Gentleman - Horse Connect
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Gentleman - Horse Connect
THEMA DES MONATS Scharren, Treten, Beißen – viele Unarten unserer Pferde sind hausgemacht, denn sie tun in der Regel das, was wir ihnen sagen. Sie reagieren auf unsere innere Haltung. Ist diese synchron mit unserem Verhalten, können Pferde uns verstehen. Schwierig wird es, wenn wir zweideutige Signale aussenden oder von Emotionen beherrscht werden. Dabei ist es leicht, Unarten vorzubeugen – aber auch, sie abzustellen Text und Fotos: Ilja van de Kasteele Problem: Mein Pferd setzt sich regelmäßig auf den Hintern und hat schon zig Halfter zerrissen. Aus der Sicht des Pferdes: Es fühlt sich in seiner Freiheit eingeengt. Es steht mit dem Kopf vor der Wand und kann sich nur durch Losreißen befreien. Es hat nie gelernt, einem Druck nachzugeben und sich richtig führen zu lassen. Das hilft: Fangen Sie an, Ihr Pferd halfterführig zu machen, und bringen Sie ihm bei, den Release zu suchen (Übungen zum richtigen Führen Seite 55.) Nehmen Sie ein Knotenhalfter und einen langen Strick und legen Sie diesen über den Anbindebalken. Halten Sie das Ende in der Hand und geben Sie nach, wenn das Pferd nach vorne geht oder irgendwie seine Füße bewegt. Am besten, Sie vermeiden das Anbinden an einer Mauer oder Wand. Pferde entspannen sich mehr, wenn sie freien Blick haben. 52 www.mein-pferd.de 12/2012 Suchen Sie sich einen freistehenden großen Baum und binden Sie Ihr Pferd an einem starken Ast an, so dass es sich in alle Richtungen bewegen und auch schauen kann. Stellen Sie andere anbindefreudige Pferde in seine Nähe und vertrauen Sie auf die Energie der Herde. Wenn keine Bäume in der Nähe sind, üben Sie das Gleiche an einem Anbindebalken (nicht auf Asphalt, Schotter o.Ä.). Als sehr gute Methode hat sich das Anbinden mehrerer Pferde in der Reithalle und auf dem Reitplatz erwiesen. Die Pferde sind ein Teil des Geschehens in der Bahn und sind so positiv abgelenkt. Das Angebundensein wird so nicht als Drill, sondern als Möglichkeit gesehen, dabei sein zu können. Für Herdentiere ist das sehr wichtig! Gleichzeitig können Sie so das Scharren beheben. Es gibt Pferde, die sich trotz dieser Maßnahmen einfach nicht anbinden lassen, aber kein Problem haben, ohne Zwang stillzustehen. In solchen Fällen ist man gut beraten, es dabei zu belassen. 12/2012 www.mein-pferd.de 53 THEMA DES MONATS Problem: a) Das Pferd beißt und schnappt, während ich mich in seiner Kopfregion aufhalte. Es stupst mich ständig an und wühlt in meinen Taschen. Wenn ich es wegschicke, kommt es ständig wieder an und sucht nach Leckerlis. b) Beim Anbinden und Führen schnappt es nach mir und zappelt herum. c) Beim Satteln legt es oft die Ohren an oder schnappt nach mir. Aus der Sicht des Pferdes: a) Das Pferd fühlt sich bedrängt, wenn Sie sich in seiner Kopfregion aufhalten. Sie versperren ihm die freie Sicht, die es als Fluchttier braucht. Aus Pferdesicht ist dieses Verhalten respektlos. Pferde, die aus der Hand gefüttert werden, lernen, den Raum des Menschen zu betreten, weil sie dafür belohnt werden. Sie glauben, dass das der Platz ist, wo Menschen sie gerne haben wollen. Sie verstehen nicht, warum sie heute eingeladen und morgen unsanft weggeschickt werden. b) Das Pferd war lange in der Box und hat Energie für zehn. Es hat keine Lust auf Gehorsamsspielchen, sondern will sich endlich bewegen. c) Ein Pferd, das mit angelegten Ohren, Schnappen oder Beißen auf den Sattel reagiert, will damit sagen, dass es eventuell Schmerzen hat. Das kann mit dem Sattel selbst oder der Art, wie Sie reiten, zu tun haben. d) Das Pferd hat so gut wie keinen Sozialkontakt und zeigt deutliche Verhaltensauffälligkeiten. 54 www.mein-pferd.de 12/2012 Das hilft: Zeigen Sie Ihrem Pferd Respekt, indem Sie seinen natürlichen Raum achten. Vermeiden Sie es, im direkten Blickfeld Ihres Pferdes zu stehen, und unterlassen Sie das Füttern aus der Hand. Halten Sie sich stattdessen in Widerristhöhe auf. Das hilft Ihrem Pferd, sich in angemessenem Abstand zu entspannen. Prüfen Sie Ihr Sattelzeug und achten Sie auf Reaktionen Ihres Pferdes, die auf Schmerz hindeuten. Lassen Sie es im Zweifelsfall von einem Physiotherapeuten untersuchen. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Pferd täglich mindestens fünf Stunden Auslauf hat – am besten im Herdenverband. Bei notorischem Schnappen hilft der Block (Bild rechts). Ziehen Sie einfach den Ellbogen hoch, wenn Ihr Pferd nach Ihnen schnappen möchte. Bleiben Sie dabei emotionslos und beachten Sie Ihr Pferd nicht weiter. Problem: Mein Pferd ist stur, es lässt sich nicht führen. Es lässt sich ziehen und bleibt ständig stehen. Auch mit Gerte bekomme ich es nicht ans Laufen. Es frustriert mich und macht mich wütend. Mein Pferd überholt mich ständig und tänzelt um mich herum. Selbst mit Kette kann ich es nicht kontrollieren. Mein Pferd war schon draußen, überholt mich aber immer noch und nimmt mich gar nicht wahr. Aus der Sicht des Pferdes: Ihre Beziehung beruhte schon immer auf Missverständnissen. Ihr Pferd hat keine Motivation, Ihnen zu folgen. Weil es gewöhnlich das reflektiert, was Sie auf es projizieren, muss es sich stur zeigen. Es tut alles, um dem Bild, das Sie von ihm haben, zu entsprechen. Es kann nur das zurückgeben, was es empfängt. Das Pferd war noch gar nicht auf der Wiese, seine Kumpels sind draußen, und es will endlich laufen. Das Gefühl von Sicherheit ist ein Grundbedürfnis unserer Pferde. Wenn es sich mit Ihnen nicht sicher fühlt, muss es sich um sich selber kümmern. Erst wenn es bei Ihnen Ruhe und Beständigkeit findet, kann es sich mit Ihnen entspannen und Ihnen vertrauen. Das hilft: Seien Sie sicher, dass Sie ein Ziel haben, wenn Sie Ihr Pferd führen. Sie stehen ein bis zwei Meter seitlich vor Ihrem Pferd. Gehen Sie los, nicht schlurfend, sondern voller Energie. Wenn Ihr Pferd nicht gleich folgt, lassen Sie den Strick langsam durch Ihre geschlossene Hand gleiten (siehe Übungen Seite 58). Dabei bauen Sie leichten Druck auf. Sobald Ihr Pferd nachgibt, öffnen Sie die Hand und geben ebenfalls völlig nach. Kommen Sie ans Ende des Stricks, ohne dass Ihr Pferd antritt. Bleiben Sie auf keinen Fall stehen, sonst erzieht Ihr Pferd Sie dazu, wann Sie stehen bleiben sollen. Gehen Sie stattdessen in einem Bogen seitwärts nach rechts oder links und halten Sie dabei den Druck aufrecht. Es kann sogar sein, dass Sie schließlich in die entgegengesetzte Richtung gehen. Sobald Ihr Pferd vorwärts denkt, also bereit ist nachzugeben, geben Sie ebenfalls nach. Wenn Sie gehen, sollte Ihr Pferd immer seitlich hinter Ihnen sein. Dabei ist es nicht entscheidend, wie groß oder klein der Abstand ist (es sei denn, Ihr Pferd beißt, siehe linke Seite). Sollte Ihr Pferd überholen wollen, lassen Sie es an sich vorbei und wechseln Sie sofort die Richtung. Oder Sie versperren ihm mit einer Gerte den Weg. Seien Sie ruhig, beständig, rücksichtsvoll und klar in Ihrem Umgang mit dem Pferd. Das gibt ihm die nötige Sicherheit, um sich mit ihnen zu entspannen. www.mein-pferd.de 55 THEMA DES MONATS Problem: Mein Pferd gibt nur widerwillig seine Hufe. Es fällt manchmal fast hin und hat mich hinten auch schon öfters gekickt. Beim Schmied wird es immer sediert. Aus der Sicht eines jungen Pferdes: a) Es hat sein Gleichgewicht noch nicht gefunden. Sowohl der Schmied als auch ich sind viel zu ungeduldig und verlangen, dass es sein Bein gleich über einen längeren Zeitraum hochhält, obwohl das vorher nie geübt wurde. b) Es hat auch Probleme, wenn man sein Bein anfasst. Wenn es auf drei Beinen steht, kann es nicht mehr weglaufen, und das macht ihm Angst. c) Es kann nicht stillstehen, weil es zu viel Energie hat. Aus der Sicht eines älteren Pferdes: Es hat Probleme mit seinem Ischias und kann besonders seine Hinterbeine nicht lange hochhalten. Wenn jemand es dazu zwingt, tritt es. Das hilft: Arbeiten Sie mit Ihrem Pferd vor dem Üben am Boden, um so überschüssige Energie loszuwerden. Achten Sie darauf, dass das Pferd geschlossen, also ausbalanciert steht, bevor Sie die Hufe aufheben. Das Pferd sollte sich an allen vier Beinen berühren lassen, ohne Widerstand oder Unwohlsein zu zeigen. Anfangs nur kurz die Hufe anheben und sofort wieder loslassen. Das hilft dem Pferd, nicht panisch zu werden. Bei Pferden, die zum Ausschlagen neigen: Nehmen Sie ein zweites, etwa fünf Meter langes Führseil. Gewöhnen Sie Ihr Pferd daran, sich vom Seil überall berühren zu lassen. Halten Sie dazu Ihr Führseil in der einen, das zweite Seil in der anderen Hand. 56 www.mein-pferd.de 12/2012 Reiben Sie es erst mit dem Seil am Hals und Körper ab. Schwingen Sie das Seil über seinen Rücken, dann an seine Vorderbeine, dann an seine Flanke und Hinterbeine. Je selbstverständlicher Sie das machen, desto selbstverständlicher ist es für Ihr Pferd. Der Führstrick muss dabei locker durchhängen. Sollte es sich bewegen, lassen Sie es – aber ohne mit dem Schwingen des Seils aufzuhören. Erst wenn Ihr Pferd wieder stillsteht, hören auch Sie auf, das Seil zu schwingen. Toleriert Ihr Pferd das Seil am ganzen Körper, machen Sie an dem einen Ende eine Schlaufe, die Sie um das Fesselbein (zunächst eines Vorderbeins, später eines Hinterbeins) legen. Stehen Sie im 45-Grad-Winkel seitlich vor Ihrem Pferd. Ziehen Sie den Strick jetzt auf Spannung und warten Sie, bis Ihr Pferd mit dem Bein nach vorne nachgibt. Dann geben Sie auch vollständig nach (Release). Üben Sie anfangs im Stand, später im Schritt. Gerade bei den Hinterbeinen neigen Pferde dabei zunächst zum Ausschlagen. Halten Sie dabei das Seil leicht auf Spannung, bis sich Ihr Pferd beruhigt und den Hinterhuf in die von Ihnen gewünschte Richtung setzt. Bei Verdacht auf Ischiasprobleme den Physiotherapeuten hinzuziehen. Auf keinen Fall wütend werden und das Pferd für sein Wegziehen oder Kicken bestrafen! Problem: Mein Pferd klebt an seinen Artgenossen und seinem Stall. Nur mit größter Kraftanstrengung gelingt es mir, es davon zu lösen. Wenn ich mit ihm an der Hand spazieren gehe, wiehert es ständig und ist überhaupt nicht bei mir. Sobald wir wieder zurückgehen, wird mein Pferd sehr dominant und hat mir schon oft den Strick aus der Hand gezogen. Aus der Sicht des Pferdes: Es fühlt sich wohl mit seinen Kumpels und sicher in seinem Stall. Ihr Pferd findet bei Ihnen kein Gefühl der Sicherheit. Es fühlt sich ohne sein vertrautes Umfeld allein, und das macht ihm Angst. Es hat keine Motivation, Ihnen zu folgen. Das, was Sie ihm bieten, ist nicht kompatibel mit seinen Bedürfnissen. Es braucht eine richtige Aufgabe, die es fordert. Nur Spazierengehen reicht ihm nicht – das langweilt Ihr Pferd. Das hilft: Bieten Sie Ihrem Pferd einen Anreiz, sich mit Ihnen aus seiner Komfortzone zu bewegen. Seien Sie kreativ, geben Sie ihm eine Aufgabe. Wenn Ihr Pferd in seinem gewohnten Umfeld bleiben möchte und sich weigert, Ihnen zu folgen, beschäftigen Sie es dort. Sie bestrafen es nicht für seinen Ungehorsam, sondern ermutigen es, Ihnen zu folgen. Bauen Sie verschiedene „Oasen“ (Lob, Ruhe, Futter, andere Pferde) abseits seines Umfeldes und machen Sie es ihm schmackhaft, bei Ihnen zu sein. Entfernen Sie sich anfangs auf kurze Distanzen vom Stall bzw. seinen Kollegen und erhöhen Sie die Distanz und die Frequenz stückweise. UNSERE EXPERTIN Michaela Kölbl ist seit knapp 20 Jahren Trainerin für Westernreiten und Horsemanship. Während mehrjähriger Aufenthalte in den USA hat sie bei vielen bekannten Horsemen arbeiten und lernen können, unter anderem auch bei Joe Wolter. Die 42-Jährige wohnt in Essen. Sie gibt Einzelunterricht, kann aber auch für Seminare gebucht werden. www.horsemanship-mk.de www.mein-pferd.de 57 THEMA DES MONATS Mein Pferd steht am Anbinder und scharrt in einer Tour. Ich kann mich nicht mit meinen Stallkollegen unterhalten, ohne dass mein Pferd scharrt. Aus der Sicht des Pferdes: Sie quatschen in einer Tour mit Ihren Stallkollegen und lassen Ihr Pferd wie bestellt und nicht abgeholt stehen, während alle anderen schon längst ihr Futter bekommen haben. Seine Blase drückt. Es will endlich etwas tun und muss sich stattdessen gefühlte drei Stunden „hübschen“ lassen. Ein Stallkollege hält das eine Ende des Stricks, Sie das andere. • Ziehen Sie plötzlich ruckartig am Strick, warten Sie kurz und rucken Sie dann erneut. Wiederholen Sie die Übung mehrmals. Beobachten Sie dabei Ihren Partner. Tauschen Sie die Rollen. Sie werden feststellen, dass Sie bereits nach wenigen Malen versteifen, weil Sie einen heftigen Ruck erwarten, selbst wenn dieser dann nicht kommt. Genauso empfindet Ihr Pferd, wenn Sie ruckartig 58 www.mein-pferd.de 12/2012 am Zügel oder am Führstrick ziehen. Auf dieses Gefühl kann man nicht entsprechend reagieren. • Bauen Sie jetzt starken Druck auf und halten Sie das Seil – egal wie Ihr Partner darauf reagiert – stetig mit diesem Druck auf Spannung. Tauschen Sie auch hier wieder die Rollen. Auch hier werden Sie nicht verstehen, was eigentlich gefragt wird. Sie werden allerdings ab einer gewissen Zugstärke mit Gegenzug antworten. • Ziehen Sie jetzt mit leichtem Druck am Seil und geben Sie vollständig nach (Release, siehe Kasten S. 60), sobald Ihr Partner nur darüber nachdenkt, dem Zug in Ihre Richtung nachzugeben. Tauschen Sie auch hier die Rollen. Experimentieren Sie dabei mit verschiedenen Zugstärken, auch mit geschlossenen Augen. Dabei kommt es nur auf Ihr Fühlen an. Sie werden feststellen, dass Sie bereits nach kurzer Zeit förmlich nach dem Release suchen. Das hilft: Vermeiden Sie voreilige Schlüsse. Nicht jedes Scharren resultiert aus Ungehorsam. Lassen Sie Ihr Pferd nicht achtlos links liegen, während Sie sich ausgiebig mit anderen Dingen beschäftigen. Wenn möglich, vermeiden Sie es, zur Futterzeit zu kommen. Oder lassen Sie es ein Häppchen fressen, damit es weniger Stress hat. Wenn es viel Energie hat, verzichten Sie auf lange Putzorgien und geben Sie Ihrem Pferd etwas zu tun. Arbeiten Sie es am Boden oder reiten Sie es stattdessen. Beobachten Sie, ob Ihr Pferd vielleicht Wasser lassen muss, und führen Sie es in die Box oder auf weichen Boden. Wenn Ihr Pferd nicht gerne alleine ist, ist es ratsam, es mit anderen anzubinden. Das gibt ihm etwas Ruhe. Wenn das Scharren eine Marotte geworden ist, probieren Sie den Überraschungseffekt. Binden Sie Ihr Pferd da an, wo Sie es aus der Distanz sehen können. Nehmen Sie einen kleinen Kieselstein und werfen Sie ihn auf seine Hinterhand oder in seine Richtung, wenn es scharrt. Es wird sein Scharren mit anfliegenden Kieselsteinen in Verbindung bringen. Oft verschwindet das Problem auch, wenn wir den Fokus einfach davon wegnehmen und es ignorieren. www.mein-pferd.de 59 THEMA DES MONATS Problem: Mein Pferd erschreckt sich vor Geräuschen, Gegenständen und schnellen Bewegungen. Es ist nicht mehr kontrollierbar und würde am liebsten weglaufen. Problem: Mein Pferd tänzelt und bekommt Panik, sobald ich mit dem Wasserschlauch oder Fliegenspray ankomme. Ich wasche das Pferd jetzt immer mit dem Schwamm ab. Aus der Sicht des Pferdes: Pferde sind Fluchttiere und haben gelernt, auf sich achtzugeben. Auch wenn sie schon sehr lange bei den Menschen sind, reagieren sie immer noch mit Flucht, wenn sie vor etwas Angst haben. Pferde geraten in Panik, wenn Sie von ihnen verlangen, dem „Schreckgespenst“ frontal zu begegnen. Pferde haben einen toten Winkel vorne am Kopf und können da nichts sehen. Sie müssen alles von beiden Seiten sehen, da jedes Auge ein eigenes Bild empfängt. Aus der Sicht des Pferdes: Es hat gar kein Problem mit Wasser, aber mit dem Schlauch. Es ist ihm unangenehm, an einem kalten Tag mit kaltem Wasser abgespritzt zu werden. Es wird fest angebunden und gezwungen, sich überall – auch im Gesicht – abspritzen zu lassen. Das Geräusch der Sprayflasche macht ihm Angst. Es bekommt Panik, wenn es dabei angebunden wird und nicht weg kann. Das hilft: Seien Sie sich darüber im Klaren, dass Sie ein Tier haben, dessen Natur es ist, sich manchmal zu erschrecken. Zwingen Sie Ihr Pferd nicht, frontal auf das Ungeheuer zuzusteuern, sondern erlauben Sie ihm, den Angst einflößenden Gegenstand von beiden Seiten jeweils mit dem linken und dem rechten Auge zu sehen (Augenwechsel). Führen Sie Ihr Pferd dazu im Zickzack an das Hindernis heran. Erlauben Sie ihm immer, seine Füße zu bewegen. Es darf sich dabei allerdings nicht umdrehen und versuchen zu flüchten. Gönnen Sie ihm zwischendurch auch eine Pause, sobald es Anzeichen von Entspannung zeigt. Timing: Davon hängt es ab, ob und wie gut Ihr Pferd versteht, was Sie von ihm möchten. Beispiel Rückwärtsrichten. Sie üben am Strick knapp unter dem Halfter Druck nach hinten aus (siehe auch Feeling). Sobald Ihr Pferd „rückwärts“ denkt und sein Gewicht nach hinten verlagert, geben Sie nach. Schlechtes Timing: Sie geben erst nach, nachdem Ihr Pferd einen oder sogar mehrere Schritte gemacht hat. Feeling: Sie müssen ein Gefühl für Ihr Pferd entwickeln, um festzustellen, wann es Ihre Idee aufgreift und Ihrer Frage antwortet. Beispiel Führen: Sie ziehen leicht am Führstrick. Sie müssen fühlen, wann Ihr Pferd bereit ist, vorwärts nachzugeben. Das ist nur eine 60 www.mein-pferd.de 12/2012 Gewichtsverlagerung, ein minimales Nachgeben. Feeling können Sie sehr gut in Partnerübungen entwickeln (siehe Kasten Seite 58). Emotion: Sie können (müssen) Ihr Pferd lieben. Aber Wut, Angst, Trauer, die sich gegen Ihr Pferd richtet, haben in der täglichen Arbeit keinen Platz. Ihr Pferd meint mit seinem Verhalten niemals Sie persönlich – deshalb sollten auch Sie Ihr Pferd niemals persönlich meinen. Spirit: Jede Reaktion Ihres Pferdes geht letztendlich darauf zurück, dass es den Abend noch so unversehrt erleben will, wie der Morgen angefangen hat. Sprich: Es will überleben, um jeden Preis. Versuchen Sie immer, Ihre Arbeit aus der Sicht Ihres Pferdes zu sehen. Release: Sie haben Druck aufgebaut. In dem Augenblick, in dem Ihr Pferd richtig auf diesen Druck antwortet, nehmen Sie den Druck sofort völlig (sehr wichtig) weg – Sie geben einen Release –, der Strick hängt locker durch. Nach kurzer Zeit wird Ihr Pferd diesen Release suchen und immer darauf bedacht sein, dass der Strick locker durchhängt – aber nur, wenn Sie konsequent sind. Flag: Eine Gerte mit einer kleinen Fahne oder Tüte am Ende dient als Verlängerung Ihres Armes. Zur Desensibilisierung, aber auch als Verstärkung, um von Ihrem Pferd die richtige Antwort auf Ihre Frage zu bekommen. Bevor Sie mit der Flag arbeiten, müssen Sie sicher sein, dass Ihr Pferd keine Angst davor hat. Das hilft: Das Pferd weder bei Sprayflasche noch Schlauch anbinden, sondern Strick locker in der Hand halten. Gehen Sie mit Ihrem Pferd auf den Reitplatz. Sie brauchen einen langen Wasserschlauch, mit dem Sie mitgehen können, falls Ihr Pferd sich bewegt. Halten Sie den etwa fünf Meter langen Führstrick in der einen, den Wasserschlauch oder die mit Wasser gefüllte Sprühflasche in der anderen Hand. Schauen Sie entspannt auf den Boden und besprühen oder wässern Sie den Boden seitlich vom Pferd. Wenn es sich bewegt, darf es das, solange es mit dem Kopf bei Ihnen bleibt. Möchte es sich wegdrehen und flüchten, verhindern Sie das unter allen Umständen, auch wenn dies starken Druck aufs Seil bringt – Hauptsache, Sie geben sofort wieder nach, sobald Ihr Pferd nachgibt. Hören Sie mit dem Sprühen/Wässern erst auf, wenn Ihr Pferd stehen bleibt, nicht solange es sich noch bewegt. Akzeptiert es das Sprühen ins Nichts, fangen Sie an der Sattellage beziehungsweise am Widerrist an. Immer erst, wenn es ruhig und entspannt bleibt, gehen Sie zum nächsten Körperteil über: die Beine, den Hals, die Brust. Nach Möglichkeit nicht das Pferd im tiefsten Winter mit eiskaltem Wasser abspritzen. An einem heißen Sommertag ist eine Dusche eine Wohltat. Abspritzen im Gesicht vorsichtig mit leichtem Wasserstrahl üben. Dabei darauf achten, dass kein Wasser in die Ohren kommt. Wenn Sie anfangen, Ihrem Pferd den Respekt zu zollen, den Sie von ihm erwarten, verschwinden viele Probleme von selbst. Wenn Sie weniger an Ihren Techniken arbeiten und vielmehr Ihr Timing und Feeling perfektionieren, wird sich Ihre Beziehung zu Ihrem Pferd deutlich verbessern. Beobachten ohne Wertung ist eine Grundvoraussetzung für Problemlösung und hilft Ihnen, Ihre Emotionen zu Hause zu lassen. www.mein-pferd.de 61