Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für

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Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für
Bayerische
Landeszentrale
für politische
Bildungsarbeit
THEMENHEFT 1|09
Einsichten
und Perspektiven
Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte
Ein fünfter Stamm in Bayern?
Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen. Ein integrationspolitischer Vergleich
mit den Sudetendeutschen
Einsichten und Perspektiven
Autor dieses Heftes
Impressum
Prof. Dr. Manfred Kittel, Historiker und Politikwissenschaftler
Einsichten
Forschungstätigkeit am Institut für Zeitgeschichte München
und Perspektiven
1992–2009; Redakteur bei den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 1997–2009; Lehrbeauftragter für Neuere und Neueste
Verantwortlich:
Geschichte an der Universität Regensburg seit 1995 (apl. Pro-
Werner Karg,
fessor seit 2005); seit September 2009 Direktor der Stiftung
Praterinsel 2,
Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.
80538 München
Veröffentlichungen (Auswahl)
Redaktion:
Monika Franz, Werner Karg
Monographien:
Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten
Gestaltung:
in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982),
Griesbeckdesign
München 2007.
www.griesbeckdesign.de
Nach Nürnberg und Tokio. „Vergangenheitsbewältigung“ in
Druck:
Japan und Westdeutschland 1945 bis 1968 (Schriftenreihe der
creo Druck &
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 89), München 2004.
Medienservice GmbH,
Gutenbergstraße 1,
„Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und
96050 Bamberg
Parteiwesen 1918–1933, hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale für
politische Bildungsarbeit, München 2001.
Titelbild: Aus Schlesien mitgebrachte Schlüssel, heute
Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten
Exponate im Schlesischen
in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, Quellen und Dar-
Museum Görlitz
stellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 47, München 2000.
Foto: Die Partner
Kultur und Politik in Frankfurt am Main (1968–1977); (das 550
Seiten umfassende Manuskript wird derzeit für den Druck
vorbereitet und soll 2010 im Oldenbourg-Verlag München erscheinen).
2
Die Landeszentrale konnte die Urheberrechte nicht bei allen Bildern dieser
Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit,
glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren.
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Einsichten und Perspektiven
Inhalt
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Manfred Kittel
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen
und andere Vertriebenengruppen
Ein integrationspolitischer Vergleich mit den
Sudetendeutschen
Der Begriff des „vierten“ Stammes
Auf der Suche nach dem „fünften Stamm“
Die Schlesier und die „zweite Million“
Geringere Wahrnehmung des „fünften Stammes“
Unterschiedliche Ankunftsgeschichten
Konflikte bei der Integration der Sudetendeutschen
Besonders schwere Konflikte bei der Integration
vertriebener „Preußen“
Religion/Konfession und „Deutschtum“
als integrationshemmende bzw. -fördernde Faktoren
Die Schlesier als die „größten Nazis“?
Anderer Dialekt und Urbanität als Integrationshemmnis?
Wirtschaftliche Integrationsunterschiede
Schlesisch-sudetendeutsche Parität in der Politik der
ersten Nachkriegsjahre
Die Vertriebenen und der Bayerische Rundfunk
Politische Gewichtsverlagerungen im Laufe der
fünfziger Jahre
Entscheidende Unterschiede zwischen „Auslandsdeutschen“ und „Reichsdeutschen“ im Hinblick auf politische Selbsthilfe-Erfahrungen und organisatorische
Initiative?
Das schlesische Schisma
Folgen für Nieder- und Oberschlesier in Bayern
Patenschaften
Entwicklung ostdeutscher Kulturarbeit bis heute
Der „fünfte Stamm“ und das Haus des Deutschen
Ostens in München
Literaturverzeichnis
3
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Ein fünfter Stamm in
Bayern? Schlesier,
Ostpreußen und andere
Vertriebenengruppen
Ein integrationspolitischer Vergleich mit den
Sudetendeutschen
Von Manfred Kittel
Aufruf zur Umsiedlung der deutschen Bevölkerung von Bad Salzbrunn, Juli 1945
Abbildung aus: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, m. e. Einleitung v. Arno Surminski, Hamburg 2004, S. 45.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Der Begriff des „vierten“ Stammes
Die Bayerische Staatsregierung betrachtet die sudetendeutsche Volksgruppe als „einen Stamm unter den Volksstämmen Bayerns“. So heißt es in der Verleihungsurkunde zu der
vom Freistaat unter der Ministerpräsidentschaft von Hans
Ehard (CSU) im Juni 1954 übernommenen Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen.1
Das Wort von den Sudetendeutschen als Bayerns „viertem Stamm“ – neben Altbayern, Franken und Schwaben und in gewisser Weise als Ersatz für die im Ergebnis
eines gescheiterten Volksbegehrens 1956 endgültig verloren gehenden Pfälzer – prägte indes Ehards Nachfolger Wilhelm Hoegner (SPD).
Bei einem Gespräch im Januar 1956 begrüßte der Ministerpräsident die Präsidialmitglieder des Sudetendeutschen
Rates als „Vertreter des vierten Stammes in Bayern“.2
Die Stammesidee als Instrument bayerischer
Staatsintegration geht schon auf König Ludwig I. zurück.3
Dieser hatte nach der Gründung des aus sehr verschiedenen
Territorien zusammengesetzten modernen Bayern 1806
dem Bedürfnis der Altbayern, vor allem aber der Franken,
Schwaben und Pfälzer nach regionalen Identitäten durch
geschichtspolitische Maßnahmen Rechnung getragen und
die Entstehung von „stämmisch-bayerischen Doppelidentitäten“4 gefördert. Es war kein Zufall, dass Hoegner den Begriff vom „vierten Stamm“ ausgerechnet 1956, im 150. Gedenkjahr der Entstehung eines größeren Bayern, eingeführt
hatte.
In der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) selbst
waren aber anfänglich gar nicht alle begeistert von der
Vorstellung, Bayerns neuer „vierter Stamm“ zu sein.
Der für Kultur- und Volkstumspflege zuständige Reinhard Pozorny etwa lehnte das im Hinblick auf die angestrebte Rückkehr in die (alte) Heimat entschieden ab,
und auch die SL-Spitze betonte in den fünfziger Jahren,
der „vierte Stamm in Bayern“ zu sein, nicht „Bayerns
vierter Stamm“.
Sie deutete das Stammeskonzept also derart, dass sich die
Sudetendeutschen als „Volksgruppe im Exil“ nur vorübergehend als „vierter Stamm“ in Bayern aufhielten.5 Erst allmählich konnte sich der Begriff, von maßgeblichen Vertretern der sudetendeutschen Gesinnungsgemeinschaften6
„bereitwillig angenommen“, durchsetzen. Dabei verstanden es die bayerische Staatsregierung wie die Sudetendeutschen, „den Stammesbegriff jeweils auf ihre Weise und
für ihre Zwecke zu interpretieren und einzusetzen“.7
Auf der Suche nach dem „fünften Stamm“
Heute ist der Topos des „vierten Stammes“ aus dem
politischen Sprachgebrauch des Freistaats nicht mehr
wegzudenken. So sehr hat er sich eingebürgert, dass
auch für den Ehrentitel des „fünften Stammes“ immer
wieder einmal neue Vorschläge unterbreitet werden.
Die bayerische SPD bezeichnete in ihrer Irseer Erklärung
vom Januar 2007 die seit den sechziger Jahren zugewanderten Gastarbeiter aus Südeuropa und der Türkei nebst deren
Nachfahren als „Bayerns fünften Stamm“.8 Der Bundesvorsitzende der Siebenbürger Sachsen äußerte auf dem Dinkelsbühler Heimattag 2006 im Namen seiner Landsleute die
Hoffnung, „vielleicht einmal als fünfter Stamm in Bayern
anerkannt zu werden“.9 Und der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sprach während seiner Amtszeit
mehrfach von den jüdischen Bürgern als dem „fünften
Stamm Bayerns“, was die Präsidentin des Zentralrats der
Juden, Charlotte Knobloch, etwa bei der Einweihung des
neuen jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg am 23. Oktober 2006 zustimmend aufgriff.10 Der
damalige Innenminister Günther Beckstein hatte wenige
Monate vorher auf eine Knobloch-Rede ebenfalls mit dem
1 Anlass zur Verleihung der Urkunde im Jahr 1962 war der fünfte Sudetendeutsche Tag gewesen. Das Dokument ist abgedruckt bei Habel,
Die Sudetendeutschen, S. 117. 1954 wurde Bayern von einer Dreierkoalition unter Führung der CSU regiert – mit Beteiligung der SPD und
des damals noch recht starken Blockes der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE).
2 Badenheuer, Die Sudetendeutschen, S. 93.
3 Bosl, Ludwig I. und die Stämme.
4 Pohl, Zwischen Integration, S. 415.
5 Ebd., S. 419; vgl. auch S. 417 f.
6 Das sind drei sudetendeutsche Organisationen unterschiedlicher Prägung, in denen sich nach der Vertreibung die wichtigsten politischen
Strömungen der alten Heimat im Westen neu zusammenfanden: der national-konservative Witikobund, die sozialdemokratische SeligerGemeinde und die christlich-katholische Ackermann-Gemeinde.
7 Pohl, Zwischen Integration, S. 418, 419.
8 Aus Liebe zu Bayern. Bayern – aber gerechter! Eine Denkschrift, s. http://www.spd-landtag.de/downl/PK06/070110ds_irseefassg.pdf
(Stand: August 2009).
9 Siebenbürgische Zeitung v. 6. Juni 2006 („Volker Dürr: Integration der Siebenbürger Sachsen ist eine Erfolgsgeschichte“).
10 Dokumentation der Einweihung des neuen jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg am 23. Oktober 2006, pdf-Datei
(www.shalomeuropa.de/doku) (Stand: April 2009), S. 21.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Karte aus: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg 2000, S. 7. (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 24)
Wort vom „fünften Stamm“ geantwortet, zumal ohne den
jüdischen Beitrag „unsere Kultur nur bruchstückhaft“ sei.11
Dieses Argument hat zweifelsohne Gewicht, schon
deshalb, weil es dazu beiträgt, die viel zu wenig bekannte,
Jahrhunderte alte Kulturleistung der bayerischen Juden vor
und nach dem Holocaust wieder bewusster zu machen. Sie
ist angesichts der allerdings nur zu verständlichen Konzentration auf die Verfolgungsgeschichte während des „Dritten
Reiches“ in der Erinnerungskultur nach 1945 lange zu kurz
gekommen.
Die Bezeichnung „fünfter Stamm“ trifft die Sache hier
aber insofern nicht im Kern, als es sich bei den jüdischen Bayern jedenfalls nicht um einen „Neustamm“
handelt, der nach 1945 hinzugekommen wäre, sondern
vielmehr um eine Kultur- und Religionsgemeinschaft
mit viel älteren Wurzeln zwischen Aschaffenburg und
Berchtesgaden und insbesondere in der ehemals bayerischen Pfalz seit Antike und Frühmittelalter (Speyer).
Bedenkt man zudem, dass sich der Titel „vierter Stamm“
nicht zuletzt der beachtlichen, auch numerischen Stärke der
vertriebenen Sudetendeutschen verdankt, die von der Zahl
her die bayerischen Schwaben,12 den kleinsten „Urstamm“,
sogar knapp übertrafen (zusammen mit den Karpatendeutschen 1,025 Millionen13), so wäre die Suche nach dem „fünften Stamm“ in dieser Perspektive fortzusetzen.
Man kann dann tatsächlich rasch auf die zahlreichen Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen vor allem
aus den Regionen Ex-Jugoslawiens und der Türkei (insge-
11 Vgl. Beckstein und der fünfte Stamm, in: Spiegel online https://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,426117,00.html (11. Juli 2006;
Stand: August 2009).
12 1939 zählte der Regierungsbezirk Schwaben 947.000 Einwohner. Habel, Historische, politische und soziale Voraussetzungen, S. 243.
13 Die Karpatendeutschen aus dem Gebiet der heutigen Slowakei fallen bei dieser Zahl nur wenig ins Gewicht. In die ganze US-Zone waren
nach dem Krieg 10.880 vertriebene Karpatendeutsche transportiert worden (vgl. Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund, S. 202).
Aufgrund einer eigenen historisch-politischen Identität schlossen sich die Karpatendeutschen auch nicht der SL an, sondern sammelten sich
in einer eigenen Landsmannschaft. Ihr institutioneller Schwerpunkt mit Kulturwerk, Museum und Stiftung liegt heute in Karlsruhe (vgl.
den Überblick im BdV-Blickpunkt, Dezember 2006, S. 15–16). Man wird die Karpatendeutschen insofern, trotz ihrer meist anderen statistischen Einordnung, eher als Teil des fünften denn des vierten Stammes betrachten müssen.
6
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Siebenbürger Sachsen auf der Flucht
Abbildung: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, m. e. Einleitung v. Arno Surminski, Hamburg 2004, S.41.
samt über eine Million Menschen) kommen, bleibt aber ein
wenig skeptisch, da zumindest die Integration ihres großen
muslimischen Teils kaum schon als vollendet gelten kann.14
Zudem stimmte auch hier die Chronologie nicht, weil in
ihrem Zusammenhang dereinst vielleicht einmal von einem
„sechsten“ oder, je nach Zählweise, „siebten Stamm“ geredet werden könnte; der wirkliche „fünfte Stamm“ hingegen
hat schon viel früher so fest Wurzeln in Bayern zu schlagen
begonnen, dass er als eigener Teil offensichtlich gar nicht
mehr identifiziert wird – ja, merkwürdiger noch, im Grunde
genommen von Anfang an bis heute kaum je angemessen
berücksichtigt wurde.
Die Schlesier und die „zweite Million“
Die Rede ist hier von sämtlichen nicht aus den böhmischen
Ländern stammenden deutschen Ostvertriebenen, die
schon 1950 zusammengenommen eine fast ebenso große
Gruppe (von ca. 850.000 Menschen) in Bayern bildeten wie
die Sudetendeutschen selbst.
Berücksichtigt man zudem die Spätaussiedlerstatistik
zwischen 1950 und 2001, die neben 8.000 Menschen aus
der Tschechoslowakei nahezu eine halbe Million Deutsche aus dem russischen, rumänischen und polnischen
Staatsbereich verzeichnet, so ist dieser „fünfte Stamm“
mit über 1,3 Millionen Menschen sogar noch ein gutes
Stück größer als der „vierte“.15
Die überwiegend erst als Spätvertriebene nach Bayern gekommenen Siebenbürger Sachsen (über 100.000 Menschen)
sind im Übrigen einer der wichtigsten Teile dieses „fünften
Stammes“, an Zahl aber – bei allem Respekt vor ihrem besonders aktiven Kulturleben – doch nicht groß genug, um
den schmückenden Titel allein für sich reklamieren zu können.
Denn das mit Abstand größte Element des „fünften
Stammes“ bilden die Schlesier, von denen schon bis 1950
fast 460.000 in Bayern eine neue Heimat fanden.16 Mancherorts waren sie nach dem Krieg vor allem in Ober-
14 Ferdinand Kramer spricht in diesem Kontext von einer „Diasporahaltung vieler Muslime in Bayern“. Kramer, Die Muslime, S. 391.
15 Ziegler, Die Vertriebenen, S. 7 f.; Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Integration von
Spätaussiedlern in Bayern, München 2002, S. 7 (pdf-Datei. www.stmas.bayern.de/vertriebene/aussiedler (Stand: Mai 2009).
16 Zu den Zahlen Ziegler, Die Vertriebenen vor der Vertreibung, Bd. 1, S. 7 f.
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7
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Folgezeit) nach Bayern führte. In den neunziger Jahren
kam über eine Viertelmillion Russlanddeutsche hinzu,
nachdem diese Gruppe bis 1950 (Deutsch-Balten mitgerechnet) im Freistaat nur 18.000 Menschen umfasst hatte.
Nun ließe sich einwenden, ein aus einem Dutzend ganz
verschiedener, teils umgesiedelter, teils geflohener, teils
vertriebener Gruppen vom Baltikum über Schlesien bis
ins Banat zusammengesetzter fünfter „Stamm“ wirke
allzu konstruiert. Doch gegen diesen Einwand wäre
vorzubringen, dass auch der „vierte Stamm“ von den
Beskiden östlich Troppau bis zum Egerland in sehr
heterogenen Siedlungsgebieten gelebt hatte.
Karte aus: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd. 1, S. 6.
franken und Niederbayern (etwa Bamberg, Coburg,
Passau, Deggendorf) noch häufiger anzutreffen als die
Sudetendeutschen.
Neben den Schlesiern gehören zu der schon 1950 ca.
600.000 Menschen umfassenden Gruppe der Vertriebenen
aus dem „Altreich“ in den Grenzen von 1937 noch 87.000
Ostpreußen, 34.000 Hinterpommern und 13.000 Ostbrandenburger (und historisch gesehen, auch wenn die rechtliche Situation hier eine andere war, auch die 11.000 Danziger
sowie die Memelländer). Diesen Kern des „fünften Stammes“ erweitert das ganze Spektrum der so genannten
„Volksdeutschen“, deren „erzwungene Wanderschaft“ sie
aus dem Gebiet Vorkriegspolens (48.000 vor 1950) oder aus
den südosteuropäischen Ländern Ungarn, Jugoslawien und
Rumänien (zusammen 161.000 vor 1950, 158.000 in der
Schon die Sudetendeutschen aus dem stark an der Wiener
Lebensart orientierten Südmähren mit ihrem baierischösterreichischen Dialekt unterschieden sich ganz erheblich
von den als „ernster“ geltenden, schlesisch sprechenden
nordmährischen Industriearbeitern. Aber auch „die“ Schlesier oder „die“ Ostpreußen für sich genommen waren in sozialer, konfessioneller wie kultureller Hinsicht ausgesprochen vielfältige Gruppen.17 Geht man aber davon aus, dass
die Deutschen in den böhmischen Ländern im Zuge des
wachsenden Nationalitätenkonflikts mit den Tschechen seit
1848 und spätestens seit 1918/19 infolge ihrer Einverleibung
in einen künstlichen tschechoslowakischen Nationalstaat
unbeschadet aller Unterschiede zu einer politischen Schicksalsgemeinschaft zusammenwuchsen, und berücksichtigt
man ferner, dass die Erfahrung der Vertreibung diese Identifikation noch verstärkte, dann ist ein so verstandener
Stammesterminus auf die Schlesier, Ostpreußen und vielen
anderen kleineren Vertriebenengruppen in Bayern – zumindest als Arbeitsbegriff – ebenfalls anwendbar.
Das gemeinsame politische Schicksal dieser „zweiten
Million“ „bayerischer“ Vertriebenen war es, im Freistaat nur in relativ kleinerer Zahl angesiedelt worden
zu sein und in der Öffentlichkeit deutlich weniger
wahrgenommen zu werden als die erste, sudetendeutsche Million.
Als typisches Beispiel sei nur die Begrifflichkeit aus einem
Aufsatz des zwischenzeitlich emeritierten Professors für
Bayerische Landesgeschichte, Rudolf Endres, erwähnt. Der
Leiter des verdienstvollen Forschungsprojekts „Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge“18 hat 2005 unter dem Titel „Bayerns
vierter Stamm. Grundzüge der Integration der Flüchtlinge
und Vertriebenen“ in einem Aufsatz wie folgt formuliert:
17 Vgl. Gatz, Expellees, S. 321, 326.
18 Vgl. Reinhart, Die Entwicklung Bayerns, S. 7.
8
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
osteuropa sehr wohl präsent sind. Der in der Endres-Formulierung anklingenden und auch sonst gelegentlich zu
hörenden Ansicht, mit dem Wort vom „vierten Stamm“ seien neben den Sudetendeutschen auch alle übrigen gemeint,21
widersprechen andere Äußerungen wie die des Ministerpräsidenten Alfons Goppel anlässlich der Errichtung der
Sudetendeutschen Stiftung 1970. „Jeder zehnte Einwohner
Bayerns ist Sudetendeutscher“, so führte Goppel damals
aus: „Die Sudetendeutschen sind unser vierter Stamm.“22
Vertriebenenzahlen nach Herkunft
Deutsche Ostgebiete
9.075.000
Danzig
388.000
Polen
2.370.000
Tschechoslowakei
3.496.000
Baltische Staaten und Memelland
100.000
Ungarn
548.000
Rumänien
498.000
Jugoslawien
435.000
Geringere Wahrnehmung des
„fünften Stammes“
Vertriebene nach Herkunft und Aufnahmeland
Herkunftsland
Herkunftsland mit höchs-
Bayern
tem Anteil
Ostpreußen
Prozentanteil
der Vertriebenen in Bayern
Niedersachsen
410.000
87.000
4,6
Ostbrandenburg Niedersachsen
50.000
13.000
0,7
Ostpommern
Schleswig-Holstein 310.000
34.000
1,8
Schlesien
Niedersachsen
720.000 458.000
24,7
Quelle: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd.1, S. 7.
„Wenn man von ‚Bayerns viertem Stamm’ spricht, dann gesteht man damit zu, dass die Flüchtlinge und vor allem die
mehr als eine Million vertriebenen Sudetendeutschen eine
eigene Tradition besitzen, was für die kulturelle Integration
oder Akkulturation von großem Wert war und noch ist.“19
Offensichtlich aus pragmatischen Gründen darstellerischer Prägnanz werden hier also explizit nur die Sudetendeutschen genannt. Wer die anderen sind, weiß der
Autor natürlich und wissen auch die Fachleute. Aber
wie viele bayerische Otto-Normalverbraucher ohne
historische Spezialkenntnis wissen gleichfalls, wer die
anderen waren und dass diese zusammengenommen
ebenso viele zählten wie die Sudetendeutschen selbst?
Für die Wahrnehmung der anderen steckt im Terminus
„vierter Stamm“ mithin ein Dilemma. Dieses wird auch
nicht dadurch aufgehoben, dass etwa ein sehr interessanter
Bayreuther Tagungsband, ebenfalls unter dem Titel „Bayerns vierter Stamm“,20 einige Beiträge enthält, in denen die
Vertriebenen aus den Oder-Neiße-Gebieten und aus Süd-
Sprachlich-darstellerische Gründe allein können den Abstand zwischen der öffentlichen Präsenz der Sudetendeutschen und der Wahrnehmung der vielen anderen jedenfalls
kaum erklären. Denn im oben erwähnten Satz könnte und
müsste es im Blick auf die Größenverhältnisse der bayerischen Vertriebenengruppen eigentlich zumindest heißen:
„die Sudetendeutschen und die Schlesier“. Wer nach den
Gründen für die insgesamt geringere Präsenz der zweiten
Million fahndet, muss in erster Linie nach den bayerischen
Schlesiern fragen, die allein etwa die Hälfte davon ausmachen. Die möglichen Ursachen kultureller, wirtschaftlicher
und politischer Art für die im Vergleich zu den Sudetendeutschen schwächere Wahrnehmung des „fünften Stammes“ in Bayern sollen im Folgenden diskutiert werden.
Trotz gewisser Bedenken gegen den etwas vormodern-romantisch anmutenden Stammesbegriff wird er verwendet,
weil er die prägnanteste Sammelbezeichnung darstellt, um
die vielen nicht-sudetendeutschen Vertriebenengruppen zu
benennen. Neben den Schlesiern liegt ein weiterer kleinerer
Schwerpunkt des Aufsatzes auf den Ostpreußen; nicht nur,
weil diese zum zweiten „Patenkind“ des Freistaates wurden, sondern auch deshalb, weil eine amerikanische Dissertation, wenngleich mit einem Fokus auf dem gesamten Bundesgebiet, die Integration von Sudetendeutschen und Ostpreußen breit verglichen hat und die Materialgrundlage hier
ziemlich günstig ist. Abschließend sollen der kulturelle
Status quo des „fünften Stammes“ skizziert und einige Zukunftsperspektiven präsentiert werden.
Notgedrungen hat dieser Aufsatz eine eher essayistische Form. Zur wissenschaftlich vertieften Beantwortung
der sich stellenden Fragen wären mehrere Großforschungsprojekte erforderlich.23
19 Endres, „Bayerns vierter Stamm“, S. 65.
20 Ebd. Bei dem Tagungsband zur Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in Bayern nach 1945 sind, anders als bei dem erwähnten Aufsatz von Rudolf Endres, keine Anführungszeichen gesetzt worden.
21 Vgl. in diesem Sinne auch den Beitrag von Fritz Wittmann, Die Ostdeutschen in Bayern, der vierte Stamm.
22 Böhm, Weg und Ziel, S. 165.
23 Vordringlich wäre eine Zeitzeugenbefragung von Angehörigen der verschiedenen Vertriebenengruppen in Bayern – und zwar sowohl der
landsmannschaftlich Gebundenen wie der großen Mehrheit der Nicht-Organisierten – hinsichtlich ihrer Integrationserfahrungen. Auch die
Geschichten der einzelnen Landsmannschaften in Bayern sind noch zu schreiben.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Im Barackenlager Riederloh (1955)
Foto: Hans-Joachim Hübner, Die Fabrik Kaufbeuren
der Dynamit-AG: Zur Vorgeschichte von Neugablonz, Kaufbeuren, März 1995, S. 114.
Immer wieder stößt man bei dem Thema auf das Phänomen, dass sich in der Integrationsforschung die Spur
der Schlesier, aber letztlich auch aller anderen kleineren
und größeren Vertriebenengruppen (die Sudetendeutschen eingeschlossen) im diffusen Generaltypus des
„Flüchtlings aus den Reichs- und Siedlungsgebieten aus
dem Osten“ verliert.24
Je weiter man in die Gegenwart gelangt, desto schwieriger
wird es, von der Geschichte der Landsmannschaften oder
Kulturwerke abgesehen, wirklich noch schlesische oder andere Spezifika in der Entwicklung der bayerischen Gesellschaft zu identifizieren; und dies, obwohl die regionalen
Identitäten bei den Vertriebenen selbst durchaus stark aus-
geprägt gewesen waren25 und es tatsächlich „keine ostdeutsche und keine Heimatvertriebenenkultur, sondern [nur]
eine landsmannschaftlich gewachsene Kultur“ gab.26 Ob das
im Hinblick auf eine politisch beherrschbare Integration
von der amerikanischen Besatzungsbehörde durchgesetzte
Konzept der Zerstreuung und Assimilation letztlich erfolgreicher war als alle späteren bayerischen Bemühungen, die
kulturelle Identität der Vertriebenen zu wahren,27 könnte
Gegenstand einer eigenen Abhandlung sein. Dringlich
scheint es jedenfalls, „die Kategorie Herkunft hinsichtlich
ihrer integrationshemmenden und -fördernden Wirkung“
künftig stärker „in die Erforschung des Integrationsprozesses einzubeziehen“.28
24 Vgl. etwa die ansonsten sehr informative Studie von Zeitler, Neubeginn in Oberfranken. Dort ist lediglich (S. 364) von einer Statistik des
Regierungsbezirkes die Rede, wonach am 15. August 1946 120.000 Reichsdeutsche aus den Oder-Neiße-Gebieten (davon allein über
104.000 „Schlesier“) in Oberfranken lebten sowie 84.000 Auslandsdeutsche (davon über zwei Drittel Sudetendeutsche). Die Tendenz zum
Flüchtlingsgeneraltypus war schon früh auch in den lokalen Statistiken festzustellen, etwa in jener des Landkreises Wunsiedel 1946, die
ebenfalls lediglich zwischen „Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße“ und „Auslandsdeutschen (überwiegend aus dem
Sudetenland)“ unterschied. Eine Liste der Gemeinde Bernstein vom September 1946 war insofern genauer, als sie 63 Sudetendeutsche eigens
auswies, die Vertriebenen aus den zwei eigenständigen schlesischen Provinzen jedoch als Neubürger „aus Ober- und Niederschlesien“ (283
Seelen) zusammenfasste. Reinhart, Neuanfang im Fichtelgebirge, S. 442.
25 So auch die Beobachtung des Soziologen Emerich K. Francis (The German Expellees) bei einem Forschungsaufenthalt in Bayern, der die
daraus resultierenden Risiken einer Abgrenzung der Vertriebenengruppen von der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft nicht zuletzt durch
das Wirtschaftswunder abgewendet sah.
26 Auch wenn dieses Diktum von dem wegen seiner Vergangenheit in der NS-Zeit stark umstrittenen Theodor Oberländer stammt (damals,
1951, Staatssekretär für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen in Bayern), ist es nicht schon deswegen Ausfluss eines „völkischen Konstrukts“, das von einem organisch gegliederten „deutschen Volkskörper“ ausgehe. Vgl. aber Pohl, Zwischen Integration, S. 79, die in diesem
Kontext auch die „Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Kulturnation“ als „rückwärtsgewandt“ zurückweist.
27 Vgl. zu dem von einer melting-pot-Ideologie geprägten Konzept der Amerikaner für ein „organisches“ Aufgehen der Vertriebenen in der
westdeutschen Gesellschaft: Grosser, Das Assimilationskonzept. Das „organische Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung“ wurde
sogar expressiv verbis in das vom Länderrat 1947 beschlossene zoneneinheitliche Flüchtlingsgesetz hineingeschrieben. Ebd., S. 207.
28 So Mathias Beer, ausgehend von den spezifischen Integrationsschwierigkeiten der Ungarndeutschen, auf einem vom bayerischen Arbeitsund Sozialministerium geförderten Kolloquium in Berlin. Tagungsbericht: Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945.
11.07.2006–12.07.2006, Berlin, in: H-Soz-u-Kult (26.09.2006). In dem Tagungsband (Krauss, Integrationen, S. 15) betont die Herausgeberin
mit Blick auf schlesisch-sudetendeutsche Unterschiede ebenfalls, wie „ungemein viel“ der Integrationsprozess damit zu tun hatte, „aus welchen Regionen die Vertriebenen stammten und mit welcher Prägung sie im Westen ankamen“. Auch Kossert, Kalte Heimat, S. 82, berichtet
etwa, dass es bei der einheimischen Bevölkerung Unterschiede im Grade der Ablehnung gegenüber den einzelnen Vertriebenengruppen
gab. So seien in der Lüneburger Heide die Pommern besser angesehen gewesen als die Schlesier und Ostpreußen. Zum Stand der bayerischen Integrationsforschung vgl. Gelberg, Vom Kriegsende, S. 739 ff.
10
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Karten aus: Walter Ziegler (Hg.), Die
Vertriebenen vor der Vertreibung. Die
Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung,
2 Bde., München 1999, Bd. 1, S. 498,
sowie ebd., Bd. 2, S. 642.
Unterschiedliche Ankunftsgeschichten
Welche Bedeutung hatten die unterschiedlichen Ankunftsgeschichten des späteren vierten und fünften Stammes der
Flüchtlinge und Vertriebenen29 in den Jahren ab 1945?
Während sich die überwiegend schon in der ersten Hälfte des Jahres 1945 nach Bayern einströmenden Deutschen aus Schlesien und aus den anderen preußischen
Ostprovinzen des Reiches „weitgehend auf eigene Faust
eine Unterkunft suchen“ mussten, oblag die Verteilung
der größtenteils erst 1946 aus der Tschechoslowakei ver-
triebenen Sudetendeutschen bereits einer „nicht zuletzt
eigens für diese Aufgabe geschaffenen staatlichen Zentralbehörde“.
Nachdem die Flüchtlinge aus den östlichen Altreichsgebieten sich „in den ihrer Wanderungsrichtung zunächst liegenden nordöstlichen Regionen Bayerns“ massiert hatten,
sah sich die neu errichtete Flüchtlingsverwaltung „mit einer
kaum mehr reversiblen Ausgangssituation“ konfrontiert,
als die Behörde Ende Dezember 1945 die Aufteilung des zu
erwartenden Vertriebenenzustroms aus den Sudetengebieten zu planen begann. Da die gleichsam „,autonom’ wan-
29 Beide Begriffe werden im Folgenden aus darstellerischen Gründen synonym verwendet, da zum einen auch die meisten Flüchtlinge spätestens infolge der weiteren politischen Entwicklungen zu Vertriebenen wurden, sich zum anderen alltagssprachlich der Begriff „Flüchtling“
als Sammelbegriff durchsetzte. Der pejorative Anklang, den er teilweise hatte, wird hier aber nicht geteilt.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Karten aus: Walter Ziegler (Hg.), Die
Vertriebenen vor der Vertreibung. Die
Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2
Bde., München 1999, Bd. 2, S. 706,
sowie Bd.1, S. 134.
dernden Schlesier, von Osten kommend, die nordöstlichen
Teile Bayerns belegt hatten“, musste die Flüchtlingsverwaltung bei der Verteilung der Sudetendeutschen verstärkt
die südwestlichen Landesteile heranziehen. Infolgedessen
lebten 1946 allein in Niederbayern, in der Oberpfalz und in
Oberfranken 258.000 der 432.000 Schlesier, während in
Oberbayern, in Schwaben und in Mittelfranken mit zusammen 509.000 fast zwei Drittel der bis dahin aufgenommenen
Sudetendeutschen untergekommen waren.30 Den höchsten
Anteil unter den Vertriebenen stellten die Schlesier in Oberfranken (42,2 Prozent), Niederbayern (37,7 Prozent) und in
der Oberpfalz (34,3 Prozent), den niedrigsten in Schwaben
(12,6 Prozent) und Oberbayern (18,6 Prozent). Die Sudetendeutschen dagegen waren prozentual am stärksten in
Schwaben (71,5 Prozent) , aber auch in Oberbayern, Mittelund Unterfranken stellten sie zwischen 54,5 und 58,6 Prozent der Vertriebenenbevölkerung.31
Einen Grund für die später vergleichsweise geringere
Wahrnehmung der Schlesier könnte die unterschiedliche Ankunftsgeschichte insofern liefern, als die Altreichsdeutschen sich ausgerechnet in den – teils bis
heute – eher strukturschwächeren ostbayerischen
Gebieten verdichteten, während die Konzentration der
Sudetendeutschen u.a. in Oberbayern, die Landeshauptstadt München eingeschlossen, für diese einen
Standortvorteil bedeutete, sprich: größere Nähe zu den
politischen, administrativen, wirtschaftlichen und
medialen Kraftzentren des Freistaates.32
30 Bauer, Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern, S. 27, 161, 167 ff.
31 Lane, The Integration of the German Expellees, S. 17, sowie: Die Flüchtlinge in Bayern. Ergebnisse einer Sonderauszählung aus der Volksund Berufszählung vom 29. Oktober 1946, Heft 142 (Juli 1948), S. 9.
32 Allerdings gab es auch in München von Anfang an eine stattliche schlesische Vertriebenengruppe.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Friedrich Prinz,
Die Integration der
Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern.
Versuch einer Bilanz
nach 55 Jahren,
hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte,
Augsburg 2000, S. 10.
Nach Abschluss der in den fünfziger Jahren generell zu beobachtenden Landflucht der (zunächst vorwiegend in agrarischen Räumen untergebrachten) Vertriebenen hatten sich
schließlich an die 200.000 Sudetendeutsche in München
angesiedelt. Die bayerische Metropole wies damit „mehr
deutschböhmische Einwohner“ auf, als „die größten sude-
tendeutschen Städte, Reichenberg und Eger, je hatten“.33
Der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft,
Bernd Posselt, hat deshalb mit gutem Grund das „Aktionszentrum München“ als einen der wesentlichen Gründe für
die Integrationserfolge seiner „Volksgruppe“ nach 1945
benannt.34
33 So Bernd Posselt, Die Freiheit im Biergarten, in: Bayernkurier v. 7. Februar 2009, S. 15.
34 Ansprache von Bernd Posselt im Rahmen der „Festlichen Stunde“ im Sudetendeutschen Haus München am 26. August 2008, anlässlich der
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Zur Landshuter Stadtratswahl 1956 stellten die Sudetendeutschen
eine eigene Liste auf.
Abbildung: Dorothea Götz, Chronik der Vertriebenen in Landshut 1945–1987,
Landshut 1991, S. 145.
Konflikte bei der Integration der
Sudetendeutschen
Von einem reinen Idyll, dies sei gleich an dieser Stelle
betont, um falsche Zungenschläge zu vermeiden, war
die Integration der Sudetendeutschen dennoch weit
entfernt. Auch sie waren vielmehr von der verbreiteten
westdeutschen Ignoranz gegenüber deutscher Geschichte und Kultur in Ostmitteleuropa betroffen.
Schon in den zwanziger Jahren sollen Sudetendeutsche,
aller völkischen Propaganda in Weimar-Deutschland zum
Trotz, bei Reisen in das Reich oft gefragt worden sein, weshalb sie eigentlich so gut Deutsch sprechen würden.35 Nach
1938 waren die Sudetendeutschen auch in der Großdeut-
35
36
37
38
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41
42
14
schen Wehrmacht mit Vorurteilen konfrontiert. Sie wurden
als „Beutedeutsche“ und „Sudetengauner“ verunglimpft
und mussten die Erfahrung machen, als „blöde Böhm“, als
hinterwäldlerisch und „ein wenig primitiv“ zu gelten.36
Wohl auch wegen der Bilder jubelnder Bevölkerung bei der Angliederung des Sudetenlandes an das Reich
im Herbst 1938 meinte 1946 zudem „die Mehrheit der Einheimischen“ in Bayern, „die meisten Flüchtlinge“ aus den
böhmischen Ländern „wären nicht vertrieben worden,
wenn sie nicht zu den Nazis gehört hätten“.37 Manche Sudetendeutsche fühlten sich aufgrund der „Nazi“-Vorwürfe regelrecht „als Kriegsverbrecher behandelt“.38 Obendrein bekamen sie zu hören, eigentlich müsse doch nicht Bayern,
sondern Österreich für ihre Aufnahme sorgen, „da das Sudetenland früher zu Österreich gehört habe“.39 Am Ostersonntag 1946 predigte sogar ein katholischer Pfarrer mit
Bezug auf die Sudetendeutschen, es habe „vor einem Jahre
noch Menschen“ gegeben, die „Ostern ohne Gott und den
Auferstandenen in blinder Hoffnung auf den Sieg der Nazis
begingen“ und die „auch heuer, wohl zu ihrer Strafe, auf den
Straßen obdachlos als eine wahre Landplage für uns ihr Ostern, zum Großteil wieder ohne Gott, begehen“ müssten.40
Das kritische Urteil des Geistlichen über die vertriebenen
Deutschböhmen mochte auch mit der tendenziell schwächer als in Bayern ausgeprägten Kirchlichkeit im Sudetenland zusammenhängen. Denn der „lebensfrohe und
stark verstädterte katholische Sudetendeutsche“ brachte
„oft Kino, Tanzkurs, Sportverein mit aufs Dorf“;41 er schien
also für die heile Welt der bayerischen Agrarprovinz eine
Bedrohung darzustellen. Im März 1947 wurde in der Gemeinde Egmating im Kreis Ebersberg ein trauriger Höhepunkt der Diskriminierung erreicht, als ein Anschlag folgenden Inhalts auftauchte: „Hinaus mit den Flüchtlingen
aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft
– dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!“42
Besonders schwere Konflikte bei der
Integration vertriebener „Preußen“
Hält man sich die Integrationskonflikte vor Augen, denen
die Sudetendeutschen ausgesetzt waren, so lässt sich erst ermessen, was es bedeutete, dass sich die bayerische Urbevöl-
Übergabe des Sudetendeutschen Wappens für die Vertretung des Freistaates Bayern in Brüssel an Europaminister Markus Söder. Private
Mitschrift des Verfassers.
Gatz, Expellees, S. 260.
Gebel, „Heim ins Reich“, S. 226 f.
Sallinger, Die Integration, S. 104.
Gatz, Expellees, S. 224.
Sallinger, Die Integration, S. 104.
So berichtete der ehem. Generalvikar für die im Sudetengau gelegenen Teile der Diözese Königgrätz, Prälat Richard Popp, an die „hochwürdigen (erz-)bischöflichen Ordinariate Bayern“. Zit. n. Gatz, Expellees, S. 260.
Kossert, Kalte Heimat, S. 122.
Ebd., S. 62.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
kerung mit den „Preußen“ aus Schlesien, Pommern und
Ostpreußen tendenziell sogar noch schwerer tat – und umgekehrt.43 Ein niederschlesischer Pfarrer sah sich darob im
Sommer 1946 zu einem Appell an seine vertriebenen Landsleute veranlasst, sich auch einmal in die Lage der Einheimischen zu versetzen. Denn die „Abneigung, die sie uns offen
zeigen, gilt wohl weniger uns persönlich als der Verteidigung ihrer bisherigen Lebensrechte, die sie nicht aufgeben
wollen, und deren Berechtigung sie doch wanken fühlen.
Ob Gott uns daheim in der gleichen Lage eine tiefere
Erkenntnis geschenkt hätte? Sicher ist das nicht.“44
Ein Projekt über Biographieverläufe von Heimatvertriebenen, das der Erlanger Soziologe Michael von Engelhardt mit Unterstützung des Sozialministeriums Anfang
der neunziger Jahre durchführen konnte, hat aufgezeigt:
Fremdheitserfahrungen und Konflikte zwischen den
Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und den
Neuankömmlingen, die in abweichenden kulturellen,
sprachlichen, mentalen und religiösen Traditionen begründet lagen, waren häufiger dort anzutreffen, wo
Altreichsdeutsche aus den Oder-Neiße-Gebieten zu
integrieren waren. Jedenfalls gab es bei der Eingliederung der Sudetendeutschen aufs Ganze gesehen weniger Probleme.
„Hierbei war offensichtlich das Verhalten beider Seiten von
entscheidender Bedeutung: Die Ausgrenzung oder Einbindung durch die einheimische Bevölkerung stand in einer
Wechselbeziehung zur Selbstausgrenzung oder Selbsteinbindung durch die Neuankömmlinge“.45
Eine Bestandsaufnahme von Neubürgern durch
das Bayerische Statistische Landesamt förderte denn auch
1950 zutage, dass die Sudetendeutschen häufiger angaben,
in Bayern bleiben zu wollen, als Angehörige anderer Vertriebenengruppen.46 Als Gründe hierfür nannten sie: „Sie
seien bereits eingewöhnt, sie fühlen sich den Bayern ver-
wandt, oder sie seien hier noch am nächsten ihrer Heimat“.47
Auch ein sudetendeutscher Sozialdemokrat wie Almar
Reitzner meinte rückblickend, er habe sich 1946 in
München wegen der bayerischen Lebensart niedergelassen,
die ihm als Deutschböhmen eher zusagte als die der „Welfen
und Hanseaten“.48 Dagegen äußerte jeder fünfte
Südostdeutsche und jeder zehnte Ostpreuße, gar an
Auswanderung aus Deutschland zu denken.49 „Es scheint so
zu sein“, hat auch Fritz Peter Habel formuliert, „dass die
Sudetendeutschen eher nach Bayern hineinpassten als in alle
anderen deutschen Bundesländer.“50
Hatte die unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft zur
Integration in der neuen bayerischen Heimat vielleicht
auch mit einer unterschiedlich großen Hoffnung auf
Rückkehr in die alte Heimat zu tun?
Hier gehen die Meinungen in der Forschung auseinander.
Laut der amerikanischen Historikerin Karen Gatz hätte die
Bereitschaft, das neue Leben im Westen als endgültig zu
akzeptieren und sich möglichst rasch voll zu integrieren, bei
den vertriebenen Reichsdeutschen eigentlich größer sein
müssen als bei den Deutschböhmen. Denn Schlesier und
Ostpreußen hätten 1944/45 oft eine Heimat in Flammen
verlassen, während die 1946 deportierten Sudetendeutschen
meist das Bild einer weitgehend unzerstörten Heimat im
Kopf gehabt hätten.51
Gegen diese Argumentation spricht indes, dass seitens der Sudetendeutschen Landsmannschaft früh die
Devise ausgegeben wurde, gerade die gute Integration sei
„eine unerlässliche Vorbedingung für die Rückkehr in die
Heimat“.52 Vor allem aber versprachen sich offenkundig die
Vertriebenen aus den preußischen Ostprovinzen, die formal
nur unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt
worden waren, von einem endgültigen Friedensvertrag eher
eine Heimkehr als die Sudetendeutschen. Denn das Münchner Abkommen von 1938, spätestens die Bezugnahme des
43 Anfangs, als das politische Schicksal der Oder/Neiße-Gebiete vor der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 noch nicht klar war, hatte
mancher in den vielleicht nur vorübergehenden Gästen aus dem deutschen Osten gar einen Ersatz für die (landwirtschaftlichen)
Zwangsarbeiter aus Osteuropa gesehen. Gatz, Expellees, S. 290.
44 Laubaner Gemeindebrief 11 v. 4. August 1946. Zit. n. Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 35.
45 Von Engelhardt, Biographieverläufe von Heimatvertriebenen, S. 57.
46 Bei den Sudetendeutschen äußerten sich 56,6 Prozent derart, bei den Schlesiern 40,9 Prozent und bei den nordostdeutschen Flüchtlingsgruppen ein Drittel der Befragten. Die Vertriebenen in Bayern, hg. v. Bayerischen Statistischen Landesamt (Beiträge zur Statistik Bayerns
151), München 1950, S. 34.
47 Ebd., S. 63 ff., auch S. 34.
48 Reitzner, Das Paradies, S. 131.
49 Pfeil (Fünf Jahre später, S. 92 f. ) erklärt dies damit, dass die betreffenden Gruppen in Bayern „am schwersten Fuß gefasst“ hatten und zudem über traditionelle verwandtschaftliche Beziehungen nach Amerika verfügten.
50 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 281. Die Ostpreußen demgegenüber ähnelten in Bezug auf Dialekt, Religion und andere kulturelle
Aspekte offensichtlich meist eher den Schleswig-Holsteinern. Gatz, Expellees, S. 245.
51 Ebd., S. 188; auch Pfeil, Fünf Jahre später, S. 93, ermittelte, dass bei den Sudetendeutschen die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat am
stärksten ausgeprägt war.
52 So Lodgman 1953, zit. n. Gatz, Expellees, S. 422.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Wahlplakat der CSU
Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in
Wahlplakat des BHE
Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschich-
Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in
te, Augsburg 2000, S. 16.
Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg 2000, S. 16.
Potsdamer Protokolls auf „Deutschland in den Grenzen
vom 31. 12. 1937“ hatte dies gezeigt, hielten ganz offensichtlich auch die Westmächte für gegenstandslos.53 Und allenfalls wenige wollten, nach den Erfahrungen der Jahre zwischen 1918 und 1938, erneut zu Bürgern eines tschechisch
dominierten Staates werden.
Allerdings dürften unterschiedlich ausgeprägte Rückkehrhoffnungen die Integrationschancen kaum wesentlich oder zumindest nur schwer messbar beeinflusst
haben. Wichtiger scheint dagegen ein anderer Punkt
gewesen zu sein: Die Sudetendeutschen waren, allen
Stammtischparolen zum Trotz, immerhin keine Preußen respektive „Saupreußen“, sondern als Alt-Österreicher sprachlich-kulturell so etwas wie Süddeutsche.54
Die große Gruppe der Egerländer und der Böhmerwäldler
zumal war schlicht und einfach aufgrund der siedlungsgeschichtlichen und geographischen Nachbarschaft zu Bayern in einer ungleich günstigeren Situation als die meisten
anderen Vertriebenen.55 So hatte es z. B. zwischen der oberfränkischen Gegend um Hof und Asch im Egerland schon
lange vor der Vertreibung enge wirtschaftliche und private
Kontakte gegeben; Rehauer Schüler etwa waren sogar
mehrheitlich auf das Gymnasium in Asch gegangen,
„grenzübergreifende“ Hochzeiten waren keine Seltenheit.
Als Fremde nahm man sich gegenseitig jedenfalls nicht
wahr.56 Zwar hatte es prozentual die meisten Sudetendeutschen ausgerechnet in das deutlich weiter von den böhmischen Ländern entfernte bayerische Schwaben verschlagen, wo sie nicht nur 50 Prozent wie im Landesdurch-
53 Vgl. hierzu auch Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund, S. 182.
54 Allerdings kam es durchaus vor, dass wie etwa im Landkreis Miesbach nicht nur die Schlesier, sondern selbst die katholischen sudetendeutschen Lehrer als „konfessionsfremde Preußen“ gebrandmarkt wurden, vgl. Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 143.
55 „Die Böhmerwäldler sprachen nicht anders als die Menschen im Bayerischen Wald, und der Egerländer war vom benachbarten Oberpfälzer
kaum zu unterscheiden“. Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 437.
56 Greim, In einer neuen Heimat, S. 39 f.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
schnitt, sondern 70 Prozent aller Heimatvertriebenen stellten,57 doch sind sie anscheinend auch dort zumindest etwas
besser zurecht gekommen als andere Vertriebenengruppen.58
Die populistische Bayernpartei (BP) trug dem
Rechnung, wenn sie zur Rettung des Freistaats vor einer
„Überfremdung“ durch die vielen Zugereisten aufrief.
Denn immerhin war die BP bereit, die Sudetendeutschen als
„stammesverwandt“ zu akzeptieren, die preußischen Schlesier wären dagegen, hätte die Bayernpartei dies zu entscheiden gehabt, vor allem im Ruhrgebiet angesiedelt worden.59
Wenige Wochen nach der Bundestagswahl 1949 stellte
die BP eilends einen entsprechenden Antrag, zu dessen
Begründung der Abgeordnete Franz Ziegler im Plenum
nochmals ausführte, dass „die Sudetendeutschen – nicht
alle, aber in der Hauptsache – und die Südostdeutschen
dem süddeutschen, also bayerischen Kulturkreis am
nächsten“ stünden; die „Nuancierungen“ innerhalb der
verschiedenen deutschen Stämme bei der anzustrebenden Flüchtlingsneuverteilung seien zu beachten. Auf
dem Wege der Freiwilligkeit werde hier „recht wenig zu
erreichen sein“.60
Äußerungen schlesischer Vertriebenenpolitiker über den
„echten Preußengeist“, der endlich auch in Bonn zu spüren
sein müsse, konnten die Bayernpartei in ihren Vorbehalten
nur noch bestärken.61 Der Vorstoß der BP, gegen den die
bayerischen Schlesier vehement protestierten, scheiterte
aber nicht zuletzt an dem Votum der CSU, die eine Umsiedlung nach landsmannschaftlichen Kriterien für unzweckmäßig hielt.62
Religion/Konfession und „Deutschtum“
als integrationshemmende
bzw. -fördernde Faktoren
Bedenkt man die in den Nachkriegsjahren noch enorme
Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit, so passten die
Die Heimatvertriebenen nach der Religionszugehörigkeit 1949 (in %)
Oberbayern
75,1
22,9
Niederbayern
66,3
33,0
Oberpfalz
70,8
28,2
Oberfranken
56,4
42,3
Mittelfranken
66,5
32,1
Unterfranken
74,5
24,7
Schwaben
80,7
17,7
Bayern
70,8
27,9
Katholiken
Protestanten
Tabelle aus: Maximilian Lanzinner, Zwischen Sternenbanner und Bundesadler.
Bayern im Wiederaufbau 1945-1958, Regensburg 1996, S. 95.
Sudetendeutschen tatsächlich am besten nach Bayern hinein. Gerade auch die anderen beiden Hauptaufnahmeländer
der zu über 90 Prozent katholischen Sudetendeutschen,
Hessen und Baden-Württemberg, waren demgegenüber
sehr viel stärker evangelisch geprägt als der Freistaat. Wie
sehr den katholischen Sudetendeutschen, trotz mancher
Vorbehalte sittenstrenger Geistlicher, ihre Konfession tendenziell zum Vorteil63 gereichte – wenn es sie nicht gerade
in die evangelischen Teile Mittel- und Oberfrankens verschlagen hatte –, zeigt ein Blick auf die überwiegend protestantischen Niederschlesier, die im ganz und gar katholischen Ostbayern neu anfangen mussten.
Der tiefgreifende Wandel des seit den Zeiten von Reformation und Gegenreformation im Wesentlichen fest
gefügten Konfessionsprofils etlicher bayerischer Regionen infolge der Aufnahme der Vertriebenen fiel in
Niederbayern drastischer aus als in allen übrigen Landesteilen. In diesem Regierungsbezirk waren vor dem
Krieg nur 1,7 Prozent der Bevölkerung evangelischen
Bekenntnisses gewesen, jetzt (1946) waren es plötzlich
gut zwölf Prozent.64
57 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 236.
58 Sallinger, Die Integration, S. 258.
59 Weger, „Volkstumskampf“, S. 18 f. Im Zusammenhang mit dem Bodenreformgesetz forderte 1947 der Kreisdirektor des oberbayerischen
Bauernverbandes und spätere Vorsitzende der Bayernpartei, Jakob Fischbacher, seine Anhängerschaft dazu auf, alle „Preußen“ aus Bayern
„hinaus[zu]werfen“ (Neumann, Die Medien, S. 53). Vgl. auch die nach den Erfolgen des BHE zu hörende Warnung der Bayernpartei vor
einem „preußisch-deutschen Rechtsradikalismus“. „Hilft den Heimatvertriebenen eine eigene Partei“, in: Münchner Merkur v. 19. Juli
1950.
60 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, Band 1, 12. Sitzung, 20. Oktober 1949, S. 290.
61 So der ehemalige schlesische Gutsbesitzer und DNVP-Politiker Friedrich von Kessel, der nach dem Krieg zu den Mitbegründern des BHE
in Niedersachsen zählte. Frenzel, Vom Block der Heimatvertriebenen, S. 184.
62 Koschny, Die Eingliederung, S. 75.
63 Als Beispiel hierfür sei der Landkreis Ebersberg genannt. Historischer Verein für den Landkreis Ebersberg (Hg.), Angekommen – angenommen?, S. 61.
64 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 169. Bis 1960 sank der Anteil aber wieder auf sieben Prozent. Koller, Die evangelische „Flüchtlingsdiaspora“, S. 24.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Auf der einen Seite ist bemerkenswert, dass viele katholische Ortsgeistliche den evangelischen Flüchtlingen nicht
nur Kapellen und Gemeindesäle zum Gottesdienst zur
Verfügung stellten, sondern sogar ihre Hauptkirchen. Und
als in einem ostbayerischen Dorf der erste verstorbene evangelische Flüchtling zu Grabe zu tragen war und der
Totengräber sich weigerte, seines Amtes zu walten, schritt
der katholische Ortspfarrer selbst ein und tat den ersten
Spatenstich.65
Auf der anderen Seite gab es aber auch ganz erhebliche
Konflikte. So mochte sich die ostbayerische Diözese
1947 einer Vereinbarung zwischen der Erzdiözese München-Freising, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche und dem Freistaat nicht anschließen, nach der
in konfessionellen Notstandsgebieten anstelle der Bekenntnisschulen konfessionell gemischte Schulen mit
Lehrkräften beider Konfessionen möglich sein sollten.
Vielmehr wurden die meist niederschlesischen evangelischen Kinder in Ostbayern weiterhin nur als „Gastschüler“
in katholischen Bekenntnisschulen geduldet.66 In der Folge
mussten viele bereits vom Staat angestellte evangelische
Flüchtlingslehrer wieder entlassen werden. Sie sahen sich
zur Abwanderung genötigt oder fanden in den 90 evangelischen Bekenntnisschulen Platz, die im Gegenzug in der
Region errichtet wurden.67
Neben dem interkonfessionellen Konflikt traf die
protestantischen Schlesier auch noch ein innerkonfessioneller Zwist. Er rührte daher, dass lutherische und reformierte
Kirchen vom preußischen Staat im 19. Jahrhundert zwangsweise „uniert“ worden waren, während die – vor allem fränkisch geprägte – bayerische Landeskirche durch und durch
lutherisch geblieben war. Unterschiedlich war zum Beispiel,
nicht hinsichtlich des Textes, aber doch seiner Vertonung,
die Liturgie:
„In Bayern sang man gregorianisch“, was den meist aus
Schlesien (und Ostpreußen) stammenden protestantischen Gemeindemitgliedern ganz katholisch vorkam.68
Nicht einmal die innerprotestantischen Verhältnisse entwickelten sich von Anfang an ungetrübt.
Als etwa der aus Schlesien vertriebene Geistliche Wolfram
Hanow kurz nach der Währungsreform 1948 in Fürnried
seine erste bayerische Pfarrstelle antreten wollte, wurde ihm
und seiner Frau der „Eingang in die Gemeinde fast unmöglich gemacht“. Flugblätter gegen Hanow kursierten, weil er
aus der preußisch-unierten Kirche stamme und nicht lutherisch sei. Bald darauf mahnte ihn der Oberkirchenrat fast
schon ab, nachdem Hanow angeblich das Heilige Abendmahl falsch ausgeteilt hatte. Erst allmählich brach sich in der
neuen Heimat die Erkenntnis Bahn, auf der Hanow stets
beharrt hatte: „Wir waren in Schlesien genauso lutherisch
wie in Bayern.“69
Dass daran wenigstens nicht alle protestantischen
Geistlichen im Freistaat zweifelten, zeigte ein Schreiben,
das im November 1949 den angeblich zu schlesierfreundlichen evangelischen Pfarrer von Feuchtwangen
erreichte. Ihm wurde vorgeworfen, „ständig nur diese
Heimatvertriebenen oder besser gesagt Preußen“ in
seinen Predigten hervorzuheben. Dadurch würden
„diese Preußen immer frecher“.
Die evangelische Kirche jedoch scheine dies deshalb in Kauf
zu nehmen, weil sie, wenn die schlesischen Protestanten
„aus Bayern hinauskämen“, auch viele Kirchensteuern verlieren würde.70
Ein weiteres Vorurteil bezog sich auf die angeblich
fragwürdige deutsche Ethnizität der Schlesier. Im niederbayerischen Kreis Griesbach wandte sich der Bezirksamtmann, alarmiert über den Zuzug aus den „halbslawischen
Ostgebieten“, 1946 in einem historisch irreführenden Aufruf an alle Bewohner. Dem Appell war z. B. an der Gemeindetafel zu Rottalmünster Folgendes zu entnehmen: „In
Schlesien regierten, wenn es auch äußerlich deutsche Sprache und deutsches Recht annahm, noch bis 1675 Herzöge
aus dem polnischen Königshaus der Piasten!“71
Bald bürgerte sich infolge solcher Geschichtsdeutungen
bei der bayerischen Bevölkerung der pejorative Ausdruck „Piasten“ als Synonym für „Flüchtlinge“ ein.
Auf entsprechende Stimmungen wurde wohl auch bei
der Bildung einer CSU/SPD/BHE-Koalition nach der
Landtagswahl im November 1950 Bezug genommen,
65
66
67
68
69
Ebd., S. 15 f.
Ebd.
Ebd., S. 22.
Ebd., S. 12.
Ebd., S. 147. Schon Mitte der fünfziger Jahre avancierte Hanow zum Dekan. Vgl. Wolfram Hanow, Weiß ich den Weg auch nicht, sowie
Landkreis Cham (Hg.), Die Eingliederung, S. 84.
70 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 152.
71 Süddeutsche Zeitung v. 15. März 1946, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 46.
18
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
als der schlesische SPD-Kandidat für das Amt des
Finanzministers, Dr. Franz Zdralek, von der CSU mit
der Begründung abgelehnt wurde: „[Die] bayerischen
Bauern müßten wenigstens den Namen des Mannes
aussprechen können, der ihnen das Geld aus der Tasche
zieht“.72
Die Haltung der CSU zu der Personalie war freilich auch
eine „Retourkutsche“, nachdem die SPD vorher den – extrem vertriebenenkritischen – CSU-Politiker Alois Hundhammer als Kultusminister abgelehnt hatte.73
Die Schlesier als die „größten Nazis“?
Auf ein weiteres, die Altreichsdeutschen tendenziell noch
etwas mehr als die Sudetendeutschen treffendes Problem
verwies der in den Nachkriegsjahren landauf, landab kursierende „Witz“: „Waren Sie PG? – Nein, ich bin aus Schlesien“.74
Da bei den Vertriebenen belastende nationalsozialistische Biographieanteile wegen der in diesen Fällen oft
besonders schwierigen bzw. sogar inexistenten Aktenlage seltener nachzuweisen waren, verfügten sie gegenüber den einheimischen NS-Parteigenossen bei der
Entnazifizierung offensichtlich über einen Vorteil.
Dies fiel vor allem in jenen fränkisch-evangelischen Regionen ins Gewicht, die schon während der zwanziger Jahre eine Art Urstromtal des Nationalsozialismus gebildet hatten75
und eine entsprechend hohe Zahl von belasteten PGs aufwiesen. Der deshalb verbreitete Eindruck, der öffentliche
Dienst würde infolge einer ungerechten Entnazifizierung
mehr und mehr in „ostdeutsche Hände“ übergehen, artikulierte sich Ende 1945 drastisch im Leserbrief eines Kulmbachers an die Frankenpost unter der Überschrift: „War
Gauleiter Hanke der einzige Pg in Schlesien?“
Der „ganze bayerische Behördenapparat, das öffentliche
Leben und die Geschäftswelt“, so hieß es, würden „besonders in Nordbayern von der schlesischen Einwande-
rung in einer Art und Weise überschwemmt, dass sie in
keinem Verhältnis mehr zu dem wirklichen Prozentsatz
dieser ‚neuen Bayern‘“ stünde.
Ob „die vielen Schlesier tatsächlich früher alle Antinazis“
gewesen seien, war für den Kulmbacher „die große Frage“.76
Tatsächlich war in den ersten Nachkriegsjahren
zum Beispiel in vielen bayerischen Schulbezirken die Hälfte
aller Volksschullehrer Vertriebene.77 Spätere Forschungsarbeiten über die Flüchtlingslehrerschaft legen zudem den
Schluss nahe, dass das Phänomen der „Fragebogenfälschung“ bei den vertriebenen Beamten zumindest „häufiger
anzutreffen“ war als bei den einheimischen.78 Vor diesem
Hintergrund ist wohl auch die rigorose Äußerung eines
fränkischen Bürgermeisters zu erklären, die er einem aus
Breslau stammenden Angestellten Anfang 1947 entgegenschleuderte: „Ich lehne es grundsätzlich ab, Flüchtlinge […]
einzustellen.“ Alle freiwerdenden Stellen in der Stadtverwaltung würden mit Einheimischen besetzt.79
Ein halbes Jahr nach der Attacke gegen die schlesischen PGs wurde in der Frankenpost eine noch aggressivere Meinung abgedruckt, die von einem „bayerisch-schlesischen Klassenkampf“ schwadronierte. Dass „der Schlesier“
als Beamter oder noch häufiger als Treuhänder von Firmen
entnazifizierter Unternehmer „Macht über die Einheimischen“ gewinne, sei „heute“ derart verbreitet, „dass er seine
bayerischen Gastgeber nach Lust und Laune schikanieren“
könne.
Bayerischerseits würde indes vermutet, „dass der soziale
Aufstieg der Schlesier in vielen Fällen auf einer gelinden
Korrektur des Fragebogens“ beruhe.80 In der Redaktion
der Frankenpost erklärte man sich die Ressentiments
gegen die Schlesier auch mit dem „traditionellen bayerisch-preußischen Gegensatz“.81
Nicht nur in Franken, sondern auch in Südbayern fiel den
amerikanischen Besatzungsbehörden jedenfalls auf, dass
„eine gewisse Spannung, die zwischen Einheimischen und
‚Preußen’ aufgrund traditioneller Unterschiede existiere“,
durch den Verdacht verstärkt werde, dass die „Preußen“
72 Werner, Im Dienst der Demokratie, S. 111.
73 Hundhammer stellte sich zum Beispiel auch gegen die Bemühungen von Flüchtlingskommissar Jaenicke, die Vertriebenen „zur
Artikulation und Durchsetzung ihrer kulturellen Interessen institutionell zu organisieren“. Pohl, Zwischen Integration, S. 69.
74 Schlesische Rundschau, Juli 1949.
75 Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik.
76 Frankenpost, 13. November 1945, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 47.
77 So Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 363, mit Bezug auf das Stichjahr 1948.
78 Ebd., S. 133.
79 Haerendel, Berufliche Mobilität, S. 153.
80 Frankenpost, 11. Mai 1946, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 51.
81 Ebd., S. 49.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
19
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Vorteile aus der Schwierigkeit schöpften, ihre Vergangenheit zu überprüfen.82
Dass sich das Stereotyp vom Entnazifizierungsgewinnler besonders stark auf die „Preußen, die jetzt als
Flüchtlinge nach Bayern kommen“,83 konzentrierte,
kann bei vordergründiger Betrachtung überraschen.
Schließlich gab es in keiner altreichsdeutschen Provinz
einen höheren Anteil von NSDAP-Mitgliedern an der
Bevölkerung als im 1938 angegliederten Sudetenland,
wo der massenhafte Übertritt von der über eine Million
Mitglieder zählenden Sudetendeutschen Partei Konrad
Henleins zur NSDAP vor allem auch ein Votum für
den Anschluss bedeutet hatte.
Doch kam den Sudetendeutschen womöglich doch ein wenig zugute, dass sie als „Beutedeutsche“ erst seit 1938 zum
Reich zählten und bei aller damals gezeigten Euphorie über
das Ende der tschechischen Herrschaft in ihrer Heimat für
die Urkatastrophe, die Machtergreifung der NSDAP im
Jahr 1933, bei Lichte besehen nicht verantwortlich gemacht
werden konnten.
Abbildung: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in
Bayern. Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschich-
Diesen in der Bevölkerung verbreiteten Ressentiments
gegen die angeblichen ostdeutschen „Ober-Nazis“, wie
sie sich in anonymen Texten, aber auch in Form von
Leserbriefen immer wieder zeigten, traten die Lizenzzeitungen entschieden entgegen: Es sei keineswegs „ausschließlich die Schuld dieser Schlesier und Preußen, dass
sie jetzt als Heimat- und Obdachlose“ nach Bayern
kämen; es handele sich um „Deutsche, die in ihrer historischen Not zu Deutschen“ kämen, „und nicht etwa um
schuldbeladene Preußen, die unschuldige Bayern zu
einer ungerechtfertigten Gastfreundschaft verpflichten“ würden.84
Trotz derartiger Aufklärungsarbeit hielt es die Schlesische
Rundschau aber noch 1949 für nötig, eine Liste zu veröffentlichen, die für jeden Gau das Verhältnis zwischen
NSDAP-Mitgliedern und der übrigen Bevölkerung angab
und aufzeigte, dass Schlesien dabei reichsweit einen der hintersten Plätze eingenommen hatte.85 Zwei Jahre später
te, Augsburg 2000, S. 26.
konnte der Heimatbrief einer Riesengebirgsgemeinde im
Bericht über ein Schlesiertreffen in München aber schon
teilweise Entwarnung signalisieren: Zumindest unter den
einheimischen Bewohnern der Landeshauptstadt scheine
der „Saupreiß […] ausgestorben“ zu sein.86
Anderer Dialekt und Urbanität als
Integrationshemmnis?
Vermochte das „Ober-Nazi“-Argument in der Sache wenig
zu überzeugen, so waren die mundartlichen Unterschiede,
die zwischen Schlesiern und Bayern meist größer waren als
zwischen Bayern und Sudetendeutschen, nicht wegzudiskutieren. In einer Studie von Astrid Pellengahr und Helge
Gerndt über „Vereinswesen als Integrationsfaktor“87 wird
ein Informant zitiert, demzufolge die vertriebenen Sudetendeutschen aus dem Erzgebirge „sehr gut mit den Einheimi-
82 Sallinger, Die Integration. S. 103 f.
83 Frankenpost, 7. Mai 1947, zit. n. Neumann, Die Medien, S. 49. Als drastisches Beispiel für die Gleichsetzung von „Preussischen und böhmischen Nazibanditen“ sei ein anonymer, im März 1948 in Furth im Wald aufgegebener Brief an den Kreisflüchtlingsausschuss in Cham
zitiert: „Der Amerikaner fordert Ausrottung des Nazisystems und wir sollen Euch Preussisch, Böhmische Nazilumpen aufnehmen [...]“.
Prinz, Integration und Neubeginn, S. 972 f.
84 Frankenpost, 8. Dezember 1945. Zit. n. Neumann, Die Medien, S. 50. Mit ähnlichem Tenor schlugen auch andere bayerische Zeitungen
immer wieder große historische Bögen, um auf die engen „verwandtschaftlichen“ Beziehungen auch zwischen Schlesiern und bayerischer
Bevölkerung aufmerksam zu machen. Ebd., S. 47.
85 Schlesische Rundschau, Juli 1949, S. 2.
86 Heemtaglöckla 20 (Oktober 1951), zit. n. Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 36.
87 Pellengahr/Gerndt, Vereinswesen als Integrationsfaktor.
20
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Abbildung: Herbert Houswitschka/
Gunthild Houswitschka, Die Integration der Heimatvertriebenen und
Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg. Dokumentation für den Landkreis Tirschenreuth, Tirschenreuth
1995, S. 153.
schen harmoniert“ hätten, während sich die „Schlesier nicht
so schnell angefreundet“ hätten: „Das warn dann doch a
bißl andere Leut wie wir. Schon allein vom Dialekt her“.88
Auf einen damit zusammenhängenden Sachverhalt
hat Paul Erker in einer Studie über Landkreise im agrarischen Westen Mittelfrankens hingewiesen:89
„Vor allem die Schlesier waren ausgesprochene Städter
gewesen, die nun aufs Land verschlagen wurden. Diesen
Flüchtlingen schlug oft Ablehnung entgegen, weil sie
mit ihrem urbanen Lebensstil als Repräsentanten einer
fremden Lebensform erschienen, die das einheitliche
Gepräge des Dorfes zerstörte“.90
Zwar waren auch die nach Bayern kommenden Sudetendeutschen, ebenso wie die Schlesier, nur zu einem Drittel
dörflich-kleinstädtisch geprägt, doch die „urbane“ Prägung
einer Mehrheit der Deutschböhmen war zumindest nicht
gleich großstädtischer Art.91 Dagegen waren überproportional viele Schlesier aus der Metropole Breslau nach Bayern
gekommen,92 während die Bewohner der niederschlesischen Gutsdörfer eher in nördlichere Regionen Deutsch-
88 Ebd., S. 122. Zum Thema der sprachlichen Integration am Beispiel Neugablonz vertiefend: Holuba, Zwischen Identitätsbewältigung und
Anpassung.
89 Erker, Vom Heimatvertriebenen zum Neubürger.
90 Ebd., S. 35.
91 Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 7 f.
92 28 Prozent der „bayerischen“ Schlesier, so weiß es die Statistik, kamen aus „Gemeinden über 100.000“ Einwohner, nur 7,3 Prozent aus der
Landwirtschaft; dagegen waren deutlich mehr Schlesier als Sudetendeutsche in der alten Heimat Beamte oder Angestellte gewesen. Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 8 f. , 10 f.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
21
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
schwäbischen Dialekt übernommen habe.95 Aus dem bayerischen Schwaben sind auch Aussagen junger Ungarndeutscher überliefert, wonach sie „durch ihre Sprachschwierigkeiten nicht sofort den guten Kontakt zu einheimischen
Kindern herstellen“ konnten „wie die Sudetendeutschen“.96
Wie bedeutsam der Faktor Sprache für die „sozialgesellschaftliche“ Integration der Vertriebenen generell war,
hat eine Studie von Jörg Maier und Germano Tullio
bestätigt. Die Sudetendeutschen zählten demnach in
Bayern zu der Gruppe mit den wenigsten, Ostpreußen
und Pommern zu dem Typus mit größeren Schwierigkeiten, die Schlesier lagen in der Mitte.97
Ein von Vertriebenen aus der schwäbischen Türkei betriebener
Kaffeeladen
Foto: Friedrich Prinz, Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Bayern.
Versuch einer Bilanz nach 55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg 2000, S. 21.
lands flohen.93 Die schlesische Flüchtlingsbevölkerung, so
resümierte darob das Bayerische Statistische Landesamt,
„stellt also, anders als die sudetendeutsche, keinen Querschnitt durch die Gesamtheit der ehemaligen Provinz Schlesien dar, sondern eine bestimmte Auslese“.94
In Berichten der amerikanischen Behörden ist im
Zusammenhang mit bayerisch-ostdeutschen Differenzen
sogar von Kämpfen zwischen einheimischen und sogenannten „preußischen“ Schulkindern die Rede. Ein junger Westpreuße erzählte „von zerfetzter Kleidung und Prügeln“, die
er von einheimischen Jugendlichen bezogen habe. Diese
hätten sich „an seiner hochdeutschen Sprache und seiner [...]
sehr spitzen Mundart gestört“. Das Verhältnis zu den einheimischen Jugendlichen habe er nur durch „eigene Diplomatie“ sowie dadurch verbessern können, dass er den
Auch bei ihnen aber schritt die sprachliche Anpassung bei
den Jugendlichen so rasch voran, dass diese etwa bei einem
Treffen der niederschlesischen Laubaner 1954 zum Adressaten eindringlicher Appelle wurden: Sie sollten die schlesische Mundart gut pflegen, denn erst wenn diese vergessen
sei, „sei Schlesien verloren“.98
Wirtschaftliche Integrationsunterschiede
Erschwerend kamen für Schlesier wie für Ostpreußen
größere Integrationsschwierigkeiten wirtschaftlicher
Art hinzu. Während die Ostpreußen in Bayern nun
einmal beim besten Willen nicht – anders als in Kiel –
an die Tradition ihrer See- und Küstenfischerei anknüpfen konnten99 und auch bedeutende Teile der schlesischen (Schwer-)Industrie in einem hohen Maße standortgebunden waren, galt dies für die wichtige sudetendeutsche Leichtindustrie deutlich weniger.
Eine Glasfabrik lässt sich eben, anders als ein Bergwerk, zur
Not auch andernorts wieder aufbauen. Jedenfalls stellten
die Sudetendeutschen bald schon den größten oder zumin-
93 Fromm, Eingliederung der Heimatvertriebenen, S. 73; Greim, In einer neuen Heimat, S. 37. Wie unterschiedlich im Einzelfall jedoch die
Wege der Niederschlesier nach Westen waren, erhellt aus der Schilderung von Karl-Heinz Pfennig (heute Wolfratshausen) aus dem kleinen
Dorf Bartsch-Kulm im Landkreis Wohlau (Bezirk Liegnitz). Im Alter von 14 Jahren floh er mit Mutter und Schwester zunächst auf eigene
Faust über Görlitz nach dem sudetendeutschem Leitmeritz, um sich nach Kriegsende von dort wieder nach dem niederschlesischen Heimatort durchzuschlagen. Bald darauf von polnischer Miliz endgültig vertrieben, fand er zunächst im Brandenburgischen Zuflucht, fuhr aber
zwei Jahre später in das mittelfränkische Schwabach weiter, wo zunächst ein Bruder des Vaters, dann dieser selbst Arbeit gefunden hatte.
Die Familienzusammenführung war in diesem Fall durch Verwandte in Hannover erleichtert worden. Zeitzeugengespräch mit Karl-Heinz
Pfennig am 30. März 2009.
94 Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 9.
95 Sallinger, Die Integration, S. 258.
96 Ebd., S. 258.
97 Maier/Tullio, Die soziale und wirtschaftliche Eingliederung, S. 123. Kaum weiterführend ist es dagegen, die Niederschlesier zusammen mit
Brandenburgern, Sachsen und Thüringern einem Neubürger-Typus zuzurechnen, der in ökonomischer und sozialgesellschaftlicher
Hinsicht den „höchsten Integrationsgrad“ aufwies (so ebd., S. 123). Denn die nicht stoßweise, sondern in einem mal dünneren, mal breiteren Strom aus der SBZ/DDR fliehenden Mitteldeutschen hatten natürlich ungleich günstigere Eingliederungschancen als die Ostdeutschen.
98 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 46.
99 Kossert, Kalte Heimat, S. 119.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
dest auffälligsten Teil der vertriebenen Betriebsinhaber in
Bayern,100 und zwar selbst in Regionen mit eigentlich höherem Schlesieranteil wie im Landkreis Bayreuth101 oder im
Coburger Raum.102 Landesweit stachen die berühmten Verdichtungszentren ins Auge, wie sie mehrheitlich von Sudetendeutschen in Geretsried, Neugablonz, Neutraubling
oder Waldkraiburg – „im wesentlichen Unterschied […] zu
anderen Vertriebenen“103 – als kleine Spiegelbilder der Verhältnisse in der alten Heimat aufgebaut werden konnten.104
Rein sudetendeutsch waren zwar auch diese Ansiedlungen
nicht, doch betrug etwa in Waldkraiburg noch 1960 der
Anteil der Vertriebenen aus den böhmischen Ländern über
60 Prozent.105 Zumindest ansatzweise gelang hier, was die
Sudetendeutsche Hilfsstelle schon im Oktober 1946 einer
Denkschrift als Prämisse vorangestellt hatte: die Evakuierung „von vorneherein nach dem Strukturbild des geschlossenen Lebensganzen der Deutschen in der Tschechoslowakei“ durchzuführen.106
Auf etwas Vergleichbares wie die Sudetendeutsche
Hilfsstelle, die sich schon während der „wilden Vertreibungen“ im Sommer 1945 und mithin deutlich vor dem großen
„Odsun“ des Jahres 1946 in München gegründet hatte, nicht
nur um „karitative Betreuung“, sondern auch „geregelte
Um- und Ansiedlung“ und „Einschaltung in den Arbeitsprozess“ zu besorgen,107 konnten die Ostpreußen in Bayern
ebenso wenig zurückgreifen wie die Schlesier. Erst nachdem
die meisten schon im Westen angekommen waren,108 hatte
sich unter Führung des Ostpreußen Linus Kather und anderer überwiegend ostpreußischer und schlesischer Vertriebener im Juni 1945 in Hamburg die Notgemeinschaft der
Ostdeutschen gebildet, die sich allerdings um alle Vertriebenengruppen in der Britischen Zone kümmern wollte. Ein
spezielles Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus
Ostpreußen entstand in Norddeutschland im Rahmen des
älteren Evangelischen Hilfswerks im Juni 1947 (ab 1949 in
Beienrode), „significantly later than some Sudeten German
self-help groups“,109 mit dem Ziel der Pflege religiöser und
kultureller Bindungen, der Unterstützung bei der Suche
nach Angehörigen und der Förderung der Integration
durch Maßnahmen der Selbsthilfe.
Der vergleichsweise frühere Zeitpunkt der Flucht
erwies sich für Ostpreußen und Schlesier mithin als Nachteil hinsichtlich der Möglichkeit auch ökonomisch gezielterer Ansiedlung. Wenngleich weniger auffällig, trug indes
auch altostdeutscher Gewerbefleiß zum wirtschaftlichen
Aufstieg des Freistaates nach 1945 bei.
Denn bei „den Inhabern von Flüchtlingsbetrieben
mit 5 oder mehr Beschäftigten“ waren die Vertriebenen
aus Ostdeutschland Ende der vierziger Jahre mit
27 Prozent vertreten, was ungefähr ebenso ihrem
Bevölkerungsanteil an den Neubürgern entsprach
wie der statistische Befund für die sudetendeutschen
Betriebsinhaber (52 Prozent).110
Ohne Anspruch auf Repräsentativität seien beispielhaft nur
einige Niederschlesier genannt wie der Bauunternehmer
Gerhard Schulwitz aus Haynau (im Bezirk Liegnitz), der
nach Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft
zunächst in Tirschenreuth als Zimmerermeister arbeitete,
um 1954 abermals ein Baugeschäft zu eröffnen, oder Otto
Schelske, der Friseurmeister aus Löwenberg, der nach dem
Wiederfinden seiner Familie im Landkreis Kemnath erneut
einen Salon aufbaute,111 oder auch der aus Waldenburg
stammende Tischlermeister Helmut Seidel, der seit den
fünfziger Jahren die Ostbayerischen Tisch- und Möbelwer-
100 Zur Größenordnung: Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern, S. 35.
101 Landkreis Bayreuth (Hg.), Dokumentation der wirtschaftlichen Aufbauleistung, S. 69 ff. Hier findet sich zum Thema der Entwicklung
von Industrieunternehmen unter den sechs präsentierten Beispielen kein einziges schlesisches, sondern meist sudetendeutsche sowie mitteldeutsche.
102 Fromm, Eingliederung, S. 74, erwähnt unter den größeren Flüchtlingsbetrieben drei sudetendeutsche und einen schlesischen.
103 Pscheidt, Zur Integration der Sudetendeutschen, S. 209. Als weiterer Name unter den neuen Vertriebenenstädten im Freistaat ist zudem
Traunreut in Oberbayern zu nennen.
104 Gatz, Expellees, S. 287, spricht von einer „significant proportion of Sudeten German industry“, die erfolgreich in die Westzonen
Deutschlands hätte transferiert werden können. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Gablonzer Schmuckwarenindustrie, die in
Neugablonz/Kaufbeuren wieder errichtet wurde. Anders als etwa im späteren Baden-Württemberg sträubte sich die Militärregierung in
Bayern „nur wenig gegen solche Siedlungsprojekte“. Krauss, Die Integration Vertriebener. S. 55.
105 15 Prozent waren Bayern, das restliche Viertel bestand aus Schlesiern und anderen Gruppen (Hösch, Waldkraiburg). Der heutige CSUBürgermeister des Ortes, Siegfried Klika, ist das Kind eines Egerländers und einer Niederschlesierin, vgl. Bayernkurier v. 13. Juni 2009
(„Erinnerung an die alte Heimat“), S. 7.
106 Pscheidt, Zur Integration der Sudetendeutschen, S. 203.
107 Weger, „Volkstumskampf“, S. 74. Nach ihrer Auflösung durch die Militärregierung am 1. Juni 1946 konnte die Arbeit in der privatrechtlichen Wirtschaftshilfe GmbH fortgesetzt werden.
108 Zum weiteren Ablauf der Vertreibung aus Ostpreußen bis ca. 1950 vgl. die Skizze bei Gatz, Expellees, S. 159.
109 Gatz, Expellees, S. 357. Vgl. auch ebd., S. 345, sowie Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene.
110 Unter „übriges Ausland“ meldet die Statistik 14 Prozent, unter „Vier-Zonen/Berlin“ sieben Prozent. Bayerisches Statistisches Landesamt,
Die Vertriebenen in Bayern, S. 35.
111 Houswitschka, Die Integration der Heimatvertriebenen, S. 198 f., 202 f.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
ke (OTM) in Neutraubling aufbaute und sie u.a. durch die
Erfindung des höhenverstellbaren Couchtisches zu einem
Unternehmen mit Umsätzen im dreistelligen Millionenbereich machte.112 Der Breslauer Fabrikant Richard Blokesch,
der 1948 seine traditionsreiche schlesische Likörfabrik in
Nürnberg wieder zum Leben erweckt hatte, war sogar
Vorsitzender des Landesverbandes der heimatvertriebenen
und mitteldeutschen Wirtschaft.113
Als Exempel für die wirtschaftliche Wiederaufbauleistung vieler kleinerer Vertriebenengruppen sei nur der
Fuhrunternehmer August Rambock aus Wormditt im ostpreußischen Ermland erwähnt. Zu Beginn der russischen
Winteroffensive 1945 hatte er sich mit zwei Bussen, vollgestopft mit Flüchtlingen, gerade noch rechtzeitig auf den
Weg gemacht. Eines der Fahrzeuge blieb zwar auf der Strecke, doch mit dem anderen, einem Magirusbus, kam die Familie auf der Suche nach Ersatzteilen in das bayerischschwäbische Holzheim bei Neu-Ulm. Dort nahm die Firma
Rambock schon bald den Personenverkehr von Holzheim
nach Ulm auf und eröffnete 1957 auch die erste Tankstelle
im Ort.114
Insgesamt erwies sich die wirtschaftliche Integration
der Ostpreußen allerdings als besonders schwierig, weil
sie aus einer der am stärksten agrarisch – und im Übrigen, anders als das Klischee es will, keineswegs nur
gutsherrschaftlich – strukturierten Provinzen des Reiches kamen und die Landwirte zu den am schwierigsten
zu integrierenden Berufsgruppen der Vertriebenen
zählten.115
Unter den 115.000 Menschen, die 1952 nach dem Flüchtlingssiedlungsgesetz in der Bundesrepublik wieder ihrem
alten bäuerlichen Beruf nachgehen konnten, waren die Ostpreußen mit fast 20 Prozent deutlich überrepräsentiert.116
Da an eine revolutionäre Bodenreform unter den freiheitlich-demokratisch-kapitalistischen Rahmenbedingungen
des westdeutschen Staates aber nicht zu denken war, mussten sich auch viele frühere Bauern als Knechte oder Mägde
verdingen oder als Industriearbeiter eine neue Existenz aufbauen.117 Auffallend viele Ostpreußen eröffneten kleine
Hans Schütz
Foto: Böse/Rolf-Josef Eibicht (Hg.),
Die Sudetendeutschen. Eine Volksgruppe im Herzen Europas. Von der
Frankfurter Paulskirche zur Bundesrepublik Deutschland, Dießen 1989,
S. 92.
Läden, Restaurants, Gästehäuser oder Handwerkerfirmen
im Familienbetrieb.118
Für die Ostpreußen in Bayern war nicht zuletzt
ihre geringe Zahl problematisch hinsichtlich der Wahrung
ihrer Identität. Denn selbst dort, wo sie eine zunächst führende Rolle bei der Gründung von Flüchtlingssiedlungen
spielten, verloren sie unter Umständen rasch an Sichtbarkeit, weil „die meisten Siedler“ in der neuen Gemeinde bald
doch wieder „aus dem Sudetenland oder anderen Teilen
Osteuropas kamen“.119 Als Beispiel mag die Siedlung Hinrichssegen bei Bad Aibling im Landkreis Rosenheim dienen.
Eine kleine Gruppe von Ostpreußen hatte hier mit Unterstützung der lokalen Behörden eine Mustergemeinde begründet, die nach dem Vorbild ihrer Heimat Industrie und
Agrarökonomie in Form einer Volltuchfabrik und landwirtschaftlicher Nebenerwerbsstellen verband. Ein Heim
für Waisenkinder kam hinzu. Der ostpreußische Charakter
der Siedlung ging indes schnell verloren, weil die meisten
zuziehenden Neubürger sudetendeutscher oder anderer
Herkunft waren.120
Auch die Statistik bestätigt, dass die Ostpreußen
zusammen mit anderen „Nordostdeutschen“, die oft schon
vor Kriegsende oder bald danach als Flüchtlinge in kleineren Gruppen oder als Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft nach Bayern gekommen waren, generell zu jenen
Vertriebenengruppen gehörten, die in Bayern am seltensten
112 Manager magazin 10/1991, vom 1. Oktober 1991, S. 160 ff.
113 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 303. Vgl. auch die Reihe erfolgreicher schlesischer Firmengründungen im Coburger Raum bei
Fromm, Eingliederung, S. 77 ff.
114 Zenetti, Dokumentation über die Heimatvertriebenen, S. 187.
115 Am oberfränkischen Beispiel bestätigt dies auch die Publikation von Greim, In einer neuen Heimat, S. 36.
116 Gatz, Expellees, S. 310.
117 Ebd., S. 312.
118 Ebd., S. 304.
119 Ebd., S. 291.
120 Vgl. auch: Das Ostpreußenblatt, September 1952, S. 3; Karasek-Langer, Neusiedlung in Bayern nach 1945, S. 52. Mit einer
Ermländersiedlung in der Eifel geschah Ähnliches wie in Hinrichssegen.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
im größeren Stil angesiedelt wurden. Bei den Sudetendeutschen war dies am häufigsten der Fall; eine mittlere Position
nahmen auch in dieser Hinsicht die Schlesier ein.121 Wie
wichtig der Integrationsfaktor Ansiedlung naturgemäß war,
betont etwa ein Bericht des Bürgermeisters von Traunstein,
der 1953 beobachtete, wie die „sonst so rührigen Egerländer“ sich „hier auch nicht entfalten, weil eben nur wenige
Personen aus dem Egerland hier wohnen“.122
Offensichtlich war es für Vertriebene, die verstreut angesiedelt worden waren, „sehr viel schwerer, ihre Heimatkultur zu bewahren und im Alltag zu praktizieren
als in den geschlossenen Siedlungen. Hier waren Angleichungen, Verschleifungen und Verluste eine häufige
Folge.“123
Größere Verdichtungszentren entstanden auf ostpreußischer Seite jedenfalls nicht nur deshalb in Bayern nicht, weil
die östlichste Provinz des Reiches ohnehin viel weniger
industrialisiert gewesen war als das Sudetenland und weil
die Standortvoraussetzungen für die ostpreußischen Wirtschaftsformen im Freistaat so nicht gegeben waren.124 Sie
konnten sich vielmehr auch deswegen nicht entwickeln,
weil die Ostpreußen in Bayern – wie übrigens auch in anderen Ländern – weniger stark konzentriert waren. Vergleichbare Verdichtungen einer Vertriebenengruppe in einem
Land wie im sudetendeutsch-bayerischen Fall gab es sonst
nur noch in Hessen, wo aber ebenfalls die Deutschen aus
den böhmischen Ländern unter den Vertriebenen die Hälfte
ausmachten.
Die Ostpreußen stellten 1950 mit etwa einem Drittel den größten Anteil in Schleswig-Holstein, hatten aber
gleichsam das Pech, dass es dorthin ebenso viele Pommern
verschlagen hatte, über die im Jahr 1954 die Kieler Landesregierung auch die Patenschaft übernahm. In Niedersachsen
und Nordrhein-Westfalen betrug das ostpreußische Kontingent nur ein Viertel, in den anderen Flächenländern lag es
weit darunter.125 Nachdem Bemühungen um eine Patenschaftsübernahme durch Nordrhein-Westfalen bzw. gar
durch den Bund in den fünfziger und sechziger Jahren
gescheitert waren, fanden die Ostpreußen erst sehr spät,
1978, im Freistaat Bayern einen Schirmherrn.126
Auch die Schlesier waren stärker verstreut worden
als die Sudetendeutschen. Die Mehrheit der zwei Millionen
in die Westzonen bzw. die Bundesrepublik kommenden
Schlesier, 700.000 Menschen, wurde in Niedersachsen untergebracht; erst dahinter folgten Nordrhein-Westfalen mit
einer halben Million und knapp danach Bayern. Dem Siedlungsschwerpunkt Rechnung tragend, übernahm im Oktober 1950 die damals SPD-geführte niedersächsische Landesregierung (als Flüchtlingsminister gehörte ihr der niederschlesische „rote Pastor“127 Heinrich Albertz an) die Patenschaft für die Landsmannschaft Schlesien.
Schlesisch-sudetendeutsche Parität in
der Politik der ersten Nachkriegsjahre
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die gesellschaftliche Eingliederung der Heimatvertriebenen im Falle der Menschen
aus den preußischen Ostgebieten in Bayern tendenziell
noch etwas schwieriger war als im ebenfalls nicht einfachen
sudetendeutschen Fall. Es stellt sich die Frage, ob dies auch
eine Entsprechung im politischen Bereich, bei der Vertretung in Parteien und Parlamenten, wichtigen Ämtern und
Gremien oder in dem für die öffentliche Wahrnehmung
zentralen Medium Bayerischer Rundfunk gezeitigt hat.
Die Antwort muss differenziert ausfallen.
Die erste vertriebenenpolitische Schlüsselposition, das
Amt des bayerischen Staatskommissars für Flüchtlingsfragen, übernahm Ende 1945 ein gebürtiger Schlesier:
der evangelische Breslauer Bürgermeistersohn (und
dort selbst 1919 zeitweiliger Regierungspräsident)
Wolfgang Jaenicke.128
Die Personalie trug auch dem Umstand Rechnung, dass
damals einstweilen noch mehr Schlesier als Sudetendeutsche in Bayern lebten. Erst nachdem Jaenicke Anfang 1947
zum Staatssekretär befördert worden war, wurden dem parteilosen früheren DDP-Politiker129 zwei Sudetendeutsche,
der Sozialdemokrat Richard Reitzner und der ChristlichSoziale Franz Ziegler, als politische Stellvertreter an die Sei-
121
122
123
124
125
126
127
128
Die Vertriebenen in Bayern, hg. v. Bayerischen Statistischen Landesamt, München 1950, S. 27.
Pohl, Zwischen Integration, S. 119.
Ebd., S. 474.
Vgl. hierzu auch Greim, In einer neuen Heimat, S. 37.
Reichling, Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik, S. 24.
Kittel, Vertreibung der Vertriebenen, S. 77 f.
Grebing, Flüchtlinge und Parteien in Niedersachsen, S. 64.
1930–1932 war Jaenicke auch Reichstagsabgeordneter für die DDP bzw. die Deutsche Staatspartei gewesen. Seit 1936 hatte er in der inneren Emigration in Oberbayern gelebt und war 1945 noch von der SS verfolgt worden. Glettler, Landtagsreden, S. 670 f. Die Heimatverbundenheit Jaenickes drückte sich auch darin aus, dass er sich im Beirat des Schlesier-Verbandes Bayern engagierte. Pohl, Zwischen
Integration, S. 59.
129 Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) war eine (links-)liberale Partei in der Zeit der Weimarer Republik.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
te gestellt.130 Im Hauptausschuss der Flüchtlinge und Ausgewiesenen, der sich im Juli 1946 konstituierte und als wichtigste Vertriebenenvertretung in Bayern eng mit der bayerischen Regierung und dem Landtag zusammenarbeitete,131
gab es ebenfalls ein sudetendeutsch-schlesisches Personalpaket: 1. Vorsitzender wurde das sudetendeutsche CSUMitglied Hans Schütz, 2. Vorsitzender der schlesische Sozialdemokrat Willibald Mücke.132 Nachdem gleich bei der
ersten Sitzung festgestellt worden war, dass es „nicht genüge, vier Sudetendeutsche und vier Schlesier zu berufen“,133
gehörten dem Hauptausschuss künftig neben acht Sudetendeutschen fünf Schlesier sowie je ein Vertreter der DeutschBalten und der Südostdeutschen an.134
Eine ähnliche Quote, nämlich „5:3:1 für Flüchtlinge
aus dem Sudetenland, aus den Gebieten östlich der
Oder und Neisse und den übrigen Flüchtlingen“, gab
es laut Flüchtlingsgesetz zur Wiedereingliederung der
Vertriebenen in den öffentlichen Dienst.
Doch der für die bayerische FDP im Bundestag sitzende
Donauschwabe Josef Trischler (aus dem jugoslawischen
Boroc) sah 1950 Anlass, sich über die „völlig ungleichmäßige Behandlung der einzelnen Flüchtlingsgruppen“ zu beschweren. Vor allem die kleineren Landsmannschaften hätten den ihnen zustehenden Anteil bislang nur zu fünf Prozent erreicht. Die beiden größeren Gruppen der Sudetendeutschen und Schlesier lagen demnach mit 50 Prozent aber
etwa gleichauf.135
Dass die Vertriebenenpolitik im frühen Nachkriegsbayern noch auf einer ausgeprägten Balance zwischen
den beiden größten Herkunftsverbänden, Sudetendeutschen und Schlesiern, ruhte, dokumentierte im Juli 1947 der
Antrag der – zwar in München geborenen, aber zuletzt in
Stettin wohnhaften und von dort ins unterfränkische Hammelburg geflohenen – CSU-Landtagsabgeordneten Maria
Probst „betreffend Pflege des schlesischen und sudetendeutschen“ (in dieser Reihenfolge) „Kulturgutes im Unterricht an den Volks- und Mittelschulen“. Bei den vorherigen
Beratungen im Ausschuss für Flüchtlingsfragen hatte Jaeni-
cke den „historischen und kulturellen Beziehungen zwischen Bayern, dem Sudetenland und Schlesien“ besondere
Aufmerksamkeit gewidmet und die „Stammesverwandtschaft“ zwischen der Bevölkerung dieser drei Räume betont. Es sei „ein seltsames Geschick, dass alles, was hier nach
Bayern hereinströmt, wesentlich aus Bayern“ stamme;
selbst die 70.000 katholischen Schwaben, die „in diesem Jahre“ (1947) noch „aus Ungarn kommen“ würden, sprächen
den bayerisch-pfälzischen Dialekt ihres einstigen Stammlandes.136 Im Bericht des Ausschusses für das Plenum des
Landtages hieß es zustimmend, der „Pflege des schlesischen
und sudetendeutschen Kulturgutes“ sei im Unterricht „die
gleiche Sorge zu widmen wie der Pflege des einheimischbayerischen“.137
Wie viel von diesem Antrag realisiert wurde, den
der Landtag im Oktober 1949 verabschiedete, steht auf einem anderen Blatt – erst zehn Jahre später wurde jedenfalls
1957 im bayerischen Kultusministerium ein „Ostkundereferat“ eingerichtet.138
Im Lichte der Fragestellung kann der Vorgang aber
als überraschendes Schlüsselindiz dafür gelten, wieviel
günstiger sich die Lage für die bayerischen Schlesier in
den ersten Nachkriegsjahren – erinnerungskulturell
betrachtet – noch darstellte. Wenn die Schlesier in dem
Papier in einem Atemzug mit den Sudetendeutschen, ja,
dem Alphabet folgend, sogar noch vor diesen genannt
wurden, muss umso mehr die Frage gestellt werden, wie
es in der Folgezeit zur Verschiebung der Gewichte
gekommen ist.
Die Vertriebenen und der
Bayerische Rundfunk
An den sonst gerne für alles verantwortlich gemachten Medien lag es jedenfalls kaum. Von der gewiss nicht speziell
schlesierfeindlichen Regionalpresse war bereits die Rede.
Und im wichtigsten Medium des Landes, dem Bayerischen Rundfunk, wo 1951 12,5 Prozent der Angestellten
130 Bauer, Flüchtlinge, S. 274.
131 Zum Vorteil gereichte dem Hauptausschuss vor allem die enge Verbindung mit der Regierung, die bei ähnlichen Organisationen wie dem
Hauptausschuss der Ostvertriebenen in Nordrhein-Westfalen so nicht gegeben war. Vgl. Gatz, Expellees, S. 354.
132 Mücke war 1904 im oberschlesischen Landkreis Groß Strehlitz geboren worden. Er war 1948 Mitglied im Parlamentarischen Rat geworden und 1949 bis 1953 Bundestagsabgeordneter. Schütz war 1901 in Nordböhmen als Kind einer katholischen Arbeiterfamilie zur Welt
gekommen und 1935 für die Christlich-Soziale Volkspartei ins Prager Parlament gewählt worden.
133 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 132.
134 Bauer, Flüchtlinge, S. 282. Weger, „Volkstumskampf“, S. 82, bemerkt dazu, im Hauptausschuss für Flüchtlinge und Vertriebene hätten die
Sudetendeutschen personell mit Schütz als Vorsitzendem und Roman Herlinger als Geschäftsführer „eine gewisse Vormachtstellung erwirkt, obgleich sie nur etwa die Hälfte aller nach Bayern gekommenen Flüchtlinge und Vertriebenen“ ausgemacht hätten.
135 Pohl, Zwischen Integration, S. 42.
136 Ebd., S. 60.
137 Glettler, Landtagsreden, S. 587 f.
138 Pohl, Zwischen Integration, S. 63.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
einen Vertriebenenhintergrund hatten, waren Schlesier
wie Herbert Hupka und Ernst Günther Bleisch schon
früh an einschlägigen Sendeplätzen tätig; dann erst
kamen der Sudetendeutsche Leonhard Reinisch und
der aus Ostpreußen stammende Gerhardt Szczesny
hinzu.139
Bevölkerung „die Existenz des vierten Stammes, nämlich
der sudetendeutschen Gruppe, bewusst“ gemacht werden.144
Die erste Sendung über eine Herkunftsregion wurde im
Herbst 1948, noch von Radio München, unter dem Titel
„Lied aus Schlesien. Erinnerung an eine deutsche Landschaft“ ausgestrahlt. Sie wandte sich ausdrücklich „an die
zahlreichen in Bayern lebenden Schlesier wie an die Einheimischen“.140 Auch die 1949 anlaufende Sendereihe „Aus der
Heimat der Vertriebenen“ ließ „die vier größten Gruppen
der Heimatvertriebenen, Sudetendeutsche, Schlesier, Ostpreußen und Südostdeutsche gemeinsam zu Wort kommen“.141 „Die Ostpreußen und die Schlesier“, so formulierte der Vertreter Bayerns in einer Mundartsendung einmal
sehr schön den breiten Blick auf diese Gruppen: „[Die] sind
für mi allwei ‚die von da drobn‘, die Sudetendeutschen ‚die
von da drübn‘ und die Südostdeutschen ‚die von da drunten´.“142
Langfristig indessen, als es im Rundfunk für die
Vertriebenen seit den sechziger Jahren ohnehin zunehmend
schwieriger wurde,143 machte sich wohl doch die spezielle
patenschaftliche Beziehung der Sudetendeutschen zur
Staatsregierung auch medial bezahlt. Jedenfalls sah sich die
Staatsregierung z. B. im Sommer 1967 aufgrund wiederholter Interventionen aus sudetendeutschen Kreisen gegen eine
Vernachlässigung in der Berichterstattung veranlasst, den
Intendanten zu ermahnen: Das „Kulturgut der Sudetendeutschen“ sei „mit den gleichen Mitteln“ zu fördern wie
das der übrigen „Stämme“ Bayerns; auf diese Weise solle der
Die bayerische Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen ab 1954 vermag freilich nicht zu erklären, weshalb die
Schlesier auch schon in den frühen fünfziger Jahren bei weitem nicht, wie es nach den Proportionen beider Gruppen zu
erwarten gewesen wäre, halb so viele Landtagsabgeordnete
im Maximilianeum stellten wie die Sudetendeutschen. Dabei hatten die Deutschböhmen in den ersten, 1946 gewählten Landtag noch überhaupt keinen Vertreter entsenden
können, weil das Wahlrecht an eine Mindestaufenthaltsdauer gebunden war. Sämtliche drei Vertriebenenrepräsentanten stellten in diesen Jahren die Schlesier: Ewald Bitom
(SPD), Kurt Weidner (FDP) und Alfred Noske,145 der im
niederbayerischen Bogen für die Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV) des politischen Abenteurers Alfred
Loritz kandidiert hatte.146
Politische Gewichtsverlagerungen
im Laufe der fünfziger Jahre
Schon im zweiten Bayerischen Landtag dagegen, dessen
Legislaturperiode von 1950 bis 1954 dauerte und dem
204 Abgeordnete (sowie zwei Dutzend Nachrücker)
angehörten, arbeiteten 32 sudetendeutsche Parlamentarier, aber nur noch neun Schlesier (sowie ein Ostpreuße, ein Pommer und ein Siebenbürger Sachse). In
der Fraktion des gerade erst gegründeten Blocks der
Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) waren
von 26 Politikern sogar 19 Sudetendeutsche und nur
vier Schlesier.147
139 Ebd., S. 155 f.
140 Die zweite große Abendsendung für Heimatvertriebene war dann dem Riesengebirge gewidmet. Ebd., S. 154.
141 Ebd., S. 157. Fragwürdig ist aber wohl die dort, S. 158, zu findende Meinung, derartige Sendungen, die die Eigenarten der deutschen
„Stämme“ zeigten, hätten „in einer direkten Kontinuität zur Konstruktion der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft im Rundfunk“
gestanden.
142 Pohl, Zwischen Integration, S. 162.
143 Vgl. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 41 ff.
144 Pohl, Zwischen Integration, S. 63.
145 Ebd., S. 39.
146 Woller, Die Loritz-Partei, S. 39, 99. Der WAV hatten sich aber nicht nur Niederschlesier (wie der vor dem Krieg in der Breslauer Stadtverwaltung angestellte Noske und andere) angeschlossen, sondern auch Sudetendeutsche, etwa im Landkreis Schongau, oder Oberschlesier in
Ingolstadt. Der Vertriebenenanteil lag in der WAV bei ca. 20 Prozent. Zur Bundestagswahl 1949 verbündete sich die bereits halb zerfallene
WAV mit dem im niederbayerischen Pocking gegründeten „Neubürgerbund“, an dessen Spitze der im schlesischen Bad Ziegenhals geborene Journalist Günter Götzendorff stand (ebd., S. 118). Dieser konnte zwar 1949 in den Bundestag einziehen, manövrierte sich aber
schon bald darauf in das rechtsextreme Abseits.
147 Vgl. die Listen bei Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, S. 490 f. Auch wenn man die BHE-Landtagsabgeordneten in den anderen Ländern sowie die Bundestagsabgeordneten dazu nimmt, lagen die Sudetendeutschen zwischen 1950 und 1960 „wie
bei der Parteiführung […] weit an der Spitze“ und waren „ca. doppelt so stark vertreten, als es dem Anteil der sudetendeutschen Vertriebenen an allen Vertriebenen“ entsprach. Ebd., S. 343. In Bayern waren Sudetendeutsche und Schlesier dagegen in den folgenden zwei
Wahlperioden ungefähr ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in der BHE-Fraktion vertreten. Ebd., S. 491 ff. Vgl. auch die leicht abweichenden Zahlen bei Pohl, Zwischen Integration, S. 75, die damit zu erklären sind, dass manchmal nicht ganz eindeutig ist, ob jemand mit
einer West-Ost-Biographie vor 1945 als Vertriebener zu gelten hat oder nicht. Zum BHE in Bayern von 1950 bis 1962 ist im Übrigen eine
Dissertation von Daniel Schönwald am Lehrstuhl Ferdinand Kramer (LMU München) in Arbeit.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Wahlkampfaufruf der WAV
Abbildung: Dorothea Götz, Chronik der Vertriebenen in Landshut 1945–1987, Landshut 1991, S. 138–139.
Auffallend hoch war die Abgeordnetenquote der Sudetendeutschen aber vor allem auch wegen ihrer starken Stellung
innerhalb der bayerischen Sozialdemokratie. Von den 63
Sitzen der SPD-Fraktion nahmen Sudetendeutsche etwa ein
Sechstel ein, Nachrücker mitgerechnet waren es elf Politiker. Unter den 64 Abgeordneten der CSU, damals die Partei
des eingesessenen bäuerlichen und kleinstädtischen Mittelstandes, verloren sich dagegen gerade einmal zwei Sudetendeutsche.
Auch in späteren Landtagen in den sechziger Jahren hatte
sich dieses Bild nicht wesentlich verändert. In der Legislaturperiode 1966–70 saßen 19 Sudetendeutsche, aber nur drei
Schlesier im Maximilianeum.148 Dabei lag der sudetendeutsche Anteil in der SPD-Fraktion deutlich über zehn, in der
CSU nur bei fünf Prozent; der BHE spielte jetzt keine Rolle
mehr.149
Allerdings personifizierte in diesen Jahren der Übergang des früheren BHE-Politikers, Bundestagsabgeordneten und (ab 1968) Sprechers der Sudetendeutschen
Landsmannschaft, Walter Becher, zur CSU150 das wachsende vertriebenenpolitische Charisma der größten
bayerischen Volkspartei, die sich vor allem ihrer kritischen Haltung gegenüber der neuen sozialdemokrati-
148 Lane, The Integration, S. 103, auf der Basis von Mitteilungen des Bayerischen Landtagsamtes.
149 Die Zahlen beruhen auf einer Auswertung der Landtagshandbücher sowie dem Presseausschnitt in der von Helmut Meyer erstellten
Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier. Landesgruppe Bayern, S. 56 (Privatarchiv Matthias Lempart, München). Danach lag der
Vertriebenenanteil im Landtag nur mehr bei 11,2 Prozent, war also weit von dem statistisch zu erwartenden Wert von ca. 20 Prozent entfernt. Auch für die 1966 in den Landtag einziehende NPD verzeichnet Lane, The Integration, S. 103, ein deutliches sudetendeutsches
Übergewicht unter ihren sieben Abgeordneten mit Vertriebenenhintergrund (fünf Sudetendeutsche, ein Schlesier). Besser sah es für die
Vertriebenen von Anfang an in den kommunalen „Parlamenten“ aus, wo sie etwa in den Gemeinderäten 1948 bereits 17,2 Prozent aller
Politiker stellten. Vgl. Pscheidt, Zur Integration, S. 217.
150 Becher trat ihr 1967 bei, nachdem er bereits 1965 auf der CSU-Landesliste in den Bundestag eingezogen war.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
schen bzw. sozialliberalen Ostpolitik verdankte.151 Die
insgesamt recht gute parlamentarische Repräsentanz
der Sudetendeutschen in den ersten Jahrzehnten nach
der Vertreibung ist, dies sei noch einmal unterstrichen,
zumindest in quantitativer Hinsicht vor allem ein
sozialdemokratisches Phänomen.
Zwar war in der SPD-Landtagsfraktion auch der Schlesieranteil traditionell höher als bei der CSU152 und im SPDLandesausschuss waren je einem Schlesier und Sudetendeutschen feste Sitze eingeräumt,153 doch prägend wirkten
auf die Partei in erster Linie die Sudetendeutschen. Die USBesatzungsbehörde schätzte 1948 den Anteil der Sudetendeutschen an der bayerischen SPD-Mitgliederschaft auf ein
Viertel, andere Zahlen gehen noch darüber hinaus (bis zur
Hälfte).154
Gerade auf dem flachem Land, wo die Sozialdemokratie im Freistaat vor 1933 oft überhaupt keine Organisationsstrukturen aufzubauen vermocht hatte, gründeten sich
in den Nachkriegsjahren unter tätiger Mitwirkung vor
allem der Ostvertriebenen Hunderte neuer SPD-Ortsvereine.155 Die Bayern-SPD profitierte dabei davon, dass die
Sozialdemokratie in den deutsch besiedelten Teilen der böhmischen Länder eine starke politische Kraft gewesen war.156
In klassischen Flüchtlingsgemeinden wie Waldkraiburg,
Geretsried oder Traunreut lag die SPD bei den Wahlen
infolgedessen noch lange vor der CSU. Persönlichkeiten
wie der Landesgruppenchef der bayerischen SPD in Bonn,
Alfons Bayerl (1974–1980), oder vor allem der 1963 zum
SPD-Landesvorsitzenden avancierende Volkmar Gabert
sind mit die bekanntesten Beispiele für das sudetendeutsche
Gesicht der bayerischen Nachkriegssozialdemokratie.
Auch wenn das Verhältnis zwischen vertriebenen und einheimischen Sozialdemokraten keineswegs immer spannungsfrei war,157 zählt die sudetendeutsche Komponente
der Bayern-SPD zweifelsohne zu den Erfolgsfaktoren der
politischen Integration der Deutschböhmen. Bei ihrer Eingliederung in die Partei profitierten sie im Übrigen auch von
„der Vorarbeit und der Solidarität der schlesischen Parteigenossen“,158 die vielfach schon etwas länger in Bayern lebten, aber jetzt angesichts der großen Zahl Sudetendeutscher
innerhalb der SPD automatisch an Gewicht verloren.
Der Faktor sudetendeutsche Sozialdemokratie hat
nicht nur für die Zeit bis Mitte der fünfziger Jahre Bedeutung, als die SPD noch an bayerischen Regierungen
beteiligt war, sondern auch darüber hinaus, weil das
Wissen um diese „special relationship“ geeignet war, der
Politik der CSU für die Sudetendeutschen nötigenfalls
zusätzliche Schubkraft zu vermitteln.159
Von Anfang an hatte die sudetendeutsche Sache aber auch
in der seit Ende der fünfziger Jahre mehr und mehr dominierenden Christlich-Sozialen Union – trotz der nur wenigen deutschböhmischen CSU-Abgeordneten im Landtag160
– einflussreiche Fürsprecher. Der zur katholischen Gesinnungsgemeinschaft der Ackermann-Gemeinde gehörende
Hans Schütz (Bild S. 24), seit 1949 für die CSU im Bundes-
151 Vgl. Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 80.
152 Im zweiten Landtag nach dem Krieg (1950–54) z. B. gehörten die drei Oberschlesier Franz Bladen (Wahlkreis Augsburg I), Ewald Bitom
(Wahlkreis Niederbayern) und Franz Zdralek (Wahlkreis Mittelfranken) sowie der in Bochum geborene, aber zehn Jahre in Schlesien
lebende und von dort beim Einmarsch der Russen vertriebene Herbert Hauffe (Wahlkreis Oberfranken) der SPD-Fraktion an.
153 Werner, Im Dienst, S. 156.
154 Gelberg, Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel, S. 751, Anmerkung 708.
155 Vgl. auch Balcar, Politik auf dem Land, S. 288 f.
156 So war die Bayern-SPD 1948 (in der Zeit vor der BHE-Gründung) die einzige Partei, bei der die Zahl der kommunalen Mandatsträger aus
dem Vertriebenenbereich dem Anteil der „Neubürger“ an der Gesamtbevölkerung entsprach. Vergnon, Mehr Show als Substanz?, S. 75.
157 Die oft aus dem Exil in England oder Schweden kommenden sudetendeutschen SPD-Politiker strahlten ein hohes Selbstbewusstsein aus,
das sich zum einen aus den Erfolgen der Sozialdemokratie in Böhmen und Mähren vor der Vertreibung speiste, zum anderen aber aus dem
Status als antifaschistische Emigranten. Bayerische Genossen empfanden dies nicht selten als Arroganz und antworteten darauf etwa in
der Hofer SPD mit Vorwürfen gegen die Sudetendeutschen wegen deren angeblicher Haltung im Jahr 1938 (Ebd., S. 73). Konflikte resultierten auch daraus, dass sich deutsch-böhmische Sozialdemokraten wie Almar Reitzner in einer überparteilichen sudetendeutschen
Schicksalsgemeinschaft über die Parteigrenzen hinweg sahen. So musste Reitzner 1961 als Pressesprecher der bayerischen SPD zurücktreten, nachdem er Walter Stain, den BHE-Arbeitsminister in der CSU-geführten Landesregierung, gegen Angriffe der SPD-Landtagsfraktion in Schutz genommen hatte (ebd., S. 73). Gabert selbst wurde etwa im Kontext des Volksbegehrens um die Gemeinschaftsschule
öffentlich angegriffen, weil er „nicht aus Bayern komme“ und die „Zusammenhänge“ nicht verstehe (ebd., S. 72).
158 Pohl, Zwischen Integration, S. 205.
159 Vgl. zu diesem parteipolitischen Kontext auch Gelberg, Vom Kriegsende, S. 754. Immer wieder brachte beispielsweise die SPD 1963
Anträge in den Landtag ein, einen eigenen Haushaltstitel zur Ausübung der kürzlich noch einmal bekräftigten Schirmherrschaft für die
sudetendeutsche Volksgruppe einzurichten, was von der CSU-geführten Staatsregierung aber dilatorisch behandelt wurde. Pohl,
Zwischen Integration, S. 403 f.
160 In der Legislaturperiode von 1950 bis 1954 waren dies etwa Karl Schubert (Wahlkreis Niederbayern) und Wenzel Weigel (Wahlkreis
Oberpfalz); während der vorherigen ersten Periode des Nachkriegslandtages hatte der CSU-Fraktion noch kein einziger Vertriebener
angehört. Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung, S. 164.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Schlesischer Volkstanz auf
dem Münchner Odeonsplatz
Foto: Friedrich Prinz, Die Integration
der Flüchtlinge und Vertriebenen in
Bayern. Versuch einer Bilanz nach
55 Jahren, hg. v. Haus der Bayerischen
Geschichte, Augsburg 2000, S. 23.
Bild unten: Die Trachtengruppe St. Anna präsentiert
oberschlesische Tracht, 1974.
Foto: Dorothea Götz, Chronik der
Vertriebenen in Landshut 1945–1987,
Landshut 1991, S. 220.
tag, avancierte 1963 zum Staatssekretär, 1964 bis 1966 dann
zum Minister im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit
und Soziales. Dort ressortierte seit den Zeiten des im
Böhmerwald aufgewachsenen BHE-Politikers Walter Stain,
der das Haus von 1954 bis 1962 leitete, auch das bis 1955
noch im Innenministerium angesiedelte „Flüchtlingswesen“. 1984 bis 1986 stand mit Franz Neubauer abermals ein
sudetendeutscher CSU-Politiker an der Spitze des für die
Integration der Vertriebenen maßgeblichen Ministeriums.
An noch prominenterer Stelle als CSU-Generalsekretär und
Fraktionsvorsitzender im Landtag war in den siebziger und
achtziger Jahren der aus dem böhmischen Reichenberg
stammende Gerold Tandler tätig.
Ähnlich stark waren die Schlesier und die anderen
kleineren Vertriebenengruppen in Spitzenpositionen des
Freistaats bzw. seiner führenden Parteien nicht vertreten.
Die ersten Vorsitzenden des bayerischen Landesverbandes
der Landsmannschaft Schlesien, Nieder- und Oberschlesien
waren bis Mitte der sechziger Jahre Walter Rinke (Ministerialrat in der bayerischen Verwaltung und 1953 bis 1957
CSU-MdB), Hans Menzel (Leiter des Landesarbeitsamtes
Südbayern), Herbert Hupka (damals Redakteur beim Bayerischen Rundfunk) und der Breslauer Waldemar Rumbaur,
der sich als Augenarzt im mittelfränkischen Ansbach niedergelassen hatte. Der ebenfalls aus Breslau stammende, in
Kronach gelandete Jurist Erich Simmel wurde 1950 auf der
oberfränkischen BHE-Liste in den Landtag gewählt und
brachte es 1954 zum Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, was er bis 1962 blieb.161 Heute wäre Hartmut
Koschyk, früher Bundesvorsitzender der Schlesischen Jugend, zu nennen, der oberschlesische Wurzeln hat und seit
2009 das Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs im
Bundesministerium der Finanzen bekleidet.
Entscheidende Unterschiede
zwischen „Auslandsdeutschen“ und
„Reichsdeutschen“ im Hinblick auf
politische Selbsthilfe-Erfahrungen und
organisatorische Initiative?
Der vergleichsweise stärkeren Vertretung der Sudetendeutschen in den politischen Parteien und in der Regierung des
Freistaates entsprach ihre besonders gute und frühe landsmannschaftliche Organisation. Sie ähnelten in dieser Hinsicht anderen „Auslandsdeutschen“ wie den Siebenbürger
161 Zeitler, „Politik von Flüchtlingen – für Flüchtlinge“, v. a. S. 108 bis 111.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Die Büsten Adalbert Stifters und Joseph
v. Eichendorffs in der Walhalla
Fotos: Walhallaverwaltung, Robert Raith
Sachsen, den Westpreußen, den Weichsel-Warthe-, Karpaten-, Jugoslawien- und Buchenlanddeutschen, die sich zeitlich parallel zusammenschlossen, während die großen altreichsdeutschen Landsmannschaften laut Habel „z. T. beträchtlich später“ entstanden.162
Auch Lokalstudien haben diesen erstaunlichen Befund
bestätigt: Meist waren es die Sudetendeutschen, die „als
erste ihre Verbände gründeten und eine besondere Aktivität an den Tag legten“.163
Neben der bereits erwähnten Sudetendeutschen Hilfsstelle
sei als weiteres Beispiel genannt, dass sich die vertriebenen
Lehrer aus den böhmischen Ländern nach mehrjährigem
Vorlauf 1952 in der Arbeitsgemeinschaft sudetendeutscher
Erzieher sammelten, während sich aus einer Initiative des
Kulturwerks Schlesien heraus erst 1956 eine analoge Arbeitsgemeinschaft schlesischer Erzieher gründete, um, wie
die charakteristische Begründung lautete, „nicht zurückzustehen“.164 Ähnlich war es beim Suchdienst, der bald nach
dem Krieg das Massenproblem der Familienzusammenführung zu lösen half. Als Jaenicke 1945, damals noch nicht
Flüchtlingskommissar, von der entsprechenden Tätigkeit
der Sudetendeutschen und Banater Schwaben gehört hatte,
erschien er beim Münchner Suchdienst und fragte, „ob nicht
etwas ähnliches für die vielen Schlesier aufgebaut werden
könne“.165
Eine vergleichbare Phasenverschiebung zeigte sich
bei der Aufnahme von Adalbert Stifter und Joseph von
Eichendorff, den „Symbolfiguren sudetendeutscher und
schlesischer Selbstidentifikation“,166 in den bayerisch-deutschen Ruhmestempel der Walhalla. Zwar hatten sich noch
zu Zeiten des parteipolitischen Vereinigungsverbotes gegen
die Vertriebenen 1947 in Bayern sowohl ein AdalbertStifter-Verein als auch eine (katholische) Eichendorffgilde
gegründet, die „den Deutschen Böhmens bzw. den (Ober-)
Schlesiern als Ausweis ihrer hervorragenden Kulturleistungen“ dienten,167 doch eine Büste Stifters wurde auf Initiative
sudetendeutscher Vertriebener bereits im September 1954
im Rahmen eines feierlichen Staatsaktes aufgestellt, während der (Ober-)Schlesier Eichendorff erst drei Jahre später
an der Reihe war. Die von den Sudetendeutschen beantragte Aufnahme Stifters in die Walhalla hatte die Schlesier
veranlasst, „die bayerische Staatsregierung um die
Genehmigung des Einzugs von Joseph von Eichendorff zu
ersuchen“.168
162 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 259. Vgl. auch Boehm, Gruppenbildung und Organisationswesen, S. 598.
163 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 98. Es gab aber auch Gegenbeispiele, wie Johann Schellerer, Die Aufbauarbeit, S. 208, für Regensburg
herausgearbeitet hat. Dort war die größte Vertriebenengruppe im Landkreis, die Sudetendeutschen, „zunächst weniger einheitlich organisiert als die Schlesier“, die bereits 1948 einen Schlesierverein gründen konnten.
164 Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 166.
165 Kornrumpf, In Bayern angekommen, S. 300. Zu den schlesischen Suchdienst-Aktivitäten und vor allem zur Heimatortskartei GroßBreslau in Cham (eine Kartei in Bamberg war für Niederschlesien, die in Passau für Oberschlesien zuständig), vgl. Landkreis Cham (Hg.),
Die Eingliederung der Heimatvertriebenen, S. 40 ff.
166 Pohl, Zwischen Integration, S. 353.
167 Ebd., S. 356.
168 Ebd., S. 378. Auch wenn die Eichendorff-Verehrung vor allem in der katholischen schlesischen Jugendbewegung verwurzelt war, identifizierten sich nicht nur die Oberschlesier und die katholischen Niederschlesier mit dem Dichter. Seinen Einzug in die Ruhmeshalle betrieb
auch der stärker protestantisch geprägte Schlesier-Verband Bayern. Vgl. ebd., S. 378. Die Anschlussfähigkeit Eichendorffs für nationalprotestantische Kreise mochte auch damit zu tun haben, dass der Dichter als preußischer Staatsbeamter für die Restaurierung der westpreußischen Marienburg als eines „Bollwerks“ im Osten zuständig gewesen war. Vgl. ebd., S. 377.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Wappenteppiche der west- und ostpreußischen Landsmannschaften in Bayern sowie der Schlesier (S. 32); Abbildung S. 33: Wappenteppich der Pommern
Fotos aus: Das Haus des Deutschen Ostens München 1970–1990; Festschrift, hg. v. Horst Kühnel, München 1990, S. 79–81.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Weshalb die Sudetendeutschen dagegen im Bereich der wissenschaftlichen Arbeit zunächst mehr Mühe hatten, in Bayern an institutionelle Traditionen der alten Heimat anzuknüpfen, ist ebenfalls aufschlussreich. Während schon 1952
in München ein in den folgenden Jahren vor allem geschichtswissenschaftlich arbeitendes Osteuropa-Institut in
der Nachfolge der gleichnamigen Breslauer Einrichtung gegründet wurde, gelang es der treibenden Kraft, dem Staatssekretär für Flüchtlingsfragen und BHE-Politiker Theodor
Oberländer, nicht, nach dem Vorbild des Ost-Instituts und
des gleichfalls wiedergegründeten Südost-Instituts169 ein eigenständiges Collegium Carolinum (CC) – als symbolischen Ersatz für die Deutsche Universität Prag – zu gründen. Dies schien umso erstaunlicher, als Oberländer zu-
gleich Vorsitzender des als wissenschaftliche Abteilung des
Adalbert Stifter Vereins bereits bestehenden CC war.
Doch nicht nur maßgebliche sudetendeutsche Politiker sozialdemokratischer und christlich-sozialer Parteizugehörigkeit bremsten den BHE-Landesvorsitzenden Oberländer in der Sache aus, „weil er als Vertreter des BHE die
vertriebenenpolitische Basis ihrer eigenen Partei schwächte“; auch zwischen Oberländer und seinem sudetendeutschen Wahlbündnispartner von 1950, Walter Becher (damals noch: Deutsche Gemeinschaft), stimmte die Chemie
nicht. Die Historikerin Karin Pohl hat dies dahingehend
gedeutet, dass dem aus Thüringen stammenden Oberländer
einfach der sudetendeutsche „Stallgeruch“ gefehlt habe:
„[T]rotz seiner Kontakte und trotz seines Engagements
169 Diese war bereits 1930 in München zur Erforschung des deutschen Volkstums im Südosten Europas gegründet worden.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
stand er außerhalb der politischen Organisationen der Sudetendeutschen“.170 Jedenfalls geriet erst mit Oberländers
Wechsel an die Spitze des Bonner Vertriebenenministeriums
1953 wieder Bewegung in die Sache, was 1956 zur Gründung eines eigenständigen CC führte.
Rudolf Lodgman von Auen
Foto: Oskar Böse/Rolf-Josef Eibicht
(Hg.), Die Sudetendeutschen. Eine
Volksgruppe im Herzen Europas. Von
der Frankfurter Paulskirche zur Bundesrepublik Deutschland, Dießen 1989,
Zu diesem Zeitpunkt war bereits die Idee gescheitert,
eine „Ostuniversität“ als vierte bayerische Landesuniversität zu errichten, an der die Traditionen der
deutsch-böhmischen und ostdeutschen Wissenschaft
hätten fortgesetzt werden können.
Die Zahl der aus beiden Bereichen kommenden Hochschullehrer hielt sich in Bayern ungefähr die Waage. Entscheidend für das Misslingen der Idee war aber, dass in der Ministerialbürokratie die Befürchtung bestand, mit der „Ostuniversität“ eine „geistige Enklave“ zu schaffen; was dort
geleistet werden solle, sei vielmehr Aufgabe des gesamten
deutschen Volkes. Und die Interessenvertretung der vertriebenen Studenten sah das ähnlich. Nicht gerade zur Durchsetzung des Konzepts hatten allerdings auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Sudetendeutschen und Schlesiern
hinsichtlich des Standorts einer möglichen „Ostuniversität“
beigetragen. So intervenierte die Landsmannschaft Schlesien 1951 beim Ministerpräsidenten zu Gunsten Bambergs,
um der Dominanz der Regensburg präferierenden ehemaligen Prager Professoren entgegenzusteuern. 1953 lehnte der
Landtag das Projekt schließlich ganz ab.171
Noch viel deutlicher als im Hochschulbereich war eine
sudetendeutsche Dominanz im Bereich der Volksbildung zu registrieren. Denn was es im Freistaat in der
Fläche bis 1945 kaum gegeben hatte, Gemeindebibliotheken oder Volkshochschulen, war den „Volksdeutschen“ schon aus ihrer „nationalen Schutzarbeit“ in der
alten Heimat vertraut. So wurden sie in ihrem neuen
S. 92.
Zuhause „zu den rührigsten Gründern öffentlicher
Bildungseinrichtungen“.172
Als „Motor in Dörfern“ galten vor allem die sudetendeutschen Lehrer, die 1950 an der Spitze von 70 Prozent aller
bayerischen Volkshochschulen standen und unter den meist
nebenamtlichen Dozenten mit 38 Prozent ebenfalls überproportional vertreten waren.173 Dass dies der Verankerung
sudetendeutscher Themen in der politischen Kultur Bayerns auf breiter Fläche nur zugute kommen konnte, ist offensichtlich. Bei den Schlesiern scheinen sich dagegen gerade die gebildeteren Schichten landsmannschaftlichem Engagement gegenüber öfters reserviert verhalten zu haben.174
Auch damit mag es zusammenhängen, wenn von den über
500 Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener, die bis
heute zum Leben einer Gemeinde, Stadt oder Landschaft im
historischen Osten erschienen sind, sich 29 Prozent auf
Böhmen und Mähren, aber nur zehn Prozent auf Schlesien
beziehen.175
Die überdurchschnittliche Aktivität der Sudetendeutschen resultierte, so hat Paul Erker im Anschluss an
170
171
172
173
174
Pohl, Zwischen Integration, S. 274.
Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 264, 267.
Pohl, Zwischen Integration, S. 103.
Mößlang, Flüchtlingslehrer, S. 150.
Gespräch mit Ulrich Schmilewski vom Schlesischen Kulturwerk, Würzburg, am 2. Juni 2009. Ein besonders markantes Beispiel für diesen
Befund war vielleicht der Niederschlesier Karl-Heinz Pfennig. In einer vom Nationalsozialismus stark beeinflussten, kirchenkritischen
Volksschullehrerfamilie auf dem Lande groß geworden, machte er sich nach der Vertreibung Vorwürfe, etwa als „Pimpfen“-Führer bei der
Hitler-Jugend antisemitische Parolen verbreitet zu haben. Von einem protestantischen mittelfränkischen Bauern, auf dessen Hof es ihn
nach dem Krieg verschlagen hatte, zum christlichen Glauben erweckt, holte er die Konfirmation nach und beschloss, Missionar zu werden. Als evangelischer Religionslehrer in Oberbayern wurde er später immer wieder von Kollegen für die Landsmannschaft angesprochen, lehnte die Mitgliedschaft aber ab, weil er deren heimatpolitische Revisionsziele kategorisch ablehnte und den Verlust Schlesiens als
Ergebnis deutscher Schuld akzeptierte. Gespräch mit Karl-Heinz Pfennig (Wolfratshausen) am 30. März 2009.
175 Obwohl bundesweit beide Vertriebenengruppen mit ca. zwei Millionen etwa gleich groß waren. Heimatbücher mit Ostpreußen-Bezug
machen mit sieben Prozent ebenfalls nur einen unterproportionalen Anteil aus. Zu weiteren möglichen Gründen, weshalb es
„Heimatbücher über kleinste deutsch-böhmische Dörfer“ gibt, aber „beispielsweise kein einziges über ostpreußische Dörfer vergleichbarer Größe“, vgl. Faehndrich, Erinnerungskultur, S. 200 f. (Zitat S. 201). Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die
Deutschen aus Südosteuropa, die lediglich 6,1 Prozent der Vertriebenen ausmachten, 34 Prozent aller Heimatbücher geschrieben haben.
34
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Max Hildebert Boehm oder Bernd Sonnewald argumentiert, aus ihrer Erfahrung im so genannten „Volkstumskampf“ als Minderheit in einem tschechoslowakischen Staat, der sie „als Fremdkörper“ betrachtet habe.
Sie hätten sich schon in der Zwischenkriegszeit daran
gewöhnen müssen, „um ihre politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Rechte zu kämpfen“.
Anders als „die Vertriebenen aus dem Osten des ehemaligen
Deutschen Reiches“ hätten sich die Sudetendeutschen bereits damals eben „nicht auf den schützenden Staat“ verlassen können.176 Tatsächlich hatten sich die Deutschen östlich
von Oder und Neiße schon zu Weimarer Zeiten der besonderen Fürsorge des preußischen Staates wie des Reiches
erfreut. Zum einen war dies eine Folge der am Ende des
Ersten Weltkriegs geführten Kämpfe um die deutsch-polnische Grenze und der auch danach anhaltenden Wahrnehmung, alle Gebiete östlich der Oder seien besonders
gefährdet.177 Zum anderen hatte die Weimarer Politik daraus die Notwendigkeit abgeleitet, die (land-)wirtschaftlich
vom Niedergang bedrohten preußischen Ostprovinzen
mittels der „Osthilfe“ zu stabilisieren.
Die in diesem Kontext noch geförderte, traditionell ausgeprägte preußisch-deutsche Staatsgläubigkeit mag also
bei Schlesiern, Ostpreußen, Pommern und Ostbrandenburgern nach 1945 dazu beigetragen haben, Hilfe weiterhin eher „von oben“ zu erwarten, statt den Folgen
ihrer Vertreibung noch stärker mit Selbsthilfemaßnahmen zu begegnen.178
Die Sudetendeutschen dagegen engagierten sich nach dem
Krieg ähnlich vehement für ihre soziale Integration bei
Wahrung der kulturellen Identität, wie sie vor 1938 gegen
den selbsternannten tschechoslowakischen „Nationalstaat“
und dessen problematische Minderheitenpolitik für ihr
deutsches „Volkstum“ gekämpft hatten.179
Die „bindende Wirkung“ durch eine Persönlichkeit wie die des ersten Sprechers der SL, Lodgman von Auen, der 1918/19 nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie kurzzeitig Landeshauptmann einer deutschböhmischen Landesregierung gewesen war, mit seiner
„auch Massen bewegenden Autorität“180 hat ebenfalls eine
Rolle gespielt; mehr noch aber die Erkenntnis vieler in den
Jahren 1918 bis 1938 sozialisierter Akteure, ob sozialdemokratisch, christlich-sozial oder national-konservativ, „dass
sowohl der Aktivismus als auch der Negativismus gescheitert waren und es bei allen weltanschaulichen Unterschiedlichkeiten darauf ankam“, die SL „von politischen Querelen
freizuhalten“.181 Lodgman, der selbst „keinerlei parteipolitische Ambitionen“ mehr hatte,182 konnte gleichsam als Personifizierung dieses Grundanspruchs begriffen werden.
Dagegen standen die führenden Politiker der reichsdeutschen Vertriebenen „an organisatorischer Erfahrung im landsmannschaftlichen Raum oft hinter
Männern zurück, die aus der Tradition der so genannten Volksgruppenführung“ kamen,183 und sie waren,
mit der zerklüfteten politischen Kultur der Weimarer
Republik im geistigen Fluchtgepäck, auch viel weniger
als die deutschböhmischen „Ethnopolitiker“184 in der
Kunst geübt, über Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbeiten.
Die Sudetendeutschen besaßen darüber hinaus aufgrund
der Problematik des Münchner Abkommens von 1938 noch
lange nach ihrer Vertreibung nur eine reduziert wirkende
Form der deutschen Staatsbürgerschaft. Die vom „Dritten
176 Erker, Vom Heimatvertriebenen, S. 98 f.
177 Bergien, Zur Kooperation von Reichswehr und Republik, S. 660.
178 So auch Gatz, Expellees, S. 254, gestützt u. a. auf die Selbsteinschätzung eines der Verantwortlichen für das 1951 in Nordrhein-Westfalen
gegründete Ostpreußenwerk, das, wie er meinte, wegen der „Indifferenz“ der Vertriebenen „gegenüber der Lage ihrer vertriebenen
Landsleute und ihrer Neigung, sich […] auf den Staat zu verlassen“, weit weniger Erfolg hatte als erhofft. Gatz, Expellees, S. 385. Vgl.
auch Boehm, Gruppenbildung, S. 598. Dagegen waren die Altreichsdeutschen zumindest beim Lastenausgleich gegenüber den
Auslandsdeutschen insofern im Vorteil, als ihnen der für die Schadensfeststellung wichtige Begriff des „Einheitswertes“ aus dem im
Deutschen Reich geltenden Bewertungsrecht „in Fleisch und Blut übergegangen“ war. Die Sudetendeutschen kannten diesen Begriff erst
seit 1938, die „Volksdeutschen“ aus Südosteuropa gar nicht. Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 182.
179 Vgl. auch Gatz, Expellees, S. 344. Dabei konnten die Sudetendeutschen nach 1945 teilweise auf schon länger bestehende Strukturen
zurückgreifen. Seit 1943 existierte etwa als Zweig des „Reichsverbandes für das katholische Deutschtum im Ausland“ die Katholische
Kirchliche Hilfsstelle, die nach dem Krieg von der Fuldaer Bischofskonferenz neu organisiert wurde. Hauptsitz dieser Einrichtung war
Frankfurt, doch wurde auf Initiative von Sudetendeutschen im Oktober 1945 auch ein Büro in München errichtet. Ebd., S. 360.
180 Habel, Historische Voraussetzungen, S. 259.
181 Sonnewald, Die Entstehung und Entwicklung der ostdeutschen Landsmannschaften, S. 158. Während die aktivistischen Parteien der
Deutschböhmen die Lage ihrer Landsleute in der neuen ČSR nach 1919 durch Zusammenarbeit mit den tschechischen und slowakischen
politischen Kräften zu verbessern suchten, lehnten die Negativisten diesen Staat grundsätzlich ab.
182 Kotzian, Die Sudetendeutschen, S. 25. In den zwanziger Jahren war Lodgman noch ein führender Politiker der Deutschnationalen
gewesen.
183 Boehm, Gruppenbildung, S. 598.
184 Zur Übertragung des von Jonathan D. Sarna entwickelten Modells der „ethnic leadership“ auf die politische Elite der Sudetendeutschen
vgl. Pohl, Zwischen Integration, S. 172 ff.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Reich“ auf der Grundlage eines Vertrags mit der Tschechoslowakei über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen
vom 20. November 1938 vorgenommenen Sammeleinbürgerungen von Sudetendeutschen wurden lediglich in der
Britischen Zone anerkannt. Die Rechtsprechung in der
Amerikanischen und Französischen Zone betrachtete die
Betroffenen dagegen nicht als deutsche Staatsangehörige,
sondern als Staatenlose.185
In den Personalausweisen der sammeleingebürgerten
Sudetendeutschen hieß es bis 1949: „dem deutschen
Staatsbürger gleichgestellt“, dann „Deutsche nach dem
Grundgesetz“, erst am 22. Februar 1955 wurde infolge
eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts die deutsche
Staatsangehörigkeit der Sudetendeutschen endgültig
gesetzlich geregelt.186
Die auffälligen Unterschiede zwischen Sudetendeutschen
und einem großen Teil der Altreichsdeutschen hat der Vertriebenensoziologe Boehm im Hinblick auf die Niederschlesier auch stammespsychologisch zu deuten versucht.
Diese seien „ihrer Wesensart nach weich, passiv, eigenbrötlerisch, nicht selten versponnen und nach innen gekehrt“;
auch wenn sich diese Eigenschaften „mit hoher und vielseitiger Begabung besonders auf künstlerischem und religiösem Gebiet“ verbänden, seien die Niederschlesier offensichtlich „schwer organisierbar und zur sozialen Geschlossenheit wenig geneigt“. Demgegenüber seien die Oberschlesier „kulturell weniger schöpferisch, aber außerordentlich aktiv und impulsiv, ein rauhes Volk, sehr viel stärker nach außen lebend“ und, wie der Abstimmungskampf
mit den Polen in den Jahren nach dem Versailler Vertrag gezeigt habe, „zu entschlossenem Einsatz für die Heimat auch
unter Zurückstellung persönlicher Bedenken durchaus
fähig und bereit“. Während Boehms Charakterisierung der
Oberschlesier in diesem Punkt an die der Sudetendeutschen
erinnert, schreibt er über die Niederschlesier: In deren
Heimat sei die „Assimilation slawischer Urelemente an das
deutsche Volkstum schon seit Jahrhunderten zum Abschluß
gekommen“ gewesen; deshalb seien sie als „Binnendeutsche“ von Nationalitätenfragen nicht so „berührt“ worden
wie die Oberschlesier.187
Das schlesische Schisma
Solche ethnischen, noch teilweise vielleicht von nationalsozialistischem Volksdenken geprägten Stereotypisierungen
sind stets anfechtbar; die deutliche Differenzierung zwischen Nieder- und Oberschlesiern hingegen verweist auf
einen für unsere Fragestellung entscheidenden Punkt:
Die Schlesier als die eigentlich größte ostdeutsche
Vertriebenengruppe haben sich offensichtlich dadurch
teilweise selbst entmachtet, dass sie rasch nach dem
Ende des alliierten Koalitionsverbotes 1948 zwei
konkurrierende Landsmannschaften gründeten.
Zunächst war aus einer in München schon 1946 entstandenen, nicht lizenzierten „Vereinigung der Schlesier“ kurz
nach der Währungsreform Ende 1948 der „Schlesierverband Bayern“ als damals noch alleinige Vertretung von Nieder- und Oberschlesiern hervorgegangen. CSU-Ministerpräsident Ehard übernahm (mit Schreiben vom 22. November 1948) auch sogleich die Schirmherrschaft über den
Verband, der sich dann am 26. März 1950 in Bonn mit anderen Landesverbänden zur bundesweiten „Landsmannschaft
Schlesien“ (LS) zusammenschloss.188 Schon ein halbes Jahr
später aber, am 28. Oktober 1950, gründete sich (aus einem
seit 1949 bestehenden Zusammenschluss heraus) eine konkurrierende „Landsmannschaft der Oberschlesier“ (LdO),
die sich nicht an Oberschlesien in den Reichsgrenzen von
1937, sondern am größeren historischen Oberschlesien
orientierte. Die LdO bezog sich also nicht nur auf die seit
1922 bestehende preußische Provinz Oberschlesien, sondern auch auf die nach 1921 an Polen übertragenen Gebiete
sowie die ehemaligen österreichisch-schlesischen Landesteile.189
Der Vertriebenenexperte Matthias Stickler schreibt
dazu: „Die Gründe für die Notwendigkeit einer eigenständigen oberschlesischen Landsmannschaft sind für den
Außenstehenden nur schwer verständlich.“190 Dies gilt
umso mehr, als auch in den Führungsgremien der bereits
bestehenden Landsmannschaft Schlesien mehrheitlich
Oberschlesier vertreten waren.191 Sogar den Vorsitz der LS
185
186
187
188
Blumenwitz, Der Prager Vertrag, S. 70 f.
Gatz, Expellees, S. 180, 208.
Boehm, Gruppenbildung, S. 558.
Festschrift: Bekenntnis zu Schlesien, 1999. 50 Jahre Landsmannschaft Schlesien. Nieder- und Oberschlesien. Landesverband Bayern, S. 8,
14, sowie: Homepage der Landsmannschaft Schlesien (Stand: Juli 2008). Erinnerungen an die Gründerjahre, vom Gründungsvorsitzenden
Walter Rinke 1979 niedergeschrieben.
189 Vgl. Bahlcke, Schlesien und die Schlesier, S. 175.
190 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45.
191 Lotz, Die Deutung des Verlusts, S. 70, führt diesen Umstand „wahrscheinlich auf die Erfahrungen in den Minderheitenkonflikten während der Zwischenkriegszeit“ zurück.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Karte aus: Walter Ziegler (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999, Bd. 2, S. 706 sowie Bd. 1, S. 312.
auf Bundesebene hatte mit dem katholischen Ministerialbeamten Walter Rinke ein gebürtiger Oberschlesier aus Kattowitz inne. Herbert Hupka, selbst Oberschlesier (Ratibor),
aber langjähriger Vorsitzender des bayerischen (1953–1958),
später des Bundesverbandes der Landsmannschaft Schlesien, hat zu den Gründen für die Spaltung bemerkt: Der
Kampf gegen die Annexion ganz Oberschlesiens durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg und die bald folgende Teilung des Landes seien für die Oberschlesier „in hohem
Maße bewusstseinsprägend“ gewesen.192
Der wohl bekannteste Vorsitzende der Oberschlesischen Landsmannschaft, Herbert Czaja, hat zudem darauf
verwiesen, dass Oberschlesien schon im 13. Jahrhundert
„einen eigenen Weg zum böhmischen Lehensherren“ gegangen sei; bereits vor dem Ausgang des Mittelalters sei die
ethnische Zusammensetzung in Nieder- und Mittelschlesien völlig anders gewesen als in Oberschlesien, wo es „die
unmittelbaren Beziehungen zu den Polen [...] im Guten und
Bösen auf allen Ebenen“ gegeben habe.193 Als „eigentliches
Grenzland gegen zwei slawische Stämme“, Polen und
Tschechen, mit denen sich im Laufe der Jahrhunderte „vielfach Blutverwandtenbeziehungen“ entwickelt hätten, so
sah es auch Czajas Landsmann Fritz Hollunder, würden
sich oberschlesische Kultur und Bräuche „in vielem“ von
denen in Mittel- und Niederschlesien unterscheiden.194
Tatsächlich hatten sich das ganz überwiegend katholische Ober- und das mehrheitlich protestantische Niederschlesien auch im Zuge der Fundamentalpolitisierung seit dem 19. Jahrhundert sehr unterschiedlich
positioniert, was in den Weimarer Jahren eine Fortsetzung fand. Während in Oberschlesien die katholische
Zentrumspartei dominierte, war Niederschlesien eine
Hochburg zunächst der Sozialdemokratie, später auch
der DNVP und der NSDAP.
Vor allem aber hatte der preußische Staat schon 1922 das
unruhige Oberschlesien vom Rest der Provinz getrennt.
Dessen Bewohner hatten in den folgenden Jahren die Empfindung, dass dies „für Oberschlesien förderlicher war“ als
192 So Hupka im Zeitzeugengespräch mit Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45.
193 Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, S. 863.
194 Fritz Hollunder, Die Landsmannschaft der Oberschlesier. Entstehung und Entwicklung, S. 6 (den in ihrem Privatbesitz befindlichen Text
hat mir die Münchner Oberschlesierin Gertrud Müller aus Gleiwitz/OS freundlicherweise zur Verfügung gestellt).
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
vorher, „da wir noch unter Breslau standen“, von wo
„Oberschlesien nie verstanden worden“ sei; und daher
wollten die in der LdO-Aktiven „auch später wieder einmal
eine selbständige oberschlesische Verwaltung haben“.195
Zu den historischen Unterschieden trat 1945 noch
ein weiterer hinzu:
Aus Niederschlesien war die Bevölkerung so gut wie
vollständig vertrieben worden, in Oberschlesien dagegen konnte an die eine Million Menschen, von Warschau als nur oberflächlich germanisierte ethnische
Polen reklamiert, in der Heimat bleiben.
1953 warb Otto Ulitz, der Vorsitzende der LdO, bei der
Landsmannschaft Schlesien ferner mit dem bemerkenswerten Argument um Verständnis, Oberschlesien habe zusammen mit Ostpreußen während des Zweiten Weltkrieges
„von vornherein eine Sonderstellung in dem Sinne eingenommen, dass Großbritannien und Amerika mit ihrer Zuteilung an Polen einverstanden“ gewesen seien. Dieses Einverständnis hätten sie auch auf den Außenministerkonferenzen in Moskau und London 1947 erneuert. Ostpreußen
und Oberschlesien würden folglich „die Brennpunkte des
Kampfes des gesamten deutschen Volkes um die Rückgewinnung der Gebiete jenseits der Oder/Neiße“; deshalb
müssten auch die Oberschlesier „selbst ihre Stimme“ erheben.196
Dass es zur Gründung einer eigenen Landsmannschaft
Oberschlesien kam, lag aber laut Stickler nicht nur an
der Möglichkeit, die bestehenden Divergenzen zwischen
beiden Teilen der Region zu instrumentalisieren, sondern „möglicherweise“ auch an „Sonderinteressen vertriebener oberschlesischer Industrieller“197 sowie des
ersten Bundesvertriebenenministers und CDU-Politikers Hans Lukaschek.
Während der in Breslau geborene Katholik Lukaschek, vor
1933 Oberpräsident der preußischen Provinz Oberschlesien, in einer christdemokratisch ausgerichteten LdO fast
nahtlos an die oberschlesische Zentrumstradition anknüp-
fen konnte, war die Landsmannschaft Schlesien ziemlich
stark von Sozialdemokraten geprägt. Dies zeigte sich nicht
zuletzt an einer Reihe ihrer Führungspersönlichkeiten wie
Hupka oder dessen Vorgänger im Vorsitz des Schlesierverbandes Bayern, Hans Menzel (geboren 1887 im schlesischen
Winzig).198 Eine gewisse, wenn auch schwer zu bestimmende Rolle für den Konflikt spielte vielleicht auch das soziale
Gefälle zwischen „einfacheren“ Oberschlesiern und „besseren“, sich teils eher in der Landsmannschaft Schlesien
sammelnden „Ober-Oberschlesiern“, die auf die „Antekund Franzek-Fraktion“ herunterblickten (Antek und Franzek sind oberschlesische Originale und Gegenstand zahlloser Witze und Anekdoten, die zumeist auf die mangelhaften
Deutschkenntnisse der beiden Figuren abzielen oder einfach eine herablassende Haltung gegen vermeintlich „unzivilisiertere“, oft wasserpolnisch sprechende Oberschlesier
zum Ausdruck bringen).199
Zwar kam es später durchaus zu Kooperationen
zwischen beiden Landsmannschaften etwa im „Kulturwerk
Schlesien“ oder Mitte der sechziger Jahre „in einer besonderen Arbeitsgemeinschaft der beiden schlesischen Landsmannschaften“200 in Bayern, doch blieben auch manche
Animositäten. Laut den Erinnerungen des Oberschlesiers
Czaja etwa stimmte nicht, was der Schlesier Hupka in seinen Memoiren geschrieben hatte: Dass nämlich Czajas erfolgreiche Bewerbung um den Vorsitz des Bundes der Vertriebenen (BdV) 1970 im Kern die Kandidatur eines Oberschlesiers gegen den Präsidenten der Schlesischen Landesversammlung, Clemens Riedel, gewesen sei. Nur einige
schlesische Delegierte, so Czaja, hätten erklärt, „sie könnten den Oberschlesier nicht wählen“; vielmehr sei der
„brave“ Mittelständler Riedel, wie Czaja CDU-Mitglied,
politisch schwankend gewesen und habe sich z. B. auch bei
der Abstimmung über Moskauer und Warschauer Vertrag
im Bundestag enthalten,201 statt mit Nein zu votieren. Die
Gegenstimmen gegen ihn selbst, so Czaja, seien jedenfalls
nicht nur „von den schlesischen Delegierten“ gekommen,
sondern „auch von anderer Seite“.202
Wenngleich es gewiss schwerwiegende Gründe für den
oberschlesischen Sonderweg gab, bleibt festzuhalten,
195 Ebd.
196 „Oberschlesien ein Teil Schlesiens oder Deutschlands?“. Schreiben von Otto Ulitz an Walter Rinke, 6. November 1953. Sonderdruck aus
„Unser Oberschlesien“, Nr. 12/1953.
197 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 45. Bei der Konstituierung eines Landesverbandes Bayern der LdO bekannten sich etwa
der Fürst Henckel von Donnersmarck, die Grafen Kraft und viele andere prominente Oberschlesier zur LdO. Fritz Hollunder, Die
Landsmannschaft der Oberschlesier. Entstehung und Entwicklung, S. 5.
198 Bauer, Flüchtlinge, S. 307.
199 Wotzlaw, Antek und Franzek; Zeitzeugengespräch mit Gertrud Müller von der LdO München am 27. Juli 2008.
200 Von Richthofen, Schlesien, S. 24. Zur Tradition wurden auch gemeinsame Veranstaltungen von LS und LdO zur Erinnerung an die
Abstimmung über die Zugehörigkeit Oberschlesiens 1921. Vgl. Helmut Meyer, Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier, S. 77.
201 Czaja, Unterwegs, S. 332; Hupka, Unruhiges Gewissen, S. 156.
202 Czaja, Unterwegs, S. 333.
38
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
dass die Autonomie der LdO für die Schlesier einen
kräftigen Aderlass bedeutete.
Man bedenke nur, dass 1950 über ein Viertel der in die
Westzonen/Bundesrepublik gekommenen zwei Millionen
Schlesier aus Oberschlesien (ohne Ostober- und Sudetenschlesien) stammte.203 Zwei Drittel davon siedelten sich bald
in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz im Ruhrgebiet in
Nordrhein-Westfalen an.204 In den regionalen Mitgliedszahlen der beiden Landsmannschaften spiegelte sich das insofern wieder, als die Landsmannschaft Schlesien 1954 in
Nordrhein-Westfalen nur über 37.000 zahlende Mitglieder
verfügte, die LdO dagegen über 85.674.205 Bundesweit bezifferte man nach anderen Zahlen (von 1955) die Mitglieder
der Landsmannschaft Schlesien auf 318.000, die der Oberschlesier auf 100.000,206 was – bei aller Vorsicht gegenüber
den Zahlen – auf einen deutlich höheren Organisationsgrad
der letzteren hindeutet.207
Folgen für Nieder- und Oberschlesier
in Bayern
Das bayerische Größenverhältnis zwischen Nieder- und
Oberschlesiern lässt sich nur schätzen, da in den amtlichen
Statistiken üblicherweise die früheren Bewohner von
„Schlesien östlich der Lausitzer Neiße“208 zusammengefasst
wurden. Nicht ganz repräsentativ sind vermutlich die Bei-
spiele von Weiden in der Oberpfalz oder Pegnitz in Oberfranken. In Weiden wurden im August 1945 über 2.600
„Evakuierte und Flüchtlinge“ aus den Bezirken Breslau und
Liegnitz registriert, dagegen nur 698 aus dem oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln,209 in Pegnitz kamen 75
Prozent der 400 Schlesier aus nieder- und mittelschlesischen
Kreisen und Städten, dagegen nur ein Viertel aus Oberschlesien.210 Ob aber auch landesweit wirklich nur etwa jeder
vierte bayerische Schlesier aus Oberschlesien stammte,
scheint fraglich: erstens wegen des Eindrucks, der sich bei
einem Blick auf die zwischen den Wahlperioden natürlich
schwankenden Zahlen der Vertriebenenabgeordneten im
Bayerischen Landtag ergibt,211 wo jedenfalls kein großer
zahlenmäßiger Unterschied bestand. Zweitens ist, selbst
wenn man ein tendenziell höheres Aktivitätspotenzial der
Oberschlesier mit ins Kalkül zieht, zu berücksichtigen, dass
gerade auch viele Oberschlesier aus dem westlich der Oder
(und des Industriegebietes) gelegenen, erst spät von der Roten Armee eroberten Teil der Provinz – „insgesamt mögen
es 306.000 bis 400.000 Menschen gewesen sein“212 – über
Troppau, Jägerndorf und Ziegenhals zunächst nach Böhmen und Mähren geflohen waren. Von dort gelangten sie
später oft nach Bayern, wohin etliche bereits auf direktem
Wege gekommen waren.213 Da es mithin wohl überwiegend
Oberschlesier aus den ländlichen Gegenden der Provinz
nach Bayern verschlagen hatte, dürfte die Gruppe von der
späteren Abwanderung ins Ruhrgebiet weniger betroffen
203 Während Niedersachsen insgesamt die meisten Schlesier (übrigens auch die meisten Ostpreußen, Ostbrandenburger, Danziger und
Volksdeutschen aus Polen) aufgenommen hatte, lag Bayern bei den Vertriebenen aus dem Sudetenland, Jugoslawien, Rumänien sowie den
baltischen Ländern (einschließlich Memelland) sowie Russland vorn; vgl. Ziegler, Die Vertriebenen vor der Vertreibung, S. 7.
204 Zu den beruflichen Integrationsproblemen der oberschlesischen und auch der (allerdings weniger zahlreichen) niederschlesischen
Bergarbeiter in Bayern vgl. Greim, In einer neuen Heimat, S. 37, 247.
205 Steinert, Vertriebenenverbände in Nordrhein-Westfalen, S. 140.
206 Stickler, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“, S. 146.
207 Nach Zahlen bei Steinert (Vertriebenenverbände, S. 140) für das Jahr 1954 hatte die LS sogar nur doppelt so viele Mitglieder wie die LdO,
obwohl es fast viermal so viele Niederschlesier in der Bundesrepublik gab. Noch deutlicher wird der Unterschied im Organisationsgrad,
wenn man berücksichtigt, dass eine nicht ganz unerhebliche Minderheit der Oberschlesier nicht der LdO, sondern der LS angehörte. Zu
den Zahlen vgl. auch von Richthofen, Schlesien, S. 9.
208 Vgl. etwa Bayerisches Statistisches Landesamt (Hg.), Amtliches Gemeindeverzeichnis für Bayern. Wohnbevölkerung nach der Volkszählung vom 24.10.1946, in: Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 141, München 1948.
209 Falkert, Die Integration von Flüchtlingen in Weiden, S. 73.
210 Landkreis Bayreuth (Hg.), Dokumentation der wirtschaftlichen Aufbauleistung, S. 50. Auch eine Statistik der oberfränkischen Stadt
Marktredwitz im August 1945 verzeichnet ein ähnlich starkes Übergewicht der Flüchtlinge aus „Niederschlesien“ (2.241) gegenüber jenen
aus „Oberschlesien“ (997). Landkreis Wunsiedel (Hg.), Die Aufbauleistungen der Heimatvertriebenen, S. 46.
211 In der Legislaturperiode von 1958 bis 1962 etwa saßen für den BHE vier (Nieder-)Schlesier und drei Oberschlesier im Landtag, für die
SPD jeweils zwei aus beiden Regionen (die beiden Breslauer Martin Hirsch und Karl Köglsberger sowie die Oberschlesier Franz Zdralek
und Waldemar Kluge, wobei letzterer erst 1962 vom BHE übertrat), für die CSU keiner, zur FDP stieß ebenfalls erst 1962 der Breslauer
Willy Reichstein vom BHE. Landtagsamt (Hg), Handbuch des Bayerischen Landtags. 4. Wahlperiode. 1958, München 1959, S. 154, 201,
262, sowie:http://www.bayern.landtag.de/cps/rde/xchg/www/x//www/abgeordnete_2614.htm/papp/Abgeordnete_ab1946/http://livesrv.
bayern.landtag.de/lebenslauf_ehemalige/lebenslauf_555600003167.html [Stand: 04. 05. 2009].
212 Dokumentation der Vertreibung, S. 58 E.
213 Von der Anfang 1945 auf ca. 4,7 Millionen Menschen geschätzten deutschen Bevölkerung (Gesamt-)Schlesiens flohen ca. 1,6 Millionen in
das Gebiet der böhmischen Länder, in die alten Reichsgebiete (neben Bayern nach Sachsen und Thüringen) 1,6 Millionen. 1,5 Millionen
blieben zurück oder wurden unterwegs „überrollt“. Ebd., S. 59 E.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
gewesen sein.214 Andererseits legt ein Blick auf die konfessionellen Verhältnisse der nach Bayern gekommenen Vertriebenen die Einschätzung nahe, dass der überwiegende
Teil der 550.000 evangelischen Flüchtlinge im Freistaat aus
Niederschlesien stammte.215
Doch selbst wenn die oberschlesische Gruppe in
Bayern ein Stück kleiner war als die niederschlesische, ist
evident, wie sich durch das schlesische Schisma künftig der
Abstand zwischen der größten, sudetendeutschen Vertriebenengruppe und der zweitgrößten, (nieder-)schlesischen
und vor allem auch zwischen ihren Landsmannschaften
merklich vergrößerte.
Künftig gab es demnach nicht mehr eine große sudetendeutsche, eine immerhin halb so große schlesische
und viele andere Vertriebenengruppen, sondern sozusagen nur noch eine sehr große sudetendeutsche und
daneben viele, viele kleinere, unübersichtlich viele,
unter denen die (Nieder-)Schlesier und die Oberschlesier lediglich die zahlenmäßig stärksten waren.
Patenschaften
In dieser Konstellation verstärkte sich die Wirkung eines
Grundtatbestandes, an dem kein Vergleich von Schlesiern
und Sudetendeutschen in Bayern vorbeikommt: Während
Bayern zum Hauptaufnahmegebiet und Patenland der vertriebenen Sudetendeutschen wurde, war die Entwicklung
bei den Schlesiern komplizierter, weil sie nicht nur einen,
sondern gleich zwei verschiedene Paten außerhalb Bayerns
hatten. Neben der niedersächsischen Schirmherrschaft über
die Schlesier bestand seit 1964 auch noch eine Patenschaft
der Regierung von Nordrhein-Westfalen für die Oberschlesier.
Für die bayerischen Ostpreußen ergab sich dagegen der Glücksfall, dass ausgerechnet ihre Landsmannschaft
ebenfalls im Freistaat Bayern einen Schirmherrn fand. Die
bei der Patenschaftsübernahme 1978 beschworenen „jahrhundertealten historischen und kulturellen Bindungen“
zwischen Bayern (tatsächlich vor allem Franken) und Ostpreußen, die in der Geschichte des Deutschen Ordens und
der Hohenzollern-Dynastie wurzeln, hatten für die wirtschaftlich-soziale Integration im Freistaat nach 1945 aber
ebenso wenig Bedeutung gewonnen wie die Tatsache, dass
für die von russischen Armeen eingenommene Provinz im
Osten während des Ersten Weltkrieges (1915) sich in Bayern eine „Ostpreußenhilfe“ gegründet hatte, der „älteste
landsmannschaftliche Zusammenschluss von ostdeutschen
Bürgern in Bayern“.216
Wichtiger als solch symbolische Bezugspunkte war
es, wie dicht das Netz lokaler Patenschaften geknüpft wurde, die aus der Schirmherrschaft des Landes erwuchsen. Als
aber Bayern dieses Amt für die Ostpreußen übernahm, war
die große Zeit der west-ostdeutschen Obhutsverhältnisse,
die von den frühen fünfziger bis in die sechziger Jahre
gedauert hatte, lange vorbei.
So ist auch nach 1978 keine einzige Patenschaft einer
bayerischen Kommune über einen ostpreußischen
Stadt- oder Landkreis mehr entstanden.
Die offizielle Publikation zu dem Thema, ein 1989 vom
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenes Verzeichnis sämtlicher „Sudeten- und ostdeutschen
Patenschaften im Freistaat Bayern“, nennt insgesamt 97 solcher kommunaler Obhutsverhältnisse,217 über 90 Prozent
davon mit sudetendeutschem Bezug.
Der „fünfte Stamm“ ist hier vor allem durch die
Südostdeutschen vertreten. So übernahm die Stadt Ingolstadt 1987 über die 10.000 Schwaben aus dem rumänischen
Teil des Banats in Bayern und deren Landsmannschaft die
Patenschaft, die Stadt Donauwörth 1980 über den Heimatkreis Lovrin (ebenfalls im Banat gelegen), weil die dort Vertriebenen im 18. Jahrhundert von Donauwörth aus auf den
„Ulmer Schachteln“ die Donau hinuntergefahren waren,
und schließlich 1973 die Stadt Moosburg an der Isar über
die Gemeinde Hodschag in der (jugoslawischen) Batschka,
nachdem die von dort Stammenden vorher schon jahrelang
ihre Treffen in Moosburg abgehalten hatten.218
Hinzu kommt die 1985 – nach „über drei Jahrzehnten freundschaftlicher Beziehungen“219 – urkundlich besiegelte „Partnerschaft“ der mittelfränkischen Stadt Dinkels-
214 Die Niederschlesier dagegen wurden durch die „Gewalt der Vertreibung“, wie es Alfred Karasek-Langer beschrieben hat, häufiger „in fast
keilförmiger Stoßrichtung von der Lausitz her über Sachsen, das Magdeburgische, Thüringen, Oberfranken und das Hannoversche bis
nach Nordrhein-Westfalen“ gedrängt. Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 655.
215 Laut Bauer, Flüchtlinge, S. 26 f., waren 1950 70,8 Prozent der 1,9 Millionen Vertriebenen katholischen, 27,9 Prozent evangelischen
Bekenntnisses. Von den 1.330.000 Millionen Katholiken waren allein 900.000 sudetendeutscher Abstammung.
216 So heißt es im Text der Urkunde, mit der Bayern 1978 die Patenschaft für die Ostpreußen übernahm. Die Urkunde ist abgedruckt in:
Ordensschild und Rautenbanner, o. S.
217 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 7, 10.
218 Ebd. S. 124, 78 f., 158, 160 f. Außerdem wird noch die 1958 begründete Patenschaft der Stadt Alzenau über die Gemeinschaft der im Bundesgebiet lebenden Mitglieder der beskidendeutschen Gemeinde Alzen genannt, deren Gründer aus dem Untermaingebiet gestammt hatten. Der Ort hatte bis zum Ersten Weltkrieg zum österreichischen Schlesien gehört, dann zum neuen polnischen Staat (ebd., S. 40 f.).
219 Ebd., S. 74.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Karte aus: In der Obhut Bayerns. Sudeten- und Ostdeutsche Patenschaften im Freistaat Bayern, hg. v. Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bayreuth
1989, S. 237.
bühl mit der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen.
Deren Patenland ist zwar Nordrhein-Westfalen, doch waren die Sachsen seit 1951 zu ihrem großen Pfingsttreffen in
Dinkelsbühl zusammen gekommen, wo allein 150 siebenbürgische Familien eine neue Heimat gefunden hatten und
wo 1967 eine eindrucksvolle Gedenkstätte vor der Stadtmauer für die „hinter Stacheldraht“, „auf der Flucht“ und
„in der Heimat“ ums Leben gekommenen „Söhne und
Töchter Siebenbürgens“ errichtet worden war.220 2007 ging
Dinkelsbühl schließlich auch eine Kommunalpartnerschaft
mit der siebenbürgischen Fachwerkstadt Schäßburg ein.221
Die größte Gruppe des „fünften Stammes“, die Schlesier, sind in dem Verzeichnis des Arbeitsministeriums
nur ein einziges Mal vertreten, und zwar mit der 1951
übernommenen Patenschaft der Stadt Fürstenfeldbruck
über die Stadt Parchwitz in Niederschlesien.
Ein von dort vertriebener Fürstenfeldbrucker Stadtrat hatte
die Initiative ergriffen. Doch kam es nach der 700-Jahr-Feier
der Stadt Parchwitz 1955 in Oberbayern nur noch zu sporadischen Aktivitäten, weil „die meisten Parchwitzer in den
nördlichen Bundesländern leben“. In den achtziger Jahren
220 Bericht über die Feier zum vierzigjährigen Bestehen der Gedenkstätte, in: Siebenbürgische Zeitung, v. 15. Juni 2007, S. 9.
221 Ebd., S. 8.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Das Bayerische Kabinett um Ministerpräsident Alfons Goppel (Bildmitte), rechts außen Arbeitsminister Fritz Pirkl, 5. Dezember 1966
Foto: ullstein bild
schlief die Beziehung ganz ein, führte aber dennoch dazu,
dass eine von Fürstenfeldbruck angestrebte Partnerschaft
mit einer polnischen Stadt dort mit dem Hinweis abgelehnt
wurde, dass Kontakte mit bundesdeutschen Städten, die
eine „von den ‚Vertriebenen‘-Verbänden geprägte, sogenannte Partnerschaft ausüben, aus Prinzip nicht in Erwägung gezogen werden“.222 Auch Versuche, eine 1953 von der
Stadt Fürth für Cosel/Oberschlesien übernommene, aber
zwischenzeitlich ruhende Patenschaft wiederzubeleben,
waren in den achtziger Jahren nicht erfolgreich.223
Nun muss man die kommunalen Obhutsverhältnisse
und die durch sie angestoßenen vielfältigen Aktivitäten,
anders als der berühmt-berüchtigte kommunistische
„Vertriebenenfresser“ Georg Herde, nicht für
„wirkungsvoller“ erachten als sämtliche BdV-Großveranstaltungen zusammen.224
Doch dass der Teppich lokal-politischer Beziehungen in die
Fläche des Freistaats hinein im sudetendeutschen Fall so
dicht geknüpft war, im schlesisch-bayerischen Fall dagegen
fast nicht existierte, konnte für die öffentliche Präsenz der
beiden Vertriebenengruppen nicht ohne Folgen bleiben.
Die bisher aufgezeigten Unterschiede zwischen den zur
Selbsthilfe historisch besonders disponierten Sudetendeutschen und den aus bayerischer Sicht noch dazu deutlich
fremderen preußischen Altreichsdeutschen, die durch das
schlesische Schisma ihre Kraft weiter schwächten, erfuhren
so eine wesentliche Vertiefung. In diesem Zusammenhang
ist auch ein Blick über Bayern hinaus aufschlussreich: Von
den rund 400 lokalen Patenschaften auf Bundesebene waren
allein die Sudetendeutschen an 160 beteiligt,225 was einer
Quote von 40 Prozent entspricht; und dies, obwohl die
Deutschböhmen nur etwa ein Viertel aller in den Westen
Deutschlands gekommenen Vertriebenen ausmachten.
222 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 94.
223 Helmut Meyer, Chronik, S. 143, hatte zum Stichtag 30. September 1977 neben Fürth/Cosel noch zwei weitere oberschlesische Patenschaften in Bayern genannt. Für Informationen zum Patenschaftsverhältnis Fürth-Cosel danke ich Ronald Langer vom Stadtarchiv Fürth (Mail
vom 25. Juni 2009).
224 Kittel, Vertreibung der Vertriebenen?, S. 99.
225 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 9, S. 27.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Entwicklung ostdeutscher
Kulturarbeit bis heute
Von den landespatenschaftlichen Strukturen stark beeinflusst, entwickelten sich in der Folgezeit die politischen und kulturellen Zentren der Sudetendeutschen
und der Schlesier wie auch der übrigen Vertriebenengruppen meist dort, wo die Masse der Betroffenen aufgenommen worden war.
Die bis heute relativ starke Wahrnehmung der sudetendeutschen Volksgruppe in Bayern ist demnach auch die logische
Folge ihrer festen institutionellen Verankerung im kulturellen Gefüge des Patenlandes, die in den siebziger und achtziger Jahren ausgebaut werden konnte. Die von der SL 1967
geforderte Konkretisierung der Schirmherrschaft durch
Gründung einer Stiftung, ähnlich der, die das Land Schleswig-Holstein für die Pommern 1966 errichtet hatte, führte
1970 zum Erfolg. Auf dem Grundstock von Geldern des
Westvermögens ehemaliger sudetendeutscher Kreditgenossenschaften wurde die Sudetendeutsche Stiftung gegründet,
die ein „unabhängiges Instrument der Schirmherrschaft zur
Wahrung und Förderung sudetendeutscher Belange, vor
allem auch bei der Erhaltung des deutschen Kulturgutes der
böhmisch-mährisch-schlesischen Länder“, sein sollte.226
Das enge Verhältnis der Stiftung zur bayerischen
Staatsmacht dokumentiert die Präsenz des Ministerpräsidenten, des Arbeitsministers und von fünf Abgeordneten der Landtagsfraktionen im Stiftungsrat.227
Wenige Jahre nach Gründung der Stiftung schob Arbeitsminister Fritz Pirkl dann das große Projekt eines „Sudetendeutschen Zentrums“ in München an, das „zum geistigen
Kristallisationspunkt und räumlichen Mittelpunkt der
Sudetendeutschen Volksgruppe werden“ und zukunftsorientiert der „Gewinnung der nächsten Generation der Sudetendeutschen“ dienen sollte.228 1985 wurde die Einrichtung
unter dem Namen „Sudetendeutsches Haus“ eröffnet. Neben diesem Münchner Zentrum (als Sitz der Landsmannschaft, des Sudetendeutschen Rates und der Sudetendeut-
schen Stiftung, des Adalbert Stifter Vereins und des Collegium Carolinum, der Sudetendeutschen Akademie, des Sudetendeutschen Archivs und des Heimatpflegers) entstanden regionale museale Schwerpunkte in Marktredwitz
(Egerland-Kulturhaus), Kaufbeuren-Neugablonz (Isergebirgsmuseum) oder Passau (Böhmerwaldmuseum), nicht zu
vergessen das vom Bezirk Oberpfalz getragene Sudetendeutsche Musikinstitut in Regensburg sowie eine Fülle
lokaler Heimatstuben. Über 80 Prozent aller in Bayern
existierenden Einrichtungen dieser Art (insgesamt 88 anno
2009) haben einen sudetendeutschen Bezug.229
Ein besonderes Juwel ist das 1970 eröffnete „Museum Ostdeutsche Galerie“ in Regensburg, getragen von
einer durch den Bund, die Länder und die Stadt gegründeten Stiftung. Die Ausstellung konnte auf den Sammlungen
des Adalbert-Stifter-Vereins und der 1948 am Neckar von
Sudetendeutschen und Schlesiern gemeinsam ins Leben
gerufenen „Künstlergilde Eßlingen“ aufbauen. Sie sollte
„das Erbe der ostdeutschen Zentren bewahren und den
Beitrag des Ostdeutschtums zu moderner Kunstentwicklung in repräsentativer Schau der Öffentlichkeit zugänglich
machen“.230 Die Benennung der Einrichtung sorgte allerdings für einen bemerkenswerten Zwist. Der Adalbert Stifter Verein hatte einen Beschluss gefasst, wonach sich die
Pionierleistung der Sudetendeutschen Galerie auch in dem
Namen des neuen Museums spiegeln müsse, und vorgeschlagen, das Kind „Ostdeutsche Galerie – Sudetendeutsche
Galerie“ zu taufen.
Der Bundeskulturreferent der SL fürchtete, dass
ein nominelles Aufgehen der Sudetendeutschen Galerie in
einer „allgemeinen Ostdeutschen Galerie die sudetendeutsche kulturpolitische Position und damit das heimatpolitische Anliegen schwächen“ würde. Andere gaben zu bedenken, ob sich der Begriff „sudetendeutsch“ überhaupt als
Unterbegriff von „ostdeutsch“ verstehen lasse.231 Die Kulturreferenten der Landesflüchtlingsverwaltungen entschieden
sich aber im Vorgriff auf die Ergebnisse der damals gerade
entwickelten „Neuen Ostpolitik“ für den Begriff „Ostdeutsche Galerie“. Sie betonten, mit „ostdeutsch“ ausdrücklich
nur einen kulturellen Bezug zu meinen, „keineswegs“ aber
„territoriale Ansprüche“ dokumentieren zu wollen.232
226 So der im sudetendeutschen Plan geborene Jurist Fritz Wittmann, 1969 bis 1971 zuständiger Referent im Bayerischen Arbeitsministerium,
dann Nachrücker in den Bundestag auf der CSU-Liste, der zu den treibenden Kräften des Projekts zählte. Fritz Wittmann, Die Sudetendeutsche Stiftung, in: Bayerland 72 (1970), S. 30.
227 Pohl, Zwischen Integration, S. 456.
228 Ebd., S. 463.
229 Eine aktuelle Liste der Heimatstuben hat die Münchner Landesstelle für die nicht-staatlichen Museen in Bayern 2009 erstellt und uns
freundlicherweise Einsicht gegeben.
230 So heißt es in der Errichtungsurkunde. Zit. n. Pohl, Zwischen Integration, S. 434.
231 Ebd., S. 440.
232 Ebd., S. 439 f.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Das Oberhaus Museum in Passau: Außenansicht von Süden; S. 45 Wappenhalterin (Skulptur um 1500)
Fotos: Oberhaus Museum Passau
Während die Sudetendeutschen in München und Bayern, von ihrem Patenland notfalls auch gegen den politischen Zeitgeist unterstützt, an ihren kulturellen Zentren arbeiten konnten, hatten die Schlesier in den frühen siebziger und nochmals in den neunziger Jahren
Streit mit ihrem rot bzw. rot-grün regierten Patenland
Niedersachsen.233
Auch deshalb liegen ihre Einrichtungen heute weit verstreut
im ganzen Bundesgebiet: von dem Anfang der achtziger
Jahre eingeweihten Haus Schlesien in Königswinter (bei
Bonn) über das nach der Revolution von 1989/90 möglich
werdende Landesmuseum in Görlitz an der Neiße, im
deutsch gebliebenen Westzipfel Schlesiens, der heute zu
Sachsen gehört, bis hin zum Kulturwerk Schlesien mit Sitz
in Würzburg234 – ganz abgesehen davon, dass die Oberschlesier in Ratingen-Hösel (seit 1983) selbstverständlich
233
234
235
236
44
ihr eigenes Kulturzentrum haben, an dessen Gestaltung beispielsweise auch die mittelfränkische LdO-Jugendgruppe
Schwabach mittels Anfertigung von Ortswappen für das
„Wappenzimmer“ beteiligt war.235 In Bayern sind dagegen
lediglich einige kleinere Heimatsammlungen mit SchlesienBezug entstanden, etwa die Schlesischen Heimatstuben im
Stadtmuseum Rehau, die Heimatstube Schlesien in Vilsbiburg, die Schlesierstube im niederbayerischen Massing, ein
Zimmer im Waldnaabtal-Museum in Windischeschenbach
oder die (anno 2008 aber nicht zugängliche) Sammlung der
LS in Herzogenaurach.236
Das Kulturwerk Schlesien (KWS) ist die wichtigste
kulturelle Einrichtung für die Schlesier in Bayern.
1952 gegründet, gehört die Stiftung KWS neben dem Nordostdeutschen und Südostdeutschen Kulturwerk und dem
Bahlcke, Schlesien, S. 173; Hupka, Unruhiges Gewissen, S. 416.
Schmilewski, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kulturwerk Schlesien, S. 74.
Helmut Meyer, Chronik der Landsmannschaft der Oberschlesier, S. 56.
Vgl. Kessler, Ostdeutsches Kulturgut, sowie die Aktivitäten des Schlesischen Museums zu Görlitz, das ein Projekt „Schlesische
Heimatstuben in der Bundesrepublik Deutschland“ durchführt.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Nach der Westvermögenszuführungsverordnung von 1974
wurde das KWS durch Genehmigung des Bayerischen
Staatsministeriums für Unterricht und Kultus (vom November 1975) als öffentliche Stiftung bürgerlichen Rechts
errichtet.
Auch ermöglichte der Freistaat den Schlesiern in Nürnberg seit 1991 die Ausrichtung des Schlesiertages, als die
Landsmannschaft diesen wegen des Konflikts mit der
niedersächsischen Landesregierung nicht mehr in
Hannover durchführen wollte oder konnte.238
In der Ära Kohl stiegen zudem die Bundeszuwendungen
für das KWS bis Ende der neunziger Jahre auf 670.000 Mark
jährlich an, dann aber erfolgte unter der rot-grünen Bundesregierung die Einstellung der institutionellen Förderung,
womit zwei Drittel der jährlichen Einnahmen wegbrachen.
Die Ausstellungstätigkeiten mussten stark eingeschränkt,
Studientagungen für Studenten ganz aufgegeben werden.
Von einst acht Mitarbeitern blieben noch zwei. Der Einbruch war auch durch die Anstrengungen des Ende der siebziger Jahre gegründeten, stark wissenschafts- und medizingeschichtlich ausgerichteten Gerhard-Möbus-Instituts für
Schlesienforschung an der Universität Würzburg nicht zu
kompensieren, mit dem das KWS stets kooperierte.
sudetendeutschen Adalbert-Stifter-Verein zu den vier „großen“ ostdeutschen Kulturwerken. Ihren Sitz hatte die Stiftung Kulturwerk Schlesien zunächst in Neumarkt in der
Oberpfalz, dem Wohnort ihres ersten Leiters (bis 1965), des
aus Oberschlesien stammenden damaligen bayerischen
Bezirksschulrats Karl Schodrok. 1957 wurde der Sitz des
KWS in das zentraler gelegene Würzburg verlegt. Danach
durchlebte es eine bewegte, von Rückschlägen nicht freie
Geschichte.
So drängte das für die Förderung zuständige Bundesvertriebenenministerium schon 1964 auf die Einstellung
der „Schriftenreihe Kulturwerk Schlesien“, weil nicht mehr
so viel Geld zur Verfügung stehe. Auf der KWS-Jahreshauptversammlung im Juni 1964 wurde daraufhin geäußert:
„Wenn man [...] z.B. vergleicht, welche große Summen
Bayern für sein Patenkind Sudetenland aufwendet, könnte
man [im Kulturwerk Schlesien, M.K.] mutlos werden“.237
Allerdings half der Freistaat Bayern auch den Schlesiern.
So stellt sich die Lage für die Kulturarbeit der Schlesier,
den größten Teil des „fünften Stammes“, heute nicht
eben befriedigend dar. Vor diesem Hintergrund kommt
einem – für Nicht-Eingeweihte wohl zunächst überraschenden – „schlesischen Erinnerungsort“ in Bayern
einige symbolische Bedeutung zu: der jährlichen
Schlesierwallfahrt nach Kloster Andechs.
Ihr historischer Bezugspunkt ist die dem Geschlecht der
Grafen von Andechs entstammende Gemahlin des Piastenherzogs Heinrich I. von Breslau, die Heilige Hedwig. Sie
war im Mittelalter zusammen mit bayerischen Bauern,
Handwerkern und Mönchen nach Schlesien gezogen. 1929
hatte der Breslauer Kardinal Bertram dem Benediktinerkloster Andechs eine Schädelreliquie der als Landespatronin Schlesiens hoch verehrten Fürstin vermacht. Nach 1945
wurde Andechs vor allem für die vertriebenen katholischen
Schlesier in Bayern zu einem Wallfahrtsort, an dem seit der
700-Jahr-Feier der Heiligsprechung auch eine eigene Hedwigskapelle zu finden ist.239
Aber nicht nur die verewigte Heilige, sondern auch
lebende Menschen konnten zum Symbol der Heimat wer-
237 Schmilewski, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kulturwerk Schlesien, S. 78.
238 Festschrift. Bekenntnis zu Schlesien, S. 8.
239 Kossert, Kalte Heimat, S. 260.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Der Ausstellungssaal „Begebenheiten und Gestalten“ im Schlesischen Museum Görlitz
den. Als etwa eine katholische Niederschlesierin auf einer
Flüchtlingswallfahrt in Altötting einige Jahre nach der
Vertreibung „ihren“ alten Laubaner Pfarrer Pikorz erkannte, war „sofort […] Heimat da“ für sie „in dieser großen
Menschenmenge“.240 Zu den zwar nicht sicht-, aber hörbaren Erinnerungsorten kleinerer Art zählen zudem einige
Dutzend Glocken aus evangelischen Kirchen Schlesiens, die
in den Kriegswirren nach Bayern gelangten und heute dort
in lutherischen Gotteshäusern wieder läuten.241
Was die anderen, kleineren Vertriebenengruppen
betrifft, so gehören zu deren sichtbarsten Zeichen –
abgesehen von einer Reihe immer noch vielfältigster
lokaler Aktivitäten – zunächst das stattliche Ostpreußische Kulturzentrum im mittelfränkischen Ellingen
sowie die – allerdings im Umbruch befindlichen –
Foto: Udo Meinel, Berlin
Einrichtungen der Ost- und Westpreußenstiftung in
Oberschleißheim (eine Dauerausstellung in dem vor
einigen Jahren vom Landkreis München übernommenen Gelände neben der Flugabteilung des Deutschen
Museums sowie eine Ost- und Westpreußenausstellung
in der Obhut des Bayerischen Nationalmuseums im
Alten Schloß Schleißheim).242
Über die sehr kleine Gruppe der Deutschen aus dem Buchenland in der heutigen Westukraine und in Nordrumänien übernahm der bayerische Regierungsbezirk Schwaben
schon 1955 die Patenschaft. Er bezog sich dabei auf die
schwäbische Herkunft eines Teils der einst im 18. Jahrhundert von der Donaumonarchie ins Land geholten, nach dem
Zweiten Weltkrieg teilweise wieder im bayerischen Schwaben angesiedelten Menschen. Wichtigstes Ergebnis der Be-
240 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 56 f.
241 Hultsch, Schlesische Glocken.
242 Der zentrale Ort der Ostpreußen in der Bundesrepublik ist aber Lüneburg, wo neben dem Ostpreußischen Landesmuseum auch das
Nordostdeutsche Kulturwerk seinen Sitz hat.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Neben diesen auffälligeren, meist vom Freistaat Bayern
(mit) bezuschussten Einrichtungen gibt es für andere
Gruppen des „fünften Stammes“ allenfalls kleinere
Häuser bzw. Heimatstuben,243 oft aber gar keine
baulichen Kristallisationspunkte, sondern nur solche
organisatorischer Art.
Herzogin Hedwig, Aquarell vom Ende des 15. Jahrhunderts,
Burg Trausnitz, Landshut
Bild: Bayerische Schlösser- und Seenverwaltung
zirkspatenschaft war 1989 die Gründung eines BukowinaInstituts in Augsburg, das an die Tradition der einst östlichsten deutschsprachigen Universität in Czernowitz anknüpft und 2003 vom Bayerischen Wissenschaftsministerium die Rechtsstellung eines An-Instituts der Universität
Augsburg verliehen bekam.
Hinsichtlich der Südostdeutschen wäre für die Vertriebenen
aus Jugoslawien zunächst das 1998 eröffnete „Haus der
Donauschwaben in Bayern“ in Haar bei München zu nennen,244 das ebenfalls durch eine Bezirkspatenschaft, nämlich
die Oberbayerns über die Donauschwaben (seit 1992), mit
ermöglicht wurde. Doch haben die Donauschwaben ihr
eigentliches kulturelles Zentrum245 ebenso wie die anderen
Südostdeutschen außerhalb des Freistaats,246 während sie
dort vor allem durch die kulturellen Aktivitäten der sehr
stark ausdifferenzierten Landsmannschaften präsent sind.
So engagiert sich die Landsmannschaft der Banater Schwaben für die 1944 erst zu einem kleinen Teil mit der zurückweichenden Wehrmacht geflohenen, überwiegend erst in
den neunziger Jahren ausgesiedelten Menschen aus dem
rumänisch-katholischen Teil des Banats, die Landsmannschaft der ebenfalls katholischen Sathmarer Schwaben für
die Sprachinsel in Nordwestrumänien,247 wo der Heimatverlust ebenfalls in diesen zwei Phasen, aber in der Größenordnung der Abwanderung umgekehrt erfolgte, und
schließlich als größter unter diesen kleineren Verbänden die
Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, die traditionell
(im Gegensatz zu den Banater und Sathmarer Schwaben)
der protestantischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses
angehören. Daneben sind als Glieder des bayerischen BdV
heute noch die Karpatendeutsche Landsmannschaft der
Slowakei und eine kleinere Landsmannschaft altreichsdeut-
243 Zu nennen sind hier das Brauchtums- und Trachtenpuppenmuseum/Heimathaus der Banater Schwaben in Würzburg-Heidingsfeld, die
Lovriner Stube in Donauwörth (ebenfalls mit Banater Bezug), die an einen ungarndeutschen Ort bei Fünfkirchen erinnernde Maischer
Heimatecke in der landwirtschaftlichen Sammlung der Gemeinde Eching oder die (donauschwäbische) Weprowatzer Heimatstube in
Zirndorf. Gemischte Bestände haben das Heimatmuseum Geretsried (u. a. Donauschwaben, Siebenbürgen), das Karlsfelder Heimatmuseum (u. a. Schlesien, Ostpreußen sowie südostdeutsche Gebiete), das Haus der Heimat in Landshut (u. a. Siebenbürger Sachsen) und das
Aufbau-Museum im Haus der Heimat in Moosburg (Donauschwaben und Schlesien).
244 1950 war in Garching b. München die erste Ortsrandsiedlung der donauschwäbischen Dorfgemeinschaft entstanden, der bald weitere
folgten. Ausgangspunkt waren Flüchtlinge, die z. B. mit dem Bauerntreck aus Neu-Futok in der südlichen Batschka 1945 im Landkreis
Altötting gelandet waren, vgl. Alfred Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 626.
245 Das ist das Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm, wo auch der mit Mitteln aus dem § 96 des BVFG geförderte Kulturreferent für die
Geschichte der Südostdeutschen seinen Sitz hat.
246 So ist im ehemaligen Deutschordensschloss Horneck in Gundersheim am Neckar (in Baden-Württemberg leben nach Bayern die meisten
Siebenbürger Sachsen) das „Heimathaus Siebenbürgen“ – mit Siebenbürgen-Institut und Archiv, Museum sowie Geschäftsstellen diverser
Kulturvereinigungen – eingerichtet worden, das als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum der Sachsen gelten kann. Gündisch,
Siebenbürgen, S. 242, 244.
247 Eine Gruppe dieser Nordsiebenbürger war im Treck 1944/45 in den westmittelfränkischen Raum von Rothenburg ob der Tauber gekommen, wo sie zunächst in verschiedenen Dörfern der Gegend eine Unterkunft fanden und einige sogar später einen Bauernhof erhielten,
vgl. Karasek-Langer, Volkstum im Umbruch, S. 627; Kossert, Kalte Heimat, S. 105. Aus der kleinen Landsmannschaft der Sathmarer
Schwaben hat sich 2004 auch noch eine eigenständige Heimatortsgemeinschaft der Oberwischauer e. V. herausentwickelt (BdV-Blickpunkt, Juni 2005, S. 10 f.). Der Sonderweg der vielfach erst nach 1990 ausgesiedelten Oberwischauer hat nicht zuletzt mit sozialen Unterschieden zwischen den Oberwischauer Waldarbeitern und den oft gebildeteren, aber weitgehend magyarisierten Sathmarer Schwaben zu
tun. Johann Traxler: Leopold Traxler. Ein Mann der ersten Stunde, in: Wassertaler Heimatbote (1) vom 20. Dezember 2004, S. 19.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Aus Schlesien mitgebrachte Schlüssel, heute Exponate im Schlesi-
Titel der von russlanddeutschen Landsmannschaft heraus-
schen Museum Görlitz
gegebenen Zeitung
Foto: Die Partner
scher Provenienz, die Pommer’sche, zu erwähnen, die gerne
auf den im 12. Jahrhundert wirkenden Pommernapostel
Bischof Otto von Bamberg verweist,248 sowie der Bund der
Danziger, die Landsmannschaft der Deutschen aus Litauen
und die Deutsch-Baltische Landsmannschaft.249
Von besonderer Bedeutung allein wegen der großen
Zahl der meist erst als Spätaussiedler seit den neunziger
Jahren in den Freistaat gekommenen Menschen ist ferner die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland,
deren bayerische Landesgruppe indes bereits seit 1957
besteht.
Der ähnlich wie die Siebenbürger Sachsen oder die Banater
Schwaben von einer überdurchschnittlich jungen Mitgliederschaft geprägte Verband entwickelt vielfältige Aktivitäten sozialer wie kultureller Art.250 Er ist nicht zuletzt im
Haus der Heimat in Nürnberg sehr aktiv, dessen Errichtung
Ende der neunziger Jahre wesentlich auch mit der Herausforderung der Spätaussiedlerwelle aus Russland begründet
248 Vgl. den Artikel von Ernst Schroeder im BdV-Blickpunkt, Juni 2006, S. 12, sowie den Beitrag von Friedrich Birkholz „Bayern und Pommern“, in: Landkreis Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 871. Hier erfährt man etwa, dass die große Glocke aus Stargard
in Pommern, die im Krieg eingezogen worden war, nach 1945 in Nördlingen läutete. Das Gros der einschlägigen Museen/Bildungseinrichtungen für die Pommern befindet sich indes weit weg von Bayern in Lübeck/Travemünde und Greifswald. Allerdings hat der Bezirk
Mittelfranken vor einigen Jahren seine ältere Verbindung mit der französischen Region Limousin zu einer tri-regionalen Partnerschaft
unter Beteiligung der heutigen polnischen Woiwodschaft Pommern erweitert. In diesem Rahmen haben jüngst das Fränkische Freilandmuseum in Bad Windsheim, eine Projektgruppe des Ansbacher Gymnasiums Carolinum sowie das Mittelpommersche Museum in Stolp/
Słupsk eine Ausstellung zum Thema „Zwangsarbeit im ländlichen Franken 1939–1945“ organisiert.
249 Die 1998 noch als landsmannschaftliche Landesgruppen im BdV Bayern genannte Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg sowie die
Landsmannschaften der Bessarabiendeutschen, der Dobrudscha- und Bulgariendeutschen und der Deutschen aus Polen (Bayerisches
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Integration von Spätaussiedlern in Bayern. pdf-Datei. www.stmas.bayern.de/vertriebene/aussiedler, (Stand: 4. Mai 2009), S. 54) haben ihre bayerischen Landesverbände zwischenzeitlich mangels Masse eingestellt. Grundlegend zur Geschichte vieler kleinerer Landsmannschaften: Kotzian, Die Umsiedler.
250 Vgl. etwa BdV-Blickpunkt, März 2009, S. 8, oder den Artikel von Nina Paulsen „Beckstein: Spätaussiedler Gewinn für Bayern. Landestreffen der Deutschen aus Russland“, in: BdV-Blickpunkt, September 2008, S. 6–7.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Lovis Corinth: Der Jochberg am Walchensee, 1924
Fotos: Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg
Kunstforum Ostdeutsche Galerie
wurde.251 Ein Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gibt es seit zehn Jahren in Detmold,252 einen aktiven Förderverein seit 2006 in Augsburg,253 doch in Bayern
sind die Russlanddeutschen, heute die nach den Schlesiern
zweitgrößte Gruppe des „fünften Stammes“, in Form eines
baulichen oder institutionell geförderten Erinnerungsortes
noch nicht angekommen. Die soziale und wirtschaftliche
Integration steht im Vordergrund.
Der „fünfte Stamm“ und das Haus des
Deutschen Ostens in München
Gewiss kann man die Frage stellen, wie sichtbar die Einrichtungen des „fünften Stammes“ bayernweit sind, was zum
einen mit ihrer teils schwierigen finanziellen und personellen Situation zu tun hat, zum anderen mit der Tatsache, dass
gesamtbayerische Wirkung im Freistaat offensichtlich noch
immer am ehesten von München aus erzielt wird – Ausnahmen wie die Ostdeutsche Galerie in Regensburg bestätigen
eher die Regel.
Geht es um die Präsenz des „fünften Stammes“ in der
bayerischen Erinnerungskultur, richtet sich der Blick
demnach vor allem auch auf das „Haus des Deutschen
Ostens“ (HDO) in München. Seine Eröffnung 1970
hatte Staatsminister Fritz Pirkl ausdrücklich mit „der
Fürsorge des Freistaates für seine bayerischen Mitbürger“ begründet, „die aus Ost- und Westpreußen, aus
Pommern, Schlesien, dem Sudetenland und den Ländern Südosteuropas stammen“.254
Die Reihenfolge, in der Pirkl die Regionen nannte, entsprach tendenziell in etwa dem Maß, in dem sie der Fürsorge
bedurften. Die Entstehungsgeschichte des HDO zeigte dies
einmal mehr. Denn eine frühe Initiative ging auch hier von
den Sudetendeutschen, vom Adalbert-Stifter-Verein aus,
der schon 1951 einen Verein „Haus der vertriebenen Deutschen“ angeregt hatte. An einem zentralen Ort, gedacht war
an den Odeonsplatz 12 am Hofgarten, sollte nicht nur Geselligkeit gepflegt, sondern „vor allem die Kultur und die
Geschichte der aus Ost- und Südosteuropa vertriebenen
Deutschen dokumentiert, repräsentiert, erinnert und erforscht werden“.255
Da sich aber angesichts der prekären materiellen Lage
der Flüchtlinge in den fünfziger Jahren die Meinung
durchsetzte, man brauche „kein Haus der Vertriebenen,
sondern Häuser für die Vertriebenen“,256 kam erst
wieder Mitte der sechziger Jahre Bewegung in die
Diskussion.
251 Zur Entstehungsgeschichte des Hauses, das auf eine Initiative des aus Pommern stammenden Nürnberger CSU-Landtagsabgeordneten
Sieghard Rost zurückgeht, vgl. Haus der Heimat Nürnberg (Hg.), Ein Stück Heimat, S. 10 f.
252 Volk auf dem Weg 4 (2006), S. 20 ff.
253 Volk auf dem Weg 5 (2006), S. 7.
254 SZ v. 2. Oktober 1970, zit. n. Böhm, Weg und Ziel, S. 169.
255 Pohl, Zwischen Integration, S. 443.
256 Ebd., S. 443.
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Die SPD hatte 1963 die Berücksichtigung der Vertreibungsgebiete in einem damals geplanten „Haus der Bayerischen
Geschichte“ angeregt. Obwohl der Landtag daraufhin im
Dezember 1964 die Staatsregierung aufforderte, ein „Ostdeutsches Haus“ in München zu errichten, dauerte es auch
wegen Rangeleien mit dem von einem sudetendeutschen
Sozialdemokraten (Walter Richter) geführten BdV-Landesverband noch über ein halbes Jahrzehnt, ehe das HDO 1970
im ehemaligen Benediktinerinnenkloster am Lilienberg nahe der Isar-Museumsinsel errichtet werden konnte. Es sollte Begegnungsstätte sein, aber vor allem auch als „landesweit tätiges Kulturinstitut“257 zentral die Aufgaben wahrnehmen, „die dem Freistaat Bayern aus dem § 96 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge […] für die kulturelle Förderung […] erwachsen“.258
Anders als schließlich realisiert hatte das Arbeitsministerium deshalb im HDO ursprünglich auch die in München
ansässigen außeruniversitären Forschungseinrichtungen
ansiedeln wollen, die sich mit Ost- und Südosteuropa beschäftigen.
Zwar ist das HDO, eine dem Ministerium nachgeordnete Behörde, trotz erfolgreichen Wirkens vom Stellenabbau in finanzpolitisch schwierigen Jahren nicht verschont
und gerade in seiner Kulturarbeit beeinträchtigt worden,
doch zum 1. Januar 2007 ist ein neuer Organisationserlass
für die Einrichtung in Kraft getreten und die Erhaltung des
HDO als „Kultur- und Bildungseinrichtung“ bekräftigt
worden. Seine Funktion als Begegnungszentrum für die
Deutschen aus dem Osten wird gewiss kaum in dem Maße
abnehmen, wie dies sympathisierende Pessimisten fürchten
und notorische Vertriebenengegner hoffen.
Selbst im Falle einer günstigen Entwicklung aber lautet
jetzt, in der Phase des Übergangs von der Erlebnis- zur
Vermächtnisgeneration, die entscheidende Frage, ob
staatlicherseits institutionelle Pflöcke eingeschlagen
werden, um das Kulturerbe des historischen deutschen
Ostens im Freistaat dauerhaft zu sichern.
Kaum ein Land hat sich so aktiv der altostdeutschen Kulturpflege angenommen wie Bayern. Es ist nicht nur das seinem
Selbstverständnis nach „in der Vertriebenenarbeit führende
[…] Land […] der Bundesrepublik“,259 sondern hier haben
tatsächlich auch „weit mehr Einrichtungen der Kulturarbeit
im Sinne des § 96 BVFG […] ihren Sitz als in jedem anderen Bundesland“.260 Neben der Schirmherrschaft über die
Sudetendeutschen und die Ostpreußen ist die anhaltende
institutionelle Förderung für den bayerischen Landesverband des Bundes der Vertriebenen (BdV) durch das Sozialministerium zu nennen, die sämtlichen Gruppen des „fünften Stammes“ zugute kommt. Doch selbst in Bayern ist man
weit davon entfernt, die Forderung zu erfüllen, die Andreas
Kossert im Hinblick auf Schleswig-Holstein erhoben hat:
Wenn dort „vierzig Prozent der Bevölkerung Vertriebene
mit ihren Nachfahren sind, müssten streng genommen vierzig Prozent der Kulturförderung für das Land zur Pflege
von deren Traditionen aufgewandt werden“.261 Schon ein
Bruchteil der nach dieser weit gehenden Argumentation
sich für Bayern ergebenden Summe von 20 bis 25 Prozent
der Kulturförderung würde ausreichen, um das nationale
Kulturerbe des historischen deutschen Ostens angemessen
zu wahren.
Tatsächlich aber musste nicht nur der „fünfte“,
sondern auch der „vierte Stamm“ oft hart und jahrelang mit
den Finanzpolitikern um die Erfüllung elementarer Wünsche ringen, wie etwa die lange Planungsgeschichte des Sudetendeutschen Hauses zwischen 1973 und 1982 (Grundsteinlegung) zeigt.262 Insofern sollte man nicht vorschnell
kritisieren, dass „viele bayerische Staatsbürger sudetendeutscher Herkunft“ wegen der Patenschaftsbeziehung
zum Freistaat „ein Sonderbewusstsein pflegten und eine
fordernde Haltung gegenüber dem Staat kultivierten“.263
Gewiss fällt ins Auge, wenn es etwa seit 1988 auch
eine hauptamtliche Heimatpflegerin der Sudetendeutschen
gibt, deren Finanzierung sich der Freistaat und die Bezirke
teilen,264 während für den „fünften Stamm“ eine derartige
Stelle nicht existiert.
Offensichtlich ist aber auch, dass es ohne die politische
Schlagkraft des „vierten Stammes“ auch dem „fünften“
in Bayern viel schlechter ergangen wäre. Man denke
nur an die Entstehung des HDO, das heute von beiden
„Stämmen“ gemeinsam genutzt wird.
257 Singbartl, In der Obhut, S. 55.
258 So hieß es im § 2 der Verordnung über die Errichtung des HDO vom 2. April 1970, zit. n. Pohl, Zwischen Integration, S. 446. Zum Folgenden ebd., S. 447.
259 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 12.
260 Singbartl, In der Obhut, S. 55.
261 Kossert, Kalte Heimat, S. 342.
262 Pohl, Zwischen Integration, S. 464.
263 Ebd., S. 384. Bemerkenswert auch die Kritik daran, dass „Vertriebenenpolitiker“ in den fünfziger Jahren einen eigenen Sitz im BR-Rundfunkrat „für die interessenpolitisch organisierten Vertriebenen“ durchsetzen konnten, „wodurch diese künstlich als gesellschaftliche
Sondergruppe konserviert“ worden seien. Ebd., S. 167.
264 Pohl, Zwischen Integration, S. 475.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern ? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
Eröffnungsveranstaltung des HDO am 24. Oktober 1970 im Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Im Bild 2., 3., 4. v. li.: Ministerpräsident Alfons Goppel, Staatsminister Dr. Fritz Pirkl und Staatssekretär Dr. Karl Hillermaier.
Abbildungen: Haus des Deutschen Ostens 1970–1990; Festschrift hg. v. Horst Kühnel, München 1990, S. 16; li.: ebd., S. 84.
Die in diesem Aufsatz aus wissenschaftlichem Interesse herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den Vertriebenengruppen dürfen also nicht darüber hinwegtäuschen, wie
konstruktiv vierter und fünfter Stamm unbeschadet einiger
Animositäten265 in vielen kleineren und großen Fragen kooperiert haben; sei es, wenn im Bayerischen Landtag die
Kulturförderung diskutiert wurde, sei es in dem von einem
Sudetendeutschen 1949 gegründete Tennisverein im kleinen
Kemnath in der Oberpfalz, in dessen bald in der Landesliga
spielender Damenmannschaft von vier Sportlerinnen zwei
Sudetendeutsche waren, eine Schlesierin und eine aus dem
Wartheland.266
In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, wie
sich die altostdeutsche Erinnerungslandschaft um das
zentrale Sudetendeutsche Museum in München herum
entwickeln wird, dessen Bau die Ministerpräsidenten
Stoiber, Beckstein und Seehofer zugesagt haben.
Die tausendjährige Geschichte der Deutschen in Böhmen,
Mähren und Sudetenschlesien wird so wohl einen angemes-
senen Platz in der Geschichtskultur des Freistaates einnehmen können. Lässt sich dies aber tendenziell auch als Bestätigung der These der US-amerikanischen Historikerin Gatz
lesen, wonach die Sudetendeutschen im Gegensatz zu den
Ostpreußen nicht von der bayerischen Gesellschaft „absorbiert“ worden seien, sondern sich als eigene Gruppe in ihr
hätten etablieren können?267
Handlungsbedarf besteht jedenfalls gerade angesichts
derartiger Befunde hinsichtlich der Ostpreußen, der
Schlesier und der vielen anderen Teile des „fünften
Stammes“.268 Dabei scheint bei den Schlesiern der
Abstand zwischen ihrem quantitativen Gewicht und
ihrer institutionellen Verankerung in Bayern am
deutlichsten.269
Vor diesem Hintergrund wird im HDO-Beirat über eine
Initiative nachgedacht, die Einrichtung zu einer „Kulturbrücke“ Bayerns nach Osten auszubauen und es als Begegnungszentrum auch für die jüngeren Spätvertriebenen
etwa aus Siebenbürgen und den deutsch-russischen Sied-
265 So berichtet Arthur Müller-Doldi (Augsburg) in einem Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser (am 4. Mai 2009 am HDO), dass seine aus
der national-protestantischen Kreuzburger Enklave in Oberschlesien stammende Mutter sich über die Sudetendeutschen dahingehend
geäußert habe, dass diese gar keine richtigen „Reichsdeutschen“, sondern bloß „Volksdeutsche“ gewesen seien.
266 Pohl, Zwischen Integration, S. 78, 118. Zu gemeinsamen Veranstaltungen von Sudetendeutschen und Schlesiern vgl. auch Landkreis
Erding (Hg.), Flüchtlinge und Heimatvertriebene, S. 648 („Sudetendeutsche und Schlesier halten zusammen“).
267 Gatz, Expellees, S. 293.
268 Die Protokolle der im Folgenden herangezogenen Beiratssitzungen befinden sich im Privatarchiv des Verfassers.
269 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass es selbst für die kleineren Gruppen der Südostdeutschen in Bayern zumindest
mehr Heimatstuben gibt als für die Schlesier.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
lungsgebieten ebenso zu stärken wie im Hinblick auf seine
kulturelle Breitenarbeit. Gleichzeitig hat das Haus einer
Gesamtentwicklung Rechnung zu tragen, die laut dem
jüngsten Bericht der Bundesregierung zur Förderung der
Kulturarbeit nach § 96 Vertriebenengesetz dahin geht, diese
„verstärkt auf fachliche und wissenschaftliche Grundlagen
zu stellen“.270 Staatsministerin Christa Stewens hat in einer
Rede im Dezember 2007 in diesem Sinne ausgeführt, den
Gedanken einer eigenen HDO-Forschungsstelle für die
Zeitgeschichte der preußischen Ostprovinzen zu erwägen.271 Dies wäre in der Tat nicht nur eine weitere Konkretisierung der bayerischen Patenschaft über die Ostpreußen,
sondern auch ein Schritt zur verstärkten Berücksichtigung
der Schlesier (und der anderen „Altreichsdeutschen“).
Ein weiterer Fortschritt für die betroffenen Gruppen wäre die Einrichtung einer Heimatpflegestelle für den
„fünften Stamm“, die sich insgesamt den Kulturen der kleineren Vertriebenengruppen widmen und ebenfalls am
HDO angesiedelt sein könnte. Zudem wird vielfach nicht
nur die Integrationsgeschichte des vierten und fünften
Stammes als wichtige langfristige Aufgabe der Bayerischen
Landesgeschichte gesehen, sondern auch die intensivere
Pflege und deutlichere institutionelle Verankerung der Historie der östlichen Herkunftsgebiete an den bayerischen
Universitäten.272 Infolge der Heiratsbeziehungen nach 1945
dürfte zwischenzeitlich sogar etwa jeder zweite bayerische
Staatsbürger familiäre Wurzeln in den früheren deutschen
Siedlungsgebieten im Osten Europas haben. Es verwundert
insofern ein wenig, dass selbst in den Zeiten der jüngsten
universitären Stellenmehrung das versandete Projekt eines
Lehrstuhls für Integrationsforschung im Zusammenhang
mit dem Bayreuther Lastenausgleichsarchiv273 nicht neu
thematisiert wurde.
Nur mit verstärkten Anstrengungen wird es langfristig möglich sein, der von Staatsminister Gebhard Glück
1989 formulierten Leitlinie bayerischer Integrationspolitik
annähernd zu entsprechen, die einen ganz anderen Akzent
setzt als das gleichmacherische melting-pot-Konzept der
Besatzungsbehörde und eher als „Salatschüssel-Modell“ zu
verstehen ist: „Nicht undifferenzierte Verschmelzung, sondern Integration in der Weise, dass jeder Teil unserer Bevölkerung seine besondere und unverwechselbare Ausprägung behält“ – auch die „bei uns ansässig gewordenen
Landsleute aus Ostdeutschland, aus dem Sudetenland, aus
Siebenbürgen und dem Banat sowie aus weiteren Siedlungsgebieten im Osten“.274
Diese Kulturpolitik in die Nähe eines „statischen,
essentialistischen Gesellschaftsbildes“ zu rücken, das
„durch die Ideologie des Nationalsozialismus gefestigt worden“ sei und „Integration durch Vermischung ablehnte“,275
wäre ein Missverständnis. Natürlich sind Assimilationsprozesse in einer offenen Gesellschaft normal. Man denke nur
an die Beobachtung etwa eines Landrats in Oberfranken,
dass die heimatvertriebene Jugend sich schon in den frühen
fünfziger Jahren „in einem Maße integriert[e]“, dass sie
„den örtlichen Dialekt angenommen“ habe,276 oder an das
Bedauern einer „waschechte[n] und heimatstolze[n] Breslauerin“ (1951), dass sie ihrer schon in Franken geborenen
kleinen Tochter die Geschichten vom Rübezahl „zum besseren Verständnis mit so viel Farbtönen aus der ihr vertrauten fränkischen Welt versehen“ müsse, „dass mich der Herr
des Riesengebirges ob der verfälschten Eigenart bestimmt
mit einem zünftigen Bannstrahl“ belegen würde.277 Gleichwohl geht es beim Umgang mit dem nationalen Kulturerbe
der Deutschen aus dem Osten bis heute auch um die Bewahrung wertvoller kultureller Identitäten in einer zunehmend
globalisierten Welt. Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat sich vor diesem Hintergrund zu
den Vertriebenen in Bayern einmal mit den Worten geäußert: „Sie haben uns kulturell bereichert. Wir werden deshalb unseren Beitrag dazu leisten, ihren kulturellen Reichtum zu erhalten“.278❙
270 Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in den
Jahren 2005 und 2006. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7571, 11.12.2007, S. 3.
271 Christa Stewens, Der HDO-Beirat: Sachverstand und Bildungswirkung, in: HDO-Journal, 6 (2008), S. 2–3, hier S. 3.
272 Mit gutem Grund hat auch der Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des
Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2005 und 2006 (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7571, 11.12.2007, S. 15) bemerkt, dass die
Geschichte der historischen Siedlungsgebiete der Deutschen im Osten „von der allgemeinen Wissenschaft bisher nur bedingt bearbeitet
wird“. Im Blick auf manche Hervorbringungen „progressiver“ Ostmitteleuropaforschung, die reflexhaft auf möglichst weiten Abstand zu
der tatsächlich allzu deutschtumsfixierten „Ostforschung“ alter, vom Nationalsozialismus in Anspruch genommener Art bedacht sind, ist
der Eindruck zu gewinnen, dass im Gegensatz zu früher die „multikulturellen“ Dimensionen einseitig Berücksichtigung finden und statt
„der“ Polen oder Tschechen nun bisweilen „die“ deutschen Heimatvertriebenen ein Feindbild abgeben.
273 Vgl. Singbartl, In der Obhut Bayerns, S. 49.
274 Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), In der Obhut Bayerns, S. 15.
275 Pohl, Zwischen Integration, S. 121.
276 Ebd., S. 123.
277 Feiber, Zum Heimatbegriff, S. 132.
278 Singbartl, In der Obhut Bayerns, S. 54.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
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Dimension der Vertriebenenpolitik in Bayern (1945–1975). Eine historische Untersuchung, entstanden im Rahmen des Großforschungsprojektes: „Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge“, Diss. Bremen 2006 (unveröff. Manuskript,
Universitätsbibliothek Bayreuth).
• Prinz, Friedrich (Hg.), Integration und Neubeginn. Dokumentation
über die Leistung des Freistaates Bayern und des Bundes zur Eingliederung der Wirtschaftsbetriebe der Vertriebenen und Flüchtlinge und
deren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, Bd. 2,
München 1984.
• Pscheidt, Edgar, Zur Integration der Sudetendeutschen in Bayern, in:
Heumos, Peter (Hg), Heimat und Exil. Emigration und Rückwanderung, Vertreibung und Integration in der Geschichte der Tschechoslowakei, München 2001, S. 199–222.
• Reichling Gerhard, Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik,
Berlin 1958.
• Reinhart, Michael (Hg.), Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Abschlussbericht der
Dokumentationsstelle Bayreuth am Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte von Prof. Dr. Rudolf Endres an der Universität Bayreuth im
Jahr 1994, Bayreuth 1994.
• Reinhart, Michael, Neuanfang im Fichtelgebirge. Der Landkreis Wunsiedel 1945–1952, Bayreuth 2002.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
Ein fünfter Stamm in Bayern? Schlesier, Ostpreußen und andere Vertriebenengruppen
• Reitzner, Almar, Das Paradies lässt auf sich warten. Erinnerungen eines
Sozialdemokraten, München/Wien 1984.
• Richthofen, Bolko Frhr. von, Schlesien und Schlesier. Eine landes- und
stammeskundliche Übersicht, Wolfenbüttel 1967.
• Rudolph, Hartmut, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis
1972, Bd. 1, Göttingen 1984, Bd. 2 Göttingen 1985.
• Sallinger, Barbara, Die Integration der Heimatvertriebenen im Landkreis Günzburg nach 1945, München 1992.
• Schellerer, Johann, Die Aufbauarbeit der Heimatvertriebenen im Landkreis Regensburg, Diss. Regensburg 1990.
• Schlemmer, Thomas, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die ChristlichSoziale Union 1945 bis 1955, München 1998.
• Schmilewski, Ulrich, Entwicklung und Tätigkeit der Stiftung Kulturwerk Schlesien seit 1952, in: Johannes Schellakowsky/ders. (Hg.),
Integration und Erbe. Zum politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beitrag der Vertriebenen in Deutschland und Bayern, Würzburg
2005, S. 69–89.
• Singbartl, Hartmut, In der Obhut Bayerns – der Freistaat Bayern als
Aufnahmeland und Partner der deutschen Vertriebenen und Aussiedler,
in: Dietrich Grille/Ekkehard Wagner (Hg.), Ganz Deutschland unser
Vaterland. Anmerkungen zum Lebensmotto der deutschen Vertriebenen. Festschrift für Sieghard Rost, Pegnitz 2002, S. 42–59.
• Sonnewald, Bernd, Die Entstehung und Entwicklung der ostdeutschen
Landsmannschaften von 1947 bis 1952, Berlin 1975.
• Steinert, Johannes-Dieter, Vertriebenenverbände in Nordrhein-Westfalen 1945–1954, Düsseldorf 1986.
• Stewens, Christa, Der HDO-Beirat: Sachverstand und
Bildungswirkung, in: HDO-Journal, 6/2008, S. 2–3.
• Stickler, Matthias, „Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch“. Organisation,
Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen
Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004.
• Vergnon, Bastian, Mehr Show als Substanz? Die bayerische Sozialdemokratie und die Sudetendeutschen nach 1945 (unveröff. Magisterarbeit, Regensburg 2009, Bibliothek des IfZ).
• Weger, Tobias, „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen, 1945–1955, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M u.a. 2008.
• Werner, Emil, Im Dienst der Demokratie. Die bayerische Sozialdemokratie nach der Wiedergründung 1945, München 1982.
• Wittmann, Fritz, Die Ostdeutschen in Bayern, der vierte Stamm, in:
Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.), Freistaat Bayern. Eine Publikation zur
Ausstellung „Freistaat Bayern“, München 1976, S. 79–83.
• Woller, Hans, Die Loritz-Partei. Geschichte, Struktur und Politik der
Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) 1945–1955, Stuttgart
1982.
• Wotzlaw, Helmut, Antek und Franzek. Oberschlesische Witze, Humoresken und Anekdoten der Nachkriegszeit, Dülmen 2007.
• Zeitler, Peter, Neubeginn in Oberfranken 1945–1949. Die Landkreise
Kronach und Kulmbach, Kronach 1997.
• Zeitler, Peter, „Politik von Flüchtlingen – für Flüchtlinge“. Leben und
Wirken zweier oberfränkischer Nachkriegspolitiker, in: Rudolf Endres,
Bayerns vierter Stamm, die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945, Köln u.a. 1998, S. 95–117.
• Zenetti, Ferdinand, Dokumentation über die Heimatvertriebenen im
Landkreis Neu-Ulm. Dokumentation einer Aufbauleistung, Neu-Ulm
1991.
• Ziegler, Walter (Hg.), Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert.
Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung, 2 Bde., München 1999.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 09
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Bayerische
Landeszentrale
für politische
Bildungsarbeit
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Bayern und die Pfalz –
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Bayern und China –
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Epochenjahr 1917 –
Italien im Umbruch?
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