Exposé - Martin-Luther-Universität Halle

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Exposé - Martin-Luther-Universität Halle
Exposé zum Promotionsvorhaben von Susanne Drogi (M.A.)
im Fachgebiet Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Arbeitstitel:
Macht ihr eure Wende! – Wende und Wiedervereinigung in der aktuellen Kinder- und
Jugendliteratur – Ausprägungen und Elemente der Erzählstrategie inszenierter Naivität
Gliederung:
1. Einführung
Seite 2
2. Forschungsstand und aktuelle Relevanz
Seite 5
3. Naivität und Befremdung
Seite 6
4. Textauswahl
Seite 7
5. Inszenierte Naivität und Kinderliteratur
Seite 8
6. Beispiele
Seite 13
7. Zitierte Sekundärliteratur
Seite 16
1
1. Einführung
Naivität ist ein Begriff der in der Forschungsliteratur als ein ٫wandernder᾽, sowie als ein
٫schillernder᾽ benannt wurde. Wandernd ist er insofern, als dass Begriffe im Allgemeinen
nicht als ein für allemal Feststehendes verstanden werden, sondern abhängig von z. Bsp.
akademischen Fächern und Forschungsperspektiven, sowie historischen Perioden flexibel und
veränderbar sind.1 Schillernd ist er hinsichtlich seiner Vieldeutigkeit: eine lebensweltliche
semantische Ebene und eine ästhetische semantische Ebene vereinen sich in dem Begriff
Naivität. Charles Batteux hat diese Differenz mit dem bestimmten bzw. unbestimmten Artikel
kenntlich gemacht: Die Naivität bezieht sich auf den Stil, eine Naivität auf einen Charakter
und seine Gedanken.2 Für beide Aspekte gilt, dass Naivität jeweils als Ideal verstanden wird;
die verstärkt negative Konnotation welche Naivität in der heutigen Alltagssprache hat, gilt für
den Diskurs im 18. Jahrhundert noch nicht gleichermaßen. Einen der ersten theoretischen
Versuche, den Begriff zu fassen, unternimmt Christoph Martin Wieland. Wie es auch einige
Jahre später Schiller tun wird, setzt er das Naive dem Natürlichen gleich.
In der That ist die menschliche Natur von ihrer Bestimmung und schönen Anlage so stark
abgewichen, dass in dem Innern des Menschen an die Stelle der liebenswürdigsten Neigungen, anstatt der Unschuld, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe – Bosheit, Unbilligkeit, Unmäßigkeit, Neid und Haß getreten ist.3
Der Zustand einer unschuldigen und unverdorbenen Seele, ein Zustand, in welchem das
menschliche Subjekt mit sich selbst und der Natur identisch ist, ist ein unwiederbringlich
verlorener. Die Zivilisation – als Gegenbegriff zu dem der Natur – zwingt den Menschen zu
Verstellung und zweckgerichteter Kalkulation. In ihr wird der Mensch seiner Natur
entfremdet und „zerstückelt“.4
„Das Naive beginnt seine Karriere [somit] als Ursprungsmythos […]“ 5 und ist von Beginn des
Diskurses an ein kulturkritischer Begriff. Einem idealisierten Naturzustand wird die Gegenwart als mangelhaft gegenübergestellt. Zu einer Definition des Naiven zwingend zugehörig
ist daher eine Erfahrung der Krise oder des Verlusts. Die naive Haltung bzw. Perspektive wird
folglich als eine Ausweich-, Rückzugs- und Fluchtbewegung6 verstanden: sie negiert die
1
Vgl.: Bal, Mieke: Kulturanalyse. Hrsg. V. Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt am Main 2002.
S. 11.
2
Vgl .: Batteux, Charles: Von der Aespopischen Fabel II. Schreibart der Fabel. In: Ders.: Einleitung in die
Schönen Wissenschaften. Erster Band. 4. Aufl. Leipzig 1774. S. 294-298. hier: S. 297.
3
Wieland, Christoph Martin In: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 3. 2.
unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793. Hildesheim, Zürich, New York 1994. S. 502.
4
Vgl.: Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik von J.J.Rousseau bis G.Anders. München 2007. S.
105f.
5
Krankenhagen, Stefan: Deutschland naiv 1774/1995. Eine lückenhafte Genealogie der Funktionen des Naiven
in der Kunst. In: Figuren des Dazwischen. Naivität als Strategie in Kunst, Pop und Populärkultur. Hrsg.v.
Stefan Krankenhagen und Hans-Otto Hügel. Kopenhagen, München 2010. S. 39-60. hier: S. 39.
6
Vgl. ebd., S. 43.
2
Entfremdung indem sie natürliche Einheit behauptet – bei implizitem Bewusstsein um dessen
Unmöglichkeit.
Das Potential von Naivität liegt zunächst also darin, die Grenzen zwischen Natur und Kultur
darstellbar und diskutierbar zu machen.7
Friedrich Schiller war es dann der in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische
Dichtung (1795) Naivität als Attribut und Ausdruck des wahren Genies beschrieb und die
Definition formulierte Naivität sei „eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird.“8
Bei ihm ist die naive Naturerfahrung durch ein Höchstmaß an Unmittelbarkeit charakterisiert,
welches nur durch Verzicht auf Reflexion erreicht werden kann. Mit dem Verweis auf die
Unerwartetheit des Naiven tritt die reflektierende Tätigkeit wieder hinzu: Naivität ist eine
behauptete Reflexionslosigkeit, die jedoch nur reflektierend anverwandelt werden kann. Wäre
letzteres nicht der Fall, so handelte es sich im Sinne Schillers nicht um das zu erreichende
Ideal, sondern eine kindische – nicht kindliche – Dummheit oder Einfältigkeit.
Mit dem Beginn der Moderne und den Erscheinungen der Metropolen ab der Jahrhundertwende 1900 sieht sich das moderne Subjekt mehr und mehr bedroht. Die Erfahrung von Welt
ist eine der gesteigerten Komplexität, Unüberschaubarkeit und Zersplitterung von Wahrnehmung. Spätestens jetzt ist Erleben von Identität, Autonomie und Selbstbestimmung (als
Naturzustand) unmöglich. Naivität ist ein Verfahren der Komplexitätsreduktion, dass – sich
selbst transzendierend – auf die außerliterarische Komplexität verweist.
Es wird also
verstanden als eine Möglichkeit, die spezifisch moderne Erfahrung literarisch abzubilden.
Oder, wie es Adorno formuliert; Naivität wird in der Moderne zu dem Behelf, der Erzählen
überhaupt noch möglich macht.9
In meiner Magisterarbeit über Inszenierte Naivität in der Literatur der Neuen Sachlichkeit
wurde deutlich, dass eine naive Wahrnehmung (durch die literarischen Figuren) durch eine
gesteigerte Empfänglichkeit und Erkenntnisbereitschaft gekennzeichnet ist – im Gegensatz
zum Zustand der Blasiertheit wie ihn Georg Simmel beschreibt. Gleichzeitig stellt es einen
Versuch dar, die schmerzlichen Empfindungen, die aus Defiziterfahrungen resultieren, zu
nivellieren, d.h. sich der Welt angstfrei zu öffnen. Allen analysierten Textbeispielen gemein
war soziale und historische Deplaziertheit ihrer Protagonisten, ihr Schweben und ihr Zurück7
8
9
Vgl.: Hans-Otto Hügel und Stefan Krankenhagen: Figuren des Dazwischen. Naivität als Strategie in Kunst,
Pop und Populärkultur. Einleitung. a.a.O. S. 7.
Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Fünfter Band:
Erzählungen/Theoretische Schriften. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 8.durchgesehene
Auflage. München 1989. S. 694-780. hier: S. 699. (Hervorhebung im Original)
Vgl.: Adorno, Theodor W.: Über epische Naivetät. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd.
11. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997. S. 34-40. hier: S. 36.
3
geworfensein. Hier wird eine Verfahrensweise inszenierter Naivität evident: die Figur des
Sonderlings. Während in der Literatur des 16.und 17. Jahrhunderts ausschließlich Schelme
bzw. Pikaros naive Figuren waren, wurden diese dann mehr und mehr von der des Kindes
abgelöst. Pikaro oder Kind, beide Perspektiven erlauben einen Blick von außen auf die
Gesellschaft, sie sind Beobachter und sie sind Chronisten ihrer Zeit. Die Verfasserin möchte
sich der Bezeichnung des Sonderlings nach Nause (2002) anschließen. Diese vereint die
Gestalten des Schelmes, des Kindes, wie auch des Fremden, des Außenseiters, des
Ausländers.
Die Sonderlinge des zwanzigsten Jahrhunderts wären dann – wie Meyer sagt –
nicht
mehr autonome Individuen, sondern, als „zufällige“ Schnittpunkte,
deutlich Symptome ihrer Gesellschaft. Mehr, als dass sich der Sonderling selbst
als solcher bestimmt, wird ihm dieser Stempel, durchaus im negativen Sinn, von
der jeweiligen Umwelt aufgedrückt. Die Distanz des Sonderlings zu seiner
Umwelt resultiert nicht aus einer freien Entscheidung der Person – es ist der
Kontext, der den einzelnen „biologischen Schnittpunkt“ aus der Menge
heraushebt.10
Erzielt wird ein ungewöhnlicher Blick, der irritiert, die Wahrnehmbarkeit der Phänomene
steigert und Wahrnehmung an sich thematisierbar und kritisierbar macht.
Die beiden weiteren Verfahrensweisen inszenierter Naivität sind Reduktion und Regression.
„Komplexitätsreduzierend ist im allerweitesten Sinne der literarische Text überhaupt. Das
beruht auf seinem Zeichencharakter, genauer: auf seiner Eigenschaft als sekundäres
modellbildendes System.“11 Komplexitätsreduktion ist gleichbedeutend mit Vereinfachung.
Hier auf eine Minderung literarischer Qualität zu schließen, wäre fatal. Es ist eine reflektierte
und kalkulierte Einfachheit, die Abgründe verschleiert, und gleichzeitig vom Leser erwartet,
diese zu entdecken.
Der Leser erfährt durch das Weglassen von komplexen Hintergründen und durch
fehlende Reflexionen des Erzählers im Grunde eine Steigerung seiner eigenen
Weltwahrnehmung und wird sich bestimmter Inhalte und menschlicher
Verhaltensweisen bewusster. […] Die naive Narrative funktioniert […] nur,
wenn sie als solche vom Leser durchschaut wird. Erst dann kann sie ihre
Wirkung entfalten und zum Beispiel auch als Ironie beziehungsweise Sarkasmus
wahrgenommen werden.12
Naivität in der Erzählhaltung verstärkt die Einsicht des Lesers.13
Nause referiert bezüglich der Komplexitätsreduktion Bruno Hillebrands Theorie des
Romans, die die Reduktion als Ausdruck einer „grundsätzlich[en] Unsicherheit an der
10
Nause, Tanja: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der
Nachwendeliteratur. Leipzig 2002. S. 41.
11
Lypp, Maria: Zum Begriff des Einfachen in der Kinderliteratur (1995). In: Ders.: Vom Kaspar zum König:
Studien zur Kinderliteratur. Frankfurt am Main 2000. S.75-79. hier: S. 75.
12
Barth, M.: Mit den Augen des Kindes. Narrative Inszenierungen des kindlichen Blicks im 20. Jahrhundert.
Heidelberg 2009. S. 148.
13
Ebd., S. 146.
4
Erkennbarkeit und Erklärbarkeit der Welt“14 beschreibt.
Unter Regression wird hier eine Rückentwicklung literarischer Figuren in kindliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisstadien verstanden.
2. Forschungsstand und aktuelle Relevanz
Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zum Naiven in Kunst und Literatur ist
vergleichsweise jung, gleichzeitig lässt sich in den letzten Jahren eine Konjunktur zu diesem
Thema beobachten. Offenbar handelt es sich hierbei um eine brauchbare literaturtheoretische
Kategorie, mit der moderne und aktuelle Texte angemessen und lohnend beschrieben und
analysiert werden können. So waren Detlev Schöttker (1989) und André Fischer (1992)
wohl die ersten, die ihn an Texten des 20. Jahrhunderts untersuchten. Schöttker untersucht
Naivität als Paradigma der Dramatik Bertholt Brechts. Fischer argumentiert, dass Naivität
sich im Besonderen eigne, Erinnerungen zu evozieren und darzustellen. Dieser These
schließt sich 2002 Tanja Nause an, indem sie Naivität an Texten der Nachwendeliteratur
untersucht.
Im vergangenen Jahr ist ein Tagungsband erschienen, in dessen Beiträgen Naivität als
Stilform der Moderne verstanden wird. Er diskutiert sie beispielsweise anhand der
Popliteratur (Christian Kracht) und Popkultur15.
Des Weiteren ist die Forschung zum kindlichen Blick in der Literatur für die geplante Arbeit
relevant und eng mit dem Naiven verknüpft, wird sie doch als eine als kindlich inszenierte
Perspektive verstanden. Der naive Blick ist einer, der nicht gewöhnt ist, dem alles neu ist.
Diese Stufe der Unwissenheit ist jedoch nicht gleichzeitig mit Gefühlen des Unbehagens oder
der Angst verbunden. Es ist eine kindliche Unbefangenheit bzw. Unschuld.
Es wird zu fragen sein, worauf die Tendenz des 20. Jahrhunderts, im Besonderen der letzten
Jahre, aus Kindersicht zu schreiben zurückgeführt werden kann. Gundel Mattenklott
argumentiert, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts der „Selbsterfahrung die größte
Aufmerksamkeit“16 gelte. Diese These führt Mattenklott leider nicht aus. Jedoch ist sie wohl
so erklärbar, dass angesichts der Erfahrung, dass die Welt Antworten verweigert, das
Individuum auf sich selbst zurückgeworfen ist und auch sich selbst mehr und mehr
fragwürdig und rätselhaft wird. In der Literatur lässt sich schon länger ein Modus des
14
Nause,T.: Inszenierung von Naivität. S. 37.
So wendet Moritz Schramm in seinem Beitrag das Naive auf Songtexte von Wir sind Helden und Silbermond
an. Vgl.: Schramm, Moritz: Heldenhafte Authentizität: Zur politischen Inszenierung des Naiven in der Neuen
Neuen Deutschen Welle. In: Figuren des Dazwischen. Naivität als Strategie in Kunst, Pop und Populärkultur.
Hrsg.v. Stefan Krankenhagen und Hans-Otto Hügel. Kopenhagen, München 2010. S. 161-184.
16
Mattenklott, Gundel: Über ästhetische Erfahrungen in Kindheitserinnerungen. In: Hubert Ivo / Kristin
Wardetzky (Hrsg.): Aber spätere Tage sind als Zeugen am weisesten. Zur literarisch-politischen Bildung im
politischen Wandel. Berlin 1997. S. 155-161. hier: S. 160.
15
5
Fragens beobachten, der nicht nach Antworten verlangt, sondern im Fragen verharrt. Sie
stellt Suchbewegungen dar, ohne ein zielhaftes Finden zu antizipieren. Maria Lypp spricht
hier von einer „Faszination des Fragens“17. Ferner ist die Kindheit wohl der existentiellste
Abschnitt im Leben eines Menschen, was das besondere Interesse und angenommene
Potential dieser Perspektive für Autoren begründen könnte. Auch Walter Jens hat sich unter
dem Titel Erwachsene Kinder mit dem beschriebenen Phänomen befasst. Ferner liefert er
eine Definition von Kindheit als Projektionsfläche, die für das Feld literarischer Naivität
nutzbar gemacht werden kann:
[…] Kindheit: das ist die wahre Idealität, deren Existenz die Heillosigkeit unserer Gesellschaft
spiegelt. Am Kind entscheidet sich alles; Kindheit: das ist gleichsam der klärende Zusatz, der
die Welt zwingt, sich zu entlarven.18
Seine Argumentation schließt er dann mit der These, dass es in der modernen Literatur kaum
noch Jugendliche, „sondern nur erwachsene Kinder und kindliche Erwachsene“19 gäbe.
3. Naivität und Befremdung
Der naive Blick ist ein distanzierter und ungewöhnlicher: eine Sonderlings- bzw. Differenzfigur kultiviert eine überraschende, unerwartete und unvertraute Perspektive auf Welt, die das
Selbstverständliche hinterfragt und es unselbstverständlich erscheinen lässt. Vertrautheit des
Bekannten wird obsolet und fragwürdig. Hier scheint sich generell eine basale moderne (oder
postmoderne?) Existenzerfahrung zu offenbaren: ist dem modernen Menschen alles selbstverständlich oder ist ihm nichts mehr selbstverständlich?
Ein weiterer Aspekt wurde schon genannt: Naivität wird verstanden als Reflex auf eine
Entfremdungserfahrung. Die Irritation und Erschütterung, sowie Gefühle der Angst u.ä. die
daraus resultieren bleiben in der naiven Haltung jedoch unreflektiert. Gleichzeitig ist das
naive Subjekt empfänglicher als das nicht naive. Es erscheint logisch, dass aus dieser
grundsätzlichen Offenheit der Wahrnehmung und Begeisterungsfähigkeit die Basis für die
Initiation eines Lernprozesses gelegt wird. Sowohl der naive Protagonist empfängt neue
Eindrücke, macht sich das Fremde vertraut, als auch der Rezipient wird in seinen gewohnten
Wahrnehmungsmustern erschüttert und kann diese korrigieren. Letzter Aspekt bezieht sich
auf Naivität als Verfremdungsverfahren.
Ferner sind naive Figuren selbst durch ein gewisses Maß an Fremdheit gekennzeichnet, dass
sich natürlich immer erst in einer Relation offenbart (Kind ↔ Erwachsener, Ausländer ↔ die
17
Lypp, Maria: Ausdenken – Nachdenken – Erben. Neue Seiten im Kinderbuch (1997). In: Ders.: Vom Kaspar
zum König. S. 17-24. hier: S. 21.
18
Jens, Walter: Erwachsene Kinder. In: Ders.: Statt einer Literaturgeschichte. Düsseldorf, Zürich 1998. S. 135160. hier: S. 149.
19
Ebd., S. 150.
6
andere Kultur, der Wilde ↔ die Zivilisation….). Der Titel der obengenannten Publikation aus
2010 lautet „Figuren des Dazwischen. […]“: naive Figuren sind jene, die sich auf Grenzen zu
bewegen, auf sie hindeuten, sie überschreiten, Übergänge symbolisieren.
Alterität und Alienität (bzw. graduell gleitende Fremdheit) sind Begriffe, die sowohl
hinsichtlich literarischer Stoffe und Themen, als auch in Forschungsperspektiven, nicht an
Aktualität und Relevanz verlieren. Es scheint so zu sein, dass die moderne subjektive
Erfahrung jene einer stetig zunehmenden Befremdung ist, anstelle einer wachsenden Vertraut4. Textauswahl
Für das Promotionsvorhaben werden literarische Texte ausgewählt, die (primär 20) an Kinder
und/oder Jugendliche adressiert sind und die Wende bzw. die Wiedervereinigung und die
damit verbundenen kulturellen und sozialen Veränderungsprozesse thematisieren. Haben die
kindlichen und jugendlichen Leser die historischen Ereignisse, welche die Bücher
thematisieren nicht mehr erlebt, so nimmt jene Literatur natürlich am Erinnerungsdiskurs
teil21.
Warum diese Materialauswahl? In den einleitenden Passagen zum Begriff inszenierter
Naivität wurde das Moment der Krise als konstitutiv herausgearbeitet. Die Wende und die aus
ihr resultierenden Ereignisse können zweifellos als kollektive Erschütterung bewertet werden.
Haben auch die Kinder und Jugendlichen, die jene Bücher, die hier analysiert werden sollen,
lesen, die Wende nicht (oder zumindest nicht bewusst) erlebt, so sind inneren Konflikte und
Widersprüche, Identitätsbrüche und Traumatisierungen für die Kinder und Jugendlichen –
nicht zuletzt durch Eltern und Großeltern – Teil ihrer Lebenswirklichkeit. In den Texten der
KJL zur Wende fallen Prozesse auf wie Parentisierung der Kinder aufgrund der umfassenden
Überforderung der Eltern, kindliche oder adoleszente Anpassungsversuche an „die neue Zeit“
und die Suche nach der Geschichte der Eltern als Notwendigkeit zur eigenen
Identitätsbildung. Der Bruch 1989/90 stellt also ein Befremdungs- und Fremdheitsmoment
dar, wobei die soziale und vor allem geographische Umwelt dieselbe bleibt.
Zum jetzigen Zeitpunkt der Materialsichtung wird vermutet, dass in Texte für Kinder ab
ungefähr 12/13 Jahren vermehrt Elemente inszenierter Naivität beobachtbar sind.
Da sich in der Forschungsliteratur zu Inszenierter Naivität in der Literatur im 20. und 21.
20
Immer häufiger findet man die Bezeichnung der All-age-Literatur. Es werden jedoch nur Texte verwendet,
deren intendierte Adressaten Kinder und Jugendliche sind. Dass KJL zur Wende möglicherweise ein
besonderes Potential besitzen, als all-age-Literatur gelesen zu werden, soll von zweitrangigem Interesse sein.
21
Vgl.: Dettmar, Ute: Geteiltes Leid, vereintes Glück? Geschichte(n) von Wende und Wiedervereinigung in der
Kinder- und Jugendliteratur in erinnerungskultureller Perspektive. In: Grenzenlos. Mauerfall und Wende in
(Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Hrsg.v. Ute Dettmar und Mareile Oetken. Heidelberg 2010. S.
51-75. hier: S. 51f.
7
Jahrhundert vor allem zwei Hauptstränge beobachten lassen: (1) Inszenierte Naivität und das
kollektive und kulturelle Gedächtnis und (2) Inszenierte Naivität und Komik/Witz, sollen
diese auch in der Materialauswahl leitend sein. Die Texte lassen sich als komisch oder
tragikomisch beschreiben und/oder stellen einen Beitrag zum Erinnerungsdiskurs dar.
Die literaturwissenschaftliche Forschung zur Wendeliteratur für Kinder und Jugendliche ist
noch vergleichsweise gering und vereinzelt. Der Tagungsband Grenzenlos. Mauerfall und
Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien ist 2010 erschienen ist einer der
wenigen und aktuellsten Versuche, sich diesem jungen Forschungsgegenstand anzunähern.
Neben dem Fokus Inszenierter Naivität, unternimmt die Arbeit also den Versuch,
vergleichsweise umfassend einen Einblick in das Feld zu geben und Untersuchungsansätze
offen zu legenEs besteht der Anspruch, auch Texte zu analysieren, die bis jetzt nur geringe Aufmerksamkeit
erfuhren bzw. die sehr aktuell sind. So erschien Ende Februar 2012 der Tagebuchroman In
einem Land vor meiner Zeit von Ina Raki, in dem eine 14-jährige Ich-Erzählerin ungewollt
eine Zeitreise in das Jahr 1984 unternimmt und „dort“ etwas mehr als zwei Monate verbringt.
5. Inszenierte Naivität und Kinderliteratur
Für die Methodik der Arbeit wird die Frage zentral sein, inwieweit der Begriff inszenierter
Naivität auf Kinder- und Jugendliteratur anzuwenden ist. Auch diese Frage wurde in der
Forschung bisher noch nicht gestellt. Dabei soll natürlich vermieden werden, jegliche
kinderliterarische Kommunikation per se als naiv zu benennen. Stilmittel und ästhetische
Verfahren die ausschließlich auf die Bedingungen der asymetrischen Kommunikation zurück
zu führen sind, sollen getrennt werden von jenen Elementen, die für das Phänomen
inszenierter Naivität sprechen. Diese Gefahr bzw. Problematik besteht; das Bewusstsein
darüber soll die kritische Reflexion schärfen.
Maria Lypp beschäftigte sich umfassend mit der Kategorie der Einfachheit, doch geht
Naivität noch darüber hinaus und erschöpft sich nicht in jener.
Behauptet wird, dass das Phänomen inszenierter Naivität auch in der Kinder- und Jugendliteratur zu finden ist, gleichzeitig aber nicht jeder kinderliterarische Text per se naiv ist bloß
weil er den kindlichen Blick simuliert. Naivität ist eine ästhetische Figur, die dem Autor nicht
„unterläuft“, und die besondere Wirkungen hervorruft. James Krüss formuliert in seiner
bekannten Schrift Naivität und Kunstverstand die Forderung, „Kindergedichte haben naiv zu
sein!“22 Nur Kindergedichte? Oder nicht jede an Kinder adressierte Literatur? Aber: Wie
22
Krüss, James: Naivität und Kunstverstand. In: Ders.: Naivität und Kunstverstand. Gedanken zur
Kinderliteratur. Weinheim, Basel 1992. S. 140-170. hier: S. 142.
8
unterscheidet sich die Gestalt inszenierter Naivität abhängig davon, ob das Lesepublikum in
erster Linie Erwachsene oder Kinder sind?
Die Verfasserin behauptet also weiter, dass sich die Mittel und Funktionen von Naivität zur
Erwachsenenliteratur unterscheiden müssen. Warum?
Weitgehende Einigkeit besteht in jüngster Zeit darüber, dass sich Allgemeinliteratur und
Kinder- und Jugendliteratur einander annähern, dass Grenzüberschreitungen stattfinden, bis
hin zum Verschwinden jener Grenzen.
Das wichtigste Beispiel für diese Entwicklung ist wohl das, was Ewers den Verlust der
Einstiegs- und Unterhaltungsfunktion von Kinderliteratur nennt: „Die neue Kinderliteratur
will keine Zwischenstufen-, keine Übergangs-, sondern bereits Literatur von der Art sein, wie
sie von Erwachsenen gelesen wird.“23
Die moderne KL ist eine Literatur des „Daseinsernstes“. Sie hat keine Unterhaltungsfunktion.
Derjenige Teil der KL, der der Unterhaltung dient, hat keinen von den Medien abgehobenen
Status, sondern wird von den Kindern als „Verlängerung bzw. Folgeakt der Medien- bzw.
Fernsehkommunikation erlebt.24
Als führend im Diskurs um die Modernisierung der Kinder- und Jugendliteratur sind Carsten
Gansel und Hans-Heino Ewers zu nennen. Gansel fordert eine genauere Betrachtung
kinderliterarischer Narratologie25. Die „gesteigerte Literarizität“26 aktueller Kinder- und
Jugendliteratur ist ihm hinreichender Grund, diese benenn- und beschreibbar zu machen. Es
ist also die „Frage nach dem »Wie« des Erzählens“ 27 zu beantworten. Meiner Ansicht nach
kann inszenierte Naivität eine – unter mehreren – Möglichkeiten sein, diese Frage zu
beantworten. Hans-Heino Ewers bezeichnet die Kinderliteratur wie sie sich seit den 1970er
Jahren entwickelt als „Literatur des Daseinsernstes28“, da sie ihre Unterhaltungsfunktion
aufkündigt29. Ein Grund hierfür liegt in der Übernahme dieser Funktion durch andere Medien,
ein anderer in einem neuen Kindheitsbild, das „auf die Gemeinsamkeiten von Kindern und
23
Ewers, Hans-Heino: Die Emanzipation der Kinderliteratur. Anmerkungen zum kinderliterarischen Formenund Funktionswandel seit Ende der 60er Jahre". In: Horizonte und Grenzen. Standortbestimmungen in der
Kinderliteraturforschung. Hrsg. vom Schweizerischen Jugendbuch-Institut, Zürich 1994, S.75-87. hier: S. 84.
24
Lypp, M.: Das kalkulierte Einfache (1995). In: Ders.: Vom Kaspar zum König. S. 65-74. hier: S. 67.
25
Vgl.: Gansel, Carsten und Hermann Korte: Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie – Vorbemerkungen.
In: Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Hrsg.v. Carsten Gansel und Hermann Korte. Göttingen
2009. S. 7-9.
26
Ebd., S. 8.
27
Ebd., S. 7.
28
Ewers, Hans-Heino: Die Emanzipation der Kinderliteratur. Anmerkungen zum kinderliterarischen Form- und
Funktionswandel seit Ende der 60er Jahre. In: Zwischen Bullerbü und Schewenborn. Auf Spurensuche in 40
Jahren deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg.v. Renate Raecke und Ute D. Baumann. München
1995. S. 16-28. hier: S. 20.
29
Vgl.ebd., S. 25.
9
Erwachsenen [abhebt]“30 und daher für Kinder nicht anders zu schreiben sei als für
Erwachsene31.
Versteht man unter »kinderliterarischem Code« (Maria Lypp) die Gesamtheit formaler und
inhaltlicher Akkomodationen an den kindlichen Rezipienten, dann haben wir es seit den
Endsechzigern mit einer Kinderliteratur ohne markanten kinderliterarischen Code zu tun; d.h.
ihre Texte sind stilistisch nicht so ohne weiteres mehr als Kinderliteratur identifizierbar. Dies
schließt Akkomodationen nicht aus, doch sind diese dann globalerer, nicht kindspezifischer
Natur.32
Ein weiterer Aspekt innerhalb der Modernisierung der KJL bzw. der „neuen“ KJL ist laut
Ewers ihre zeitdiagnostische Dimension33. Da sie im Gegensatz zur traditionellen KJL
„unerbitterlich im Alltag [verharrt]“34, erwirbt sie sich einen kritischen Zeitbezug und
reflektiert kulturelle Wandlungsprozesse. Dieser Diagnose folgend, sollte somit Inszenierte
Naivität als Mittel und Ausdruck von Kulturkritik in der neuen KJL bedeutsam werden. Doch
inwiefern ist nun der unterschiedliche Adressatenbezug (Kinder-Jugendliche-Erwachsene)
bestimmend für die Gestalt literarischer Naivität?
Ich möchte mich in der folgenden Argumentation nochmals auf die Verfahrensweisen von
Naivität beziehen und mit einem Zitat von Maria Lypp beginnen:
Literatur für Erwachsene strebt eine andere, neue Wahrnehmung der Verhältnisse an und rückt
sie daher in die Distanz, z.B. durch Verfahren der Verfremdung. Kinderliteratur geht notwendig
von der Distanz der Leser zu den Verhältnissen aus. Sie braucht nicht die Verfremdung, sie hat
es mit der Fremdheit der Kinder, ihrem Befremden gegenüber den Verhältnissen, zu tun. Diese
muß sie zugleich überbrücken und erhalten. Die Kinderliteratur löst diese widersprüchliche
Aufgabe mit Hilfe der Einfachheit.35
Naivität ist beides zugleich: Vereinfachung und Verfremdung. Ich möchte behaupten, dass in
literarischen Texten, die primär an Kinder adressiert sind, die Qualität und die Relation von
Vereinfachung und Verfremdung benennbar different im Vergleich zu Texten für Erwachsene
sein müssen.
Kindern sind Erscheinungen (noch) fremd, die es für Erwachsene nicht mehr sind. Auch
resultiert daraus ein quantitativ gesteigertes Befremdungserleben. Andererseits erleben sie
aufgrund ihres „Defizits an Weltwissen“ in gewissen Situationen keine Befremdung, wo sie
ein Erwachsener spürt. Für beide Perspektiven gilt, dass der kindliche Blick auf das Fremde
im ersten Schritt eine Grenze des Verstehens deutlich macht. In einem zweiten Schritt möchte
diese Grenze überschritten werden, ein Lernprozess beginnt. Wesentlich ist aber, dass diese
30
Ebd., S. 19.
Vgl. ebd., S. 22.
32
Ebd.
33
Vgl.: Ewers, Hans-Heino: Einleitung. In: Jugendkultur im Adoleszenzroman. Jugendliteratur der 80er und
90er Jahre zwischen Moderne und Postmoderne. Hrsg. v. Hans-Heino Ewers. 2. Aufl. Weinheim, München
1997. S. 7-12 . hier: S. 7
34
Ebd.
35
Lypp, Maria Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt am Main 1984. S. 159.
31
10
„Grenzerfahrung“ eine notwendige ist. „Erst / wenn ich dich / nicht verstehe / fängt mein
Verständnis / für dich / an [...]“36 Nur dann kann aus dem naiven, kindlichen und be- und
verfremdenden Blick ein entfremdender werden.
Für die ästhetische Figur der Naivität wird weiterhin erwartet, dass ihr Ziel nicht ein
vollständiges
Vertrautmachen
des
Fremden
ist,
sondern
dass
(möglicherweise
unüberschreitbare) Grenzen des Fremdverstehens darstellbar gemacht werden. Es gehört zum
Selbstbild des aufgeklärten, modernen Menschen in einer globalisierten Welt, alles verstehen
zu können und daher auch zu wollen. Schon Schleiermacher sprach von einer „Wut des
Verstehens“37 und Guttandin entwirft das Bild eines „Sog[s] des immer besser und immer
vollständiger Verstehen-Wollens“38. Die kindliche Perspektive könnte hier eine Protesthaltung
sein, die das Nicht-Verstehen aushaltbar macht.
Für die anderen Verfahrensweisen von Naivität können an dieser Stelle ebenfalls nur erste
Vermutungen angestellt werden, die dann zu überprüfen sind. So ist bezüglich der Regression
in kinderliterarischen Texten zu überlegen, inwiefern diese für den Text selbst Gültigkeit hat,
ist es doch mehr eine Haltung des Autors, der regressiv eine kindliche Wahrnehmung
simuliert, eben nicht mit dem Ziel vom kindlichen Leser als simuliert durchschaut zu werden,
sondern im Gegenteil als authentisch akzeptiert zu werden.
Ferner wird behauptet, dass in der KJL eine deutliche Tendenz beobachtbar ist, welche die
Protagonisten mit pikaresken oder schelmenhaften Zügen ausgestattet erscheinen lässt. HansHeino Ewers deutet auf die Traditionslinie vom Lausbuben zum „bad boy“ hin 39 und sieht,
ebenso wie Inge Wild, eine Konjunktur des Pikaros in der KJL im Zusammenhang mit einer
„Renaissance kinderliterarischer Komik“40.
Arbeitshypothesen:
-
Wenn Inszenierte Naivität eine Stilform der Moderne ist, so erscheint es begründet,
anzunehmen, dass sie sich auch in aktueller KJL niederschlägt.
-
Um der methodischen Gefahr zu entgehen, den Begriff willkürlich anzuwenden und
36
Hunfeld, Hans: Einverstanden. Zit. nach: Silke Hano: Umgang mit Sprache in der Grundschule. Hamburg
1997. S. 7.
37
Zit.nach: Nassen, Ulrich: Einige programmatische Bemerkungen zum hermeneutischen Verständnis des
interkulturell und intrakulturell Differenten in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945.
in: Konfigurationen des Fremden in der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Hrsg.v. Ulrich Nassen und
Gina Weinkauff. München 2000. S. 9-18. hier: S. 10.
38
Ebd.
39
Vgl.: Ewers, Hans-Heino: Veränderte kindliche Lebenswelten im Spiegel der Kinderliteratur der Gegenwart.
In: Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Hrsg. v. Hannelore Daubert und Hans-Heino Ewers.
Braunschweig 1995. S. 35-48. hier: S. 45.
40
Wild, Inge: Kindsein heute – zwischen Lachen und Weinen. Renaissance kinderliterarischer Komik. In:
Daubert/Ewers 1995. S. 81-94. hier: S. 81.
11
damit unbrauchbar zu machen, wird nicht nach Inszenierter Naivität an sich in KJL
gefragt, sondern nach Elementen inszenierter Naivität in KJL
-
Als diese Elemente werden angenommen:
o Schelm/Pikaro/pikareske Ich-Erzähler
o Eine besondere humoristische Darstellung (Ironie, Satire)
o Momente der Krise, Entfremdung, Befremdung
o Stereotypisierung und Klischeebildung als Formen der Reduktion
o Parentisierung, Naivität als Element (kindlicher) Weisheit
o Erinnerungsdiskurse im Text in Relation zur historischen Wahrheit
-
Naivität ermöglicht ein implizites Reden über Befremdung (= Moment der Krise)
-
diese Befremdung initiiert wiederum einen Lernprozess, der literarisch gestaltbar ist
-
Naivität kann auftreten als
o Charakter
o Erzählhaltung
o Welthaltung
o Möglichkeit von Manipulation
Es sollen die bestehenden Definitionen und Verfahrensweisen flexibel und kritisch
angewandt, und, wo notwendig, angemessen vervollständigt werden.
Die geplante Arbeit ist eine literatur- und kulturwissenschaftliche. Zugleich wird ein
komparatistisches Interesse befürwortet: Fremdheit und Verstehen gelten als pädagogische
Grundprobleme. Durchaus kann erwartet werden, dass die Arbeit auch Denkanstöße liefern
kann für einen interkulturell orientierten Literaturunterricht oder auch für die interkulturelle
Pädagogik. Diese hat die Aufgabe,
erstens eine Auseinandersetzung mit solchen kulturellen Kontexten und Praktiken zu ermöglichen, die substanzielle Differenzerfahrungen beinhalten und zweitens dazu beitragen, dass
jeweilige Erfahrungen reflexiv verarbeitet werden können, also mit einer rationalen und damit
diskursiv überprüfbaren Vergewisserung bzw. Veränderung des eigenen Selbst- und Weltverständnisses einhergehen, die ungebrochene Identifikationen relativiert.41
6. Beispiele
41
Nohl, Arnd-Michael: Konzepte interkultureller Pädagogik. Bad Heilbrunn 2006. S. 135.
12
Macht ihr eure Wende, ich bin verliebt. - Pikareske Figuren in der Wendeliteratur für Kinder?
Der Autor Markus Burkhard wurde 1966 in Potsdam geboren und studierte nach einer
Tischlerlehre Sozialpädagogik und absolvierte eine Ausbildung als Jugendtheaterspielleiter.
Seit 2001 schreibt er Jugendromane, doch der hier zu analysierende Text von 2007 scheint der
erste zu sein, der Erfolg und Beachtung auf dem literarischen Markt erfuhr. Als
Altersempfehlung ist 13-16 Jahre angegeben.
Bereits in dem Buchtitel wird eine deutliche Kontrastsetzung vorgenommen: ein Kontrast
zwischen den Anderen und dem erzählenden Ich, sowie zwischen einem historischen
Ereignis, das alle erfasst und dem emotionalen Zustand des Ichs. Und darüber hinaus, dass
eben diese individuelle Verfasstheit subjektiv bedeutsamer ist, als das historische Ereignis
und es daher nur konsequent erscheint, letzterem eine gewisse Gleichgültigkeit entgegen zu
bringen.
Der Ich-Erzähler Paul ist 15 Jahre alt, Schüler, und lebt mit seinen Eltern und seiner älteren
Schwester Juliane im mecklenburgischen Dorf Faulenrost. Die Erzählung erstreckt sich über
einen Zeitraum von knapp 16 Monaten – beginnend im Juli 1989 bis zum 7. Oktober 1990 –
in 16 Kapiteln; jedes Kapitel ist einem Monat zugeordnet, wobei nicht jeweils ein ganzer
Monat abgebildet wird. Jedes Kapitel endet mit der Formel „Gute Nacht!“, welche auf die
Form des Tagebuchs verweist. Ob deshalb generell von einer Tagebuchform zu sprechen sei,
ist fraglich, da keine weiteren Elemente auf diese Form verweisen, z.Bsp. der Ich-Erzähler nie
von einem Schreibvorhaben bzw. -prozess oder einer Schreibmotivation spricht. Um jedoch
noch einmal auf diese abschließende Formel zurückzukommen, passiert hier erzähltechnisch
vergleichsweise viel: der Leser wird angesprochen und eingeschlossen, das Erzählte erhält
den Charakter einer Gute-Nacht-Geschichte, eines Märchens. Das heißt, die Leser zwischen
13 und 16 haben die Wende nicht erlebt, das, worüber erzählt wird, ist ihnen unbekannt.
Gleichzeitig wird von Paul ein Wahrheits- und Authentizitätsanspruch etabliert. Die
Erzählung, und im speziellen die Formulierung „Gute Nacht“ transportiert also eine Art
„Botschaft“ wie, „Es ist so unglaublich, trotzdem ist es wirklich passiert.“ Weiterhin
beinhaltet es eine Ambivalenz: die abendliche Beruhigung, die Versicherung von Sicherheit
einerseits, und den Verweis auf einen potentiell negativen bzw. unglücklichen Verlauf der
Geschehnisse in der nahen Zukunft, wenn dem Gruß ein ironischer Ton beigemischt ist
andererseits.
Pauls Vater arbeitet als Bauer in Faulenrost und erscheint überwiegend als passiv und
gleichgültig, seine häufigste Aktivität ist das häufige Biertrinken bzw. das Öffnen einer
Bierflasche. „Papa ist auch nicht sauer, weil unser FDGB-Urlaub ausfällt. Er sitzt sowieso
13
lieber in der Küche und trinkt das schlechte Konsumbier.“ 42 „Die Zugfahrt nach Berlin
vergeht schnell. Wir haben sogar ein Abteil ganz für uns allein. Papa macht sich am
Fensterbrett sein zweites Bier auf.“43 Ebenso wie der Vater sind auch die anderen Familienmitglieder tragikomische Figuren.
Während der Protagonist immer wieder sein Desinteresse an der Zeitgeschichte artikuliert,
nimmt er permanent intensiv und teilweise lenkend an ihr Teil und "macht" so doch bei der
Wende "mit".
Ein anderer Text, der Beachtung finden soll, ist Karel, Jarda und das wahre Leben (1996 auf
deutsch erschienen, 1997 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet) von Sheila
Och. Er bildet insofern eine Ausnahme, als dass er nicht in Deutschland, sondern in der
Tschechoslowakei, in Prag spielt. Er thematisiert den wirtschaftlichen Wandel zur freien
Marktwirtschaft. Der zwölfjährige Ich-Erzähler Karel und sein bester Freund Jarda
beschließen reich zu werden, da dies das wahre Leben sei. Sie durchlaufen innerhalb ihrer
Sommerferien verschiedene Phasen der Selbständigkeit und lernen so die Gesetze der freien
Marktwirtschaft kennen. Auch hier werden die Eltern wieder als diejenigen gezeigt, die sich
der neuen Zeit nicht anpassen können
Die ganze Welt, das heißt zumindest unsere Welt, in der wir früher kommunistisch waren und jetzt
schnurstracks in die echte Marktwirtschaft marschiert, steht Kopf. Jeder kann Millionär werden,
das Geld liegt auf der Straße, stand in der Zeitung, man muss sich nur bücken. Und was machen
meine Eltern? Sie bücken sich nicht, sie werden nur jeden Tag etwas nervöser, soweit eine
Steigerung überhaupt noch möglich ist. […] Also, ich verstehe das nicht: Wenn sie beide wissen,
wie man es anpacken müsste, warum tun sie es dann nicht?44
Am meisten stört mich aber in letzter Zeit an meinen Eltern, dass sie nicht begreifen, dass bei uns
eine völlig neue Ära ausgebrochen ist. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie diese neue Ära nicht
einmal wahrnehmen. Meine Mutter geht weiter tagtäglich morgens in ihr Krankenhaus, um dort
ihre Arbeit zu verrichten, mein Vater, von seiner alten Aktentasche begleitet, schleppt sich wie seit
vielen Jahren in sein Büro, über das er nur schimpfen kann, solange ich ihn kenne. Und dabei ist
die alte Welt, in der wir hier vor der berühmten »sanften Revolution« gelebt haben, absolut und
radikal zusammengebrochen! Und die neue Welt, wie man im Radio von unserem berühmten
Präsidenten hören kann, steht uns allen offen.
Warum gehören zu den paar Bewohnern dieses Planeten, die diesen historischen Augenblick
überhaupt nicht bemerkt haben, ausgerechnet meine Eltern?45
Schließlich gelingt es ihnen, ihre ganze Familie in Bewegung zu bringen.
In beiden Romanen tragen die Ich-Erzähler schelmenhafte Züge, dominant ist der komische
Grundton, der sich aus Ironie und Übertreibungen speist. Gleichzeitig ist es so, dass die
42
Burkhard, Markus: Macht ihr eure Wende, ich bin verliebt. München 2007. S. 12.
Ebd., S. 27.
44
Och, Sheila: Karel, Jarda und das wahre Leben. Würzburg 2000. S. 6.
45
Ebd., S. 14f.
43
14
Protagonisten sich selbst nicht als Sonderlingsfiguren verstehen, sondern vielmehr die
Personen ihrer Umgebung, i.e.S. ihre Familien. Zu fragen ist für beide Romane, wie sich das
Pikareske konkret beschreiben lässt. Außerdem kann man für beide Texte von Lernprozessen
im Sinne von Desillusionierung und Ankunft in der "neuen Zeit" sprechen und fragen, welche
Rolle hierbei die Naivität der Figuren und in der Folge deren Verlust spielt.
Zusammenfassend verfolgt die Arbeit also zwei Anliegen:
1. will sie in umfassenderem Maße als dies bisher geschehen ist, Wendeliteratur für
Kinder beschreiben und so eine Grundlage und Ansätze für weitere Forschung liefern
2. will sie den Begriff Inszenierter Naivität darauf prüfen, in welcher Weise er auf KJL
angewandt
werden
und
möglicherweise
verschiedene
Beobachtungen
der
Kinderliteraturforschung der letzten Jahre in diesem Begriff aufheben kann
7. Zitierte Sekundärliteratur
Adorno, Theodor W.: Über epische Naivetät. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte
Schriften Bd. 11. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997.
15
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Main 2002.
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Jahrhundert. Heidelberg 2009.
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in die Schönen Wissenschaften. Erster Band. 4. Aufl. Leipzig 1774. S. 294-298.
Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik von J.J.Rousseau bis G.Anders.
München 2007.
Dettmar, Ute: Geteiltes Leid, vereintes Glück? Geschichte(n) von Wende und Wiedervereinigung in der Kinder- und Jugendliteratur in erinnerungskultureller Perspektive. In:
Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Hrsg.v. Ute
Dettmar und Mareile Oetken. Heidelberg 2010.
Ewers, Hans-Heino: Die Emanzipation der Kinderliteratur. Anmerkungen zum kinderliterarischen Formen- und Funktionswandel seit Ende der 60er Jahre". In: Horizonte und
Grenzen. Standortbestimmungen in der Kinderliteraturforschung. Hrsg. vom Schweizerischen
Jugendbuch-Institut, Zürich 1994. S.75-87.
Ewers, Hans-Heino: Veränderte kindliche Lebenswelten im Spiegel der Kinderliteratur der
Gegenwart. In: Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Hrsg. v. Hannelore
Daubert und Hans-Heino Ewers. Braunschweig 1995. S. 35-48.
Ewers, Hans-Heino: Die Emanzipation der Kinderliteratur. Anmerkungen zum kinderliterarischen Form- und Funktionswandel seit Ende der 60er Jahre. In: Zwischen Bullerbü und
Schewenborn. Auf Spurensuche in 40 Jahren deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur.
Hrsg.v. Renate Raecke und Ute D. Baumann. München 1995. S. 16-28.
Ewers, Hans-Heino: Einleitung. In: Jugendkultur im Adoleszenzroman. Jugendliteratur der
80er und 90er Jahre zwischen Moderne und Postmoderne. Hrsg. v. Hans-Heino Ewers. 2.
Aufl. Weinheim, München: Juventa, 1997. S. 7-12 .
Gansel, Carsten und Hermann Korte: Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie –
Vorbemerkungen. In: Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Hrsg.v. Carsten Gansel
und Hermann Korte. Göttingen, 2009. S. 7-9.
Hunfeld, Hans: Einverstanden. Zit. nach: Silke Hano: Umgang mit Sprache in der
Grundschule. Hamburg 1997.
Jens, Walter: Erwachsene Kinder. In: Ders.: Statt einer Literaturgeschichte. Düsseldorf,
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Funktionen des Naiven in der Kunst. In: Figuren des Dazwischen. Naivität als Strategie in
Kunst, Pop und Populärkultur. Hrsg.v. Stefan Krankenhagen und Hans-Otto Hügel. München
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16
Krüss, James: Naivität und Kunstverstand. In: Ders.: Naivität und Kunstverstand. Gedanken
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Lypp, Maria: Vom Kaspar zum König: Studien zur Kinderliteratur. Frankfurt am Main,
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Kristin Wardetzky (Hrsg.): Aber spätere Tage sind als Zeugen am weisesten. Zur literarischpolitischen Bildung im politischen Wandel. Berlin 1997. S. 155-161.
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Nause, Tanja: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie
der Nachwendeliteratur. Leipzig 2002.
Nohl, Arnd-Michael: Konzepte interkultureller Pädagogik. Bad Heilbrunn 2006.
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Fünfter Band: Erzählungen/Theoretische Schriften. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G.
Göpfert. 8. durchgesehene Auflage. München 1989. S. 694-780.
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deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. München 2006.
in der
Wieland, Christoph Martin in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste.
Bd. 3. 2. unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793. Hildesheim, Zürich, New
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und Hans-Heino Ewers. Braunschweig 1995. S. 81-94.
17