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rock‘n‘popmuseum / Thomas Mania (Hg.)
On the Road
Unterwegssein – Ein Mythos der Popkultur
Telos Verlag Dr. Roland Seim M.A.
Verlag für Kulturwissenschaft
Münster
2008
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage, August 2008
Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im rock‘n‘popmuseum vom 10.8.-25.01.2009,
Udo-Lindenberg-Platz 1, D-48599 Gronau, www.rock-popmuseum.de
Copyright © 2008 rock‘n‘popmuseum Gronau
Telos Verlag Dr. Roland Seim M.A. • Im Sundern 7-9 • D-48157 Münster/Westf.
www.telos-verlag.de • mail@telos-verlag.de • Tel/Fax 0251-326160
Alle Rechte vorbehalten
Die Urheberrechte der Texte bzw. der Abbildungen liegen bei den Rechteinhabern. Die Reproduktionen verstehen sich als
Bild- bzw. Großzitate im Sinne von § 51 des Urheberrechts.
Herausgeber und Ausstellungskurator: Dr. Thomas Mania
Layout: Frank Schürmann • pressebüro & medienservice schürmann • Hullerner Str. 9 • D-45721 Haltern am See •
www.schuermann.ws
Coverdesign: Frank Schürmann
Text- und Bildredaktion: Thomas Mania / Frank Schürmann
Druck und Verarbeitung: Möllers Druck und Medien GmbH • Markusstraße 6-10 • 48599 Gronau-Epe •
www.moellers-druck.de
Printed in Germany 2008
ISBN-13/EAN: 978-3-933060-24-2
Dankes- statt Vorworte!
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leser!
In den Händen halten Sie den Katalog
zur Sonderausstellung On the Road des
rock`n`popmuseums in Gronau. Erstmals haben wir mit zahlreichen Gastautoren einen so
umfangreichen Begleitkatalog erstellt. Neben
den 1.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche
wollen wir so der besonderen Bedeutung des
Mythos On the Road in der Musikszene wie
im Alltag Rechnung tragen.
Dieses konnte uns nur dank der hervorragenden Unterstützung aller Beteiligten gelingen.
In Kooperation mit dem Kreis Borken und der
Aktion Münsterland ist hierbei an erster Stelle das Land Nordrhein-Westfalen zu nennen,
welches mit Mitteln der Regionalen Kulturförderung diese Ausstellung und den Katalog
unterstützt hat.
Neben den Autoren möchten wir uns auch bei
den Inserenten, Sponsoren und Kooperationspartnern
Achim Thierse
Albert Kolanus, MC Toros Iserlohn
Andreas Wiggenhorn, MC Free Eagles
Bernd Hauenhorst, Ride-Inn
Bürse-Hanning & Hohensee OHG,
Provinzial
Carsten Kümmel
Christian Stange, MC Satans Slaves
Cisco Berndt, Truck Stop
Frank und Michael Eichhorn
Frank Schürmann
Frank Strodtmann
Friedrich von Borries
Gunther Matejka
Hans-Jürgen Topf, The Rock´n´Roll Laundry
Henk Drenthe
Harley-Davidson-Presseabteilung
heddier electronic
Jason Röllicke, MC Toros Iserlohn
Jens-Uwe Fischer
Dr. Josef Spiegel, Künstlerdorf Schöppingen
Karl-Oskar Hentschel,
Elvis Presley Initiative, Gelsenkirchen
Klaus der Geiger
Klaus Hüpper, MC Freeway Rider’s
Klaus Lemke
Loman
Manfred Klee
Maren Niemeyer Film
media systems OHG
Meik Strodtmann
Dr. Michael Ahlsdorf, BIKERS NEWS
Michael Kleff
Möllers Druck & Medien GmbH
Musik Produktiv
Netside Online Service GmbH
Nüssli AG
Dr. Peter Bischoff
Peter Ellenbruch, Scopium
Peter J. Kraus
Pro Arte GmbH
RadioLukas
Rainer Migenda
Ralph Larmann
Renault-Autohaus Wallmeier
Rhea Marstaller
Riesenbuhei Entertainment GmbH
Sennheiser electronic GmbH & Co. KG
Stadtmarketing Gronau
Thomas Pieper
Traveler Guitars
Udo Dobrzanski
Ulrich Wethmar
Uwe Brügmann
Volker Köster
VW-Nutzfahrzeuge-Presseabteilung
Winfried Bettmer, Filmwerkstatt Münster
Woody Guthrie Archives
bedanken! Wir freuen uns, dass wir gemeinsam dieses Projekt realisieren konnten!
Thomas Albers
Geschäftsführer der
rock`n`popmuseum gGmbH
Thomas Mania
ON THE ROAD
Unterwegssein– - ein Mythos der Popkultur
Eine Ausstellung des
rock’n’popmuseums vom 10. August
2008 bis zum 25. Januar 2009
Die Straße, das Band der Sehnsüchte und der
Albträume. Unterwegssein - Abenteuer und
Gefahr, kaum jemand kann sich der Faszination des Asphalts entziehen. So sind die Facetten der Leute, die „unterwegs” sind, vielfältig.
Vom gefährlich dreinschauenden, Ganzkörper
tätowierten Biker, über die Hippies in einem
farbig bemalten Bulli und dem Tramper mit
der umgehängten Gitarre, bis hin zum Trucker mit Cowboyhut, der sich auf dem „Highway” von Countrymusic berieseln lässt – alle
sind sie getrieben vom Ruf der Freiheit und
Individualität. So unterschiedlich ihr Outfit,
so skurril sind ihre Fahrzeuge und Fortbewegungsmittel.
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Die Qualmschwaden und das Knattern ihrer
Auspuffanlagen durchbrechen die Bässe der
Soundtracks ihres Unterwegsseins. Psychedelic, Country, Folk, Hard Rock und HipHop
propagieren unterschiedliche Formen der Mobilität mit gesellschaftlich eminenter Auswirkung. Denn Mobilität ist heutzutage ein über
die Gebühr strapazierter Begriff und impliziert weit mehr als die bloße Möglichkeit des
Ortswechsels. Seine Definition verschwimmt
in der Anpassung an die Erfordernisse der modernen, globalisierten Leistungsgesellschaft.
Mobilität und Flexibilität werden zu Synonymen, die sowohl die physische als auch die soziale und mentale Bereitschaft zur Bewegung
und damit zur Veränderung voraussetzen. Die
Ausstellung verfolgt die Geburt des Mythos
des Unterwegsseins im Land der unbegrenzten Möglichkeit und zeigt seine Auswirkungen auf die deutschen Jugendkulturen und die
allgemeine Individualisierung unserer Gesellschaft.
Motor der Freiheit
Die technischen Grundlagen dazu schuf die
Motorisierung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lebens- und Arbeitswelt grundlegend revolutionieren sollte. Mit seiner Produktion des Modell T kreierte Henry Ford
nicht nur den ersten „Volkswagen”, sondern
setzte auch produktionstechnische Signale,
die von nun an über Jahrzehnte die Arbeitswelt dominierten. Die Produktion des Modell
T begann 1908, 1914 folgte die Automatisierung der Produktion im Fließbandverfahren
und bis 1927 verließen 15 Millionen Einheiten die Fabrikhallen. Der Visionär Henry Ford
wusste sehr wohl um die Rastlosigkeit der angebrochenen, mobilen Moderne: „Jedermann
will irgendwo sein, wo er gerade nicht ist, sobald er dort ist, will er wieder zurück” (zitiert
nach Geissberger 1985, S. 103). Der damalige Kaufpreis für Fords „Vehikel der Unrast”
entsprach im Kaufkraftvergleich in etwa dem
eines derzeit angebotenen Niedrigpreisautos.
Bereits in den 1930er Jahren begab sich die
Familie Joad im Nobelpreis gekrönten Roman
von John Steinbeck Früchte des Zorns im Automobil auf den Treck in Richtung Westen.
Dagegen konnte man noch Mitte der 1960er
Jahre die Autos auf den Straßen bundesdeutscher Großstädte an den Fingern einer Hand
abzählen. Weist die Statistik1960 in der Bundesrepublik Deutschland gerade einmal 4,5
Millionen PKW aus, hat sich der Bestand bis
1990 mehr als versechsfacht (30.685.000).
Damit besitzt 1960 noch nicht einmal jeder
zwölfte Bundesbürger einen PKW, die tatsächliche Zahl der ausschließlich privat genutzten PKW dürfte noch weit darunter liegen. Dagegen verzeichneten Krafträder als
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preisgünstige Mobilitätsvariante mit geringerem Statuswert einen Rückgang um ca. 88
%, von 1,9 Millionen Fahrzeugen 1960 auf
einen absoluten Tiefstand von 229.000 im
Jahr 1970 (Weltalmanach-Redaktion 1999, S.
1307). Der große Französische Soziologe und
Semiotiker Roland Barthes benennt in seinem
Werk „Mythen des Alltags” den Fetisch Auto
gar als eine der bedeutendsten Schöpfungen
der Epoche, ein magisches Objekt, das sich
das Volk zurüstet und aneignet – ganz ähnlich
dem Äquivalent großer gotischer Kathedralen
(zitiert nach Jehle 1985, S. 147).
Die Vorstellung eines mobilisierten Lebens hat
historisch betrachtet wenig an Faszinationskraft eingebüßt und zählt noch heute zu einem
der gängigsten Klischees des „american way
of life”. Der Begriff der Freiheit ist untrennbar
geknüpft an die schlichte Möglichkeit der Bewegung. So gehen die manifeste Technik und
der philosophische Begriff der Freiheit eine
sonderbare Ehe ein. Fahr-Zeuge als schlichte Dinge der Fortbewegung erhalten auf diesem Weg ihren mythischen Charakter und ihr
Image – als Statement von Freiheit, sozialem
Status und Individualität.
Geburt des Mythos
Wer den Einwandererströmen in die USA
folgte, hatte seine sozialen Bindungen und einen großen Teil seiner Habe bereits hinter sich
gelassen, getrieben von einem unstillbaren
Hunger auf Neues,
Uentdecktes. So
kennzeichnet bis
heute das Phänomen der fehlenden Objektbeziehung die
amerikanische Gesellschaft. Bis
zu vierzehn
Mal wechseln
die
Amerikaner
im Durchschnitt
ihr Domizil, 85
% der 9 Millionen
Südkalifornier ziehen ein Mal jährlich um (Weihsmann
1991, S. 72). Der Verzicht
auf eine enge Objektbindung ist die
grundlegende Voraussetzung zur Bereitschaft
des Unterwegsseins. Dem Ruf des Westens zu
Abb. Ausstellungseinheit „Route 66”
18
19
erliegen hieß, sich seiner individuellen Leistungsfähigkeit auszuliefern, Altes hinter sich
zu lassen. So erklärt sich unter dem weiten
Himmel eines Landes der unbegrenzten Möglichkeiten die mythische Verehrung der Straße als Wegbereiter einer unaufhörlichen Suche nach sich selbst und neuen Situationen. In
diesem Sinne meint „On the Road” im amerikanischen Sprachgebrauch in erster Linie den
Vorgang des Unterwegsseins als eigene, Sinn
bildende Qualität. Ankommen verliert fast
seine Bedeutung.
Immer unter Strom
(Element of Crime)
Wegzukommen ist uns heilig
Anzukommen ist egal
Immer unter Strom
Immer unterwegs und überall zu spät
Was sich nicht bewegt,
ist nicht zu fassen
Wo wir war’n, war immer alles fade
Wo wir hinfahr’n, wird es wunderbar
Und hoffen dürfen wir solange,
wie sich der Motor dreht
Mother Road
Zahlreiche Artefakte der Popkultur bezeugen die Verehrung der Straße und den damit
verknüpften Sinnbildern. Der berühmte Song
20
(Get your Kicks at) Route 66, von Robert William Troup geschrieben und von Nat King
Cole erstmalig aufgenommen, existiert in einer fast unüberschaubaren Anzahl von Coverversionen. Die Namen der Interpreten reichen
von Chuck Berry, über die Rolling Stones
bis zu Depeche Mode, eine der stilbildenden
Bands der schrägen 1980er Jahre. Seit John
Steinbecks Werk Früchte des Zorns heißt die
Route 66 „mother road”. Für den Beatnik
Jack Kerouac war sie die Hauptschlagader
auf seinem ziellosen Umherreisen durch die
USA, das er im Bahn brechenden Werk On
the Road dokumentierte. Kerouacs Roman
steht stellvertretend für die „Flucht vor einer
saturierten und in sich ruhenden Gesellschaft”
und „drückt sich auch im Rausch des Fahrens, der Bewegung und Beschleunigung aus”
(Weihsmann 1991, S. 72). Der 50 milliardenschwere „Interstate Highway Act” von 1956
degradierte die Route 66 schließlich zu einem
besseren Feldweg (Schneider 2007, S. 125),
der dennoch bis heute viele Touristen anlockt,
die dem speziellen amerikanischen Flair des
Unterwegsseins erlegen sind. Nicht umsonst
ist auch eine Zigarettenmarke als Verkaufsargument nach jener Straße benannt, die so sehr
wie keine zweite den Stereotyp eines Landes
mit seinen Versprechen von Weite, Freiheit,
Abenteuer und Individualität verkörpert.
Die Heimatlosigkeit des Blues –
Unterwegs auf dem Highway 61
Immer wieder taucht im Blues das Unterwegssein als Heimweh-Motiv auf. „I wanna go back
home” steht für etwas Verlorenes, das wieder
gefunden werden muss, die Liebe oder die
Freiheit, die Heimat, ein Job oder eine Wohnung (Berendt 1960, S. 8). In diesem Leben
der rastlosen Suche vieler Afroamerikaner in
den 1940er Jahren spielt der Highway 61 eine
bedeutende Rolle. Weitaus prosaischer - nicht
annähernd so oft besungen, beschrieben oder
filmisch festgehalten wie die Route 66 - ist die
Bedeutung des Highway 61. Er erschließt die
USA von Norden nach Süden, einen beträchtlichen Teil am Ufer des Mississippi entlang.
Für den Blues, jene aus afrikanischen Wurzeln sprießende Musik, entbehrt die Route 61
im Gegensatz zur Route 66 jeglicher Romantik. Sie steht stellvertretend für die sozial und
ökonomisch erzwungene Nordwanderung der
Bluesmusik, heraus aus dem ländlichen Umfeld des akustischen Mississippi-Blues, hin
zum elektrisch verstärkten urbanen ChicagoBlues. Die Mechanisierung der Landwirtschaft
und die Subventionspolitik machten die Weißen in den agrarischen Südstaaten reich und
trieben die afroamerikanische Bevölkerung
von den Baumwollfeldern des Südens in die
Industriestädte des Nordens. Der Anteil der
schwarzen Bewohner Detroits zum Beispiel
Abb. Ausstellungseinheit „Blues“
21
wuchs von 150.000 im Jahr 1940 auf 350.000
im Jahr 1947 (Schneider 2007, S. 123). Lediglich die Kreuzung Route 61 mit der Route
49 erlangte als Crossroad mythische Bedeutung. Hier ergaunerte Robert Johnson, so sagt
die Legende, im Geschäft mit dem Teufel sein
„außerirdisches” Gitarrenspiel.
Und dennoch ist die Route 61, als Blueshighway, einer der Schlüssel für die Bedeutung
des Unterwegsseins in der Popmusik. Die afroamerikanische Musik der Entwurzelten und
Unterdrückten feierte in den 1960er Jahren
ihre Wiederentdeckung – „der Blues biss sich
irgendwann in den frühen 1960er Jahren im
Hinterteil der Populären Musik fest” (Russell
1998, S. 6). Auftritte von Big Bill Broonzy,
Tourneen von Muddy Waters, 1958 durch England, und die American Folk Blues Festivals,
von Horst Lippmann und Fritz Rau veranstaltet, brachten den Blues auch nach Europa.
Hier inspirierte er insbesondere die Londoner
Musikszene und erschloss Künstlern wie den
Rolling Stones, The Who oder Eric Clapton
einen bis dato kaum beachteten Musikkosmos. Die ureigene schwarze Bluesthematik
des rastlosen Umherziehens, ungehemmte Sexualität und Promiskuität – das Sinnbild des
„Rolling Stone” - fand nun endgültig ihren
Eingang in den textlichen Kanon der Rockmusik. Das, was Elvis noch eher zurückhal-
22
tend seinem Publikum mit dem Hüftschwung
versprach, fand nun seine offene Kontextualisierung. Die Mythen des „On the Road” und
des „Rolling Stone” gehören in der Populären
Musik seitdem untrennbar zueinander.
Während sich die Bluesbarden noch aus puren kommerziellen Zwängen auf die Straße
begaben, sah die amerikanische Folklegende Woody Guthrie darüber hinaus einen Akt
der Solidarisierung mit den unteren sozialen
Schichten. Gerade bei Woody Guthrie mischt
sich dieses sozialpolitische Statement mit
dem für die USA so typischen Entdeckergeist,
der in den 1950er Jahren unter anderem auch
den Beat-Literaten Jack Kerouac beseelte.
Die Beatniks erlagen dem „Rausch des Fahrens (…), sie sind die jugendlichen Aussteiger auf der Zivilisationsflucht, eine Signatur
des Abenteurertums und Wiederfinder der
Identität, ähnlich wie die Romanfiguren Tom
Sawyer und Huckleberry Finn Archetypen des
’homo americanus’ sind” (Weihsmann 1991,
S. 72).
Papa Was A Rolling Stone
(Temptations)
Hey, Papa was a rolling stone
Wherever he laid his hat was his home
Imagetransfer
Spätestens mit dem Rock’n’Roll und dem
„american way of life” eroberte sich die USA
Ende der 1950er Jahre die Kulturhoheit über
breitere Kreise der Jugendlichen in Europa.
Die Popkultur wird zu einem der wichtigsten Medien des Imagetransfers. Jugendlichkeit, bis dahin eher noch ein unentschlossenes
postpubertäres Durchgangsstadium, entdeckte sich selbst und reifte zum kulturellen Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Die
Mechanismen dieses Selbstfindungsprozesses
bedürfen der Provokation als Vehikel der Abgrenzung von der Welt der Eltern. Provokation
braucht Öffentlichkeit, im Verborgenen verliert sie ihr Ziel. Sinngemäß war einer der ersten dieser Konventionsbrüche die Eroberung
der Straße, die Besetzung öffentlicher Räume
durch die Halbstarken Ende der 1950er Jahre.
Die Entwicklung des kleinen Transistorradios
schenkte ihnen die Mobilität ihrer Musik, den
Rock’n’Roll.
Damit hatten sich die zwei grundlegenden
Komponenten der populären Kultur gefunden.
Die neue Bohemien, Image tragender Künstler
und die Jugendlichen, die nun ihre Sehnsüchte
und Wünsche in dieses Image hineinprojizieren konnten. Der Mythos des „On the Road”
– das Unterwegssein als ein wichtiges, Image
definierendes Faktum sensibler, suchender
Künstler war geboren. Ruhe und Sesshaftigkeit galten spätestens jetzt als „spießig” und
konventionell, bar jeglichen Protestpotentials.
Unterwegssein wird zum Ziel, die Nacht zum
Tag, die Straße zur Heimat, die Absteige zum
Wohnzimmer, die Straßen-Gang zur Familie
und die Medien der Popkultur zum Regisseur
dieses Films.
Rambling
Die Ausstellung zeigt sechs verschiedene
Themenbereiche, die unterschiedliche Images
des Unterwegsseins repräsentieren. Das Umherwandern, in der Ausstellung als „Rambling” tituliert, zieht sich seit dem Blues oder
Woody Guthrie wie ein roter Faden durch die
Geschichte der Popmusik. Die Transportmittel sind vielfältig, nur eines verbindet sie – sie
kosten nichts. Seine Faszination bezieht das
Rambling früh von der verklärenden HoboRomantik – Wanderarbeiter, die als blinde
Passagiere auf Güterzügen reisten. Sie fand
unter vielen anderen auch durch den weltberühmten Autor Jack London (Ruf der Wildnis,
Der Seewolf), mit The Road - Abenteuer eines
Tramps - zu Beginn des 20. Jahrhunderts Eingang in die populäre Literatur.
War das Schicksal der wandernden Bluesbarden noch fremd gesteuert, bei Woody Guthrie
23
aus innerem Antrieb erfolgt,
reduzierte es sich beim jungen Bob Dylan auf den reinen Imageaufbau in Anknüpfung an Woody Guthrie als
amerikanische Folklegende
„On the Road”. Gerade Bob
Dylan aber inspirierte Anfang
der 1960er Jahre ein weltweites Folk-Revival und besorgte
mit seinen finger-pointingsongs die Politisierung des
Genres, bevor er sich 1965 gerade davon wieder distanzierte und die LP mit dem aussagekräftigen Titel Another Side
of Bob Dylan produzierte.
Der Einfluss Bob Dylans als
Singer und Songwriter war
dennoch unbestritten weitreichend. Blowin’ in the Wind
gehört seit den 1960er Jahren zum festen Repertoire
der Lagerfeuerromantik der
„Spät-Hobos”, Abiturienten
und Studenten, die trampend
oder mit dem Interrail-Ticket
in den 1970er Jahren den
Süden Europas bereisten.
Abb. RadioLukas auf der Straße,
2008 (Foto Frank Schürmann)
24
Auch der Straßenmusikszene in der Bundesrepublik hauchte Bob Dylan neues Leben
ein. So bezieht sich Klaus der Geiger, einer
der bekanntesten deutschen Straßenmusiker
und Kölner Original, auf den amerikanischen
Folk, von dem er sein politisches Engagement
bezog. Klaus der Geiger war als Mitglied der
Kölner Straßenmusikkommune Tabernakel
Anfang der 1970er Jahre einer der wenigen
Liedermacher, die mit ihrer direkten und offenen Wortwahl an den Agitprop der 1920er
Jahre erinnerten (Spill 1987, S. 23). Neben
Klaus der Geiger zeigt die Ausstellung zwei
weitere „Wandernde Musiker”, Radio Lukas
und Rainer Migenda, die beide der Faszination eines selbst bestimmten Lebens „On the
Road” erlegen sind und damit ein Stück des
typisch amerikanischen Geistes in der Tradition Woody Guthries repräsentieren.
Ramblin’ Man
(Hank Williams)
I can settle down and be doin’ just fine
Til I hear an old train rollin’ down the
line
Then I hurry straight home and pack
And if I didn’t go, I believe I’d blow my
stack
I love you baby, but you gotta understand
When the lord made me
He made a ramblin’ man.
Lonesome Riding
„I’m a poor lonesome cowboy and a long way
from home” singt die Comic-Cowboy-Figur
Lucky Luke am Ende seiner Abenteuer und
reitet in den Sonnenuntergang hinein. Die Faszination des Cowboys hat in Deutschland eine
lange Tradition, die in den 1950er und 1960er
Jahren durch den Schlager, Kino und Fernsehen nach den 1930er Jahren wieder neue Fahrt
aufnahm. Diese Imageprojektion in die Figur
des einsamen Cowboys lebte von einer sehr
eigenwilligen Gemengelage von Heimatverbundenheit und erwachendem Fernweh, die
sehr typisch für die 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland war. Sinnbildend
stehen die Erfolge des Heimatfilms gleichberechtigt neben denen der Italienreise. Auch
Freddy Quinns besungene Sehfahrerromantik
war Ausdruck dieser merkwürdigen Bipolarität einer sich selbst suchenden Kultur, für
die das Sinnbild der Individualität, historisch
betrachtet, das eigentlich Neue der amerikanischen Kulturdominanz darstellte.
Die Repräsentanz des Cowboys im Schlager
der ausgehenden 1950er und 1960er Jahren
war gewaltig: Gitte möchte einen Cowboy
als Mann. Der deutsche Hürdenläufer Martin
Lauer verkauft von seinen Songs wie Wenn
ich ein Cowboy wär’ (1963), Sein bestes Pferd
oder Am Lagerfeuer (1964) unglaubliche
25
sechs Millionen Exemplare. Der
Markt boomte, die Verfilmung
der Winnetou-Trilogie war ein
überwältigender Kinoerfolg, im
Fernsehen begeisterten Serien wie
Am Fuß der Blauen Berge (1959 –
1965) oder Bonanza (1962 – 1973)
die Zuschauer. Ist der Erfolg des
Cowboy-Klischees im direkten
Einflussbereich amerikanischer
Kulturhoheit durchaus nachvollziehbar, so verwundert um so
mehr dessen Faszination im Lande
des sozialistischen Gegenentwurfs
der DDR. Zunächst unterdrückt,
später aber zugelassen konnte sich
auch der politisch korrekt erzogene Genosse kaum der Strahlkraft
des einsam und frei umherschweifenden Reiters entziehen. Vorsichtig entwickelte sich in der DDR
gegen Ende der 1970er Jahre eine
staatlich geduldete CountrymusicSzene, die die Cowboy-Begeisterung zu kanalisieren wusste. In
der Bundesrepublik etablierte sich
in etwa zeitgleich eine Szene, repräsentiert von Truck Stop, Tom
Astor oder Gunther Gabriel. Mit
Abb. Filmplakat „Convoy”, 1978
26
dem Song Ich möcht’ so gern Dave Dudley
hör’n von Truck Stop feierte die deutschsprachige Countrymusic 1977 ihre Geburtsstunde.
Fast parallel fand die Übertragung der Cowboy-Romantik auf den Trucker statt. 1978
produzierte Sam Peckinpah den für Deutschland initiierenden Kinoerfolg Convoy mit
Kris Kristoffersen in der Hauptrolle, in dem
der Trucker zum Cowboy mutiert. Grundlage
des Films war der gleichnamige Countrysong
von C. W. McCall. Seit den 1980er Jahren traf
sich die Szene auf speziellen Trucker-Events,
die amerikanischen Volksvergnügen nacheiferten und damit dem amerikanischen Traum
von Weite, Selbstverantwortung und Ungebundenheit huldigten. Im Truckermythos verschmelzen Männlichkeitsethos und Sehnsucht
nach Selbstständigkeit (Florian 1994, S. 229),
Eigenschaften für deren äußere Repräsentanz
nichts so gut taugt wie das überfrachtete Klischee des Cowboys.
Highway Helden
(Tom Astor)
Die nächste Stadt am Horizont
Beim Truckstop ’rausgefahrn
Den Diesel wieder aufgetankt
Und hinterm Haus geparkt
’Ne heiße Suppe, viel Kaffee
’Ne schnelle Marlboro
Und dann mit Lola aus der Küche
Rasch noch mal ins Stroh
Outlaw Riding
1947 ist das Jahr, in dem viele Motorrad-Clubs
ihr initiierendes Ereignis sehen. In der kalifornischen Stadt Hollister fanden seit 1930 jährliche Motorrad-Rennen statt, die die American
Motorcycle Association (AMA) veranstaltete.
Erstmalig kam es nun in diesem Jahr zu Ausschreitungen, deren wahres Ausmaß historisch
nicht ganz eindeutig zu klären ist. Ein angebliches Statement der AMA, lediglich ein Prozent
der Teilnehmer hätten sich an den Ausschreitungen beteiligt, wächst sich zu einem wahren Mythos aus. Bereits ein Jahr vorher, 1946,
hatten Veteranen des zweiten Weltkriegs den
Boozefighters (Kampftrinker) MC gegründet.
Nach den langen Entbehrungen und der starren
Hierarchie des Militärs sollten jetzt die neuen
alten Freiheiten jenseits der AMA zelebriert
werden. Die AMA bezeichnete die Renn-Veranstaltungen dieses eher anarchistischen Haufens, für den Motorradfahren und Partyfeiern
abseits des organisierten Rahmens der AMA
im Vordergrund stand, als „Outlaw Biking”
und meinte damit die aus ihrer Sicht unorganisierten „Fun Races” der Boozefighters (Ahlsdorf 2004, S. 74 ff.). Damit war nun ein Image
kreiert, in dem sich viele Motorrad-Clubs bis
heute einrichten können. Der stolz zur Schau
getragene „One Percenter”-Patch ist der historische Rückbezug auf diese Ereignisse in und
um Hollister des Jahres 1947, die in üblicher
27
28
Abb. Indian Scout, 1928
(Foto Frank Schürmann)
29
Abb. Weste des MCs Toros Iserlohn, 1970er
Jahre (Foto Frank Schürmann)
Hollywood-Manier im Film The Wild
One mit Marlon Brando dramatisiert
und verarbeitet wurden.
Als erster Motorrad-Club entstand 1932
in Maryville, Louisiana der GYPSY
MC (Motorcycle Club), 1935 folgte der
Outlaw MC in der Nähe von Chicago
an der Route 66 und 1948 formierten
sich die Hells Angels, heute eine der
bedeutendsten Gruppen weltweit.
In der Bundesrepublik Deutschland
waren es in den 1950er Jahren die sogenannten Halbstarken, die ihren körperlich expressiven Stil öffentlich zelebrierten. Ihre Vorbilder fand diese
spezifische
Nachkriegsjugendkultur
im amerikanischen Rock’n’Roll und
insbesondere in der Figur des Filmschauspielers James Dean. Aber auch
im Umfeld der Aufführungen des Films
Blackboard Jungle mit der Filmmusik
von Bill Haley und dessen Konzerten
kam es immer wieder zu publizistisch
ausgeschlachteten
Ausschreitungen
Jugendlicher. Die Mobilität der Halbstarken blieb aus finanziellen Gründen
beschränkt, nur wenige konnten sich
30
ein Moped leisten. Deshalb handelte es sich
bei den frühen Rocker-Clubs zunächst um
eine territorial gebundene Kultur, die in ihrem
Ausdruck stark an die britische Rocker-Szene
der 1960er Jahre angelehnt war. Diese etablierte sich ihrerseits als Gegenpol zur Motorroller-Szene der Mods in England. Auch beim
Begriff „Rocker” handelte es sich um eine
Übernahme aus dem britischen Kulturraum.
So kam es zu einem eigenartigen angloamerikanischen Kulturgemisch deutscher Jugendbanden, die sich in Leder kleideten wie ihre
britischen Pendants und so benannten wie ihre
US-amerikanischen Stars, so zum Beispiel der
James-Dean-Club aus Dortmund oder der Elvis-Club aus Gelsenkirchen.
Clubs nach amerikanischem Vorbild entstanden in der Bundesrepublik zunächst im
Umfeld des amerikanischen Militärs. Ende
der 1960er Jahre gründete der GI Larry
Coleman in Frankfurt die Bones. Der Film
Easy Rider mit der Hymne von Steppenwolf
Born to be Wild brachte 1969 den großen Umschwung und machte die Szene zu dem, wie
sie sich im Wesentlichen auch heute noch präsentiert. Der Chopper und die Motorradmarke
Harley-Davidson sind seitdem das non plus
ultra der MCs, die durch den großen Einfluss
amerikanischer Clubs heute einer starken
Konzentration unterliegen. Im Zeichen amerikanischer Kulturhoheit legten die deutschen
MCs Anfang der 1970er Jahre ihre Lederkleidung ab und wechselten zu „Jeans-Kutten”,
die charakteristischen Westen nach Vorbild
der Hells Angels. Inzwischen sind die deutschen MCs allerdings wieder zu Lederkutten
zurückgekehrt. Trotz einer ausgeprägten Hierarchie und einer angeglichenen Ästhetik sehen die Mitglieder in den Clubs ihren Wunsch
nach Freiheit und Individualität verwirklicht.
Es gibt in der Populären Musik eine Vielzahl
von Titeln, die den Hang zur wilden Rebellion auf zwei Rädern thematisieren, zumeist
aus der Ecke des Harten und Heftigen, so zum
Beispiel AC/DC mit dem Song Highway to
Hell. Nicht zufällig gibt es ästhetische Parallelen der Rocker zu den Verehrern des Heavy
Metal, die sich am deutlichsten in den Kutten
und im Gebrauch todesverachtender Symbole
niederschlagen. Besonderen inhaltlichen Bezug der Motorrad-Clubs gibt es aber auch zum
Southern Rock, der sich in der Tradition der
abtrünningen Südstaaten der USA sieht. Ihr
Symbol, die Rebel Flag, steht für ungehemmte Freiheit, Selbstbewusstsein, Individualität
und Outlaw-Dasein. Die Faszination des Rebel Flag schwenkenden Renegatentums findet
sich auch bei den Truckern wieder und ist damit ein Beweis dafür, dass die verschiedenen
Formen des Unterwegsseins Querverbindungen aufweisen. Hier zeigen sich die Facetten
des ewig jungen Phänomens der Rebellion
und der Selbstvergewisserung.
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Born to be Wild
(Steppenwolf)
Get your motor runnin‘
Head out on the highway
Lookin‘ for adventure
And whatever comes our way
Yeah Darlin‘ go make it happen
Take the world in a love embrace
Fire all of your guns at once
And explode into space
Abb. Modellauto `32er Ford Deuce Coupe,
im Film „American Graffiti“ Millner‘s Hot
Rod Car
32
Cruisen
Cruisen entstand in den 1950er Jahren in den
USA. Sehen und gesehen werden, Statusrepräsentation, sexuelles Balzgehabe sind die
Motive des Cruisen. Der Regisseur des trendsetzenden Films mit autobiografischen Reminiszenzen American Graffiti, George Lucas,
spricht von der amerikanischsten Form des
Flirtens. Als entscheidende Blühsubstrate der
Ausuferung der Teenagerkultur in den USA
in den 1950er Jahren gelten das „Anwachsen der frei verfügbaren Zeit, der Wohlstand
(…) der Nachkriegszeit und die Entstehung
von Institutionen wie der Highschool, welche
die Adoleszenz über Regionen und Gruppen
hinweg vereinheitlicht” (Schneider 2007, S.
135). Das finanzielle Potential zur Entwicklung eigener kultureller Ausdrucksformen
der Jugendlichen in den USA war in diesen
Jahren des Rock’n’Roll erstaunlich hoch.
Teenager gaben in den späten Jahren dieses
Jahrzehnts cirka 50 Millionen US-Dollar für
Schallplatten aus (ebenda). Deshalb konnten
die Jugendlichen im Land der unbegrenzten
Möglichkeiten auch das Auto zu ihrem absoluten Statussymbol küren, während der Rest
des Planeten staunend diese Mobilität Postpubertierender zur Kenntnis nahm.
Heckflossen-Autos und Drive-In bilden die
faszinierende Melange von Nostalgie und Mo-
dernität des Films American Graffiti (1973),
der sich retrospektiv mit dem Erwachsenwerden amerikanischer Jugendlicher in den frühen
1960er Jahren beschäftigt. Das Low-BudgetProjekt entwickelte sich schnell zum Kassenschlager. Neben den Nostalgika, 1950er Jahre
Autos und Rock-’n’-Roll-Musik, trug die hier
gezeigte Autokultur zum Mythos Amerikas
als Verkünder des modernen Lebens bei.
Mel’s Drive-In, der Treffpunkt der Jugendlichen in American Graffiti, zeigte sehr deutlich,
wie tiefgreifend die amerikanische Kultur an
die Mobilität und das Automobil gebunden
war. Sogar die Form der Ernährung ist dem
flüchtigen und unsteten Augenblick des Rastens, einer nur kurzen Unterbrechung des Unterwegsseins unterworfen. American Graffiti
trug damit auch zum Erfolg und der Imagebildung des jugendlichen Flairs der Fast-FoodErnährung in der Bundesrepublik Deutschland bei. Im Geiste von Jeans und Coca-Cola
rebellierte die Jugend im Fahrwasser amerikanischen Kulturdiktates nun Anfang der 1970er
Jahre gegen Papas Schnitzelkultur und Mamas
Sonntagsbraten. Die erste McDonalds-Filiale
eröffnete 1971 in Deutschland, blieb aber zunächst exklusiv der urbanen Kultur einiger
weniger Großstädte vorbehalten. Das erste
Drive-In-Lokal der McDonald’s-Kette eröffnete Anfang der1980er Jahre in Ludwigsburg
seine separate Fahrspur mit Verkaufsschalter.
33
Abb. Buchumschlag, Robert Williams ist der initierenden
Künstler der Lowbrow Art, die auf die Ästhetik des Hot
Rodding zurückgeht.
Im Jahr 2005 erwirtschaftete McDonald’s in
der Bundesrepublik Deutschland nach eigenen Angaben einen beeindruckenden Jahresnettoumsatz von cirka 2,5 Milliarden €.
34
Überhaupt mutierte das Auto in
American Graffiti nicht nur zum
Statussymbol einer sich suchenden Jugend, sondern darüber hinaus zu einem Freiraum „a rolling
steel home away from parental
interference” (Daugherty 1982,
S. 141). Das hier dargestellte territoriale Gehabe des ziellosen,
aber unabhängigen Umherfahrens erinnerte zwar an die Kultur
der Halbstarken, galt aber in dieser Form in den frühen 1970er
Jahren in der Bundesrepublik als
weitgehend unbekanntes Phänomen. Sogar heute noch bezeichnet die bundesdeutsche Straßenverkehrsordnung unnötiges
Hin- und Herfahren (§ 30 Umweltschutz und Sonntagsfahrverbot) als Ordnungswidrigkeit, die
mit Bußgeld geahndet wird. So
zeigt American Graffiti einen tiefen Einblick in die von der hohen
Mobilität geprägte US-amerikanische Jugendkultur und gilt damit als ein Stück „populärer
Landeskunde” (Daugherty 1982, S. 141).
„Technischer” Star des Films American Graffiti ist Milner’s Hot-Rod-Car, ein Ford Deuce ’32er Coupé. Hot Rodding entstand in den
1920er Jahren in Südkalifornien. Als eine
Abb. Lowrider-Bike „Crocodile Hunter”, entworfen und
gebaut von Frank und Michael Eichhorn
(Foto Frank Schürmann)
Folge der Roaring 20ths und der wirtschaftlichen Depression in den 1930er Jahren begannen weiße Jugendliche, preisgünstige Autos
für Rennen optisch und technisch zu tunen.
Bald entstanden lokale Klubs des Hot Rod
(= heißes Pleuel), die sich Road Runners,
Night Riders oder Bungholers nannten (Ganahl 2000, S. 13). Wie hinter vielen jugendkulturellen Phänomen stand auch hier der
Wille zur Selbstvergewisserung, verquickt mit
einem Hauch von Rebellion. „Hot Rods are
just automobiles; they are an American popculture icon revered around the globe. Hot
Rods have made legends, taking the spotlight
35
in all aspects of the beach culture,
in movies, and in music. They
represent youth, rebellion, and a
drive to do things a little differently” (Drengi 2004, Umschlagtext).
Hot Rodding nahm entscheidenden ästhetischen Einfluss auf die
sogenannte Custom Art, Pinstripping und Airbrushing, das sich
auch bei der Gestaltung von Motorrädern und Trucks enormer Beliebtheit erfreut, „just as it is emblatic of the renegade California
Spirit” (Ganahl 2000, S.15). Auch
der Einfluss auf den etablierten
Kunstbetrieb wird inzwischen
nicht mehr geleugnet (ebenda).
In den 1950er Jahren gewann Hot
Rod eine besondere Bedeutung.
Das in diesen Jahren in den USA
gewachsene Selbstvertrauen Jugendlicher spiegelt sich auch in
Filmen mit James Dean und Marlon Brando oder eben retrospektiv
auch in American Graffiti wider.
Motorräder und Autos spielen hier
als Manifestation der Counterculture (Donnelly 2000, S. 49) eine
herausragende Rolle.
Abb. Lowrider-Bike, Detailaufnahme
(Foto Frank Schürmann)
36
So wie die Hot Rod Culture in den 1950er
Jahren verstand sich „Lowriding” als Gegenpol zur Konformität der 1960er Jahre. Diese
Form der Mobilität kreierten in Los Angeles
die Chicanos, die spanisch sprechende Minderheit in den USA. Entsprechend ihrer Herkunft zeigte die Ikonografie des Lowriding
neben zeitgenössischen Motiven wie Pinup-Girls und Gangstern auch solche, die der
aztekischen Mythologie entstammen. Lowriding breitete sich in den 1970er Jahren in
den hispanischen Communities schnell aus.
Im Gegensatz zur weißen Rennkultur des Hot
Rod entdeckte Lowriding die Langsamkeit
für sich. Eine besonders spektakuläre Form
des Tunings ist die Ausstattung der Autos
mit spezieller Hydraulik, mit der man Autos
nicht nur hüpfen, sondern im Extremfall auch
tanzen lassen kann. (Donnelly 2000, S. 50).
Für weniger finanzkräftige Jugendliche gab es
spezielle tiefer gelegte Fahrräder. Auch eine
Adaption des Lowriding durch die afroamerikanische HipHop-Kultur ließ nicht lange
auf sich warten. Dem „Cruisen” und „Lowriding” huldigen zahlreiche Videoclips, die
auch in Deutschland ihre Wirkung nicht verfehlen. Allgemein gilt auch für diese beiden
Formen des Unterwegsseins „hot rodders and
lowriders reveal feelings of alienation and belonging, rebellion and community, movement
and individuality” (ebenda).
Cruisen
(Massive Töne)
Wir sind die Coolsten,
wenn wir cruisen,
Wenn wir durch die City düsen,
Wir sind die Coolsten, wenn die süßen
Ladies uns mit Küsschen grüßen.
Wir sind die Coolsten,
wenn wir cruisen,
Wenn wir durch die City düsen,
Wir sind die Coolsten, nie am losen,
weil wir rulen, wenn wir cruisen.
Traveling
Mit den Beatniks um Jack Kerouac, William S.
Burroughs, Neal Cassady und Allen Ginsberg
erlebte die biedere Nachkriegsgesellschaft der
USA der1950er Jahre eine bedeutende Eruption. Ihr Lebensstil war gekennzeichnet von
Drogenexzessen, provokativer Musik, Homosexualität, Kriminalität und häufig wechselnden Sexualkontakten. Ihre unaufhörliche
Suche nach neuen Vision schlug sich auch in
einer Ruhe-, Rast- und Heimatlosigkeit nieder,
die ihren Ausdruck in zahllosen gemeinsamen
Fahrten durch die USA fand. Aus dem Nährboden der Beatniks erwächst die Kultur der
Hippies Mitte der 1960er Jahre mit dem Zentrum San Francisco in Kalifornien. Eine Gelenkstelle ist Allen Ginsberg, der auch mit Bob
37
Dylan und mit John Lennon von den Beatles
befreundet war. Zu weiteren folgenreichen
Begegnungen im Leben Ginsbergs zählten
diejenigen mit dem LSD-Papst Timothy Leary
und dem buddhistischen Meditationsmeister
Chögyam Trungpa, der ihn fernöstliche Religion und Philosophie lehrte. Neben Ginsberg
ist Neal Cassady von besonderem Interesse
für den Zusammenhang des Unterwegsseins.
Er saß am Steuer des Busses Furthur, mit
dem die Merry Pranksters, eine Gruppe ausgeflippter Freaks, durch die USA zogen und
damals noch legale Acid-Test, Versuche mit
der halluzinogenen Droge Lysergsäurediethylamid (LSD), „diplomierten”. Beide Stränge
der Suche nach Bewusstseinserweiterung und
Selbsterfahrung durch Drogen oder fernöstliche Meditations- und Religionserfahrung, gepaart mit dem gruppenbezogenen Lebensstil
der Kommune, führten zu einer gänzlich neuen Form des Unterwegsseins – das gemeinsame Reisen mit dem Bus. Farbenprächtige Vorbilder ihrer Vehikel setzten neben den Merry
Pranksters mit ihrem umgebauten Schulbus
die Beatles, die 1967 ihre psychedelische Leinwandreise im Reisebus voll skurrilem Humor
präsentierten, die Magical Mystery Tour. Die
Bezeichnung „auf den Trip gehen” erhielt im
Zusammenhang mit psychedelischen Drogenerfahrungen seine ambivalente Bedeutung des
Reisens in den realen und den inneren Kosmos der Selbsterfahrung.
38
Auch die Köpfe der progressiven Musik der
1960er Jahre begeisterten sich nun in der
Tradition Hermann Hesses (Siddharta. Eine
indische Dichtung, 1922) und der „Hipster”
um Jack Kerouac (Gammler, Zen und hohe
Berge, 1958) für fernöstliche Traditionen. Die
Beatles experimentierten 1965 auf ihrer LP
Rubber Soul in dem Song Norwegian Wood
erstmalig mit dem traditionellen indischen
Instrument, dem Sitar. Erste Ideen, den Sitar
in die Popmusik zu integrieren, entwickelte allerdings Brian Auger mit seiner Band
Yardbirds 1964 im Song Heart Full of Soul.
Er wurde 1965 jedoch zunächst nur mit einem Sitar inspirierten Gitarrensound von Jeff
Beck eingespielt. Spätestens mit dem Auftritt
des indischen Sitarvirtuosen Ravi Shankar
auf dem legendären Monterey-Pop-Festival,
1967, war die traditionelle indische Musik für
den progressiven Rock kanonisiert. Das blieb
nicht ohne Einfluss auf die Jugendkultur der
späten 1960er Jahre. Auch sie begab sich nun
im Bus auf den Hippie-Trail mit dem Ziel Indien, unter ihnen Deutschlands berühmtestes
Model und Groupie dieser Jahre, Uschi Obermaier. Die Krautrock-Band Embryo hat ihre
Reise unter dem Titel Embryo’s Reise filmisch
und musikalisch dokumentiert.
Abb. VW-Bus T1, Samba Luxus-Fensterbus, Baujahr
1963, von Manfred Klee ab 1976 durch Europa gefahren
(Foto Frank Schürmann)
Zum Kultfahrzeug des Traveling avancierte
der VW-Kleinbus, liebevoll „Bulli” genannt.
Das Mehrzweckfahrzeug bevölkerte nun auch
zunehmend die Baleareninsel Ibiza, ein zweiter
Fluchtpunkt des Unterwegsseins ausgeflippter
Hippiescharen. Hier entstanden sogar HippieMärkte, auf denen Kunst- und Kleidungsimporte aus Indien feilgeboten wurden. Bis heute
existiert im Ferienclub „Punta Arabi” ein wöchentlich stattfindender Hippie-Markt, der zu
39
den führenden touristischen Attraktionen der
Insel zählt. Ein weiterer Anziehungspunkt auf
der Insel sind seit 1991die Ibiza Bike Weeks,
die von Klaus Wagner vom Motorrad-Club
Freeway Riders aus Gelsenkirchen im Geiste
Daytonas initiiert wurden. Hier lebte sie wieder auf die alte Allianz der Rebellion der Hippies und der Rocker aus den Spätsechzigern,
die spätestens mit den entsetzlichen Ereignissen während des Rolling-Stones-Konzerts in
Altamont seinerzeit ein Ende fand. Seit den
1980er Jahren ist das Traveling mit dem Bulli out. Disco, Punk und New Wave lösten die
Hippiekultur ab. Inzwischen ermöglichen Billigflüge einen fernöstlichen Freak-Tourismus,
der auch noch einmal mit hippieähnlichen
Avancen in der Techno-Szene als „Goa-Trance” in den 1990er Jahren abgefeiert wurde - to
be a hippie just for a few days.
Magical Mystery Tour
(The Beatles)
Roll up we’ve got everything you need,
roll up for the mystery tour.
Roll up satisfaction guaranteed, roll up
for the mystery tour.
The magical mystery tour is hoping to
take you away,
Hoping to take you away.
40
Touring
Im sechsten und abschließenden Ausstellungsbereich widmet sich das rock’n’popmuseum
einem seiner Kernbereiche. Der Konzertbetrieb, die klassische Konnotation dessen, was
oft unter „On the Road” verstanden wird. Die
Faszination des Unterwegsseins kulminiert
auch hier im Klischee des „Sex, Drugs and
Rock’n’Roll”. Der Blick gilt diesmal allerdings nicht den farbig ausgeleuchteten Stars
auf der Bühne und ihren postkonzertanten Soli
mit den Groupies in den Hotelbetten, sondern
den Frauen und Männern mit den Schwielen
an den Händen. Es wird von denen berichtet,
die die Cases schleppen, für das Merchandising zuständig sind, das Catering besorgen
oder in großer Höhe angeseilt das Rigging
erledigen. Hier zeigt sich ein ganz anderes
Bild, eines mit viel weniger Pathos. Harte Arbeit, ungewöhnliche Arbeitszeiten und lange
Abwesenheit bergen häufig Probleme für die
Partnerschaft zuhause, die nur mit sehr viel
Verständnis zu bewältigen ist. Und dennoch –
kaum einen hält es, wenn die Straße wieder
ruft mit ihren anonymen Städten, Hotels oder
dem anstrengenden Leben auf engem Raum in
den Nightliner-Bussen. Dann bekommen sie
wieder glänzende Augen, wenn sie von einer
Kameradschaft und einem einmaligen Teamgeist ganz fernab vom Klischee berichten. Für
viele ist es mehr eine Berufung als ein Job,
den man trotz allem ohne die Faszination und
den Outlaw-Flair des Rock’n’Roll wohl kaum
ausüben würde. In den Interviews spürt man,
dass sie längst nicht alles preisgeben von dem,
was sie erlebt haben – und was neben der harten Arbeit auch noch für sie hinter den prächtigen Kulissen des Tournee-Business als Krumen abfällt vom sündigen Leben des „Sex,
Drugs and Rock’n’Roll”. Wie in den anderen
Themenbereichen bedeutet das Leben auf
der Straße auch für sie ein Stück der stillen
Rebellion, der Individualität und der Freiheit
– „moving is the closest thing to being free”
(Willie Nelson, Country-Legende).
Abb. Saubere Bühnen-Outfits
für Stars - Waschmaschinen
on the Road, Hans-Jürgen Topf
mit seiner Rock ‘n‘ Roll Laundry
(Foto Frank Schürmann)
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