war. Der Kommentar
seines Lehrers, Dr. Morgenstern: “Ich habe in diesem Institut nur zwei echte Begabungen kennengelernt:
Eugen Ortner und Sie!” Schon während des Studiums befasste sich Kästner auch mit den theoretischen
Hintergründen des Theaters, er plante sogar eine Dissertation über Lessings Dramaturgie, musste diesen
Plan aber aus finanziellen Gründen aufgeben. Mit diesen Voraussetzungen traf Kästner 1927 in Berlin ein.
Hier konnte er Theaterkritiken üben und seine theoretischen Kenntnisse vertiefen, war er doch Zeitzeuge der
ersten Gehversuche des experimentellen Theaters von Max Reinhardt und Erwin Piscator. War es da
verwunderlich, dass in Erich Kästner ein neuer Berufswunsch aufkeimte? Nun wollte er Theaterregisseur
werden. Um erste Anschauungen von dieser Tätigkeit zu bekommen, suchte er Kontakt zu Theaterregisseuren, die jedoch abwinkten, so dass er schließlich zu einer List greifen musste: Er wusste, bei
welchem Friseur der Theaterregisseur Berthold Viertel sich rasieren ließ und arrangierte es, dort eines Tages
neben ihm zu sitzen. Viertel war von der List und der Frage, ob Kästner bei Proben zuschauen dürfe, so
erheitert, dass er ihm die Anwesenheit bei den Vorbereitungen für seine neue Inszenierung erlaubte.
Allerdings fand die Lehrstunde in Sachen Theater ein Ende, als eine der Hauptdarstellerinnen Kästner im
Theater bemerkte und ihn hinauswerfen ließ. Danach legte Kästner einen Schwerpunkt seines
Theaterschaffens darauf, Theaterstücke zu schreiben. Im Laufe seines Lebens wurde sogar das eine oder
andere uraufgeführt und noch hin und wieder inszeniert, z.B. 1948 “Zu treuen Händen” und 1957 “Die Schule
der Diktatoren”. Doch hauptsächlich beschränkte sich Kästners Theaterpräsenz auf Bühnenfassungen
seiner Kinderbücher, allen voran “Emil und die Detektive”.
http://kaestnerimnetz.wordpress.com/kaestner/und-das-theater/
… als Kinderbuchautor
Lasst Euch die Kindheit nicht austreiben!
Noch bekannter als die Gedichte Erich Kästners sind heute seine Kinderbücher. Und dabei hatte er bei seiner
Lebensplanung gar nicht daran gedacht, Geschichten für Kinder zu schreiben. Erst Edith Jacobsohn, die
Witwe des “Weltbühne”-Verlegers Siegfried Jacobsohn, regte ihn bei einem Autorentreffen an, für Kinder zu
schreiben. „An einem dieser Nachmittage bugsierte sie mich auf den Balkon, klemmte ihr Monokel ins Auge
und sagte: ‘Sie wissen, dass ich die Weltbühne nur leite, weil mein Mann verstorben ist. Und Sie wissen auch,
daß mir der Kinderbuchverlag Williams & Co gehört.’ Ich nickte. Ich wusste es. Sie hatte, in deutscher
Übersetzung, Hugh Loftings Doolittle-Bände herausgebracht, ‘Pu der Bär’ von A.A. Milne und zwei Bände von
Karel Capek. Der Verlag genoss größtes Ansehen. ‘Es fehlt an guten deutschen Autoren’, sagte sie.
‘Schreiben Sie ein Kinderbuch!’ Ich war völlig verblüfft. ‘Um alles in der Welt, wie kommen Sie darauf, dass
ich das könnte?’ ‘In Ihren Kurzgeschichten kommen häufig Kinder vor’, erklärte sie. ‘Davon verstehen Sie
eine ganze Menge. Es ist nur noch ein Schritt. Schreiben Sie einmal nicht über Kinder, sondern auch für
Kinder!’ ‘Das ist sicher schwer’, sagte ich. ‘Aber ich werd’s versuchen.’ Fünf, sechs Wochen später rief Edith
Jacobsohn bei mir an. ‘Haben Sie sich die Sache durch den Kopf gehen lassen?’ ‘Nicht nur das, gab ich zur
Antwort. ‘Ich schreibe gerade am neunten Kapitel.’“ (In: Einiges über Kinderbücher in: Das Kästner Buch,
S.90 – Piper-TB-Ausgabe) Es war das neunte Kapitel von “Emil und die Detektive”, dem Kinderroman, der in
den Werklisten der deutschsprachigen Kinderbuchautoren kaum einen Nachfolger findet. In alle wichtigen
Sprachen der Welt übersetzt, mehrmals verfilmt und für die Bühne inszeniert und Begleiter von mehreren
Kindergenerationen war es vor allem dieses Buch, das den Ruf Erich Kästners als Kinderbuchautor
begründet hat. Aber auch ihm muss diese Arbeit Spaß gemacht haben, er brauchte sie sogar als Ausgleich
für seine bissigen Appelle an die Erwachsenen. Hier konnte er seine Kindheitserlebnisse beschreiben und
weiterspinnen. Und da er im Herzen Kind geblieben war, traf er trotz seiner pädagogischen
Zwischenbemerkungen, die sich fast in allen Kinderbüchern finden, den Ton und das Lebensgefühl der
Kinder. Mit “Pünktchen und Anton”, “Das fliegende Klassenzimmer”, “Das doppelte Lottchen” und “Die
Konferenz der Tiere” gelangen ihm Romane für Kinder, die auch heute noch nicht an Bedeutung und
Aktualität verloren haben. Noch immer gehören sie mit “Emil und die Detektive” zu den beliebtesten
Kinderbüchern und noch immer dürfen sich die Verfilmungen hoher Einschaltquoten erfreuen.
http://kaestnerimnetz.wordpress.com/kaestner/als-kinderbuchautor/
Aufklärerischer Humanist (nach eigenem Bekunden "Moralist, Rationalist, Urenkel der deutschen Aufklärung"), liberaler Demokrat,
humorvoller und zynischer Zeitkritiker. K., der Autor düsterer und resignierter, bissiger und bitterer Gedichte, [...] gehört zu den
Moralisten, die zugleich Spaßmacher sind. In allem, was er geschrieben hat, dominiert unmissverständlich und dennoch
unaufdringlich das Pädagogische. Mithin ein Schulmeister gar? Aber ja doch, nur eben Deutschlands amüsantester und
geistreichster . (Marcel Reich-Ranicki).
Kästner um 1929
Kinderliteratur der Jahrhundertwende (Reformpädagogik, Dichtung vom Kinde aus), der Weimarer
Republik und der Nachkriegszeit in Westdeutschland und Österreich
Zu meiner Zeit gab es kein Internet,
da konnten die Fernsehsender und
die Plattengesellschaften verhindern,
dass die Öffentlichkeit mich hört.
Seither agierte ich am Rande.
Heute sind die Leute klüger durch das Internet.
Und deshalb wird eines Tages auch eine Revolution kommen.
Dann werden die Massenmedien aufwachen
und ihrem Erziehungsauftrag wieder nachgehen.
Erziehung kann ja durchaus unterhaltsam sein.
Wie man an Erich Kästner sieht, der mich stark beeinflusst hat.
(Georg Kreisler)
Moderne Kunst, Dichtung der Moderne – kann es etwas der Kinder- und Jugendliteratur entfernteres geben?
Es scheint dies die landläufige Meinung zu sein. Die Moderne bewirkt in allen literarischen (und
künstlerischen) Gattungen einen tiefgreifenden Formenwandel, einen radikalen Umbruch der Gestaltungsweisen. Sie ist als literarische (bzw. künstlerische) Tendenz nicht auf das frühe 20. Jahrhundert
einzugrenzen; vielmehr zählt sie, so oft auch versucht wurde, über sie hinaus- bzw. hinter sie zurückzugehen, zu den bleibenden und tatsächlich immer wieder aufgegriffenen formkünstlerischen Möglichkeiten
des 20. Jahrhunderts.
Es gibt Ebenen der Moderne – ihr Hermetismus etwa –, auf denen der Abstand zu allem Kinderliterarischen
sich erheblich vergrößert hat. Dafür hat die Moderne auf anderen Feldern – im Sprachspiel, im Nonsense
beispielsweise – sich dem Kinderliterarischen in einem Maße angenähert, wie es für die bürgerliche Literatur
des 19. Jahrhundert unvorstellbar gewesen wäre. Die Moderne war sogar in der Lage, Kinderbücher wie „Alice
in Wonderland“ rückblickend in ihre Ahnenreihe aufzunehmen. So wenig das Verhältnis von Kinderliteratur
und Moderne auch auf einen Nenner zu bringen sein dürfte, eines scheint unabweislich zu sein: Die Moderne
hat auch auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur Epoche gemacht.
Mit welcher Verspätung, mit welcher Nachhaltigkeit sie dies getan hat, sind bereits Fragen, die die faktische
Beeinflussung der Kinderliteratur durch die Moderne betreffen. Die Kinderliteratur hat sich im 20.
Jahrhundert bekanntermaßen weitgehend in der Obhut von ausgesprochen antimodernistisch gesinnten
Kräften befunden; so hat sie vielfach das nicht aufgenommen, was für sie an Inspirierendem in der Moderne
enthalten war. Eine in diese Richtung gehende Öffnung dürfte es auf breiterer Front erst seit den 50er, im
deutschsprachigen Raum erst seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gegeben haben. Bezüglich der
ersten Jahrhunderthälfte wäre – von den wenigen, eben deshalb so bedeutenden Ausnahmen abgesehen –
wohl nur zu oft Fehlanzeige zu vermelden, allenfalls eine vordergründige Aufnahme der Moderne, ihrer
Themen mehr als ihrer Formensprache.
Die Zeit der Jahrhundertwende, zugleich erste Epoche der reformpädagogischen Bewegung, ist
durch einen erneuten kinderliterarischen Modernisierungsschub gekennzeichnet, der am markantesten
zunächst auf kinderlyrischem Gebiet hervortritt. In der Kinderlyrik von Richard und Paula Dehmel stößt man
auf eine unmittelbare, ja impulsive, ganz und gar unzensierte, gleichzeitig aber vorbehaltlos ernst
genommene lyrische Selbstaussprache eines kindlichen Ich, das sich auch in seinen bedenklichen Seiten,
seiner Grausamkeit, seinem Sadismus, ausdrücken darf. In der Sammlung „Fitzebutze“ von 1900 haben wir
es mit einer radikal antiautoritären Kinderlyrik zu tun. Vornehmlich mit Blick auf diese Kinderlyriksammlung
ist von der zeitgenössischen Kritik die Parole der „Dichtung vom Kinde aus“ (W. Lottig, H. Wolgast) geprägt
worden. In Paula Dehmels „Singinens Geschichten“ (1903; sep. 1921) tritt die moderne kindliche IchErzählung auf den Plan, in der ein kindliches Ich zum Wahrnehmungs- und Wertungszentrum des Werkes
erhoben wird, wobei keinerlei Relativierungen seitens einer erwachsenen Autorität erfolgen. Bei diesen
Werken haben wir es mit konsequent moderner Kinderliteratur zu tun – und zwar sowohl hinsichtlich der
Konzentration auf das kindliche Erleben wie bezüglich der im Kind angesiedelten Wertungsposition.
In den gleichzeitig entstehenden, teilweise von reformpädagogisch engagierten Lehrern für den
Schulgebrauch verfassten Großstadtskizzen und -geschichten für Kinder (Ilse Frappan: „Hamburger Bilder
für Kinder“, 1899; Fritz Gansberg: „Streifzüge durch die Welt der Großstadtkinder“, 1904; „Unsere Jungs.
Geschichten für Stadtkinder“, 1905; Heinrich Scharrelmann: „Ein kleiner Junge“, 1908) kommt es zu einer
neuartigen Mischung traditionaler und moderner Elemente. Der modernen Kinderliteratur sind sie durch ihre
Respektierung der kindlichen Erlebnisperspektive wie teilweise auch der kindlichen Wertungsposition
verpflichtet; hierin verstehen auch diese Texte sich als „Dichtung vom Kinde aus“. Thematisch aber zielen
sie in eine andere Richtung, intendieren sie eine Öffnung der Kinderliteratur hin auf die Welt der
Erwachsenen. Sie rücken die Arbeitswelt, die Großstadt, schließlich auch die sozialen Verhältnisse in den
Blick des Kindes. Literarisch gelingt dies am ehesten dort, wo sie von Arbeiter-, Handwerker- oder
Angestelltenkindern handelt; in diesen unteren großstädtischen Sozialmilieus sind die Lebenswelten der
Kinder von denen der Erwachsenen noch nicht in dem Masse geschieden, wie dies in den oberen
gesellschaftlichen Schichten der Fall ist. Von der Vergegenwärtigung unterschichtstypischer
Kindheitsmuster mit ihrer weitreichenden Teilhabe am Erwachsenenleben zehrt schließlich der realistische,
teilweise sozialkritische Kinderroman der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik (Gustav Falke: „Drei
gute Kameraden“, 1908; Carl Dantz: „Peter Stoll“, 1925; Wolf Durian: „Kai aus der Kiste“, 1927; Erich Kästner:
„Emil und die Detektive“, 1928, „Pünktchen und Anton“, 1931; Lisa Tetzner: „Erwin und Paul“, „Das
Mädchen aus dem Vorderhaus“, 1933). Gerade hierin aber ist das traditionale, vormoderne Element dieser
Kinderliteratur zu sehen. Im kinderliterarischen Realismus des frühen 20. Jahrhunderts kommt die
vormoderne, traditionale Gemeinschaftlichkeit der Lebensalter, wie sie in den spätständischen
großstädtischen Unterschichtenkulturen noch anzutreffen ist, noch einmal auf eindrucksvolle Weise zur
Darstellung.
Historisch gesehen sind diese offenen großstädtischen kindlichen Lebensräume zum Untergang verurteilt.
Im Zuge der ab Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Ausweitung des Bildungswesens kommt es zu
einer weitreichenden Übernahme des bislang auf die Oberschichten begrenzten modernen Kindheitsmusters
durch die unteren Mittel- wie durch große Teile der Unterschichten, deren Kinder nun an dem zeitlich
ausgedehnten Bildungsangebot partizipieren. Der auf alle Schichten ausgedehnte Verschulungsprozess
führt zu einer Universalisierung von Kindheit im modernen Sinne. Der sozialkritischen Kinderliteratur des
frühen 20. Jahrhunderts, deren Geschichte 1933 in Deutschland ihren erzwungenen Abschluss findet, sind
in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftlichen Voraussetzungen entzogen. Die
großstädtischen, straßenöffentlichen Kindheitsräume, das Einbezogensein der Kinder in das Erwachsenenleben, in die sozialen Konflikte und politischen Auseinandersetzungen, die gewissermaßen das objektive
Fundament der sozialkritischen (wie übrigens auch der proletarischen) Kinderliteratur des frühen 20.
Jahrhunderts ausmachten, sind ab den 60er Jahren historisch geworden. Es setzt sich mit den späten 50er
Jahren – mit dem Siegeszug bspw. von Astrid Lindgrens „Bullerbü“-Erzählungen – auf kinderliterarischem
Gebiet eine erneute thematische Einschränkung auf Kinderweltliches durch, wobei dies für die kindlichen
Leser der nicht-bürgerlichen Schichten historisch gesehen die erste Begegnung mit der literarischen
Inszenierung einer autonomen Kinderwelt darstellt. Mit der Universalisierung von Kindheit im modernen
bürgerlichen Sinn, wie sie knapp zwei Jahrhunderte nach Rousseaus Proklamation der Kindheitsautonomie,
zu beobachten ist, erfahren die philanthropische und die romantische Kinderliteraturreform im Grunde erst
ihre gesellschaftliche Verallgemeinerung.
Die Nachkriegszeit im westlichen deutschsprachigen Raum (bis Ende der 60er, Anfang der 70er
Jahre) darf als eine Blütezeit moderner, auf Autonomisierung der Kindheit abzielender Kinderliteratur gelten.
Erst jetzt scheint der in diesem Literaturbereich so beharrliche Traditionalismus besiegt zu sein. Es gewinnt
eine Kinderliteratur die Oberhand, die die kindliche Erlebnisperspektive und Weltsicht in den Mittelpunkt
rückt, die kindlichen Wünschen und Phantasien die Möglichkeit gewährt, sich auszuleben, die antiautoritär
nicht in erster Linie dadurch ist, dass sie die Autorität der Erwachsenen in Frage stellt, sondern darin, dass
sie bevormundungsfreie kindliche Spielräume entwirft. Für die westdeutsche Kinderliteraturentwicklung
prägend war die Öffnung für die entwicklungsmäßig vorausgeeilte moderne Kinderliteratur vor allem des
englischen Sprachraums; es kommt zu einer breiten Rezeption vor allem der Klassiker der phantastischen
Kinderliteratur (J. M. Barrie: „Peter Pan“, 1904; Kenneth Graham: „The Wind in the Willows“, 1908; Hugh
Lofting: „Dr. Dolittle“, 1920 ff.; A. A. Milne: „Winnie the Pooh“, 1926; P. L. Travers: „Mary Poppins“, 1934 ff; C. S.
Lewis: Narnia-Erzählungen, 1950 f; Mary Norton: „The Borrowers“/ „Die Borgmännchen“, 1952 ff.; Pauline
Clark: „The Twelve and the Genii“/ „Die Zwölf vom Dachboden“, 1962; Madeleine L'Engle: „A Wrinkle in
Time“/ „Die Zeitfalte“, 1962).
Nicht minder bedeutend ist der Einfluss der breit rezipierten skandinavischen Nachkriegsliteratur für Kinder,
allen voran derjenige Astrid Lindgrens. Im Werk dieser schwedischen Autorin sind die verschiedenen Stränge
moderner Kinderliteratur vereint. Auf der einen Seite der philanthropisch-reformpädagogische, der sich in
den Lindgrenschen Umweltgeschichten von der Art der „Kinder aus Bullerbü“ (ab 1947, dt. 1954)
niederschlägt. Im Unterschied zu den Umweltgeschichten der Jahrhundertwende, die dem Kind die
Großstadt, die Industrie, die Arbeitswelt vor Augen führen, sind die Schauplätze der Erzählungen Lindgrens
nicht nur aufs Land, sondern in eine weniger historische, vielmehr poetische Vergangenheit verlegt. Man
muss das Lindgrensche „Pferdezeitalter“ als eine nach rückwärts projizierte Kindheitsutopie lesen, als die
Nach-Aussen-Kehrung eines Inneren, des kindlichen Gemüts, seiner Begehren und seiner Wünsche. Präsent
im Lindgrenschen Werk ist auf der anderen Seite der romantisch-phantastische Strang mit Titeln wie „Mio,
mein Mio“ (1954, dt. 1955) oder „Karlsson vom Dach“ (1955, dt. 1956), die die englische kinderliterarische
Tradition fortschreiben. Ausgangspunkt ist hier die problematische Situation des Kindes in der modernen
Gesellschaft, die eine Behauptung der Autonomie von Kindheit nur noch auf eine phantastische Weise
zulässt. Es mag zu einem nicht unerheblichen Teil dem Einfluss Astrid Lindgrens zuzuschreiben sein, dass
die (beachtenswerte) Kinderliteratur der Nachkriegsjahrzehnte sich auf breiter Front autoritärer Züge
weitgehend entledigt hat – zum einen dadurch, dass sie die Kinderwelten in freier Selbständigkeit
hervortreten lässt und mit weitgehender Unabhängigkeit ausstattet, zum anderen dadurch, dass sie die
positiven erwachsenen Randfiguren nicht als Autoritätspersonen, sondern als Partner der Kinder gestaltet.
Die offene, provokatorische Infragestellung von Autoritäten, wie sie in Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ (1945,
dt. 1949) anzutreffen ist, bleibt in dieser kinderliterarischen Epoche freilich die Ausnahme. Wir haben es
dennoch mit einem kinderliteraturgeschichtlich bemerkenswerten Umschwung zu tun: Eine nicht-autoritäre
Kinderliteratur genießt mit einem Male eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, während gleichzeitig
Kinderliteratur mit sichtbar autoritären Zügen in Misskredit zu geraten beginnt. Die moderne Kinderliteratur,
die auf Kindheit als eigenständigen wie autoritätsfreien Raum abhebt, ist damit zur kinderliterarischen
Normalität geworden.
Im westdeutschen und österreichischen Raum ist in den 50er und 60er Jahren eine reichhaltige Blüte
moderner Kinderlyrik zu beobachten. In Anknüpfung an die Kinderlyrik des Biedermeier (Wilhelm Hey,
Hoffmann von Fallersleben, Friedrich Güll) und der Jahrhundertwende (Paula und Richard Dehmel) tritt sie
als naive kindliche Ausdruckspoesie auf, die insofern zugleich Naturlyrik ist, als allein die Natur dazu
befähigt ist, das kindliche Gemüt widerzuspiegeln. Die neue Kinderlyrik zeigt einesteils große Nähe zum
volkstümlichen Kinderreim (Friedrich Hoffmann: „Ole Bole Bullerjahn“, 1957), greift andernteils Elemente der
modernen Erwachsenen(Natur-)lyrik auf (Josef Guggenmos: „Lustige Verse für kleine Leute“, 1956, „Was
denkt die Maus am Donnerstag“, 1967; Christine Busta: „Die Sternenmühle“, 1959; Elisabeth Borchers: „Und
oben schwimmt die Sonne davon“, 1965). Daneben entwickelt sich in Anknüpfung an Erich Kästner („Das
verhexte Telefon“, 1932) eine komische, bisweilen moritatenhaft groteske Kinderlyrik, die in erster Linie von
James Kruess gepflegt wird („Spatzenlügen“, 1957, „Der wohltemperierte Leierkasten“, 1961). Kruess fördert
zugleich die Nonsens-Poesie und das lyrische Sprachspiel, die jedoch erst ab Mitte/Ende der 60er Jahre
Konjunktur haben (Hans A. Halbey: „Pampelmusensalat“, 1965; Jürgen Spohn: „Der Spielbaum“, 1966,
Michael Ende: „Das Schnurpsenbuch“, 1969; Josef Guggenmos: „Gorilla, ärgere dich nicht“, 1971); hier
kommt es auch zu einer Entdeckung von Morgenstern, desjenigen der „Galgenlieder“, und von Ringelnatz.
Auf epischem Gebiet ragt James Kruess heraus, der mit seinen Helgolaender Erzählzyklen („Der Leuchtturm
auf den Hummerklippen“, 1956, „Mein Urgroßvater und ich“, 1959) die Kinderliteratur in die Tradition
althergebrachter Erzählkunst einfügt. Neben ihn tritt Otfried Preussler, dessen literarische Kindermärchen
und Kasperlgeschichten (neben der „Kleinen Hexe“ etwa „Der kleine Wassermann“, 1956, „Der Räuber
Hotzenplotz“, 1962, „Das kleine Gespenst“, 1966) zu auch international erfolgreichen Kinderbuchklassikern
aufgestiegen sind, was ebenso für die bereits erwähnten „Jim-Knopf“-Bücher (1960–62) Michael Endes gilt.
Zeitverhafteter erscheinen demgegenüber die realistischen Kindererzählungen dieser Zeit (bspw. Heinrich
Maria Denneborg: „Jan und das Wildpferd“, 1957; Ursula Wölfel „Der rote Rächer“, 1959, „Feuerschuh und
Windsandale“, 1961).
http://user.uni-frankfurt.de/~ewers/links/Untitled-4.1.htm#5
Das Schweigen des Satirikers
Erich Kästner zum 30. Todestag
"Die Einbahnstraße als Sackgasse" – kurz vor seinem Tod schrieb Erich Kästner diese Worte flüchtig auf ein
Stück Papier. Als ihn seine Lebensgefährtin auf den Sinn der rätselhaften Nachricht ansprach, antwortete er,
dass das die von den Deutschen in kritischen Zeiten bevorzugte Marschroute sei. Wenige Wochen später, 29.
Juli 1974, starb der große Satiriker und Kinderbuchautor. Kästner waren die Sackgassen der deutschen
Geschichte nur allzu vertraut. Lange vor der national-sozialistischen Machtergreifung entlarvte er die
typisch deutschen Tugenden – Pflichterfüllung, unbedingter Gehorsam, grenzenloses Vertrauen in die
Obrigkeit – als Ausprägungen militaristischer Großmannssucht. "Kennst du das Land, wo die Kanonen
blühen?", fragte er 1928 in seinem berühmtesten Gedicht. "Du kennst es nicht? Du wirst es kennen lernen."
Europa lernte es kennen. Im „Stahlgewitter“ (Ernst Jünger) der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges,
im Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht in Polen und Russland. Der heroische Tod fürs Vaterland
entpuppt sich in den Gedichten Kästners als sinnloses Verrecken – ganz gleich, ob das Schlachtfeld
Stalingrad oder Verdun hieß.
Da liegen wir den toten Mund voll Dreck.
Und es kam anders als, wir sterbend dachten.
Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck.
Ihr lasst euch morgen, wie wir gestern, schlachten.
Bereits zu Zeiten der Weimarer Republik erkennt Kästner die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus und
gießt seine Abscheu vor den braunen Kneipenschlägern in Verse voll beißendem Spott. Die verführerische
Kraft der tumben Nazi-Parolen verkennt er allerdings dabei.
Ihr liebt den Haß und wollt die Welt dran messen.
Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin,
damit es wächst, das Tier tief in euch drin!
Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen.
Ihr wollt die Uhrzeiger rückwärts drehen
Und glaubt das ändere der Zeiten Lauf.
Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf!
Nur eure Uhr wird nicht mehr richtig gehen.
Diktaturen haben ein gutes Gedächtnis: Am 10. Mai 1933 verbrennen SA und Studenten auf dem Berliner
Opernplatz neben Büchern Schnitzlers, Tucholskys, Freuds, Thomas und Heinrich Manns auch die Werke von
Erich Kästner. Der beobachtet den "Geiselmord an der Literatur", die Vernichtung der kulturellen Identität des
humanistischen Deutschlands als einer von vielen unter den zumeist jubelnden Zuschauern. Insgeheim
mag Kästner an Heinrich Heine gedacht haben, der im "Almansor" schrieb, dass dort wo man Bücher
verbrennt, am Ende auch Menschen verbannt werden. Es folgen Berufs- und Publikationsverbot für den
unliebsamen Literaten. Zwei Mal wird Kästner von der Gestapo verhaftet. Von einigen harmlosen
Unterhaltungsromanen abgesehen, ist der Dichter des „Fabian“ (1932) nun zum Schweigen verurteilt. Die
Zeit für unbesonnenes Heldentum glaubt Kästner lange vorbei: "Der Held ohne Mikrophone und ohne
Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag,
hat keine politischen Folgen. Er wird zum Märtyrer. Er stirbt offiziell an Lungenentzündung. Er wird zur
namenlosen Todesanzeige." Frühere Weggefährten und Freunde bezahlen ihre menschliche Größe mit dem
Tod. Doch Kästner wird verschont. Das Propagandaministerium hat erkannt, dass der Dichter von "Drei
Männer im Schnee" (1934) von Nutzen sein kann. Die militärische Lage an den Fronten Europas wird immer
aussichtsloser. Die Wehrmacht gerät überall in die Defensive und alliierte Bomber legen deutsche Städte in
Schutt und Asche. Um die Heimatfont bei Laune zu halten produzieren die Filmstudios in Babelsberg seichte
Komödien und Revuefilme. Hierfür brauchen sie Drehbuchautoren. Kästner kommt das zweifelhafte Privileg
zu, zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Ufa das Drehbuch für den Farbfilm "Münchhausen" zu
schreiben. Der Film feiert 1943 Premiere. Den Namen "Kästner" sucht der aufmerksame Zuschauer aber im
Vorspann vergebens. Der Grund: In einer Privatvorführung hatte Hitler bereits vorab Szenen „Münchhausens“
gesehen. Als er hörte, wer das Drehbuch verfasst hatte, bekam er einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle. Welch Blöße für den Diktator, wenn ein Satiriker und bekennender Moralist bei einem der
prestigeträchtigsten Projekte der NS-Kulturpolitik die Feder führt! Der Zusammenbruch des Nazi-Regimes
zwei Jahre später gab Kästner die Möglichkeit, am moralischen und kulturellen Wiederaufbau Deutschlands
mitzuwirken. Häuser und Infrastruktur lassen sich leicht erneuern, doch wie etabliert man in einem Land, in
dem die Freiheit nie heranreifte, in dem sie "grün blieb", wie es Kästner einmal formulierte, freiheitliches
Denken und demokratische Werte? Mit der Restauration der alten kleinbürgerlich-spießigen Ordnung und
der Debatte über die deutsche Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren meldete sich auch der Satiriker
Kästner erneut zu Wort. Frisch war die Erinnerung an die größte Sackgasse der deutschen Geschichte und
stark das Verlangen, den Einbahnstraßen in den Köpfen mit Hohn und Spott zu begegnen. Nur den großen
Roman über das Dritte Reich, den die Öffentlichkeit nach 1945 von ihm erwartet, sollte Kästner nie
schreiben. Die Waffen des Satirikers sind die Karikatur und die Parodie. Jedoch werden diese Waffen stumpf,
wenn sich die Wirklichkeit der Satire entzieht. Die Gräuel des Krieges, die Gaskammern von Treblinka und
Auschwitz sind mit ihnen nicht darstellbar. Um so mehr galt es, das Augenmerk auf die noch junge
Bundesrepublik zu richten. In sie setzte Kästner – trotz allen berufsbedingtem Pessimismus – die Hoffnung
auf ein friedliches Morgen. Denn, so Kästner, "Satiriker sind Idealisten. Im verstecktesten Winkel ihres
Herzens blüht schüchtern und trotz allem Unfug der Welt die törichte, unsinnige Hoffnung, dass die
Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz klein wenig besser werden könnten, wenn man sie oft genug
beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht."
http://www.zeit.de/2004/30/kaestner
Über Kästner
Makkaroni, Schnürsenkel und Bleistifte
von Michael Bienert
Er hatte Talent, und er wußte es zu gebrauchen. Wenige Schriftsteller waren so erfolgreich auf dem
literarischen Markt der ausgehenden Zwanziger Jahre wie der junge Erich Kästner. Seine Berliner "Versfabrik"
lieferte mit schier unglaublicher Geschwindigkeit ständig neue Gedichte für Zeitungen und Kabaretts, die er
wenig später in populären Lyrikbänden wiederverwertete. Wie am Fließband produzierte Kästner Theaterund Filmkritiken, Buchrezensionen und feuilletonistische Aufsätze, die von seiner Sekretärin Elfriede
Mechnig auf Rundreise durch die Redaktionen geschickt und nicht selten mehrfach nachgedruckt wurden.
In der ersten sechs Jahren nach Kästners unfreiwilligem Ausscheiden aus der Redaktion der „Neuen
Leipziger Zeitung“ erschienen neben hunderten von Zeitungsartikeln nicht weniger als vier Gedichtbände,
fünf Kinderbücher, ein Roman sowie drei Filme nach Drehbüchern von Erich Kästner. Für das neue Medium
Rundfunk schrieb er die lyrische Suite „Leben in dieser Zeit“, die auch in mehreren Theatern szenisch
aufgeführt wurde. Mit Fleiß und Pfiffigkeit löste der "patentierte Musterknabe" ein Versprechen ein, das er
seiner Mutter im November 1926 brieflich gegeben hatte: "Wenn ich 30 Jahr bin, will ich, daß man meinen
Namen kennt. Bis 35 will ich anerkannt sein. Bis 40 sogar ein bißchen berühmt. Obwohl das Berühmtsein
gar nicht so wichtig ist. Aber es steht nun mal auf meinem Programm. Also muß es eben klappen."
Es klappte, bis die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Mit 34 Jahren sah Kästner zu, wie seine
Bücher auf dem Platz neben der Berliner Staatsoper verbrannt wurden. Da war er schon so berühmt, daß er
zu der Handvoll Autoren zählte, deren Namen bei dem Autodafé ausgerufen wurden – neben Marx, Engels,
Freud, Tucholsky und Ossietzky. Zum letzten Mal für viele Jahre war der Name Kästner über den
Reichsrundfunk im ganzen Land zu hören. Die Zeitungen druckten nichts mehr, und was Kästner im Ausland
publizieren konnte, durfte den weiterhin in Deutschland lebenden Autor nicht gefährden. Aus der
Reichsschrifttumskammer blieb er ausgeschlossen, hatte also Berufsverbot. Der politische Autor und der
zeitkritische Publizist waren damit zum Schweigen gebracht, lediglich der Unterhaltungsschriftsteller
Kästner konnte unter wechselnden Pseudonymen noch einige Anerkennungserfolge für sich verbuchen. Sein
größter Coup war es, daß der große Ufa-Jubiläumsfilm „Münchhausen“ mitten im Zweiten Weltkrieg nach
seinem Skript gedreht wurde. Als die Sache sich herumsprach, verfügten Hitler und Goebbels ein totales
Schreibverbot über den begabtesten Filmautor des Dritten Reiches.
In den ersten Nachkriegsjahren stellte Kästner zunächst alle großen literarischen Projekte zurück, redigierte
und schrieb statt dessen für die „Neue Zeitung“, die Jugendzeitschrift „Pinguin“ und das Münchner Kabarett
„Die Schaubude“. Er fabrizierte, wie schon in den Zwanziger Jahren, pausenlos Texte für den täglichen
Gebrauch. Das entsprach seinem Selbstverständnis als Schreibhandwerker und Aufklärer: "Wer jetzt an
seine Gesammelten Werke denkt statt ans tägliche Pensum, soll es mit seinem Gewissen ausmachen. Wer
jetzt Luftschlösser baut, statt Schutt wegzuräumen, gehört vom Schicksal übers Knie gelegt."
Als die gröbste Arbeit getan war, zog sich Kästner aus der hektischen Tagesschriftstellerei zurück. In den
fünfziger und sechziger Jahren trat er noch gelegentlich öffentlich auf, um gegen die Wiederaufrüstung
Deutschlands Stellung zu nehmen. Literarisch aber hat er als freier Schriftsteller nicht mehr viel Großartiges
zu Papier gebracht, sondern vor allem seinen Ruhm verwaltet und sich selbst kopiert. Sein Versuch, mit dem
Stück „Die Schule der Diktatoren“ eine weitere Karriere als Theaterautor zu starten, mißlang. Bis in die
sechziger Jahre entstanden noch eine Reihe von Kinderbüchern. Das schönste Buch aus dieser Zeit ist die
Kindheitsautobiographie „Als ich ein kleiner Junge war“, der Generalschlüssel zu Leben und Werk.
Über sein Oeuvre schrieb Kästner im Rückblick: "Wie soll man dieses Durcheinander an Gattungen und
Positionen zu einem geschmackvollen Strauße binden? Wenn man es versuchte, sähe das Ganze, fürchte
ich, aus wie ein Gebinde aus Gänseblümchen, Orchideen, sauren Gurken, Schwertlilien, Makkaroni,
Schnürsenkeln und Bleistiften."
Trotzdem lasse sich in seinen Schriften eine Einheit erkennen. Der Autor Kästner sei eben "kein Schöngeist,
sondern ein Schulmeister! Betrachtet man seine Arbeiten – vom Bilderbuch bis zum verfänglichsten Gedicht
– unter diesem Gesichtspunkt, so geht die Rechnung ohne Bruch auf. Er ist ein Moralist. Er ist ein
Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten 'Tiefe', die im Lande der
Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen:
nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort
und Satz."
Das klingt nicht nach der großen Konfession eines Künstlers, es ist das Credo eines Publizisten. Immer
schrieb Kästner für eine Öffentlichkeit, die er beeinflussen wollte, auch wenn er sich über die Wirksamkeit
von Literatur wenig Illusionen machte. "Seelisch verwendbar" sollten seine Gebrauchslyrik sein, indem sie
das prägnant ausdrückte, was viele weniger sprachbegabte Menschen fühlten. Er war stolz darauf, daß seine
humoristischen Unterhaltungsromane in Krankenhäusern verordnet wurden "wie Zinksalbe und
Kamillenumschläge". Um sein Ziel zu erreichen, beschränkte sich Kästner auf eine literarische Sprache von
größter Einfachheit und Gemeinverständlichkeit. Seine Kunst machte sich unsichtbar, sie war vor allem
Mittel zu pädagogischen Zwecken.
Wie ediert man dieses Werk für die heutige Zeit? Vieles, was Kästner schrieb, wirkt zahnlos und verstaubt,
denn die Maßstäbe des Lesepublikums haben sich geändert. Die erotischen Passagen, deretwegen er als
Pornograph denunziert wurde, rufen bei Halbwüchsigen heute nur noch ein Gähnen hervor. Viele Zeitbezüge
sind dem kollektiven Gedächtnis verlorengegangen. Andere, wie die Greuel der Nazis, die Kästner nach dem
Krieg seinen vergeßlichen Landsleuten in Erinnerung rief, sind so sehr Teil des allgemeinen Geschichtsbewußtseins geworden, daß die Texte darüber kaum noch aufklärend wirken. Die Schriften bedürfen daher in
vielen Fällen der Kommentierung, nicht so sehr um ihren Wortlaut, als um ihre beabsichtigte Wirkung
verstehen zu können.
In dieser Hinsicht leistet die neue, von Franz Josef Görtz herausgegebene Werkausgabe mit ihrem Apparat
eine ganze Menge. Textlich bringt sie nicht allzu viel Neues, sondern basiert im wesentlichen auf den
Textzusammenstellungen, die Kästner für diverse Buchausgaben selbst vorgenommen hat. Allerdings
werden in der Regel die Erstdrucke der Texte nachgewiesen. Wie in den „Gesammelten Schriften“ von 1959
beziehungsweise 1969 finden sich Gänseblümchen, Orchideen und saure Gurken, sprich Lyrik, Prosa,
Dramatik und Übersetzungen, säuberlich auf einzelne Bände verteilt. Sie wurden von Subeditoren erarbeitet,
die sehr verschiedene Ergebnisse vorgelegt haben.
Vorbildlich ist Beate Pinkerneils Edition von Kästners „Fabian“-Roman, die detailliert sichtbar macht, wie der
Autor seine zeitkritische Satire im Jahr 1931 unter dem Druck des Verlags entschärfte. Wäre es nach ihm
gegangen, hätte das Buch „Saustall ohne Herkules“ oder „Der Gang vor die Hunde“ geheißen. Mit Hilfe des
Kommentars läßt sich die konfliktreiche Entstehung des Buches Kapitel für Kapitel verfolgen. So ermöglicht
die neue Ausgabe tatsächlich eine neue, spannende Lektüre des Romans.
Einen sehr guten Eindruck machen auch die Kommentare zu den Chanson- und Kabarettexten (von
Hermann Kurzke), sowie zu den Theater-, Hörspiel- und Filmtexten (Thomas Anz). Harald Hartung hat zu
dem Band mit Gedichten einen sehr lesenswerten Essay beigesteuert, der die vernichtende Polemik Walter
Benjamins gegen Kästners "linke Melancholie" klug relativiert und die unscheinbaren Qualitäten seiner Lyrik
herausarbeitet. Aber es gibt auch sehr saure Gurken, und ausgerechnet die vom Oberherausgeber Franz
Josef Görtz eigenhändig edierten Bände mit Kästners Kinderromanen gehören dazu. Auf fast 1300
Druckseiten folgt ein schütteres biographisches Nachwort von rund 20 Seiten; der sonst obligate Werk- und
Zeilenkommentar fehlt gänzlich. Was mag da schief gegangen sein? Ist der vorgesehene Bearbeiter säumig
gewesen und Görtz mit einem rasch niedergeschriebenen Nachwort eingesprungen, weil das Erscheinen der
ganzen Ausgabe rechtzeitig zum letzten Weihnachtsgeschäft des Buchhandels nicht gefährdet werden
durfte? Ein editorisches Konzept ist bei den Kinderbüchern jedenfalls nicht zu erkennen.
Skandalös ist überdies die Inkonsequenz, die der Herausgeber beim Umgang mit Walter Triers klassisch
gewordenen Illustrationen zu „Emil und die Detektive“ an den Tag legt. Dort, wo sich Kästners Text so explizit
darauf bezieht, daß man die Zeichnungen schlecht weglassen konnte, hat Görtz sie übernommen,
ansonsten kommentarlos unterschlagen. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die meisten Leser eine
„Emil“-Ausgabe im Bücherschrank haben: Es darf einfach nicht sein, daß das Hauptwerk eines Autors in
einer textkritischen Werkausgabe nur verstümmelt erscheint. Das ist so, als würde man Goethes „Faust“
edieren und einfach ein paar Szenenanweisungen weglassen, die man gerade für entbehrlich hält.
Neue, deutliche Konturen gewinnt der Autor Kästner vor allem in dem dicken Band zur Publizistik, den Görtz
zusammen mit Hans Sarkowicz herausgegeben hat. Beide sind zugleich die Verfasser einer neuen
Kästnerbiographie und wohl nicht zufällig selbst im Hauptberuf Journalisten. Auf dreihundert Druckseiten
bieten sie zunächst einen repräsentativen, gut kommentierten Querschnitt durch Kästners journalistisches
Werk bis 1933. Neu und interessant sind dabei vor allem die politischen Leitartikel, die Kästner um 1926/27 in
der „Neuen Leiziger Zeitung“ veröffentlicht hat. Der junge Kästner exponierte sich hier als Anwalt einer
fortschrittlichen, auf die Heranziehung mündiger Demokraten ausgerichteten Bildungspolitik, die er durch
konservative Kräfte bedroht sah: "Der Marsch der Reaktion verrät Methode! Ein Aufmarschplan liegt
zugrunde, der beweist, daß Diplomaten, Militärs und geistliche Routiniers ihn entwarfen!" Ihr Ziel sei, so
Kästner im Februar 1927, die Wiedereinführung der "Polizeiwirtschaft in den Bezirken der Kunst, des Denkens
und der Erziehung". Solche Kommentare belegen, daß Kästners lyrische Zeitkritik, aber auch seine
pädagogischen Intentionen als Kinderbuchschreiber, nicht nur auf persönlichen Erfahrungen beruhten,
sondern auch auf hellsichtiger politischer Analyse.
In der Nazizeit konnte Kästner nichts Zeitkritisches publizieren, doch hat er heimlich Tagebuch geführt. Auf
der Basis dieser Notizen entstand 1960/61 der Band „Notabene 1945“ über die letzten Tage des Dritten
Reiches. Im Vorwort wies Kästner darauf hin, daß er seine stenographischen Notizen (die den Nazis Grund
genug zur Hinrichtung wegen Defätismus gegeben hätten, wären sie ihnen in die Hände gefallen) für die
Publikation stark bearbeitete: "Ich mußte nicht nur die Stenographie, sondern auch die unsichtbare Schrift
leserlich machen". Trotzdem bestand Kästner darauf, es handle sich bei „Notabene 1945“ um ein
authentisches Dokument der Erfahrungen jener Zeit.
Die Herausgeber Görtz und Sarkowicz haben die Druckfassung mit der Urschrift verglichen und ziehen einen
ganz anderen Schluß. Kästner habe viel zu seinen Notizen hinzuerfunden und sich nachträglich zum
prophetischen Mahner und hellsichtigen Analytiker stilisiert. Für den Benutzer ihrer Ausgabe allerdings steht
Aussage gegen Aussage, ohne daß ihm Gelegenheit gegeben wird, sich selbst ein Urteil zu bilden. Denn die
Herausgeber überliefern den Urtext nur auszugsweise, und angesichts der sich summierenden editorischen
Mängel ihrer Ausgabe fällt es schwer, ihnen mehr zu vertrauen als dem Autor. Ideal wäre ein Paralleldruck
beider Fassungen gewesen, die Überlieferung des Urtextes im Kleingedruckten jedoch das mindeste, was
man von einer textkritischen Leseausgabe erwarten kann.
So bleibt das Beste an dieser Edition der sensationell günstige Preis, zu dem sie im Jubiläumsjahr auf den
Markt geworfen wurde. Sie enthält weniger Spreu, als zu befürchten war, und überrascht mit manchem
goldenen Korn. Dazu gehört eine Glosse, die Kästner auf das Goethejahr 1949 geschrieben hat, und die es
wirklich verdiente, zum Goethe- und Kästnerjahr fünfzig Jahre später wiedergedruckt zu werden. Die Glosse
schließt mit den Worten: "Von der falschen Feierlichkeit bis zur echten Geschmacklosigkeit wird alles am
Lager sein, und wir werden prompt beliefert werden. Am Ende des Jubiläumsjahres – wenn uns bei dem Wort
'Goethe' Gesichtszuckungen befallen werden – wollen wir´s uns wiedersagen. Die Schuld trifft das Vorhaben.
Goethe, wie er´s verdient, zu feiern, mögen ein einziger Tag oder auch ein ganzes Leben zu kurz sein. Ein
Jahr aber ist zu viel."
Erich Kästner: Werke in 9 Bänden. Herausgegeben von Franz Josef Görtz. Hanser Verlag, München 1998,
5200 Seiten, öS 723,-http://www.zlb.de/projekte/kaestner/prolog/werkausgabe.htm
Die Dissoziation eines Schriftstellers in den Jahren 1934-1936 von Karsten Brandt
Bis zum 15.12.1933 sollten die Verfahren zum Eintritt aller deutschen Schriftsteller, Journalisten, Texter,
Übersetzer, Drehbuchschreiber…, also aller Leute, die beruflich vom Erstellen von Schrift lebten, in die
„Reichsschrifttumskammer“ abgeschlossen sein.
Am 1. Dezember 1933 schrieb Erich Kästner einen Brief an seine Mutter, in dem er mitteilte, dass er Hans
Richter, den 2. Vorsitzenden des RDS anrufen müsse, welcher ihm „einen vorläufigen Bescheid privater
Natur geben will, ob sie mich aufnehmen oder nicht. Die Fragebogen hab ich schon unterschrieben. Leute,
die Mitglied der Liga für Menschenrechte waren, sind wohl eigentlich nicht statthaft.“419
1929 machte Kästner die Bekanntschaft von Edith Jacobson, die nach dem Tode ihres Mannes die Leitung
der Weltbühne übernommen hatte und außerdem den renommierten Kinderbuchverlag Williams und Co.
besaß. In ihrer Villa im Grunewald lernte er Hermann Kesten kennen, der seit 1927 Lektor im Kiepenheuer
Verlag war. Die beiden Männer verband seit dieser Zeit eine tiefe Freundschaft. Für den Kinderbuchverlag
Edith Jacobsons schrieb Erich Kästner Emil und die Detektive. Dieses Buch wird schnell ein großer Erfolg.
Schon Anfang der 30er-Jahre liegen Lizenzen aus Amerika vor, es wird später in 30 Sprachen übersetzt und
bis Mitte der 90er- Jahre allein in Deutschland 1,7 Millionen Mal verkauft. Dieser Klassiker der Kinderliteratur
machte Kästner populär und wohlhabend. Der Gewinn resultierte weniger aus dem Buchverkauf als aus der
Vergabe von Auslandslizenzen, Film- und Bühnenrechten. „Für die deutschen Filmrechte (Anm: von Emil und
die Detektive) fordert Kästner zum Beispiel 10.000 Mark.“420 Marcel Reich-Ranicki nennt Emil und die
Detektive ein „bahnbrechendes Buch“, da es die Kinderliteratur auf eine völlig neue Basis stelle. „Wir...
bekamen plötzlich einen Roman zu lesen, der in Berlin spielte, auf Straßen, die wir kannten, unter Menschen,
die uns bekannt vorkamen. Es ist eigentlich der Roman der Neuen Sachlichkeit in der Kinderliteratur.“421
E. Kästner ist Ende der 20er, Anfang der 30er-Jahre ein literarisch außergewöhnlich aktiver Schriftsteller. Er
nannte sein Büro eine „Schreibfabrik“; der promovierte Literaturwissenschaftler war seit Beginn seiner
Karriere an den Bedürfnissen des kulturellen Marktes orientiert. Er verstand sich als Hersteller einer Ware
und kümmerte sich um eine optimale Verwertung seiner künstlerischen Produkte. Gedichte formt er zu
Chansons und Revuen um, aus Kinderbüchern wurden Filme, Theaterstücke und Hörspiele. Elemente aus
Kurzgeschichten und Zeitungsartikeln finden sich in seinen Romanen wieder, und Teile der Romane werden
zu Kurzgeschichten umgearbeitet.422 1931 erscheint sein Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten.
Dieser Roman der Weltwirtschaftskrise schildert eindringlich die explosive Endzeitstimmung der Weimarer
Republik. Der Roman mit seiner szenenhaften Struktur ist wie ein Film geschrieben. Schauplätze springen
wie Personen von einer Szene zu nächsten im Berlin der Arbeitsämter, Spielclubs und Prostitution, es gibt
Schießereien zwischen Faschisten und Kommunisten, Beschreibungen obskurer Bars, Personen und
Szenen. Fabian ist Kästners alter ego, denn der Protagonist Fabian liebt auch seine Mutti über alles und ist
immer wieder sehr moralisch. Dieses Buch ist sehr schnell, geschrieben wie ein Feuerwerk der Szenen, die
von dem arbeitslosen Fabian erlebt werden.
Kästners Antrag auf Eintritt in die RSK blieb ein Jahr lang unbeantwortet. Seit 1933 muss Kästner selbst
völlig unpolitische Komödien unter Pseudonymen schreiben. Es werden Komödien von „Robert Neuner“ und
„Eberhard Foerster“ gespielt.423 Bis 1940 erschienen von ihm vier Lustspiele: Frau nach Maß, Verwandte sind
auch Menschen, Seine Majestät Gustav Krause und Das goldene Dach. Auf diese Weise gelang es ihm, sich
„durchzuwurschteln“, wie er es selber nannte.
Nach der Lektüre des Fabian hat man trotz der bewussten Überspitzung des Romans eine gute Vorstellung,
wie sich das Durchwurschteln eines Intellektuellen darstellen konnte. Die schwierige Bezeichnung des
„Intellektuellen“424 trifft im Sinne des vielbelesenen Akademikers im doppelten Sinne zu: Kästner war ein
Mensch, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlte und dem in der Zeit des behördlich verordneten
kulturellen Stillstandes das Überleben in Deutschland gelang.
Erich Kästner als Filmautor
Bis 1933 erschienen jährlich zu Weihnachten weitere Kinderbücher von Erich Kästner. Die UFA erkannte, dass
Emil und die Detektive sich wegen der ausgeprägten Dialogstruktur, der lebendigen Großstadtatmosphäre,
den schnellen Handlungsabläufen und der zugrunde liegenden Kriminalgeschichte hervorragend für eine
Verfilmung eignete. Im Dezember 1930 unterschrieb Kästner den Vertrag für die Filmrechte mit der UFA. Der
aus Österreich stammende Journalist Billy Wilder, der seit 1929 in Berlin als Szenarist für den Film tätig war,
schrieb das Drehbuch.
Sehr zum Leidwesen Kästners, der sich wie folgt darüber äußerte: „Das Manuskript ist ekelhaft. Emil klaut in
Neustadt einen Blumentopf für die Großmutter. In Berlin, auf der Straßenbahn klaut er einem Herrn den
Fahrschein aus dem Hut und läßt für sich knipsen. Der Herr wird von der Bahn gewiesen. Ein Goldjunge,
dieser Emil. Der ‚Stier von Alaska‘ wird er genannt. Pony ‚die Rose von Texas‘. Lauter Indianerspiel, wo doch
heute kein Mensch mehr Indianer spielt. Die ganze Atmosphäre des Buchs ist beim Teufel.“425
Billy Wilders Manuskript, in das zusätzlich einige Spannungseffekte und ein pompöses Hollywood-Happyend
eingebaut werden, ekelt ihn an und es gelang ihm, einige der Korrekturen wieder rückgängig zu machen. Isa
Schikorsky vermutet, dass Kästner vor allem ärgert, dass „seine Helden etwas von ihrer moralischen
Integrität verlieren.“426 Billy Wilders Film wurde trotz oder wegen der Indianerspiele und des HollywoodMonumentalismus ein großer Erfolg. Am 7. Dezember 1931 schrieb F. Rosenfeld eine Kritik in der Wiener
Arbeiter- Zeitung, dass die Handlung dem Roman genau folge, lediglich „die Spießersatire der ersten Kapitel
zugunsten des schnelleren Ablaufs der Fabel“ wegfalle.427
Ebenfalls 1931 verfilmte der junge Regisseur Max Ophüls aus dem Manuskript-Fundus der UFA ein
zweiseitiges Film- Exposé von Erich Kästner, aus dem der Autor und Emerich Preßburger einen offenbar
gelungenen Kurzfilm entwickeln, der aber inzwischen verschollen ist.428 In dem Film Dann schon lieber
Lebertran aus dem Jahre 1931gestaltete Kästner als Drehbuchschreiber wie in seinem Roman Das fliegende
Klassenzimmer eines seiner Lieblingsthemen: die verkehrte Welt. In diesem Film tauschen die Kinder einen
Tag lang mit den Erwachsenen die Rollen, mit dem Ergebnis, dass sie lieber weiter Lebertran schlucken als
in der unbarmherzigen Welt der Erwachsenen deren Aufgaben zu übernehmen.429
Wie Horváth ist Erich Kästner auch an Produktionen mit mehreren Drehbuchschreibern beteiligt, so z. B. an
dem vorher von einem anderen Autorenteam verpatzten Drehbuch für den Film Das Ekel nach einem
Bühnenstück des satirisch grotesken Erzählers, Parodisten und Dramatikers, Hans Reimann, der teilweise in
sächsischer Mundart schrieb und unter den Pseudonymen Hans Heinrich, Hanns Heinz Vampir, Artur
Sünder, Andreas Zeltner und Max Bunge veröffentlichte.430
Wahrscheinlich hat er an Drehbüchern nach seinen Eberhard- Foerster-Stücken mitgearbeitet, die zwischen
1939 und 42 entstanden.431
Bekannt wird vor allem der Film Frau nach Maß unter der Regie von Helmut Käutner von 1940. Für seine
Drehbücher interessierte sich auch Hollywood. Für Drei Männer im Schnee und Die verschwundene Miniatur
sicherte sich die Metro- Goldwyn- Mayer die Rechte zur Verfilmung. 1938 findet in den USA die Uraufführung
von Paradise for Three statt. Die UFA hatte ebenfalls erkannt, wie wichtig Leute wie Kästner für den Film
waren. Der Herstellungsleiter Eberhard Schmidt bereitet 1941 den Jubiläumsfilm Münchhausen zum 25
jährigen Bestehen der Ufa vor. Um den Erfolg dieses Prestigeobjekts zu garantieren, sind die Machthaber
sogar bereit, es mit der Gesinnung und mit der parteipolitischen Zuverlässigkeit der Beteiligten nicht so
genau zu nehmen. Das gilt für den mit Kästner befreundeten Regisseur Josef von Baky wie für Hans Albers,
den Hauptdarsteller des Münchhausen 432 und insbesondere für den Drehbuchautor Berthold Bürger, alias
Erich Kästner.433 Dieser Film soll das Ausland von der künstlerischen Leistungsfähigkeit der deutschen
Filmwirtschaft überzeugen. Der geschmähte Kästner, der so gerne Mitglied im offiziellen Club der
Filmeschreiber gewesen wäre, beteiligt sich mit großem Elan an dieser Produktion. Offensichtlich geht auch
der Vorschlag des Münchhausen- Stoffs für diesen Jubiläumsfilm auf Erich Kästner zurück.434
Goebbels war mit Erich Kästner als Drehbuchschreiber unter der Voraussetzung einverstanden, dass dieser
ein Pseudonym gebrauchte. Kästners Wahl des Pseudonyms Berthold Bürger ist interessant, weil der Name
Berthold ja bekannterweise auch der Vorname des größten ideologischen Feindes des Dritten Reichs war.435
Auf der Grundlage dieser Schwanksammlung von Gottfried August Bürger schreibt Kästner ein modernes
Drehbuch für einen Film der Superlative, den teuersten Unterhaltungsfilm des Dritten Reichs, ausgestattet
mit einem Budget von 6,5 Mio. Reichsmark, der für die Trickfilm- Technik und Spezialeffekte Akzente setzte.
Die Nazis brauchten Kästner für diesen Erfolgsfilm. Er trug maßgeblich zum Gelingen des Films bei,
allerdings änderte sich nichts an seinem Status. Obwohl Kästner sich wieder einmal Hoffnungen machte,
Mitglied in der RSK zu werden, wurde ihm die Aufnahme verweigert.
Im Jahr der Uraufführung des Films erhält er von der RSK wieder ausdrückliches Schreibverbot, ein Beispiel
für den groben Undank der Behörde nach diesem geplanten und gelungenen Propagandaerfolg dieses Films.
Kästners misslungene Mitgliedschaft im RDS
Kästner stellte mehrere Anträge, in den RDS aufgenommen zu werden, aber alle wurden zurückgewiesen. Die
Frage nach dem ‚Warum‘ ist wie in allen Fällen von Mitarbeit, Beteiligung und Anträgen auf Aufnahme in eine
Institution berechtigt, wenn es sich um Institutionen des Naziregimes handelt.
Klaus Modick schreibt in Die Woche: „(…)Erich Kästners Verhalten während der Nazizeit: ein Eiertanz
zwischen Anbiederung an die Reichsschrifttumskammer und Emigrationserwägungen, der gelegentlich in
die Nähe des resignierten Mitläufertums geriet.436 Trotz der richtigen Einschätzung, dass Kästner resigniert
war, ist dieser Satz in seiner Kürze falsch: Das Wort „Mitläufer“ hat Konnotationen, die auf den engagierten
Schriftsteller Kästner ebenso wenig zutreffen wie auf Horváth und viele andere Schriftsteller, die aus
ökonomischen Gründen den Antrag gestellt haben, dem RDS beizutreten, um unter den Nazis weiterhin ihren
Lebensunterhalt verdienen zu dürfen.
Vielmehr muss man auch im Falle Kästners die komplexe Bezeichnung der inneren Emigration bemühen,
um seinem Verhalten über 65 Jahre später gerecht zu werden. Der erfolgreiche Journalist, Kritiker,
Kinderbuch- und Romanautor Erich Kästner wird nicht nur nicht im RDS zugelassen, sondern seine Bücher
wurden verbrannt und standen, außer Emil und die Detektive, sämtlich auf dem Index der „Listen des
schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.
Am 10.05.33, als bei den Bücherverbrennungen der beste Teil deutscher Literatur von den Nazis geschmäht
wird, wurden auch Kästners Schriften in die Flammen geworfen. Er war bei dem Versuch seiner eigenen
Auslöschung dabei und schrieb dazu folgendes: „Es war widerlich. Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme:
‚Dort steht ja der Kästner!‘ Mir wurde unbehaglich zu Mute. Doch es geschah nichts.“437 Im Dezember 1933
wurde er von der Gestapo verhaftet und wieder frei gelassen. Die Bearbeitung seines ersten Antrags auf
Mitgliedschaft in der RSK wird erst einmal ein Jahr verschoben. In dieser Bewährungsfrist begann der
Pazifist Erich Kästner politisch unverfängliche Geschichten zu schreiben, so z. B. das märchenhafte
Lehrstück für Erwachsene Drei Männer im Schnee. Er griff hier bekannte Themen aus dem Fabian wieder
auf. Der Held der Geschichte ist wieder ein promovierter, arbeitsloser Werbefachmann aus dem
Kleinbürgermilieu mit der idealen Mutti (gemeint ist natürlich auch wie im Fabian seine eigene, die er stark
verehrte und täglich einen Brief schickte. Es ist eine rührselige Verwechslungsgeschichte um diesen
Werbefachmann, Fritz Hagedorn, der eine Reise ins Hochgebirge gewinnt, dort irrtümlich für einen inkognito
reisenden Millionär gehalten und deshalb stark umgarnt wird. Er lernt die Tochter des tatsächlichen
Millionärs kennen, die er für ein armes Mädchen hält und heiratet das Geld mitsamt der Tochter... In diesem
kleinen Roman verzichtet Kästner auf die aus vielen Gedichten und vor allem dem Fabian bekannten
nihilistischen Motive, Zeitkritik und auch Melancholie, in der Weise, dass im Geist der verlogenen Zeit alle
Probleme glücklich gelöst werden.
Der Dresdener Erich Kästner, für den eine Emigration – vielleicht auch wegen seiner suizidgefährdeten
Mutter, zu der er eine absurd intensive Beziehung hat, weil er sich lebenslänglich einredet, sie über alle
anderen Menschen stellen zu müssen - nicht in Frage kommt, verliert scheinbar nur selten die Geduld. Im
Oktober 1934 schreibt er: „Zu dumm, wie schwer das alles geworden ist, was? Manchmal könnte man gleich
den Bleistift in die Ecke knallen und die Arbeit abbrechen. Na, ich wurstle dann doch immer wieder weiter. Ist
ja klar...“438 Hermann Kesten nennt das Ergebnis dieses ‚Weiterwurschtelns‘ unter anderem zwei
„zensurgerechte Märchen für Erwachsene und einen Roman für Kinder“.439
Ab 1935 erscheinen Kästners Werke wegen seines Schreibverbots beim Atrium-Verlag in Basel, der von Kurt
L. Maschler als Ableger des Verlags Williams und Co. gegründet wurde. Dort erscheinen 1935 Emil und die
drei Zwillinge und 1936 Die verschwundene Miniatur oder auch Die Abenteuer eines empfindsamen
Fleischermeisters, eine turbulente Liebes- und Kriminalgeschichte ohne literarischen Anspruch. Danach
erschien noch Georg und die Zwischenfälle, das seit der zweiten Auflage Der kleine Grenzverkehr heißt.
Auch dieses Buch soll nicht mehr als unterhaltsame Lektüre sein.
1936 kam Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke heraus, sein einziger Gedichtband in der Zeit des
Nationalsozialismus. Ins Vorwort schrieb er: „Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare
Strophen zu schreiben. Es sei ein ‚der Therapie dienendes Taschenbuch’. Ein Nachschlagewerk, das der
Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist.“
Isa Schikorsky schreibt dazu: „Doch auch dieser Versuch, die Machthaber von seiner unpolitischen Haltung
zu überzeugen, führt nicht zur erhofften Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer.“440
1936 wurde sogar Emil und die Detektive von den Nazis verboten. Vielleicht weil es misslang, das Buch
dahingehend umzudeuten, dass mit dem kleinen Emil ein kindlicher Horst Wessel gemeint sei. Kästner
schrieb wieder einen Brief an die RSK: „Besonders schmerzlich berührt mich die Maßnahme, weil sie ein
Buch trifft, das… als ein ausgesprochen deutsches Buch angesehen wird; ein Buch, das in über 30 fremde
Sprachen übersetzt wurde, um den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und
dem Familiensinn des deutschen Kindes zu vermitteln; ein Buch, das in den englischen, amerikanischen,
polnischen und holländischen Schulen mit Hilfe von kommentierten Schulausgaben dazu verwendet wird,
um die deutsche Sprache und Verständnis für das deutsche Wesen zu lehren!“441 Auch diese Eingabe
änderte nichts an dem Verbreitungsverbot. Dabei bewertete ein Zensor Kästners Unterhaltungs- und
Kinderbücher in einem Gutachten von 1937 durchaus positiv: „Wenn er diese andere, bessere Seite einzig
und allein pflegen wollte, so sollte uns Kästner als deutscher Schriftsteller sehr willkommen sein.“442 Im
gleichen Jahr wurde Kästner zum zweiten Mal von der Gestapo verhaftet. Wegen eines Herzfehlers wurde er
nach zwei Musterungen vom Militär zurückgestellt. Im Rückblick ist die Tatsache, dass Erich Kästner nicht in
der RSK zugelassen und seine Bücher verbrannt wurden, eine Auszeichnung, und trug dazu bei, dass er nach
dem Krieg sofort Arbeit als Feuilletonchef bei der Neuen Zeitung in München fand.
Den Alliierten waren alle Schriftsteller verdächtig, die in Deutschland geblieben waren bzw. auch von den
emigrierten Schriftstellern wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht alle, die zwischen 1933 und 45 in
Deutschland kulturell tätig waren, nicht in irgendeiner Weise das Dritte Reich unterstützten, auch wenn sie
unpolitische Bücher, Drehbücher oder Theaterstücke geschrieben hatten.
Erich Kästner reagiert zunächst trotzig auf kritische Nachfragen: „Dem, der es nicht versteht, kann man’s
nicht erklären.“ Isa Schikorsky sieht eine „misstrauisch fragende Schattengestalt“, die in den nächsten
Jahren durch sein journalistisches und literarisches Werk geistert, der Kästner beständig neue Antworten
und Erklärungen anbietet, ohne dass sie ihn selbst befriedigen.443 Sie schreibt, dass er selbst stärker an
seiner moralischen Unversehrtheit gezweifelt haben mag, als er zugeben konnte oder wollte. 444
Tatsächlich setzte sich Kästner sehr stark mit dem Geschehenen auseinander. Seine Einlassungen zu den
Gräueln der Naziverbrechen direkt nach dem Krieg und als Berichterstatter bei den Nürnberger Prozessen
legen davon Zeugnis ab. [...]
Kästners Geschichte eines Moralisten endet tragisch. Fabian ertrinkt.
Diese Metapher des Ertrinkens in der Großstadt steht für den Untergang der Moral, sie ertrinkt gleichsam
mit, wodurch die Desillusionierung erhalten bleibt, was zum Gelingen dieses meines Erachtens besten
Buches Kästners beiträgt.
Ebenso wie in Horváths Kasimir und Karoline werden Themen wie der Warencharakter der Liebe behandelt.
Die Liebe erweist sich als Illusion. Kästner hatte nie wie Horváth homosexuelle Hitlerianer in Szene gesetzt,
aber offensichtlich haftete ihm, dem in Deutschland wesentlich bekannteren Schriftsteller, das Image eines
Kulturbolschewisten stärker an, so dass ihm die Nazis nicht verziehen. Im Unterschied zu Horváth hatte er
auch durch seinen Eintritt in die Liga für Menschenrechte konkret eine pazifistische Stellung bezogen, was
von den Nazi-Kulturstrategen offensichtlich nicht verziehen wurde.
Erich Kästner lebte während der gesamten Zeit des Naziregimes in Hitlerdeutschland. Vor Ende des Krieges
flüchtete er mit Hilfe von Freunden aus der Filmindustrie nach Bayern zu einer Produktion in die Berge, wo er
das Ende des Krieges abwartete. 1947 wurde der spätere Vertreter des Westdeutschen PEN- Zentrums
zusammen mit Johannes R. Becher und Ernst Wiechert vom PEN- Club nach Zürich eingeladen, wo die
Vertreter Frankreichs den deutschen Teilnehmern vorwarfen, nicht genug Widerstand geleistet zu haben.
Zu dieser Debatte schrieb Kästner im selben Jahr: „Man sperrte sich, als habe das ganze deutsche Volk,
samt den Wächtern der Konzentrationslager, den Antrag gestellt, in den Pen- Club aufgenommen zu werden,
während es doch ... um Schriftsteller ging, die im und unterm dritten Reich nicht weniger gelitten hatten als
andere europäische Kollegen. Vercors, einer der französischen Delegierten, warf unseren antifaschistischen
Schriftstellern vor, daß sie lediglich geschwiegen hätten, statt gegen das Regime offen das Wort zu
ergreifen. Nun, wenn sie das getan hätten, dann hätte man sich im Zürcher Kongreßhaus über ihre
Aufnahme in den PEN- Club nicht mehr den Kopf zu zerbrechen brauchen.445 Die Schwierigkeit der
Beurteilung des Verhaltens eines antifaschistischen Schriftstellers unter der nationalsozialistischen Diktatur
zeigt sich an Kästners von ihm selbst in Notabene erzählten Auseinandersetzung mit einem amerikanischen
Leutnant, der Kästner wegen seiner Eingebundenheit in das Naziregime verhörte: „Über meine Bücher wußte
er, mindestens was den Inhalt anbelangt, einigermaßen Bescheid. Den ‚Fabian’ bezeichnete er als jenen
‚Berliner Roman, worin Bordelle vorkommen’, und er hätte zu gern gewußt, ob es seinerzeit, wie das Buch
andeute, tatsächlich außer normalen Bordellen auch solche mit männlicher Bedienung für weibliche
Kundschaft gegeben oder ob ich das nur erfunden hätte. (...)
Auch meine anderen Auskünfte stellten ihn nicht zufrieden. Er bohrte an mir herum wie ein Dentist an einem
gesunden Zahn. Er suchte eine kariöse Stelle und ärgerte sich, daß er keine fand. Was ich zwölf Jahre lang
getan und wovon ich gelebt hätte? (...) Und warum war ich, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, nach
Berlin zurückgekommen, statt in der Schweiz zu bleiben, wo ich meine Ferien verbracht hatte? Um
Augenzeuge zu sein? Wovon denn Augenzeuge? Als verbotener Schriftsteller und unerwünschter Bürger?
Wie hätte ich denn hinter die Kulissen blicken dürfen? Ich antwortete, mir wäre der Blick hinter die Kulissen
weniger wichtig gewesen als das auf offener Bühne zu erwartende Drama. Darüber hätte ich mich, meinte er,
auch im Ausland informieren können, beispielsweise in der Schweiz (...) Ich widersprach. Schon bei
unbedeutenderen Uraufführungen verließe ich mich nicht gerne auf Korrespondenzberichte, geschweige
denn bei der drohenden Tragödie des Jahrhunderts. Ob ich geglaubt hätte, mir könne nichts zustoßen. Ob
ich denn keine Angst gehabt hätte. Selbstverständlich hätte ich Angst gehabt, sagte ich. Wir kamen nicht
voran. Einen Helden hätte er vielleicht verstanden. Die Wahrheit verwirrte ihn. Die Verwirrung wuchs, als ich
meine Auslandsreisen aufzählte. Ich sei 1937 in Salzburg gewesen? Warum? Um mit Walter Trier, dem
Illustrator meiner Bücher, einen Buchplan zu besprechen, ein Salzburg- Buch. Wer hätte die Reise offiziell
genehmigt? Niemand. Ich hätte mich des nicht genehmigungspflichtigen Kleinen Grenzverkehrs bedient.
Zwischen Reichenhall und Salzburg mehrere Wochen lang täglich hin und zurück. Aber Walter Trier sei doch
Jude, oder nicht? Doch. Ich hätte mich auch mit anderen jüdischen Freunden täglich getroffen, die damals
in Salzburg waren. Und dann sei ich wieder nach Berlin gefahren? Ja, dann sei ich wieder nach Berlin
gefahren. Und wer hätte 1938 meine Reise nach London befürwortet? Die Reichsschrifttumskammer? Nein,
sie hätte den Antrag abgelehnt. Wer also? Ein alter Bekannter, der früher Vertragsjurist bei der Ufa und
später Angestellter der Reichsfilmkammer gewesen sei. Was hätte ich in London getan? Ich hätte mich mit
Cyrus Brooks, meinem englischen Übersetzer und Agenten, über Geschäfte unterhalten. Ich hätte aber auch
andere Leute gesprochen, zum Beispiel Lady Diana, Duff Coopets Frau, und Brendan Bracken, Churchills
Sekretär. Hätte ich in England bleiben können? Wahrscheinlich. Warum sei ich nicht geblieben? Weil, kurz
vor Chamberlains Flug nach München, akute Kriegsgefahr bestanden habe. Deshalb hätte ich meine Reise
sogar vorzeitig abgebrochen. Deshalb? Ja, deshalb. Als ich schließlich sagte: ‚Und 1942 war ich ein paar
Tage in Zürich’, da holte er dreimal Luft. Dann fragte er ungläubig: ‚In Zürich? Mitten im Krieg?’ ‚Ja.’ ‚Zu Fuß?
Bei Nacht und Nebel?’ ‚Nein, per Flugzeug. Bei schönem Wetter.’ ‚Was wollten Sie dort?’ ‚Ich sollte mir einen
Garbo- Film anschauen, den es, infolge des Krieges, in Deutschland nicht zu sehen gab. Eigentlich sollten
wir nach Stockholm fliegen. Doch dort war der Film gerade vom Spielplan abgesetzt worden.’ ‚Wir?’ ‚Ja,
Jenny Jugo, Klagemann und ich’. Die Jugo hätte gern eine Doppelrolle bei einer Filmkomödie gespielt, und
sie und die Ufa wollten, daß ich das Drehbuch schriebe. Es war in dem merkwürdigen Dreivierteljahr, in dem
ich, obwohl nach wie vor als Schriftsteller verboten, bis auf Widerruf Drehbücher schreiben durfte. Diese
‚Sondergenehmigung’ hatte mich, wie ich Ihnen schon eingangs gesagt habe, außerordentlich überrascht.
Als wir nach Zürich flogen, galt sie wohl noch.’ Der amerikanische Leutnant senkte den Kopf und schien
seine Gedanken zu ordnen. Sein Kollege rauchte. Die Sonne schien auf die Terrasse. Und der Sergeant
spuckte in den Garten. ‚Der Film’, sagte ich, ‚hieß ‚The Twofaced Woman’, die Garbo spielte eine lustige und
eine seriöse Schwester, Melvyn Douglas war der irritierte Partner, und der Film war spottschlecht.’ ‚Woher
wußten Sie, daß es diesen Film überhaupt gab?’ ‚Aus einer Zeitungsnotiz irgendeines Korrespondenten im
neutralen Ausland.’ ‚Und warum wollten Sie den Film sehen? Um sich Anregungen für das geplante
Drehbuch zu holen?’ ‚Nein. Um es nicht schreiben zu müssen. Die Aufgabe interessierte mich nicht
sonderlich.’ ‚Deshalb wollten Sie nach Zürich?’ ‚Aber ich wollte ja gar nicht nach Zürich! Und auch nicht nach
Stockholm!’ ‚Warum bestanden Sie dann darauf?’ ‚Weil ich es für völlig ausgeschlossen hielt, daß man
mitten im Zweiten Weltkrieg einen suspekten Autor ins neutrale Ausland schicken werde, nur damit er sich
dort einen schlechten Garbo- Film anschaue. Ich erklärte dem Ufa- Chef Jahn und dem Chefdramaturgen
Brunöhler, daß Filmdoppelrollen unweigerlich von gleichen und ähnlichen Lustspielsituationen lebten. Diese
gelte es möglichst zu vermeiden! Deshalb müsse ich den Film sehen. Denn ich hätte keine Lust, mich eines
Tages als Plagiator anpöbeln zu lassen. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt. Statt dessen drückte
man uns ein paar Tage später die Flugkarten in die Hand und Schweizer Franken als Diätgelder und natürlich
die amtlichen Reisepapiere!’ ‚Sahen Sie den Film?’ ‚Ja. Im Vorführraum der Schweizer Filiale der
amerikanischen Firma Metro- Goldwyn- Mayer. Es war alles geregelt.’ ‚Haben Sie dann das Drehbuch für
Jenny Jugo geschrieben?’ ‚Nein. Es war nicht nötig.’ ‚Warum nicht?’ ‚Weil die Reichsfilmkammer meine
Sondergenehmigung zurückzog.’ ‚Weswegen?’ ‚Auf Betreiben des Führerhauptquartiers. Da sich die
Reichsschrifttumskammer beschwert hatte.’ ‚Und warum blieben Sie nicht in Zürich? Mitten im Krieg?
Dachten Sie, Hitler werde ihn gewinnen?’ ‚Nein’, sagte ich. ‚Wenn ich das geglaubt hätte, wäre ich womöglich
doch in der Schweiz geblieben!’ “446
Erich Kästner erzählte diese Geschichte, um die Unsinnigkeit der Überprüfung seiner eigenen Person durch
die Alliierten aufzuzeigen. Allerdings lässt sich aus dieser Geschichte ein gewisser Hochmut heraushören,
schon durch die Kontrastierung des Verhörs mit dem rauchenden und spuckenden Leutnant, der nicht am
Gespräch beteiligt ist. Die Passage, in der er trotz der Auslandsreisen sein Bleiben in Hitlerdeutschland
rechtfertigt, ist für Ausländer nur schwer nachzuvollziehen und deshalb ist seine Herablassung
unangebracht. Die Aussage, er wollte sich ‚das auf offener Bühne zu erwartende Drama’ vor Ort anschauen
und sich nicht auf Korrespondenzberichte verlassen, vor allem dann, wenn es sich um die ‚drohende
Tragödie des Jahrhunderts’ handelte, weist auf ein Bleiben aus künstlerischen Gründen hin. Das war im Falle
Erich Kästners sicher nicht die ganze Wahrheit und das Nachfragen des amerikanischen Leutnants ist
immerhin verständlich. Tatsächlich hatte Kästner Glück im größtmöglichen Unglück: Er war verboten, aber er
wäre gerne als Autor von den Nazis anerkannt worden und hatte mehrere Anträge auf Einlass in die RSK
gestellt. [...]
Es ist spekulativ, die Frage zu stellen, was passiert wäre, wenn Kästner von Anfang an dabei gewesen wäre
und nicht nur seine brillante Schreibkraft für den Münchhausen zur Verfügung gestellt hätte, sondern auch
für andere Propagandafilme. Er war bereit, sich vor den Karren spannen zu lassen und die Nazis hätten ihn
und seine „Schreibfabrik“ zu einer Institution für ihr schmutziges Werk machen können. Somit ist es eine
Glaubensfrage, inwieweit es Kästner geschafft hätte, sich solch einer Korruption zu entziehen und wenn
nicht, ob die Nachwelt sein Verhalten dann anders beurteilt hätte. Im Rückblick war insofern sein
Schreibverbot ein Glück.
Im Nachhinein kann man sagen, dass Kästners größter Feind in der Zeit zwischen 1933 und 45
wahrscheinlich im Propagandaministerium selbst zu Hause war. Kästner war so ein bedeutender Fall, dass
anzunehmen ist, Goebbels spielte sein ganz eigenes Spiel mit Kästner als Verfemtem, der 1941 für
Münchhausen eine Sondergenehmigung bekommt, schreiben zu dürfen, eine Erlaubnis, die dann kurz nach
dem Film zurückgenommen wird.
Wenn Kästner im Bereich des Nationalsozialismus von „Martyrium“ schreibt, ist dies glaubhaft und er macht
dies vor allem nach dem Krieg durch zahlreiche Äußerungen sehr plastisch anschaubar. Kästner war ein sehr
moralischer Mensch und er hat – nicht nur als Intellektueller – unter dem Naziregime wahrhaft und aufrichtig
gelitten. Seine Geschichte ist ein gutes Beispiel für den Missbrauch von Macht.
Erich Kästner ist das Beispiel eines Schriftstellers, auf dessen Werk die Bezeichnung „Exilliteratur“ für diese
kulturell und menschlich verstümmelte Zeit passte. Marcel Reich-Ranicki verlieh ihm darum den Titel des
„Exilschriftstellers honoris causa“.447
419
Isa Schikorsky: Erich Kästner, München 1999, 95.
schreibt Isa Schikorsky, wobei nicht genau klar ist, ob es sich dabei um eine einmalige Zahlung handelte. Vgl. ebenda, 78.
421
vgl. ebenda, 62.
422
vgl. ebenda, 73.
423
vgl. ebenda, 101.
424
Die Bezeichnung „Intellektueller“ wird im Fremdwörterlexikon (Duden 5) wie folgt definiert: „Jemand mit akademischer
Ausbildung, der in geistig schöpferischer, kritischer Weise Themen problematisiert und sich mit ihnen auseinandersetzt.“ Diese
Definition wird in dieser Arbeit um den Begriff der „Aufklärung“ und die „Fähigkeit der Einsicht in das Gegenteil einer fälschlich als
richtig erkannten Sache“ erweitert, da sonst keine Trennung gemacht werden kann zwischen uneinsichtigen Schriftstellern der
Rechten, die natürlich auch den Begriff „schöpferisch“ für sich in Anspruch nehmen und der Opposition. Um eine Verwechslung von
Tätern und Opfern zu vermeiden, gebrauche ich den Begriff „intellektuell“ in der Weimarer Republik synonym mit „linksintellektuell“.
Wegen der Schwierigkeit, z.B. Martin Heidegger den Status eines Intellektuellen abzuerkennen und die Bezeichnung
„rechtsintellektuell“ angesichts der Verwicklung und aktiven Teilnahme an der einmaligen Grausamkeit des Nationalsozialismus als
contradictio in adjecto erscheint, vermeide ich diesen Begriff für alle „Rechtsintellektuellen“, die sich in dieser Zeit als Täter
hervorgetan haben. (Anm. d. V.)
425
Brief an die Mutter vom 16.05.1931, in: ebenda, 57.
426
ebenda, 75 f.
427
ebenda, 76.
428
Max Ophüls wird später u.a. durch eins seiner frühen Meisterwerke, Liebelei, bekannt, einen Film von 1932 mit starker antimilitaristischer Aussage, nach dem gleichnamigen Roman Arthur Schnitzlers, Ophüls letztes Werk vor der Emigration. ebenda, 76.
429
vgl. ebenda 77.
430
vgl. Kindler: Lexikon der Weltliteratur, op. cit.
431
Zu dieser Auffassung gelangt Isa Schikorsky. Vgl. Isa Schikorsky: Erich Kästner, op. cit. 103.
432
Berthold Bürger (Pseudonym für Erich Kästner): Münchhausen, Drehbuch, Stoff und Buch von Berthold Bürger, Regie: Josef von
Baky, Eine Hans Albers - Produktion der UFA. Das Drehbuch ist wie moderne Drehbücher geschrieben: linke Spalte Handlung; rechte
Spalte: Ton ; in: Akademie der Künste Berlin, Sammlung Erich Kästner bzw. seiner Mitarbeiterin Elfriede Mechnik.
433
Baky war ein Freund Erich Kästners und hatte mit ihm als Szenaristen 1943 den Film Münchhausen realisiert: Eine Hintergrundgeschichte zu diesem Film findet sich auf einer amerikanischen Homepage: „Because of a political indiscretion Kastner was unable
to write under his own name, being on the official blacklist, but the censors looked the other way if the writer decided to use a
pseudonym. (Nazi censorship appears today incomprehensible as far as general standards were concerned. ) The director suggested
that Kastner might be the ideal scriptwriter, and Goebbels agreed-so long as Kastner's name didn't appear on the credits.
When the director approached the writer for suggestions, Kastner said, "Well, your commission has come from the world's greatest
liar- why not do a film about his closest competitor, the Baron Munchhausen?" Without being told the exact genesis of the subject,
Goebbels agreed and allocated a budget of RM S million (sic), with permission for Baky to use any stars he wanted for the color
production. Kastner, under the pseudonym of Berthold Burger (a typical joke, as the first name was apparently borrowed from
Goebbels' arch enemy Brecht, and the last name of course meant "citizen"), penned an enormously complex story which would
depend a great deal on trick photography and special effects. In addition, there were numerous cameo roles so that as many Ufa
stars as possible could take part in the picture.
Vgl: http://www.sewanee.edu/german/GermanFilm353/Munchhausen.html.
434
Meine Darstellung folgt Isa Schikorsky. Sie schreibt: „Dass sich zwischen dem größten Lügner der Literaturgeschichte und den
Propagandamethoden der Herrschenden möglicherweise Parallelen erkennen lassen, sehen die politisch Verantwortlichen offenbar
nicht.“ vgl. ebenda. 104 ff.
435
Bertolt Brecht wurde als Berthold Eugen Friedrich geboren. Außerdem ist bei der Wahl dieses Synonyms noch eine andere
Tatsache interessant: „Bürger“ hat sowohl die Bedeutung von englisch „citizen“ und ist vielleicht auch ein Hinweis auf Gottfried
August Bürger, der den Münchhausen- Stoff von Rudolf Erich Raspes 1785 erschienenen Roman ein Jahr später neu bearbeitet
hatte.
436
Die Woche (früher Wochenpost) vom 29.01.1999, 35.
437
ebenda.
438
Isa Schikorsky: Erich Kästner , op. cit., 98
439
ebenda, 98.
440
ebenda, 99.
441
Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.02.1999.
442
ebenda, 100.
443
vgl. Isa Schikorsky: Erich Kästner , op. cit., 115.
444
ebenda.
445
ebenda, 139.
446
Kästner, Erich: Gesammelte Schriften für Erwachsene, Bd. 6 Vermischte Beiträge 1, Zürich 1969,195 ff.
447
„In der Zeit von 1933–45 hatte er, der Mann zwischen den Stühlen, sich klar entschieden. Wenn er in verschiedenen
Nachschlagebüchern der deutschen Exilliteratur angeführt wird, so hat das schon seine Ordnung. Zwar war er nicht emigriert, wohl
aber waren es seine Bücher, die damals in der Schweiz erschienen. Kästner ist Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa. Er hat
in jenen Jahren nichts geschrieben, dessen er sich hätte später zu schämen brauchen.“
In: Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung, op. cit., 318.
420
http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/brandt-karsten-2005-02-03/HTML/chapter6.html#N12E86
„Ich habe Erich Kästner zu danken und seinem Emil Tischbein, die mich mit Deutschland bekanntmachten.“
von Kate Connolly
Ich habe Erich Kästner zu danken und seinem Emil Tischbein, die mich mit Deutschland bekanntmachten.
Für die damals Sieben- oder Achtjährige beschwor er eine Hauptstadt herauf, in der ich Jahre später leben
würde. Noch heute sind sich das Berlin meiner kindlichen Vorstellung und das Berlin, das nun mein Zuhause
ist, ziemlich ähnlich.
John Le Carré, eigentlich David John Moore Cornwell, in seinem
Haus in London. Sein internationaler Durchbruch als Autor war 1963 mit seinem dritten Buch "Der Spion, der
aus der Kälte kam". (© AP)
Über die Jahre hatte ich Freude daran, die wenigen britischen Autoren zu entdecken, die fähig waren, den
Geist von Deutschland in ihrem Werk einzufangen. Kein leichtes Unterfangen, besonders weil es ein Land ist,
das viele Briten sich scheuen kennenzulernen. Zu meinen Favoriten gehören Frederick Forsyth, der auch als
Korrespondent in Berlin arbeitete, Christopher Isherwood, der anschaulich das Berlin der späten 1920er
Jahre beschreibt und in jüngerer Zeit Philip Kerr und sein liebenswerter Berliner Privatdetektiv Bernie
Gunther.
Doch es ist John Le Carré, der das politische und gesellschaftliche Deutschland für mich besonders
wirklichkeitsnah gezeichnet hat. Es war ein tschechoslowakischer Spion, ein Doppelagent, ausgetauscht auf
der Glienicker Brücke an einem Februarmorgen 1986 gegen einen Westagenten, der mich während eines
Interviews überzeugte, dass Le Carré seiner Meinung nach zweifellos die realistischsten Spionagethriller
schreibt. Jedes Mal, wenn ich die Glienicker Brücke überquere, muss ich an den "Spion, der aus der Kälte
kam" denken.
Le Carré, der, wie er sagte, "die deutsche Seele umarmte", der schon in seiner Jugend Deutsch lernte, und
dessen Romane ein umfangreiches Wissen der deutschen Gesellschaft, Geschichte und Politik aufweisen,
wird im August mit der Goethe-Medaille für sein Lebenswerk geehrt. Das Goethe-Institut nennt ihn den
"berühmtesten Deutsch sprechenden Briten". Er ist niemand, der gerne Auszeichnungen entgegennimmt
und er hat in England viele zurückgewiesen - diese aber, die er für seine Verdienste um die deutsche
Sprache und den kulturellen Austausch bekommt, wird er annehmen. Seine Romane sind wertvoller Teil
unseres literarischen Erbes in der Art, wie er die globalen Konflikte, und insbesondere den Kalten Krieg,
lebendig werden lässt, und in der psychologischen Charakterzeichnung, vor allem seines berühmtesten
Protagonisten George Smiley.
John Le Carré hat den Weg, wie er zur deutschen Sprache fand, mal als eine Art Teenagerrebellion
beschrieben. Für den 1931 Geborenen war das Deutschland seiner Kindheit ein Land des Terrors, das Bomben
auf seine Schule warf und auf den Tennisplatz seiner Großeltern. Aber dank eines Deutschlehrers, der ihn
überzeugte, dass es in Deutschland mehr gab als nur Krieg, betrachtete er die Sprache bald als "übenswert".
Deutschland hat nie seinen Reiz für ihn verloren und von seinen Romanen sagt er stolz, sie trügen das
Etikett "Made in Germany".
Er ist auch mit 80 Jahren an der Entwicklung Deutschlands und seiner Geschichte interessiert, er schreibt
immer noch Romane, die unterhalten und den Zeitgeist einfangen und er besucht Deutschland regelmäßig.
Seine Bücher schaffen, was nur gute Literatur schafft: Sie regen dazu an, die Schauplätze seiner Romane
selbst zu entdecken.
In einer Zeit, in der Journalisten zunehmend an ihre Büros gebunden sind, spricht John Le Carré eine weise
Warnung aus: "Ein Tisch ist ein gefährlicher Platz, um die Welt zu betrachten."
http://www.sueddeutsche.de/service/mein-deutschland-die-deutsche-seele-umarmt-1.1112941 (27.06.2011)
erstellt von Eva Bormann, Oktober 2011, Junges Theater Marburg