Schwarzgeld im Sarg
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Schwarzgeld im Sarg
50 JAHRE BUNDESLIGA DIENSTAG, 1. MAI 2012 # Schwarzgeld im Sarg 1964/1965 1. Werder Bremen 15 S, 11 U, 4 N 41:19 Pkt., 54:29 Tore Trainer: Willy Multhaup GROSSE SPIELE Hannover 96 1. FC Köln 1964/65: Hertha fliegt aus der Liga – Ältester Trainer lässt modernsten Fußball spielen 2. 1. FC Köln 14 S, 10 U, 6 N 38:22 Pkt., 66:45 Tore Trainer: Georg Knöpfle 3. Bor. Dortmund 15 S, 6 U, 9 N 36:24 Pkt., 67:48 Tore Trainer: Hermann Eppenhoff ➡ 5. Hannover 96 13 S, 7 U, 10 N 33:27 Pkt., 48:42 Tore Trainer: Helmut Kronsbein 6. 1. FC Nürnberg 11 S, 10 U, 9 N FC Schalke 04 Bor. Dortmund 32:28 Pkt., 44:38 Tore Trainer: Gunther Baumann Am 8. Mai 1965 war Werder Bremen Deutscher Fußballmeister – eine Sensation. Doch die Fußball-Nation kannte im Sommer 1965 nur ein Thema: den Skandal um schwarze Kassen und verbotene Handgelder. Die Bundesliga war noch nicht mal zwei Jahre alt – und stand schon auf der Kippe. 8. Eintr. Frankfurt 11 S, 7 U, 12 N 29:31 Pkt., 50:58 Tore Trainer: Paul Oßwald Ivica Horvat 9. Braunschweig 10 S, 8 U, 12 N 28:32 Pkt., 42:47 Tore Trainer: Helmut Johannsen ➡ 10. Neunkirchen 27:33 Pkt., 44:48 Tore Trainer: Horst Buhtz 11. Hamburger SV 11 S, 5 U, 14 N 27:33 Pkt., 46:56 Tore Trainer: Georg Gawliczek 12. VfB Stuttgart 9 S, 8 U, 13 N 26:34 Pkt., 46:50 Tore Trainer: Kurt Baluses Rudi Gutendorf 13. Kaiserslautern 11 S, 3 U, 16 N 25:35 Pkt., 41:53 Tore Trainer: Günter Brocker Werner Liebrich 14. Hertha BSC 7 S, 11 U, 12 N ➡ 15. Karlsruher SC 9 S, 6 U, 15 N 24:36 Pkt., 47:62 Tore Trainer: Kurt Sommerlatt Helmut Schneider 16. FC Schalke 04 7 S, 8 U, 15 N 22:38 Pkt., 45:60 Tore Trainer: Fritz Langner ➡ = Pokalsieger = Aufsteiger Der Abstieg wurde ausgesetzt, die Liga auf 18 Vereine aufgestockt, Hertha wurde strafversetzt und durch Tasmania Berlin ersetzt. Die Sendung hieß „Wahn und Wirklichkeit“ und erschütterte den DFB und seine neue Liga. Vier Tage, nachdem das DFB-Bundesgericht den Ausschluss von Hertha BSC wegen verbotener Handgeld- und Gehaltszahlungen bestätigt hatte, packten die Berliner Bosse im Studio des Senders Freies Berlin aus. Detailliert nannten die in die Enge getriebenen Herthaner Namen und Zahlen. 13 der 15 Ligakonkurrenten beschuldigten sie ähnlicher Verstöße, zwei Dutzend Fußballer wurden angeprangert. Zum Verständnis: Erlaubt waren Handgelder von 10 000 DM, die maximale Ablösesumme lag bei 50 000 DM, und das Grundgehalt durfte 500 DM nicht überschreiten; mit Prämien sollte ein Lizenzspieler nicht mehr als 1200 DM verdienen. Der Realität entsprach das nicht. Hertha zahlte mehr als erlaubt, wie fast alle. Der Un- terschied: Die Berliner ließen sich erwischen, durch einen Fehlbetrag von 192 000 DM auf dem Klubkonto. Schatzmeister Günter Herzog, ein Beerdigungsunternehmer, hatte Schwarzgeld und Eintrittskarten in seinem Unternehmen versteckt – in den Särgen . . . Nach der Fernsehsendung entrüsteten sich alle Vereine, doch der Aufforderung des DFB, die Berliner zu verklagen, kam keiner nach. Vergeblich forderte HSV-Präsident Carl-Heinz Mahlmann: „Amnestie nach hinten, Freizügigkeit nach vorne.“ Doch daraus wurde nichts, es wurde weiter geheuchelt. Und Hertha, stellvertretend für alle, aus der Bundesliga gejagt – obwohl sich der Klub von Deutschlands prominentestem Anwalt vertreten ließ. Dr. Paul Ronge verabschiedete sich mit einem wahren Satz: „Das Bundesliga-Statut hat den Nachteil seines größten Vorzugs: Seine Schöpfer waren Idealisten.“ Auch in Bremen wurde mehr gezahlt als erlaubt, aber kein anderer Klub setzte das Geld so klug ein wie der SV Werder. Mit Verstärkungen vor allem aus dem Ruhrgebiet stieg der Außenseiter auf zum Überraschungsmeister. Vater des Erfolgs war Trainer Willy Multhaup, den alle nur „Fischken“ nannten – sein Vater hatte in Essen ein Fischgeschäft geführt. Multhaup war mit 62 Jahren der älteste Trainer der Liga, aber er ließ den moderns- ten Fußball spielen: Er erfand den Libero, den der brillante Helmut Jagielski gab, er ließ die Verteidiger Sepp Piontek und Horst-Dieter Höttges stürmen, er legte Wert auf Defensive und Konter. „Er hat uns das Laufen beigebracht, das war die Grundlage. Und er war ein ganz feiner Mensch“, sagt Arnold Schütz über den Trainer. „Pico“ riefen sie den Kapitän aus dem Bremer Stadtteil Walle, der während seiner Karriere (bis 1972) als Küper (Schadensverwalter) im Hafen arbeitete. Die Meisterschale bekam der Meister erst zwei Tage nach dem letzten Spiel in die Hände. Zwar stand Werder als Titelträger so gut wie fest, doch rein rechnerisch hatte auch der 1. FC Köln eine Mini-Chance. So gab es für die Bremer nach dem 3:2 in Nürnberg nur einen Lorbeerkranz; die „Salatschüssel“ wurde erst am Montag danach in der neuen Bremer Stadthalle überreicht. Es war das Ende einer spannenden Saison, die den Zuschauerschnitt auf über 27 000 trieb; eine Marke, die erst 30 Jahre später überboten wurde. Doch es war auch eine Saison der Skandale, und das lag nicht nur an den Sünden der Dame Hertha. In Neunkirchen flogen Flaschen gegen den SchiedsrichWarmmachen 1964/65: Der Nürnberger Heinz Strehl auf ei- ter, ein Fanatiker schlug den nem Parkplatz vor dem Stadion. Foto: Imago Bremer Höttges nieder. In KÖPFE DES JAHRES München liegt Selbst seine Freunde haben ihn abgeschrieben, doch Hans Rudi Brunnenmeier zu Füßen. Der Mittelstürmer des TSV 1860 wird Torschützenkönig und Nationalspieler. Doch der gut aussehende Star ist auch ein fröhlicher Zecher, der nicht Nein sagen kann. Der Absturz ist tief und endet nicht, als er die Dollybar im Rotlichtviertel führt. Brunnenmeier stirbt 2003 verarmt und vereinsamt. Aber nicht vergessen, denn als Symbol der großen „Löwen“-Epoche ist er unsterblich. Deutschlands bester Torwart ist der große Verlierer des Skandals: 1964 buhlen viele Klubs um Schäfer kommt nach einer Meniskus-OP wieder. Nach vier Monaten Pause kehrt der Weltmeister ins Team des 1. FC Köln zurück, mit dem Kapitän an Bord verliert der Meister keins der letzten fünf Spiele. „De Knoll“, wie der Ur-Kölner genannt wird, verabschiedet sich am letzten Spieltag mit seinem 498. Tor im 703. Einsatz für den FC. Im Alter von 37 Jahren. Wolfgang Fahrian, den WM-Torhüter von 1962, mit Handgeldern in verbotetener Höhe. Der Porschefahrer nimmt 80 000 DM von Hertha und steht am Pranger. Er wird zwei Monate gesperrt, dann bei einem Testspiel schwer im Gesicht verletzt. Zu alter Klasse findet er nicht mehr – erst als Spielerberater macht er internationale Karriere. „Menschenhändler“, zischt Bundestrainer Sepp Herberger über Typen wie Dr. Otto Ratz. Der ungarische Jurist und ehemalige Radioreporter antwortet lächelnd: „Für mich ein Kosewort.“ Ratz ist – neben dem ehemaligen Zirkusartisten Raymond Schwab und Ex-Schiedsrichter „Moppel“ Alt – der bekannteste Spielervermittler. Er nennt sich „Dr. Zehnprozent“ und leistet sich eine noble Residenz in der Münchener Prinzregentenstraße. DIE ELF DER SAISON 1964/1965 Josef Piontek Horst-Dieter Höttges Walter Schmidt Helmut Jagielski Wolfgang Weber durch Tore von Schmidt, Konietzka (2), Emmerich und Brungs (2), angeblich gönnen sich die Dortmunder schon in der Pause ein Gläschen Derbysieg-Sekt. Das „SportMagazin“ schreibt: „Wie eine verheerende Naturkatastrophe brach der BVB-Taifun über die Schalker herein.“ Hamburger SV Werder Bremen 0 4 13. 2. 1965, 21. Spieltag: Vor der Rekordkulisse von 55 000 Zuschauern gelingt dem HSV erstmals in einem Bundesliga-Heimspiel kein Tor. Das Team wird vorgeführt, HSV-Trainer Georg Gawliczek sagt: „Werder spielt den modernsten Fußball in Deutschland.“ Dirigiert von Spielmacher Diethelm Ferner, überrollen die Bremer im perfekten 4-2-4System den HSV, zwei Tore erzielt Klaus Matischak. Werder Bremen Bor. Dortmund 3 0 8. 5. 1965, 29. Spieltag: In einem mehrtägigen Trainingslager in Worpswede hat sich Verfolger BVB auf die letzte Titelchance vorbereitet, doch Werder ist zu stark und zeigt seine Klasse. Nach dem Abpfiff ist noch nicht Nächste Folge: 1965/66 – Schluss: Gebannt warten der schlechteste BundesliSpieler und Zuschauer auf gist aller Zeiten. das Ergebnis aus Köln. Als Stadionsprecher Richard Oßenkopp verkündet, dass der 1. FC Köln gegen Nürnberg nur 0:0 gespielt hat, Mit dem Ba- bricht der Meisterjubel aus. nanendampfer sei er nach E. Frankfurt 1 Europa geKaiserslautern 2 kommen, verkündet Kölns 15. 5. 1965, 30. Spieltag: Präsident Franz Kremer Ein Held von Bern als Retter: launig, als er Nach der Entlassung von stolz den ersten Brasilianer Trainer Brocker soll Gyula präsentiert. José Gilson Ro- Lorant übernehmen, doch driguez, Künstlername Zeze, der fällt durch die Fußballfloppt; nach seinem Debüt lehrerprüfung. Also springt im ersten Saisonspiel kommt Werner Liebrich ein und beer nur noch auf vier Einsätze, schwört die Tugenden seiner der Boulevard hänselt, er ha- Zeit – und Tausende FCKbe eine Schneeallergie. Nicht Fans feiern den Sieg wie einst besser ergeht es dem Meide- die Meisterschaft. Liebrich richer SV mit Landsmann unter Tränen: „Ich danke jeRaoul Eduardo Tagliari: dem für seinen hingebungsNeun Spiele in zwei Jahren. vollen Einsatz.“ Sammelbilder (Sicker) aus dem Archiv Raimund Simmet (www.stickerfreak.de) Angriff Eintracht Frankfurt Angriff Bor. Neunkirchen ld Mittelfe 1. FC Köln ld Mittelfe Werder Bremen ld Mittelfe Eintr. Braunschweig Abwehr Werder Bremen Werder Bremen Bor. Dortmund Abwehr Berlin stürmten Hunderte nach einer Heimniederlage den Rasen, bedrohten und beschimpften die eigenen Spieler. Und in Kaiserslautern gab es den ersten Toten: Ein 58-Jähriger aus Heßheim wurde im völlig überfüllten Block gegen eine Kettenabsperrung gedrückt und tödlich verletzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelte und stellte fest: Mehr als 6000 Menschen hätten nicht in den Block gedurft, in den sich an diesem Tag 9000 gequetscht hatten. Und auch mit der Vorbildfunktion mancher Spieler, die später als Idole verklärt wurden, war es nicht immer so weit her. In Hamburg weigerte sich die Mannschaft, mit „Charly“ Dörfel zu spielen, weil der Clown vom linken Flügel sich offensiv bei anderen Klubs angeboten hatte. Und auf Schalke stöhnte Klubchef Fritz Szepan über die Lustlosigkeit von Reinhard Libuda: „Wenn man mit 20 schon ’ nen Porsche fährt . . .“ In Bremen gab’ s keinen Porsche-Fahrer. Beliebtestes Auto beim Meister war der VW 1200. Drei Spieler machten bei der Umfrage des Fachblattes „Kicker“ nach den Wagen keine Angabe: Sie waren noch Fußgänger. Elmar May Dieter Lindner Angriff Angriff Rudolf Brunnenmaier Friedhelm Konietzka Angriff Hannover 96 Von Harald Pistorius Borussia Dortmund 32:28 Pkt., 46:48 Tore Trainer: Rudi Gutendorf Wilhelm Schmidt TSV 1860 München 12 S, 8 U, 10 N Hans Tilkowski 2 6 26. 9. 1964, 6. Spieltag: Der erste Überraschungsmeister: Nach dem 3:0 gegen Borussia Dortmund warteten die Bremer auf das Endergebnis des Rivalen 1. FC Köln – als der Sta- Nie hat eine Mannschaft in dionsprecher das 0:0 des Titelverteidigers gegen den 1. FC Nürnberg verkündet hatte, drückte der Fotograf ab und erwischte Horst-Dieter Höttges, Günter der Bundesliga zur Halbzeit Bernard, Heinz Steinmann, Diethelm Ferner, Max Lorenz und Klaus Matischak (rechts) beim ersten Jubel. Foto: Archiv höher geführt. 6:0 heißt es 7. Meidericher SV 25:35 Pkt., 40:62 Tore Trainer: Josef Schneider Gerhard Schulte 0 7 Nie verlor die Eintracht ein Heimspiel so hoch: 0:2 nach fünf Minuten, dann fällt ein Verteidiger verletzt aus (es darf noch nicht gewechselt werden), nach zwölf Minuten steht es 0:4 gegen den Abstiegskandidaten. Frankfurt holt zu Hause nur zwölf Punkte, der KSC lässt dem Rekordsieg fünf Monate später eine Rekordniederlage folgen: 0:9 bei München 60. 35:25 Pkt., 70:50 Tore Trainer: Max Merkel Tor Eine Woche nach dem sensationellen 2:0 bei Borussia Dortmund feiert Hannover 96 Heimpremiere im seit Tagen ausverkauften Niedersachsenstadion. Der Neuling zerlegt Meister 1. FC Köln, 75 000 feiern Trainer „Fifi“ Kronsbein und den Torschützen Werner Gräber. 19. 9. 1964, 5. Spieltag: 14 S, 7 U, 9 N = Punkte-Abstand = TrainerEntlassung 29. 8. 1964, 2. Spieltag: E. Frankfurt Karlsruher SC 4. 1860 München 9 S, 9 U, 12 N 2 0 Jürgen Bandura