Skript - Seelsorge am Klinikum rechts der Isar der TUM

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Skript - Seelsorge am Klinikum rechts der Isar der TUM
Manuskript
Evangelische Perspektiven
Der Glaube – ein Wundermedikament?
Spiritualität in Krankheit und Pflege
Autor/in:
Rita Homfeldt
Redaktion:
Tilmann Kleinjung / Religion und Kirche
Sendedatum:
Sonntag, 25. Oktober 2009 / 08.30 Uhr
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Seite 1
Musik: Coco avant Chanel / Alexandre Desplat
Musik: 3
Sprecherin:
Spiritualität hat etwas Geheimnisvolles: Sie ist sinnlich nicht erfassbar, doch erfahrbar.
Man kann sie weder testen, noch messen. Selbst die Definition ist bis heute nicht
abgeschlossen. Spiritualität heißt nicht nur "das Geistliche", sondern heißt auch atmen,
lebendig und achtsam sein. Lange Zeit war Spiritualität in der Medizin ein Tabu. Man
sah eher die krankmachenden Aspekte der Religion, so Psychiater und Jesuitenpater
Eckhard Frick:
Zuspielung 1:
Beispielsweise in der klassischen psychoanalytischen Religionskritik, also die Analogie
zwischen Zwangsneurose und Religion, die Freud gesehen hat. Wir haben weniger die
Ressourcen gesehen, die gläubige Menschen haben. Und das wird nun stärker
inzwischen, dass wir die Ressourcen sehen, für die Krankheitsbewältigung, für die
Sinngebung, für die Mobilisierung der sozialen Unterstützung.
Sprecherin:
Trotzdem hatte Spiritualität keinen Platz in der Medizin. Sie setzte auf Neutralität. Weder
der Arzt noch die Krankenschwester sollten in weltanschaulichen Fragen den Patienten
bevormunden oder gar beeinflussen.
Zuspielung 2:
Für uns in Europa ist Neutralität ein sehr hohes Gut. Deshalb hat der klassische Arzt, so
wie als ich noch Medizin studierte, schon einige Zeit her, das gern dem Seelsorger
überlassen, delegiert gewissermaßen und gesagt, wir sind doch keine Pfarrer, wir
beschäftigen uns mit so etwas nicht. Das hat sich vollständig geändert, so dass wir
heute an der Universität München die Beschäftigung mit der Spiritualität der Patienten
als Pflichtinhalt im ärztlichen Unterricht haben.
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Seite 2
Sprecherin:
Heute versteht die Medizin unter Spiritualität nicht mehr nur eine konfessionell geprägte
Frömmigkeit. Spiritualität ist mehr als evangelisch-katholisch. Und die Wissenschaft
interessiert sich zunehmend für dieses Phänomen: Spiritualität und Glaube. Viele Jahre
meinte man, dass der Glaube mit dem Placeboeffekt - einem unwirksamen
Scheinmedikament - gleichzusetzen wäre. Religionspsychologe Michael Utsch von der
Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin:
Zuspielung 3:
Wir wissen ja, dass der Glaube an positive Heilkräfte oder dass starke
Erwartungshaltungen ganz wesentlich für Heilungsprozesse sind. Die Forschung möchte
aber natürlich herausfinden, ob ein Medikament oder irgendeine therapeutische
Maßnahme etwas in Gang setzt, was über den Placeboeffekt hinausgeht. Und
deswegen hat man eben sehr genau analysiert, welche Faktoren bei Heilungsprozessen
eine Rolle spielen und hat eben auch sehr genau hingeschaut und versucht
Placeboeffekte auszuschalten, weil man das nicht wissen wollte. Und bei solchen
Placebo kontrollierten Studien hat sich eben ergeben, dass Menschen, die religiös
spirituell praktizieren, über ein Gesundheitsplus verfügen, was doch erstaunliche Effekte
nach sich ziehen kann, die man nicht mit dem Placeboeffekt begründen kann.
Sprecherin:
Forscher führten beispielsweise bei Nonnen eine Studie durch. Sie überprüften die
medizinische und psychologische Gesundheit bei den heute Hochbetagten
Franziskanerinnen. Parallel dazu wurden die Nonnen gefragt, warum sie sich damals als
junge Frauen entschlossen hatten, ihr Leben Gott und dem Orden zu weihen. Die
Antworten teilten die Frauen in zwei Gruppen. Das Ergebnis überraschte:
Zuspielung 4:
Die eine Gruppe von Frauen sagte, ich weihe mein Leben Gott, weil es meine Pflicht ist,
ich unterwerfe mich Gott, um gehorsam zu sein, es ist meine Schuldigkeit mein Leben
Gott zu weihen. Die andere Gruppe, deren Beschreibung war sehr deutlich geprägt von
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positiven Emotionen. Dankbarkeit, Glück und Freude spielten in erster Linie eine Rolle.
Und die Forscher haben daraus geschlossen, als sie nämlich feststellten, dass bei der
zweiten Gruppe, wo die positiven Gefühle im Vordergrund standen, ein deutlich besserer
Gesundheitszustand vorhanden war, dass diese Frauen, die ein positives Gottesbild, die
in ihrem Glauben positive Gefühle erleben konnten, dass es denen einfacher möglich
war, mit altersbedingten Einschränkungen umzugehen. Das heißt, ich kann nur dann
von der gesundmachenden Kraft des Glaubens profitieren, wenn ich ein positives
Gottesbild habe, wenn das mit einer Person individuell verbunden ist, nicht aber wenn es
aus Pflicht, Gehorsam oder Unterwerfung erfolgt.
Sprecherin:
Eine weitere Erkenntnis ist: gläubige Menschen haben einen besseren Blutdruck und
eine höhere Lebenserwartung. Bei gläubigen Tumorpatienten stellten Forscher
außerdem fest, dass ihre Überlebenschance steigt. Soweit die Empirie. Doch der
Umkehrschluss, wer glaubt, wird gesund, funktioniert nicht. Nein, Spiritualität lässt sich
nicht einfach wie ein Medikament verordnen.
Zuspielung 5:
Aus theologischer Sicht lässt sich Glauben nicht verordnen.// Aber auch aus
medizinischer Sicht ist es ein Unsinn, weil ich es nicht so kontrollieren kann. All das ist
versucht worden. Es gab auch Studien darüber, dass man zum Beispiel das Führ-BittGebet aus der Ferne getestet hat wie ein Medikament. Ich halte das für einen Unsinn,
weil Beten und Glauben im Dialog stehen, kann man es nicht isolieren als einen
einzelnen Effekt, sondern es ist immer eine zwischenmenschliche Erfahrung auch, und
soll es auch bleiben. Spiritualität hat mit Freiheit zu tun. Freiheit Gott gegenüber und
Freiheit den Mitmenschen gegenüber, d.h. wir dürfen mit diesem Bereich nicht so
umgehen wie mit irgendeiner Therapiemaßnahme.
Sprecherin:
Sagt Professor Eckhard Frick von der Hochschule für Philosophie in München.
Spiritualität ist kein Medikament. Es gibt sie nicht, die bestimmte Dosis Spiritualität, die
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man nach einem festgelegten Zeitplan einnehmen kann, erklärt Pia Heußner, Ärztin und
Leiterin der Psycho-Onkologie am Klinikum Großhadern in München.
Zuspielung 6:
Spiritualität ist ja zunächst einmal etwas mit dem jeder Mensch im Laufe seiner
Persönlichkeitsentwicklung und Reifung konfrontiert wird, d.h. die allermeisten
Menschen haben für sich ihre eigene spirituelle Dimension verinnerlicht, wenn sie in
einer Notsituation versuchen wollen, darauf zurückzugreifen. Es kann dann zusätzlich
noch in Form eines Medikaments einer Dosis hinzugenommen werden, wenn wir es jetzt
auf Religiosität beziehen, auf religiöse Symbolik auf religiöse Rituale beziehen, dann
mag es so einen medikamentenähnlichen Effekt haben. Ich glaube, dass es für
Menschen, die sich selbst spirituell in ihrer Religion gebunden und aufgehoben fühlen,
ist es mehr als ein Placeboeffekt, da hat es eine tatsächlich Trostspendende heilende
Wirkung, wenn sie ein Ritual für sich wahrnehmen.
Sprecherin:
Was ist ein Ritual? Ein Gebet, ein Gottesdienst, eine Kerze, die angezündet wird? Und
wie kommt es zur heilenden Wirkung? Dazu kann die Wissenschaft heute noch wenig
sagen. Man kann allenfalls mutmaßen, dass bei manchen schwerkranken Menschen
eine spirituelle Verankerung zu einem ausgeglichenen Gemüt, also zu besseren
Heilungschancen führt. Ärztin Pia Heußner erlebt immer wieder Patienten, die psychisch
ausgeglichen sind, deren Erkrankung aber unaufhaltsam fortschreitet. Heilung bedeutet
also nicht unbedingt wieder gesund werden. Es hat eher etwas mit Heil-Werden, wieder
Ganz-Werden zu tun. Jesuitenpater und Psychoanalytiker Eckard Frick spricht vom
sogenannten inneren Heiler.
Zuspielung 7:
Vielleicht dürfen wir daran erinnern, dass auch in der Sprache des Glaubens sehr häufig
von Heilung die Rede ist. Und dass, wenn wir ins Neue Testament hineinschauen, da
geht es ganz oft um die Überraschung, dass etwas plötzlich in einem anderen Licht
erscheint, sich ganz anders darstellt. Zum Beispiel, dass einer krank ist und dann von
Jesus gefragt wird, was willst du, dass ich dir tun soll. Und dann kommen ganz andere
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Dinge plötzlich. Denken Sie an diesen Gelähmten, am See … der sagt, da muss jemand
das Wasser in Bewegung bringen und das geschieht nur alle paar Jahrzehnte und
erwartet von Jesus, dass er irgendwie herumrührt im Wasser, dass er gesund wird. Und
Jesus sagt, nein, steh auf und geh. Er überrascht und das setzt diesen inneren Heiler in
Gang. Die Heilkraft scheint mir die Mobilisierung des inneren Heilers zu sein. In dem ich
nicht mehr nach außen verschiebe, projiziere würden wir mit dem Fachwort sagen,
sondern in mir selber die eigenen Ressourcen entdecke.
Musik:
Sprecherin:
Patienten auf der Krebsstation befinden sich in einer Krisensituation. Die Diagnose oder
ein Rezidiv - also die Rückkehr der Krankheit - stellt ihr Leben von einem Tag auf den
anderen auf den Kopf. Operationen, Chemotherapie und Bestrahlungen bestimmen
ihren Alltag. Das kostet Kraft und geht an die eigenen Grenzen.
Zuspielung 8:
Wenn jemand mit einer Krebserkrankung aus seinem aktuellen Lebenskontext gerissen
wird, dann bedeutet das, dass er möglicherweise derzeit nicht arbeiten gehen kann,
dass er nicht weiß, wann er jemals wieder arbeiten kann, dass er in der Familie seine
Rollen und Funktionen vorübergehend nicht ausüben kann. Dass er im Freundeskreis
plötzlich nicht präsent ist, d.h. all das, was einen Menschen im Leben auch mit definiert
hat, gerät ins Wanken.
Sprecherin:
Man verliert den Boden unter den Füßen und stürzt in die Tiefe, erzählt PsychoOnkologin Pia Heußner.
Zuspielung 9:
Wenn es uns dann gelingen kann, in einem Gespräch einem Menschen ganz vorsichtig
die Tür zu öffnen und zu sagen, es geht gar nicht darum keine Fragen zu stellen und es
geht nicht darum den rechten Glauben leben zu müssen, sondern es geht darum
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vielleicht einfach ins Gespräch zu kommen, es geht vielleicht darum in Kontakt zu
kommen, dann gelingt es Menschen, wenn wir ihnen an der Stelle die Angst und
Verantwortung nehmen können, sie müssten jetzt im rechten Sinne Gläubige und
praktizierende Gläubige sein, dass sie dann tatsächlich zurückgreifen können auf etwas,
was sie in anderen Lebensphasen für sich erlernt haben, erworben haben an spiritueller
Bindung. Menschen, die bislang keinen Kontakt gehabt haben oder jeglichen Kontakt
verweigert haben, werden dass in dieser Situation selten spontan schaffen können.
Sprecherin:
Spirituelle Bindung entwickelt sich im Laufe der Zeit. Sie ist nicht einfach da. Man muss
sich damit beschäftigen und auseinandersetzen. Oft ist dieser Prozess von
Glaubenszweifeln begleitet. Trotzdem: Viele Menschen entdecken dadurch wieder ihre
religiösen Wurzeln. Sie erinnern sich an die Bibel, an ein Kirchenlied, an Rituale und
finden darin Trost. Pater Eckhard Frick:
Zuspielung 10:
Wenn ich mich auseinandergesetzt habe zum Beispiel mein Gottesbild sich geändert hat
und habe es vielleicht auch gelernt zu klagen und zu trauern, dann finde ich auch zu
einer anderen Einstellung der Krankheit gegenüber. Ich kann dann zum Beispiel besser
mitarbeiten, das zeigt zum Beispiel die Forschung, dass gläubige Menschen dann auch
besser in der Lage sind, Ressourcen, die von außen angeboten werden, zu nutzen.
Die Auseinandersetzung mit der Krankheit und Gott führt Patienten an ihre Kraftquellen.
Das kann ein Gebet oder ein Bibeltext sein, ein Stück Natur oder Musik. Es ist das
Vertrauen in eine Kraft, die größer ist als man selbst. Die Vorstellung von Gott behütet,
geschützt und getragen zu sein. Religionspsychologe Michael Utsch spricht hier von
einem positiven Gottesbild,
Zuspielung 11:
was mir vermittelt, dass diese Kraft es gut mit mir meint, und dass ich dadurch profitieren
kann, dass dadurch mein Gesundheitszustand verbessern kann. Auf der anderen Seite
ist es auch so, dass Vieles sich nicht so erfüllt, wie ich es wünsche, und insofern ist auch
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dieses Vertrauen wichtig, sich das Ergebnis nicht schön zu reden und nicht zu glauben
dass Gott ein Automat ist, dass man oben ein Gebet reinschmeißt und unten kommt die
Wunderheilung raus. Viel wichtiger wäre eine Haltung nach dem Motto Herr dein Wille
geschehe, das heißt dass ich mich auch im Ausgang und im Ergebnis mich dem
überlasse wie es passiert.
Sprecherin:
Und da ist er wieder: der Zweifel. Dein Wille geschehe? Was ist dein Wille: Krankheit,
Krebs? Nein, mein Wille geschehe. Ich will gesund werden. Was heißt: dein Wille
geschehe. Jesuitenpater Eckard Frick:
Zuspielung 12:
Dann heißt das ja, dass ich dieses Haben-wollen loslasse. Und bereit bin durch Hiob,
auch das Schwere und Ungute anzunehmen. Und sie spüren, wenn wir darüber reden,
dass das ganz schwer werden kann für den einzelnen Menschen, der sich in dieser
Situation befindet. Das sagt sich jetzt hier, relativ leicht, dein Wille geschehe. Aber was
heißt das, wenn der Wille Gottes für mich dunkel ist, oder feindlich oder vollkommen
unverständlich. Was heißt dann ein solches Gebet. Wir müssen uns also verabschieden
davon, dass das Gebet so etwas ist, mit dem ich einen Effekt erzeugen kann. Darum
geht es gerade nicht. Beten ist eine Entwicklung, die mich in Bereiche und Tiefen führen
kann, die ich mir gar nicht vorstelle, wenn ich sage, jetzt bete ich mal und dann erreiche
ich schon, dass ich gesünder werde. Das ist für einen gläubigen Menschen viel zu
oberflächlich gedacht.
Musik
Sprecherin:
Spiritualität kann helfen, einen Sinn im Leben zu entdecken, auch in der Krankheit.
Menschen fühlen sich getragen, auch wenn die äußeren Umstände schwierig geworden
sind. Dabei sind es die kleinen alltäglichen Dinge, die helfen, nicht unbedingt die großen,
frommen Gefühle.
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Zuspielung 13:
Spiritualität wäre das, was mich als Lebenskraft durchfließt. Die ich mir nicht selber
herstellen kann, sondern die mir von außen in schier unbegrenztem Ausmaß zur
Verfügung steht. Ich muss es nur wahrnehmen. Was immer Lebenskraft für den
Einzelnen bedeuten mag, vom Blumenstrauß bis zum gemeinsamen Essen bis zu dieser
spirituellen Erfahrung hin, die eine Krankheit mir schenken kann, ich habe bewusster
leben gelernt.
Sprecherin:
Pastoralreferent Bruno Durst vom Klinikum Großhadern nennt das Alltagsspiritualität.
Was braucht der Patient? Welche Ressourcen hat er? Manche würden das vielleicht gar
nicht als spirituell bezeichnen, erklärt er. Seine Kollegin Claudia Zierer denkt dabei an
eine Mutter und ihr herzkrankes Kind, die sie betreut.
Zuspielung 14:
Das Kind braucht ein neues Herz und die erzählte mir, sie lebt im Mc Donalds Haus,
drüben in der Stiftung, und kommt rüber in das Haus und sieht auf dem Tisch einen
frischen Strauß Blumen stehen und sagt zu mir, ich habe mich so gefreut diese Blumen
zu sehen und dass sie das kann, das ist eine Riesen Ressource für diese Frau, dass sie
trotz dieser schweren Erkrankung ihres Kindes, trotz der Lebensgefahr, in der ihr Kind
ist, sehen kann, da stehen Blumen. Und wie wichtig es ist, dass es Menschen gibt, die
sie bereitstellen, diese Blumen und das möglich machen.
Sprecherin:
Es sind die Blumen, die Lebensfreude auslösen. Das kann aber auch der Blick in den
blauen Himmel sein, die Erinnerung an ein schöne Bergtour oder das Anzünden einer
Kerze. Es sind die kleinen Dinge, die tragen. Bei Hilde Schramm* ist es das Foto ihrer
Enkelin auf dem Nachtkästchen. Die 75-Jährige liegt auf der Station für Strahlentherapie
im Klinikum Großhadern. Bei ihr wurde Brustkrebs festgestellt. Das war vor 11 Jahren.
Jetzt ist der Krebs zurück. Metastasen haben sich in ihren Knochen gebildet. Viele
Bestrahlungen stehen an. Doch sie lässt sich nicht entmutigen. Schließlich hat sie den
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Krebs schon einmal besiegt. Und dann ist da noch ihre Enkelin, die sie über alles liebt.
Dafür lebe man dann auch, erzählt sie, und blickt auf das Foto.
Zuspielung 15:
Meine Familie ist mein ein und alles, mein Enkelkind, die haben einen schönen Hund,
einen Bobtel, das ist ein treues Tier. Und der Vorgänger von dem hat mir sehr geholfen
als ich den Krebs hatte, den Brustkrebs. Mit dem bin ich spazieren gegangen und er ist
keinen Schritt von mir weg. Das hat sehr geholfen.
Sprecherin:
Diese Erinnerung macht sie stark. Sie möchte wieder mit dem Hund in der Natur
spazieren gehen und für ihre Enkelin da sein. Das sind Ziele, die sie tragen. Sie hofft,
dass die Strahlentherapie anschlägt und sie danach wieder ganz normal leben kann. Sie
ist eine Kämpferin. Sie will den Krebs besiegen, und vertraut dabei auch auf Gott. Sie
sei zwar keine, die ständig in die Kirche gehe, betont sie, aber die persönlichen
Gespräche mit Gott seien ihr sehr wichtig.
Zuspielung 16:
Gott ist ein höheres Wesen, was alles lenkt und in die Wege leitet. Und ich habe Gott
gedankt, was er für mich getan hat und ich bitte ihn auch, dass er mir weiterhilft.
Sprecherin:
Was in schwerer Krankheit trägt, ist sehr individuell. Seelsorger Bruno Durst vom
Klinikum Großhadern versucht herauszufinden, was die persönlichen Kraftquellen des
Patienten sind. Oft sind sie durch Angst, Trauer und Wut verschüttet. Schwere
Krankheiten können auch Glaubenskrisen verursachen. "Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen." Hadern und Zweifeln. Seelsorger Bruno Durst gelingt es immer
wieder auch bei solchen Glaubenszweifeln den Dialog herzustellen. Manchmal aber
fehlen einfach die Worte. Da geht es schlicht um das mit aushalten. Doch je länger die
Begleitung dauert, desto mehr wächst das Vertrauen. Der Patient ist offener und spricht
über seine Verzweiflung, seine Ängste, aber auch über seine Hoffnung und seine
Sehnsucht nach Leben. Er setzt sich mit seiner Situation auseinander.
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Seite 10
Zuspielung 17:
Wenn ich die Dinge, die ich in meinem Leben durch die Krankheit infrage gestellt worden
sind, auf einmal neu, wenn auch vielleicht verändert wiedergewinne. Wenn ich das
Gefühl wieder dafür kriege, dann gewinne ich im übertragenen und geistlichen Sinn
wieder Sicherheit und Boden unter den Füßen, darauf kommt es an. Es ist nicht das Ziel
nach der Krankheit wieder ganz der Alte zu werden.
Eine Analogie zu dieser geistigen Entwicklung sieht Bruno Durst im körperlichen
Heilungsprozess. In dem Maße wie die körperliche Genesung voranschreitet, in dem
Maße kehrt auch das Körpergefühl zurück, auch wenn es sich durch den
Krankheitsprozess verändert hat.
Zuspielung 18:
Ich habe im Laufe des letzten Jahres dreimal erlebt, bei Patienten, die eine
Knochenmarktransplantation erhalten mussten, dass sie diese wirkliche
schwerwiegende medizinische Behandlung als einen Läuterungsprozess bezeichnet
haben für sich. Das ist ein schmerzhafter, ganz leidvoller Reinigungsvorgang, der mir die
Chance zu einem Neuanfang in meinem Leben gibt. Interessant ist, wie da das
körperliche Erleben mit dem geistlichen Erleben eigentlich parallel läuft.
Sprecherin:
An Krebs erkrankte Menschen haben oft einen langen Leidensweg hinter sich. Doch im
Rückblick erleben manche ihren Krankheitsweg als spirituelle Erfahrung, erklärt
Seelsorger Bruno Durst. Sie sagen zum Beispiel zu ihm,
Zuspielung 19:
wenn ich so auf meinen Weg zurückschaue, dann hat mich meine Krankheit eines
gelehrt, nämlich ich nehme jeden Tag das Leben, was auf mich zukommt viel bewusster
wahr, als vor meiner Krankheit. Ich lebe viel mehr mit offenen Augen, mit offenen
Sinnen, mit einer größeren Dankbarkeit, mit größerer Demut. Ich habe andere Augen,
andere Ohren bekommen, für das, was um mich rum ist. Ich bin viel behutsamer
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Seite 11
geworden, auch in den Beziehungen. Und ich habe das Gefühl, dass ich meinen Alltag
viel tiefer erlebe als vor meiner Krankheit, dass fast so etwas mitspürten möchte wie
eine Art Dankbarkeit diese Erfahrung gemacht zu haben, wenn auch über das Leid einer
Erkrankung. Das ist eine spirituelle Erfahrung.
Musik: 13
Sprecherin:
Körper, Geist und Seele. Für den Heilungsprozess ist der ganze Mensch gefragt. Auch
wenn wissenschaftliche Antworten fehlen, so wächst inzwischen doch das Bewusstsein,
dass nicht nur Naturwissenschaft und Technik für den Heilungsprozess wichtig sind. Es
ist entscheidend, den ganzen Menschen wahrzunehmen. Traditionell haben sich
Seelsorger um den geistig-seelischen Bereich gekümmert. Heute werden Pflegende,
Ärzte, Psychologen und Therapeuten miteingebunden. Die Reaktionen der Patienten auf
Fragen vom Arzt etwa: Was macht Ihnen Freude? Was gibt Ihnen Kraft? Oder: Was
trägt Sie im Leben? sind unterschiedlich, weiß Psychiater und Psychoanalytiker Eckhard
Frick.
Zuspielung 20:
Es kann zum Beispiel sein, dass ein Patient sagt, ich möchte mit ihnen über diese Frage
sprechen, weil sie als Arzt objektiv sind. Oder es kann sein, ne, da bin ich im Gespräch
mit meiner Seelsorgerin, da kümmern sie sich um meine Blutwerte. Wir gehen davon
aus, dass jeder Arzt eine Grundkompetenz in diesen Fragen braucht oder möchte
eigentlich sagen, jeder in einem helfenden Beruf, der in der Medizin tätig ist, in der
Pflege, in der Sozialarbeit sollte eine Grundkompetenz haben, d.h. einzuschätzen wie
sind die spirituellen Ressourcen, Nöte, Optionen dieses Patienten.
Sprecherin:
Doch wie realistisch ist es, den Patienten im ärztlichen Alltag nach seiner spirituellen
Erfahrung zu fragen? Wie zeitraubend, belastend oder hilfreich ist eine solche spirituelle
Anamnese für alle Beteiligten? Das sollte eine Pilotstudie am Klinikum Großhadern
herausfinden. Das Ergebnis der Studie überzeugt.
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Zuspielung 21:
Es kam heraus, sowohl bei den Ärzten als auch bei den Patienten, es ist hilfreich und es
nicht belastend, weil oft gesagt wird, ja du liebe Zeit darüber dürfen wir nicht reden, das
bringt die Leute durcheinander oder das überfordert vollkommen die Ärzte, weil sie nicht
drauf vorbereitet sind. Wir konnten in dieser kleinen Pilotstudie zeigen: es ist hilfreich
und es ist nicht belastend und es ist praktisch möglich. Es ist in 5 bis 10 Minuten
machbar. Häufig wird als Generalargument gesagt, dafür haben wir keine Zeit.
Selbstverständlich spielt der Zeitfaktor eine Rolle, aber er wird gerne vorgeschoben,
überall dort, wo man sich nicht beschäftigen möchte. Und wir meinen, dass ein Arzt
gerade, wenn er einen Patienten länger kennt, gerade einen chronisch kranken
Menschen begleitet oder wenn es in Richtung das Lebensende geht, sollte sich für diese
Fragen interessieren.
Musik
stopp
* fiktiver Name
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