Santa Teresa, „El Secreto del Mundo”.
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Santa Teresa, „El Secreto del Mundo”.
UNIVERSITÄT ZU KÖLN Philosophische Fakultät Romanisches Seminar SANTA TERESA, „EL SECRETO DEL MUNDO”. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT IN 2666 VON ROBERTO BOLAÑO MASTERARBEIT im Fach Romanistik-Spanisch vorgelegt von LEYLA BEKTAŞ Matrikelnummer: 4728351 lbektas@smail.uni-koeln.de Betreuung: PROF. DR. WOLFRAM NITSCH KÖLN, 13.08.2015 INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG ...................................................................... 1 1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT ......................................................................................2 1.1 Zum Begriff der Globalisierung ................................................................................2 1.2 Pfeiler der Globalisierung in Mexiko .......................................................................5 1.3 Wege der Globalität: Die Geschichte der Globalisierung ...................................... 11 1.4 Vorüberlegungen zu einer ästhetischen Globalität: Baudelaires „Le voyage“ .... 15 2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG .................................... 19 2.1 Migration und Nomadisierung .............................................................................. 19 2.2 Die produktionsbedingte Entwertung des Individuums .....................................24 2.3 Das Stadtbild Santa Teresas im Zeichen von Segregation und eigenständiger Transformation .................................................................................................... 29 2.4 Die Metaphysik der Globalisierung: Wüste und Verwüstung............................. 34 3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT .......................................................................39 3.1 Mobilisierung und Entpersonalisierung als wiederkehrende Momente der Geschichte .............................................................................................................39 3.2 Parallele Orte der Gewalt und Verwüstung..........................................................45 3.3 Die (unaufhaltsame?) Ökonomisierung des Lebens ............................................ 51 3.4 Globalität und Fiktion ...........................................................................................56 ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo .................................................................................... 61 BIBLIOGRAPHIE .....................................................................................................................63 ABBILDUNGEN ...................................................................................................................... 68 ERKLÄRUNG .......................................................................................................................... 71 EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG A veces sueño que estoy en una ciudad que es México pero que al mismo tiempo no es México. Juan García Madero in Roberto Bolaño: Los detectives salvajes (1998) „Sentencian a 697 años de prisión a cinco feminicidas en Chihuahua“, meldete Ende Juli 2015 die mexikanische Zeitung La Jornada1. Eine symbolische Haftstrafe im Falle der Frauenmorde von Ciudad Juárez, die seit dem Beginn ihrer Zählung im Jahre 1993 weitestgehend ungeklärt und unbestraft geblieben sind. Wenngleich die feminicidios längst nicht nur in Ciudad Juárez (Chihuahua) stattfanden, sondern an vielen Orten in Mexiko geschahen und immer noch geschehen, haben die ‚Frauenmorde von Ciudad Juárez‘ als solche weltweite Bekanntheit erlangt. Das geschah nicht zuletzt durch Roberto Bolaños posthum erschienenen Roman 2666 (2004), der sich ihnen auf über dreihundert Seiten in minutiöser Weise widmet. Bolaño lässt die Frauenmorde in Santa Teresa geschehen, einer fiktiven nordmexikanischen Grenzstadt, und flicht sie ein in eine mythisch anmutende Paradigmatik weltlicher Belange: „Nadie presta atención a estos asesinatos, pero en ellos se esconde el secreto del mundo“ (2666: 439), lautet es an einer entscheidenden und viel kommentierten Stelle des Romans, die in Santa Teresa nicht nur ein, sondern sogar das Geheimnis der Welt verortet. Wir wollen in dieser Arbeit dieser Aussage nachgehen und uns fragen, welche globalen Tendenzen sich in Santa Teresa verdichten. Die Welt, die in 2666 um die Frauenmorde herum konstruiert wird, ist eine vollständig von den multiplen Prozessen der Globalisierung gezeichnete Welt2. Die Auswirkungen der Globalisierung(-spolitik) zeigen sich konkret in Santa Teresa: zum einen anhand der zunehmenden Mobilität des Subjekts und der produktionsbedingten Entwertung des Individuums; eigenständigen zum anderen Transformation anhand und der der räumlichen Verwüstung Tendenzen des der Lebensraums. Segregation, All diese Konsequenzen stehen in indirektem, zum Teil sogar in direktem Zusammenhang zu den feminicidios und den entsprechenden, erfolglosen Ermittlungen. Neben dieser Darstellung eines globalisierten Mexiko werden im Roman darüber hinaus historische und synchrone Querverbindungen zu verschiedenen Orten auf der Welt in 2666 geschaffen, die parallel oder analog zu Santa Teresa konstruiert und wahrgenommen werden. Die dem Roman eigene Wahrnehmung der Welt bezeichnen wir als ‚Globalität‘. Globalität ist zum einen der subjektive Spiegel der Tendenzen der Globalisierung sowie ihrer früheren, 1 2 Artikel vom 27.07.2015: http://www.jornada.unam.mx/ultimas/2015/07/27/sentencian-a-697-anos-enprision-a-cinco-feminicidas-en-chihuahua-5437.html. Dementsprechend oft wird Bolaño der Status eines Schriftstellers des ‚globalisierten Zeitalters‘ zugeschrieben (vgl. z.B. POPE 2011). 1 historischen Ausprägungen und Vorstufen. Zum anderen ist die Globalität des Romans 2666 eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten Welt und ihrem Produktivitätswahn, dessen verheerende Folgen in 2666 klar aufgezeigt werden. Warum ausgerechnet Santa Teresa? 2666 verortet sich inhaltlich und poetologisch nach dem Scheitern der großen politischen und ästhetischen Ideologien. Dass Ciudad Juárez dabei eine tragische Schlüsselrolle einnimmt, sagt Bolaño im Gespräch mit Mónica MARISTAIN: Ciudad Juárez, que es nuestra maldición y nuestro espejo, el espejo desasosegado de nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros deseos. (BOLAÑO 2004: 339) Als Bolaño begann, sich mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez zu beschäftigen, diente ihm die investigative Studie zu den feminicidios von Ciudad Juárez, Huesos en el desierto (2002), des mexikanischen Journalisten Sergio GONZÁLEZ RODRÍGUEZ als wichtige Vorlage. Zu dieser äußert sich Bolaño folgendermaßen: Huesos en el desierto es así no sólo una fotografía imperfecta, como no podía ser de otra manera, del mal y de la corrupción, sino que se convierte en una metáfora de México y del pasado de México y del incierto futuro de toda Latinoamérica. (BOLAÑO 2004: 215) Diese werkexternen Überlegungen der Spiegelung und Verbildlichung in Ciudad Juárez verleiteten Bolaño wohl in 2666 mit dazu, das Geheimnis der Welt eben genau hier in Ciudad Juárez‘ fiktivem Ebenbild Santa Teresa zu situieren. Durch die Fiktionalisierung von Ciudad Juárez und die Situierung der fiktiven Stadt in einem anderen nordmexikanischen Bundesstaat (nämlich in Sonora und nicht in Chihuahua) werden die hier geschehenden Dinge übertragbar, universalierbar und gelten zum einen für die gesamte Grenzregion Mexikos zu den USA, darüber hinaus für andere Teile der (globalisierten) Welt (vgl. GRAS 2012: 110). Santa Teresa wird zum Paradigma, zum Emblem der Globalisierung (vgl. MUNIZ 2010: 38; HERLINGHAUS 2013: 217; OLIVIER 2014: 371) und steht dabei insbesondere für die ‚Verlierer‘ der Globalisierung ein, des heute sogenannten Global South. 1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT 1.1 ZUM BEGRIFF DER GLOBALISIERUNG ‚Globalisierung‘ ist von einem wirtschaftspolitischen Programm zu einer Gegenwartsdiagnose3 avanciert. Was in den sog. Entwicklungsländern noch immer die ungleichen Auswirkungen einer in den 1980er Jahren angewandten, internationalen Doktrin bedeutet, ist in hiesigen Breitengraden zu einem passe-partout-Begriff der Beschreibung des aktuellen Zustands der Welt geworden4. Es scheint keinen Zweifel zu geben: Wir befinden uns im ‚Zeitalter der 3 4 Vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON (2003: 7), die den Begriff der Globalisierung primär als Gegenwartsdiagnose charakterisieren, die dem kollektiven Bedürfnis entgegenkommt, der eigenen Epoche einen Namen zu geben und das Besondere an ihr auszumachen. Auch in der akademischen Textproduktion, wie es der Sammelband Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung (OTT/UHL 2005) exemplifiziert: Im Vorwort wird ausführlich über die Evolution des Raumbegriffs reflektiert, doch welche allgemeine Definition von Globalisierung zugrunde gelegt wird, bleibt offen. Demgemäß entwickeln die hier versammelten Beiträge eigene Vorstellungen vom 2 Globalisierung‘. So wenig das Phänomen der Globalisierung dabei selbst greifbar erscheint, die Allgegenwärtigkeit des Begriffs beweist doch seinen Erfolg. Der Soziologe und Gegenwartsanalytiker Zygmunt BAUMAN (1998: 7) charakterisiert den Begriff ‚Globalisierung‘ als Modewort, das durch seinen häufigen Gebrauch auf immer mehr Phänomene und Prozesse referieren will und sich selbst dadurch zunehmend undurchsichtig macht. Angesichts der ‚Flexibilität‘ des Begriffs, die die Gefahr birgt, ‚Globalisierung‘ zu einem unspezifischen Sammelbegriff verkommen zu lassen, heißt Globalisierung begrifflich zu definieren vor allem, reduktiv tätig zu sein und eine Auswahl im breiten theoretischen Angebot zu treffen. Die Auswahl für diese Arbeit ergibt sich aus dem hier zu untersuchenden literarischen Korpus. Mexiko spielt im ganzen Œuvre Bolaños eine Schlüsselrolle; 2666 ist in großen Teilen die Dokumentation eines von Globalisierungsmaßnahmen und Migration gezeichneten Mexikos der 1990er Jahre und dabei insbesondere der Grenzregion zu den USA, ein spezifischer Ort, an dem sich globale Tendenzen kristallisieren: ‘Cada cosa de este país es un homenaje a todas las cosas del mundo, incluso a las que aún no han sucedido‘ (2666: 428). So werden verschiedene simultane, aber auch historisch entfernte Szenarien, Szenerien und Phänomene und Ereignisse immer wieder parallelgeführt, die in Santa Teresa zusammenlaufen. Über diese diversen, den Globus umgreifenden Verbindungslinien, die auf den ersten Blick nicht immer evident erscheinen, wird eine dem Roman eigene Wahrnehmung der Welt, eine Globalität, konstruiert und dargestellt, die sich aus den Prozessen der Globalisierung ergibt und diese zugleich kritisiert. Daraus ergibt sich Folgendes für den theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 1): Zunächst wird der wirtschaftspolitische ‚Fall‘ Mexiko, wo Globalisierung zum Programm wurde und die Mobilisierung eines Großteils der Bevölkerung folgte, historisch beleuchtet (Kapitel 1.2), um die Konsequenzen der Globalisierung, die in 2666 im Hinblick auf Subjekt, Raum und politische Strukturen anhand des urbanen Raums der fiktiven Stadt Santa Teresa geschildert werden, zu begreifen. Die theoretische Fokussierung auf eine lokale Perspektive auf Globalisierung soll dabei exemplarisch für die allgemeine Dynamik der Globalisierung einstehen, die ohne ein konkretes Beispiel unspezifisch bliebe5. Der Übergang zum Begriff der Globalität (Kapitel 1.3) ergibt sich über die sich daran anschließende historische Perspektive auf Globalisierung, die hinter der jahrhundertelangen Geschichte von Globalisierung ein seit der Kolonialzeit kontinuierlich bestehendes, weltliches Imaginarium erkennen lässt, das den politischen Entscheidungen vorausgeht und aus ihnen 5 Begriff der Globalisierung oder thematisieren ihn nicht explizit. Offenbar ist es unanfechtbar, das s wir ‚in Zeiten der Globalisierung‘ leben, weshalb diese Formel z.T. fast synonym eingesetzt wird zu ‚heutzutage‘ oder auch zu ‚nach dem spatial turn‘. Vgl. dazu OSTERHAMMEL (2001: 342), der der globalen Perspektive auf globale Themen in der Geschichtsschreibung absagt: „‚Weltgeschichte‘ darf nicht auf einer einförmigen und eintönigen Ebene des Großen und Allgemeinen verharren, sie muss sich im Kleinen und Spezifischen verankern. Einige Soziologen nennen das heute ‚glocalization‘, aber es ist auch schon ein Gebot schlichter Darstellungstechnik“. 3 folgt. Es reicht bis in die Paradigmen des heutigen Globalen Südens, für den Mexiko emblematisch einsteht. Auf der anderen Seite der politischen Veränderungen steht also die subjektive Wahrnehmung der Welt von globaler Implikation, die hier sog. Globalität. Bevor all dies in der literarischen Analyse von 2666 (Kapitel 2 und 3) Form annimmt, soll uns die Analyse von Charles BAUDELAIRES Gedicht „Le voyage“ von 1861 (Kapitel 1.4), aus dem eine Zeile das Motto für 2666 darstellt, erste entscheidende Anhaltspunkte für die Globalität von Bolaños Roman geben. Im Begriff wirtschaftlichen, der Globalisierung sozialen, kulturellen, bündeln sich ökologischen Bedeutungen und der politischen, informationstechnischen Vernetzung, die sich mit allgemeinen Betrachtungen zur historischen Spezifizität unseres Zeitalters vermengen. Trotz der Vielzahl an Prozessen, die Globalisierung begrifflich impliziert, ist Globalisierung jedoch klar an die exzessive und effektive Ausbreitung des Kapitalismus auf globaler Ebene gebunden. Das ist also zunächst eine Frage der Intensivierung: Der Wirtschaftshistoriker Armando KURI stellt fest, dass es sich bei Globalisierung vor allem um eine quantitative Steigerung schon länger vorhandener Tendenzen handelt. Seit den 1980er Jahren gibt es lediglich eine noch größere Anzahl an Handlungsgütern, einen erhöhten Austausch von Dienstleistungen, einen Anstieg von Produktion, eine wachsende Zahl multinationaler Unternehmen und einen Anstieg von internationalen Kapitalflüssen im Vergleich zum Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts (vgl. KURI 2007: 25; 29). Auch für den Soziologen Ulrich BECK liegt die Besonderheit der gegenwärtigen Globalisierung in der „Ausdehnung, Dichte und Stabilität wechselseitiger regional-globaler Beziehungsnetzwerke“ (BECK 1997: 31), auch er legt also ein quantitatives Kriterium bezüglich der Vernetzung zugrunde. Aus der Globalisierung resultiere, so lautet es oft, die sog. ‚Erosion des Nationalstaats‘. Was ist damit gemeint? Insofern als der moderne Nationalstaat noch ein „Bündnis zwischen Marktwirtschaft, Sozialstaat und Demokratie“ (BECK 1997: 24) darstellt, also eine Einheit, die Politisches und Ökonomisches verbindet und gleichzeitig modular trennt, so bedeutet Globalisierung nun eine wachsende Kluft zwischen nationalstaatlicher Politik und Ökonomie (vgl. BAUMAN 1998: 75). Dies wiederum geht einher mit einer Verschlingung der Politik durch die Ökonomie, da letztere zum universalen Richtwert, ja zum determinierenden Faktor der nationalen Politik wird (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 8f.)6. Die Eigendynamik des Marktes, seine ‚unsichtbare Hand‘, agiert am besten ganz ohne politische Interventionen und Regulierungen, die den Wettbewerb und Markt lediglich verzerren. 6 Diese Universalisierung des Ökonomischen an der Wurzel politischer Handlung macht HARDT/NEGRI zufolge den Unterschied zum ‚herkömmlichen‘ Kapitalismus aus, der prinzipiell immer ein Weltsystem war. Auch Manuel CASTELLS betont, dass der Kapitalismus durch sein expandierendes Moment schon immer die Welt umspannte, die globale Ökonomie nun aber als eigene Einheit „in Echtzeit“ global agiert (vgl. CASTELLS 1996: 101). 4 Darüber hinaus stellen transnationale Akteure, die sich jenseits des Nationalstaats verorten, die Machtbündelung, Souveränität und Autonomie des Nationalstaates infrage (vgl. BECK 1997: 29). Somit verschiebt sich der ‚Ort der Macht‘ –quasi unbemerkt– weg vom Nationalstaat hin zu neuen Zentren mit übernationaler Organisations- und Kontrollfunktion, die ihrerseits keiner transparenten oder demokratisch zugänglichen, steuernden Instanz unterstehen. Simultan dazu entstehen, so FUENTES/PEÑA (2010a: 6), vermittels einer neuen internationalen Arbeitsteilung (NIDL: New international division of labor), an anderen Orten neue Produktions- und Industriezentren, die fundamentaler Bestandteil der globalisierten Weltordnung sind, jedoch mit keinerlei Kontrollfunktion ausgestattet sind7. Wie genau diese globalisierte Arbeitsteilung vonstatten geht, wollen wir uns im folgenden Kapitel anhand des Beispiels Mexiko genauer ansehen. 1.2 PFEILER DER GLOBALISIERUNG IN MEXIKO Las oscilaciones psíquicas con que al eludir la mirada ajena nos eludimos a nosotros mismos, son rasgos de gente dominada, que teme y que finge frente al señor. [...] El carácter de los mexicanos es un producto de las circunstancias sociales imperantes en nuestro país; la historia de México, que es la historia de esas circunstancias, contiene la respuesta a todas las preguntas. Octavio Paz: El laberinto de la soledad (1950) Wie artikuliert sich die Dynamik der Globalisierung in Mexiko? Im Folgenden sollen makropolitische Entscheidungen der 1980er Jahre historisch beleuchtet werden. Die urbanen Zentren der Grenzregion Mexikos zu den USA erweisen sich dabei als der Ort, an dem neue Industriezentren entstehen und sich die globalisierenden Dynamiken also besonders bemerkbar machen. Die mikropolitischen Folgen äußern sich insbesondere an dem für die Globalisierung symptomatischen Phänomen der Migration und ihren Auswirkungen wiederum für die Umgestaltung des urbanen Raums, allesamt Folgen, die in 2666 bereits omnipräsenter Bestandteil der dargestellten Welt sind. Die historische Ausgangssituation für die Globalisierungspolitik in Mexiko ist die Krise der Auslandsverschuldung von 1982. Dieses Ereignis ist bereits international bedingt, da es auf das zu Beginn der 1970er Jahre zusammengebrochene System fester Wechselkurse (Bretton7 César FUENTES und Sergio PEÑA vom interdisziplinären Colegio de la Frontera Norte (COLEF, Ciudad Juárez) beziehen sich hier auf die von der Stadtsoziologin Saskia SASSEN definierten global cities, Knotenpunkte der Organisation in einer globalisierten Weltordnung und Schlüsselorte des Finanzsektors und anderer Dienstleistungsfirmen, für die sie New York, London und Tokio als Beispiele nennt. Die Auslagerung einzelner Sektoren auf die ganze Welt, insbesondere des Produktionssektors, geht von hier aus vonstatten. Diese Analyse widerspricht der oft bemühten Globalisierungstheorie, dass in der Globalisierung kein steuerndes Zentrum mehr vorhanden sei (vgl. z.B. BAUMAN 1998: 80). 5 Woods-System) zurückgeht: Die ständig steigenden Zinsen der für Zwecke der Industrialisierung vergebenen Kredite treiben Mexiko in die Zahlungsunfähigkeit (vgl. Atlas der Globalisierung 2011: 70). Um der Spirale von Verschuldung und Inflation zu entkommen, entscheidet man, das Land auf den globalen Markt hin zu öffnen: Globalisierung wird als das neue Rezept für Wachstum angesehen (vgl. CORDERA 2006: 14). Der Drang nach wirtschaftlichem Wachstum dominiert die mexikanische Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre. Es entsteht die Auffassung, man müsse sich der globalen Wirtschaft anschließen, um den eigenen Fortschritt zu ermöglichen (vgl. KURI 2007: 25). Diese Auffassung geht einher mit konkreten politischen Maßnahmen, darunter der Befolgung des Washington Consensus im Jahre 1989, einem ‚Strukturanpassungsprogramm‘ (SAP: structural adjustment program) des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Diese Reformagenda wird für mehrere lateinamerikanische Länder, die sich in ähnlichen Schuldenkrisen befinden, formuliert und sieht gegen Kreditbilligung die folgenden wirtschaftspolitischen Umstrukturierungen vor (vgl. ROZO 2007: 322f.): Liberalisierung der internationalen Handelspolitik: Abbau von Handelsbeschränkungen und -kontrollen Finanzielle Liberalisierung Liberalisierung ausländischer Investitionen: Abbau von Hürden zur Einführung ausländischer Direktinvestitionen (FDI: Foreign Direct Investment) Deregulierung: Aufhebung aller marktbeschneidenden und wettbewerbsverzerrenden Regulierungen Umstrukturierung und Kürzung der Staatsausgaben, Verringerung der Bürokratie Privatisierung staatlicher Unternehmen Das Freihandelsabkommen TLCAN (Tratado de Libre Comercio de América del Norte) bzw. NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen USA, Kanada und Mexiko, das am 1. Januar 1994 in Kraft tritt, stellt sodann nur die Spitze des Eisbergs dar und wird zum Symbol einer schon länger geführten Globalisierungspolitik. Mit der Errichtung der nordamerikanischen Freihandelszone ist der hier erstgenannte Punkt des Washington Consensus vollends realisiert, Zölle und Handelsbeschränkungen werden abgebaut. Die FDI treiben die Globalisierung weiter voran: Multinationale Unternehmen (MNE: Multinational Enterprises), die im Falle Mexikos zu 80% ihren Firmensitz in den USA haben (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 9), agieren auf Basis ebendieser Direktinvestitionen und können im Zuge der Errichtung der Freihandelszone weiter wachsen und eingeführt werden. Dies fällt 1994 zusammen mit der bereits seit Mitte der 1960er Jahre bestehenden maquiladora-Industrie in Mexiko, die auf FDI beruht und im Zuge des TLCAN-Abkommens weiter floriert: Ausländische Firmen, d.h. MNE, stellen das Rohmaterial, das in den Montagebetrieben, den maquiladoras, die sich zumeist im Norden Mexikos an der Grenze zu den USA befinden, zu Endprodukten für den Export weiterverarbeitet wird (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 3). Die so entstehenden export-processing zones (EPZ), oft in der Nähe eines Hafens oder einer Nationalgrenze gelegen, werden somit zu sog. free trade areas, zu Orten des freien Handels, in denen die transnationalen Konzerne auf sehr geringe oder gar keine staatliche 6 Aufsicht und Regulierung bauen können (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 8; 13). Gemäß der im Washington Consensus verankerten Forderung nach Deregulierung ist der Einfluss der Politik hier also auf ein Minimum reduziert. Die Vorteile der Auslagerung an Standorte in ‚Entwicklungsländern‘ wie Mexiko, die sich für die MNE ergeben, bestehen darüber hinaus in den dort möglichen geringen Lohnkosten, niedrigen Bodenpreisen, unternehmerfreundlichen Besteuerungsformen und Regulationsdichten, wozu Tarifbindungen, Sozialversicherung und Umweltauflagen gehören (vgl. ZEHNER 2001: 154). Diese in den EPZ herrschende ‚Abwesenheit des Staates‘ (vgl. MONÁRREZ 2010: 28) spiegelt sich in den prekären Arbeitsbedingungen der maquiladoras und Lebensbedingungen ihrer Mitarbeiter wider: Die hier Beschäftigten, hauptsächlich Frauen (vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 75), arbeiten ohne Sozialschutz und für Niedriglöhne. Sie arbeiten auf ihr eigenes Risiko, es wird ihnen keine Sicherheit, weder von staatlicher noch von industrieller Seite, gewährleistet. Da ein genereller Überschuss an Arbeitern besteht und nur ein niedriger Qualifikationsgrad in den Fabriken, die zumeist Montagebetriebe sind, benötigt wird, ist die Arbeitskraft zudem quasi austauschbar. Der Soziologe Manuel CASTELLS (1996: 78f.) benennt das Streben nach Produktivität als entscheidenden Faktor in der Globalisierung. Ein Menschenleben ist in dieser auf Effizienz und Produktivität gebauten und entstandenen Industrieregion vor allem ein industriell arbeitender Körper, weshalb MONÁRREZ/BEJARANO (2010: 48) von ‚low-valued individuals‘ in den EPZ sprechen. Nichtsdestotrotz ziehen die Freihandelszonen ArbeiterInnen aus den zentralen und südlichen Bundesländern Mexikos sowie aus anderen zentralamerikanischen Staaten an, wo Arbeit und gute Entlohnung rar sind (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 45). Denn wenngleich Mexiko seit der Errichtung der Freihandelszone zu einem der größten Exportländer Lateinamerikas avanciert ist, insbesondere durch seine Exporte in der Automobil-, Elektronikund Textilproduktion, hat sich die Armut des Landes, unter der die Hälfte der Bevölkerung leidet, unterdessen nicht verringert (vgl. ROZO 2007: 328). Die Landarmut ist im Zuge der Globalisierung und des Freihandelsabkommens sogar gestiegen8. Das ist in vielen Regionen der Fall, wo saisonale, d.h. temporäre und regionale Migration längst praktiziert wird (vgl. BARABAS et al. 2011: 9). Diese wird Mitte des letzten Jahrhunderts schnell zu einem Langzeitbrauch nationaler und transnationaler Natur: Pronto, muy pronto, encontraron el camino al norte y de ahí pasaron la frontera para buscar y arribar al mítico ‚otro lado‘: Estados Unidos de América. (BARABAS et al. 2011: 10) 8 Im südmexikanischen Oaxaca beispielsweise, einer Kaffee- und Baumwollregion, kommt es zu massenweiser Landarmut u.a. im Zuge des Falls des internationalen Kaffeepreises sowie durch die Einführung synthetischer Stoffe (vgl. BARABAS et al. 2011: 80). Neben der Tatsache, dass die nationale Landwirtschaft sich nach dem TLCAN-Abkommen der US-Konkurrenz ausgesetzt sieht, sieht das Abkommen auch die Aufhebung eines seit der Revolution in der mexikanischen Verfassung festgelegten Artikels vor, nach dem das gemeinschaftliche indigene Land unverkäuflich und nicht privatisierbar ist, weshalb sich in Folge des Abkommens der Aufstand der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN in Chiapas bildet (vgl. Atlas der Globalisierung 2011: 65). 7 Zunächst geht es gen Norden des Landes, wo in den maquiladoras ein ständiger Bedarf an Arbeitskraft besteht. Die Migrationskette verlängert sich aber meist bis in die USA, deren verheißungsvolle9 Grenze unmittelbar an die EPZ angrenzt und von vielen Migranten illegal überquert wird. In den USA besteht ebenfalls ein ständiger Bedarf an gering qualifizierter Arbeitskraft in diversen Wirtschaftssektoren, dessen Umfang nicht durch reguläre, d.h. legale Migranten gedeckt werden kann (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 49) und wo die Löhne zudem um ein Vielfaches höher sind (vgl. NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 160). So sind die EPZ sowohl Ankunfts- als auch Übergangsorte, Orte der omnipräsenten Mobilität von Migranten, die zumeist indocumentados, also ohne Ausweispapiere unterwegs, sind. Doch die massenhafte und omnipräsente Migration vom Süden Mexikos bzw. Mittelamerikas in den Norden Mexikos bzw. USA lässt sich nicht allein über die komplementäre örtliche Konstellation eines Pols der Nachfrage und eines des Angebots erklären. In einem Land, wo ganze Landstriche entleert werden, da alle hacia el norte emigrieren10, dorthin, wo zumeist schon mindestens ein Familienmitglied lebt, ist Migration zu einem multikausalen Phänomen geworden, das sich nicht allein auf den ökonomischen Anreiz zurückführen lässt. (Arbeits-)Migration kommt nicht durch eine rein individuelle, freie Entscheidung und rationale Kosten-Nutzen-Rechnung zustande, wie die neoklassische Theorie sie durch ihr Menschenbild des homo oeconomicus erklärt. Vielmehr spielen sog. ‚Migrationsnetzwerke‘ eine buchstäblich entscheidende Rolle: [...] las redes de migrantes son nexos que incrementan la posibilidad de movimiento internacional porque minimizan los riesgos de desplazamiento, reducen los costos económicos y no económicos de la migración y son el motor a partir del cual se perpetúa cada vez en forma más independiente de las causas económicas que le dieron origen. (BARABAS et al. 2011: 31) Die Bedeutsamkeit dieser informellen sozialen Netzwerke zeigt sich darin, dass sie die Wahrscheinlichkeit von Migration erhöhen: Indem sie Risiken und Kosten der (internationalen) Migration verringern, generieren sie selbst Mobilität und sind der Antrieb für eine so entstehende Migrationskultur, die sich so immer mehr von ökonomischen Faktoren und dem individuellen Wunsch der Verbesserung der Lebensbedingungen entkoppelt. Migrationsnetzwerke schaffen transnationale, dynamische Gemeinschaften (vgl. BARABAS et al. 2011: 29). Migration wird zu einem kollektiven Trend, dem viele Migranten als Akteure innerhalb einer größeren Einheit folgen. Wenngleich jede Migration einen Fall für sich darstellt, wird hier klar, dass sie größeren sozialen und globalen Tendenzen gehorchen, sie sind zu einem Teil der nationalen Identität geworden, die nicht nur von wirtschaftlichen 9 10 Vgl. dazu Carlos MONSIVÁIS (2005: 23-26), der die schon immer ambivalente Beziehung Mexikos zu den USA in der auch kulturellen Globalisierung verschärft sieht: Anti-Amerikanismus und Nationalismus mischen sich mit Konformismus und dem Wunsch, am Wohlstand des Nachbarn teilzuhaben und sich deshalb seiner Kultur und Identität zunehmend anzupassen. Offiziell emigrieren jedes Jahr ca. 400.000 Mexikaner dauerhaft in die USA und mehr als 380.000 Mexikaner überqueren jährlich die Grenze, um temporär in den USA zu arbeiten (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 37). 8 Faktoren abhängig ist. Migrationsnetzwerke schaffen die Bedingungen und Motivation für eine von den Migranten selbstorganisierte und sich selbst potenzierende Massenmobilität. Der mexikanische und US-amerikanische Staat sind weit davon entfernt, diese zu kontrollieren11. Das Ausmaß der Migration macht sich am Städtezuwachs bemerkbar. Die urbanen Zentren der Industrie stellen die (temporären) Zielorte der Migration dar. Die Grenzstadt Ciudad Juárez (Chihuahua) zum Beispiel, die Stadt mit dem höchsten Anteil an FDI und der höchsten maquiladora-Konzentration in Mexiko (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 11f.), ist in den 1960er Jahren noch eine Stadt mit rund 280.000 Einwohnern und wird durch stetige Zuwanderung 2005 zu einer Millionenstadt (vgl. FUENTES/PEÑA 2010b: 105). Die rasante Urbanisierung steigert den Bedarf an Wohnraum, führt in der attraktiven Grenz- und Industrieregion aber auch dazu, dass Privatinvestoren sich weite Teile des Stadtgebiets sichern, um es zu höheren Preisen weiterzuverkaufen. Die örtlichen Regierungen auf der mexikanischen Seite sind, anders als auf der US-amerikanischen Seite in der Nachbarstadt El Paso (Texas), der Zwillingsstadt von Cd. Juárez, nicht gewillt oder nicht befähigt, die Bodenspekulation zu regulieren, zum Teil profitieren sie selbst von ihr. Der aus der Privatisierung und Spekulation resultierende Anstieg des Bodenpreises macht den Stadtkern für viele Menschen unbezahlbar und ergo unbewohnbar, weshalb die ankommenden Migranten sich zumeist in der Peripherie ansiedeln, wo die Landpreise günstiger sind, aber kaum Infrastruktur (Trinkwasser, Kanalisation, Müllabfuhr, Transport, Elektrizität etc.) vorhanden oder Anschluss an das Stadtzentrum gewährt ist. Öffentliche Dienste werden privatisiert und so haben lediglich besser verdienende Schichten der urbanen Bevölkerung Zugang zu diesen Diensten. Fast die Hälfte der Bewohner von Cd. Juárez arbeitet aber als einfache Arbeitskraft in den hier ansässigen maquiladoras: Da ihre Löhne es nicht anders zulassen, konzentrieren sie sich in den peripheren Gegenden der Stadt, insbesondere im Südwesten. Die Folge ist eine klaffende räumlich-soziale Segregation (vgl. FUENTES/PEÑA 2010b: 100-113). Wo der offizielle Staat sich zurückzieht, nehmen neue oder parallele Autoritäten den Platz ein. Neben den MNE und Privatinvestoren gehört dazu auch die Drogenökonomie. Systematische Straflosigkeit und polizeiliche Korruption, bei der ein Beamter seine Funktion ausnutzt, um privaten Gewinn zu erlangen, blicken auf eine lange Tradition in Mexiko zurück (vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 77), ebenso der narcotráfico, der meist über diese Phänomene erklärt wird12. Die nationale ‚Tradition‘ des narcotráfico wird im Zuge der Globalisierung 11 12 Nachdem die Legalisierungspolitik Mitte der 1980er Jahre und das TLCAN-Abkommen eben nicht zu einer Regulierung der mexikanischen Migration in die USA geführt hatten, sondern die ‚Ströme‘ von Migranten sogar noch verstärkten, folgte Mitte der 1990er Jahre eine restriktive Politik, die die illegale Immigration in die USA kriminalisierte (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 32-34). Dabei können Drogenhandel und -konsum in Mexiko in den 1980er Jahren auch durch Arbeitslosigkeit, Landarmut, geringe Löhne und geringen Arbeiterschutz, also durch Globalisierung mit bedingte Phänomene, wachsen: Viele verarmte Bürger sehen sich genötigt, mit den Drogenhändlern zu kooperieren. Ebenso werden im Zuge der Kürzung der Staatsausgaben weniger öffentliche Gelder zur Bekämpfung des Drogenhandels zur Verfügung gestellt (vgl. MEJIA 1988: 125- 9 begünstigt, da die staatliche Gegenmacht13 geschwächt wird (vgl. CASTELLS 1998: 175). Drogenkartelle operieren insbesondere in Zonen der hohen staatlichen ‚Durchlässigkeit‘ (vgl. MONÁRREZ 2010: 28), die ein geringes Maß an Risiko und Strafverfolgung versprechen (vgl. CASTELLS 1998: 173) und wo sie ihre eigenen Gesetze schaffen können: an Orten der ‚Abwesenheit des Staates‘, wie den EPZ. Weshalb kann die spezifische Globalisierungsgeschichte Mexikos als paradigmatisch betrachtet werden? Der Washington Consensus, der Mexiko mehr oder minder freiwillig den Weg in die Globalisierung ebnet, ist eine Agenda, die von den Industriestaaten für mehrere Länder in der Krise formuliert wurde14 und somit ein allgemeines Programm des nachhaltigen Wirtschaftswachstums darstellen sollte. Somit ist Paradigmatik bereits konstitutiver Bestandteil der Idee von Globalisierung: Der Ökonomie den Weg zu ebnen und den nationalen Raum für sie zu öffnen, gilt als Universalie. Der Washington Consensus steht für eine quantitative Sicht auf die Welt, nach der die Entwicklung eines jeden Landes in den gleichen Zahlen gemessen werden kann. Das Ziel der convergencia impliziert die Vorannahme, dass sich alle ‚Entwicklungs‘-Länder auf der gleichen und vergleichbaren Schiene der Entwicklung und des stetigen Wachstums befänden (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 281f.)15. Dennoch führen die Strukturanpassungsprogramme nicht zu gleichen Ergebnissen. Dass der Weltmarkt nun an oberster Stelle der nationalen Politik steht, bewirkt keineswegs eine Vereinheitlichung der Welt, in dem Sinne, dass die ‚Dritte Welt‘ nun nicht mehr bestünde. Der Literaturtheoretiker Michael HARDT und der Politikwissenschaftler Antonio NEGRI betonen in ihrem gemeinsamen Traktat Empire (2000), dass sich ‚Erste Welt‘ und ‚Dritte Welt‘ zunehmend verstricken und sich einander räumlich annähern. Ein Signum der globalisierten Welt, insbesondere aber im Global South, ist die Bildung von Slums (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 253f.; DAVIS 2004). Arm und 13 14 15 127). Weiterhin begünstigend ist die politische Dezentralisierung, die in den 1980er Jahren in Mexiko stattfindet und mit der Einschränkung der Zentralgewalt der PRI (Partido Revolucionario Institucional) einhergeht. Falls diese ‚Gegenmacht‘ im Fall von Mexiko je eine war: Neben dem privaten Profitieren Einzelner durch Korruption, also der parasitären Einnahme von staatlichen Institutionen, profitiert mittlerweile die gesamte mexikanische Wirtschaft vom Drogenhandel, ohne den sie um rund 60% einbrechen würde (vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 109). Die verschiedenen Machtinstanzen sind längst ineinander verwoben: „[...] el crimen en lo fundamental es organizado desde el Estado, protegido desde el Estado y defendido desde el Estado [...] De hecho, las ‘mafias’ mexicanas habitan en el corazón del mismo Estado“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 66f.). Insofern erscheint auch die Bezeichnung der ‚organisierten Kriminalität‘ von Seiten des Staates zumindest doppeldeutig. Mexiko war dabei von 1987 bis 1992 der größte Kreditnehmer des IWF (vgl. Abbildung 1 im Anhang). Das vereinheitlichte Ziel des Wirtschaftswachstums und die policy implications ignorieren aber die klaffenden politischen und sozialen Bedingungen der unterschiedlichen Länder sowie die unterschiedlichen Stadien der Demokratie, auf die die Maßnahmen fallen. Es wird zudem oft kritisiert, dass das ‚Rezept‘ des freien Marktes, das den verschuldeten Entwicklungsländern durch den Washington Consensus empfohlen wird, in den Industriestaaten, die diese ‚Ratschläge‘ entwerfen, in dieser Form gar nicht angewandt wird. Hier sorgen staatliche Interventionen und ein relativ regulierter Markt für mehr Protektionismus (vgl. CALVA 2007: 13). Dies zeigt, dass Globalisierung keine Kooperation zwischen gleichgestellten Partnern ist. 10 Reich können unmittelbar und dicht beieinander liegen, in einer Stadt vereint, und sind dennoch Welten voneinander entfernt, durch feine Linien der Trennung markiert. Dieses Kapitel hat deutlich gemacht, wie ‚Globalisierung‘ als wirtschaftspolitisches Programm für mehrere Nationen sich z.T. ganz lokal artikulieren kann, zum Beispiel an der Grenzregion Mexiko/USA, wo mehrere Akteure die Souveränität des Nationalstaates unterwandern. In Cd. Juárez, quantitativ am meisten von der Globalisierung ‚betroffen‘, bündeln sich globale Tendenzen: Als Industriestandort bietet die Stadt viele Arbeitsmöglichkeiten, allerdings zu prekären sozialen Bedingungen; als Grenzstadt ist sie zugleich Ankunftsort und Ausgangspunkt nationaler und internationaler Migration. Die sich zunehmend verselbstständigende Migration wird zum Symptom der Globalisierung, die ihr Auslöser ist und gleichzeitig durch sie angekurbelt wird, da sie den Einfluss des Nationalstaates weiter einschränkt. Somit ist Migration ein Phänomen, das zwischen Partikularität und Globalität steht: Nicht nur werden in ihr die spezifischen Geschichten einzelner offenbart, sondern auch Makrostrukturen der Globalisierung sichtbar (vgl. NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 155). 1.3 WEGE DER GLOBALITÄT: DIE GESCHICHTE DER GLOBALISIERUNG Wenngleich der Begriff der Globalisierung in der Funktion einer Gegenwartsdiagnose erst seit den 1990er Jahren Konjunktur hat (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 7), so wird heutzutage ebenso oft betont, dass die Prozesse der Globalisierung auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückblicken. Die historische Perspektive auf Globalisierung führt uns in die Anfänge des Kolonialismus und somit zu einer speziellen, historischen Wahrnehmung der Welt. Daran anschließend wollen wir uns fragen, wie ‚Globalität‘ sich unter den gegebenen Voraussetzungen der aktuellen Globalisierung aktualisiert. Der Romanist Ottmar ETTE (2012: 26) betont, dass die Globalisierung, derer wir heute Zeuge werden, nichts radikal Neues sei, sondern vielmehr aus einem jahrhundertelangen Prozess der globalen Verflechtung hervorgehe, der seit ihrem Beginn, dem Kolonialismus, bestimmte Kontinuitäten und strukturelle Konstanten aufweist. Schon in der Frühen Neuzeit, der „ersten Phase beschleunigter Globalisierung“ (ETTE 2012: 10), also einer frühen, historischen Form von Globalisierung, wird dabei ein asymmetrisches, ungleiches Verhältnis auf dem Globus geschaffen. Das Wissen über die Welt sei nie absichtslos, immer an eine potentielle Beherrschung der Welt gebunden (vgl. ETTE 2012: 9). Die grundsätzliche Asymmetrie globaler Verhältnisse ziehe sich durch bis in die heutige Ausprägung von Globalisierung. Parallel dazu entsteht im Abendland von Anfang an ein „Imaginarium des Globalen“ (ETTE 2012: 12), das die Ereignisse reflektiert und sie gleichzeitig mitprägt. Der Literaturwissenschaftler Walter D. MIGNOLO führt diese Asymmetrie, die man auch als Eurozentrismus bezeichnen könnte, noch weiter aus. Die lineare Weltanschauung, die der 11 Globalisierungsagenda des Washington Consensus zugrunde liegt und die wir im vorangegangenen Kapitel thematisiert haben, verortet er in einem europäischen epistemischen Schema, einem sog. Makronarrativ, durch das Europa über Jahrhunderte hinweg seine Hegemonie sichern kann: For five hundred years, universal history was told from the perspective of one local history, that of Western civilization, an aberration, indeed, that passed for the truth. […] Western civilization managed to have the epistemic privilege of narrating its own local history and projecting it onto universal history […] (MIGNOLO 2000: ix) Die Vormachtstellung Europas beruhe nicht nur auf der physischen Expansion in Form des Kolonialismus, sondern auch auf der Expansion einer Geschichte bzw. eines Narrativs aus einer lokalen Perspektive, das als universale Wahrheit ‚exportiert‘ wurde. So zieht MIGNOLO Verbindungslinien zwischen der Christianisierungsmission, mit der die Kolonialisierung im 15. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und die später abgelöst wird durch die Zivilisierungsmission im 18. Jahrhundert, eine Art säkularisierte Form der christlichen Mission und unterscheidet so in verschiedene Etappen der Kolonialisierung/Globalisierung. Das Programm der ‚neoliberalen‘ Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts ist für MIGNOLO lediglich eine weitere neokoloniale Etappe dieser Missionen, wenngleich die USA hier die hegemoniale Position Europas bereits übernommen hat (vgl. MIGNOLO 2000: 279f.). Dabei verortet MIGNOLO Ende des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel, der der entscheidende ideengeschichtliche Umbruch sein könnte, welcher die lineare Auffassung von Globalisierungsprogrammen überhaupt erst ermöglicht: „spatial boundaries were transformed into chronological ones“ (MIGNOLO 2000: 283). Vormals räumliche Abgrenzungen werden durch zeitliche ersetzt. Globale Unterschiede werden nun nicht mehr auf geographische Distanzen und somit räumlich bedingte Eigenheiten zurückgeführt und darüber erklärt, sondern von nun an chronologisch eingeordnet und dargestellt auf einer fiktiven linearen Skala von Fortschritt und Zivilisation – es gibt nur noch unterschiedliche, bewertbare Stadien der Entwicklung. Somit ist die Geschichte des Kolonialismus bei MIGNOLO auch die Geschichte einer bestimmten Wahrnehmung (der Welt) und eines Makronarrativs, welches diese Wahrnehmung vertritt und das von einer bestimmten lokalen Instanz aus erzählt und verbreitet wird. ETTE und sein ‚Imaginarium des Globalen‘, MIGNOLO und sein ‚Makronarrativ‘: Beide verankern sie im Kontext des Kolonialismus, was die historische Relevanz und Wirkungskraft dieser Konstrukte verdeutlicht. Es sind Weltbilder, die globalpolitischen Entscheidungen vorausgehen und zugleich aus ihnen resultieren. Wir wollen diese spezielle Wahrnehmung der Welt, die die Welt maßgeblich prägt und geprägt hat, im Folgenden ‚Globalität‘ nennen. Im Gegensatz zum Begriff der Globalisierung ist ‚Globalität‘ terminologisch eher unterbelichtet. Der Duden von 2000 gibt unter ‚Globalität‘ lediglich „das Globalsein, globale Beschaffenheit“ an, eine Bedeutung, die auf der Eigenschaft des Zustands insistiert, während ‚Globalisierung‘ rein sprachlich einen Prozess impliziert. Durch MIGNOLOS und ETTES historische Perspektive gehen wir davon aus, dass Globalität schon immer und zu 12 allen Zeiten existent war und sich dabei auf der anderen Seite der globalpolitischen Veränderungen verortet. Wie aber steht es um die Globalität in der heutigen Ausprägung von Globalisierung? Wir wollen uns Aspekte der aktuellen Globalität ausgehend von Ulrich BECKS und Édouard GLISSANTS Überlegungen zum Begriff der Globalität erarbeiten. Globalität bezeichnet die Tatsache, daß von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, sondern daß alle Erfindungen, Siege und Katastrophen die ganze Welt betreffen und wir unser Leben und Handeln, unsere Organisationen und Institutionen entlang der Achse ‚lokal-global‘ reorientieren und reorganisieren müssen. (BECK 1997: 30) Für BECK ist ‚Globalität‘ unmittelbar mit ‚Globalisierung‘ verknüpft: Globalität ist ein Zustand, der sich aus den faktischen Prozessen der Globalisierung ergibt. Globalität heute meint, dass kein Ereignis mehr als rein lokal und isoliert wahrgenommen, sondern immer im Kontext der globalen Vernetzung und Verwobenheit über nationalstaatliche Grenzen hinweg aufgefasst wird. Ebendiese zugleich kollektive und subjektive Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition der Menschen als transnationale ‚Weltgesellschaft‘ ist dabei ein entscheidendes Merkmal der gegenwärtigen Globalisierung (vgl. BECK 1997: 31). Das formulieren HARDT/NEGRI noch radikaler: Es gibt keinen Standpunkt mehr außerhalb der Globalisierung (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 34). Die ‚globale Macht‘, von HARDT/NEGRI Empire getauft, ist horizontal und befindet sich überall und zugleich nirgendwo (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 190). HARDT/NEGRI charakterisieren den Kapitalismus als System, das sich selbst potenziert: Wachstum und ‚Liberalisierung‘ sind zu einem allgemeinen Ziel erklärt worden und bieten gleichzeitig das Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich sie selbst. Diese Selbstdynamik beruht auch darauf, dass die „Ideologie des Weltmarktes“ (HARDT/NEGRI 2000: 150) von allen Menschen verinnerlicht wird. HARDT/NEGRI sprechen in Anlehnung an Michel FOUCAULT von der Selbstdisziplinierung des Subjekts in der Globalisierung, welches die Globalisierung scheinbar freiwillig mitmacht, sie dadurch vorantreibt und sich parallel dazu selbst ausbeutet (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 330). Einen entscheidenden Stellenwert räumen sie dabei den Kommunikationsmedien ein: The development of communications networks has an organic relationship to the emergence of the new world order – it is, in other words, effect and cause, product and producer. Communication not only expresses but also organizes the movement of globalization. (HARDT/NEGRI 2000: 32) Kommunikationsmedien sind zugleich produziert und produzierend: Sie gehen aus der globalen Vernetzung hervor und erschaffen sie gleichzeitig mit, da sie selbst horizontale Netzwerke sind und darüber hinaus ein globales Bewusstsein erschaffen. So kann sich niemand der vernetzten und globalisierten Gesellschaft entziehen, alle partizipieren an ihr. Die Globalisierung produziert also Subjekte, die das System selbst reproduzieren. Das Paradoxe dabei ist, dass wir denken, wir würden frei und mündig handeln, da der Kapitalismus auf einer liberalen Grundidee fußt. Mit Byung-Chul HAN könnte man sagen, das Empire habe das Höchstmaß an Macht erlangt, ja einen quasi totalitären Status, denn der Gipfel der Macht ist dann erreicht, wenn Stille herrscht, wenn sie also nicht mehr thematisiert wird und die 13 Illusion von Freiheit fortbesteht (vgl. HAN 2005: 9). So wird in der Globalisierung die Frage drängend, inwiefern Subjekte noch als solche zu bezeichnen sind und nicht zu Objekten des Marktes geworden sind, inwiefern aus ihrer scheinbaren individuellen Freiheit nicht gerade ihr Opfersein besteht. Gerade aufgrund dieser Universalisierung der kapitalistischen Weltordnung und Omnipräsenz des Ökonomischen lassen HARDT/NEGRI keinen Zweifel an den Protest- und Widerstandsmöglichkeiten: Man kann sich nur an jedem Ort und zu jeder Zeit gegen das Empire stellen (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 211). Während BECK Globalität also als unvermeidbares Resultat einer globalisierten Gesellschaft betrachtet, formulieren HARDT/NEGRI im selben Zuge eine Kritik an der Verinnerlichung des Ökonomischen, weshalb Globalität, selbst wenn letztere diesen Begriff nicht nennen, auch ein Gegenentwurf zur Globalisierung sein sollte. Der Schriftsteller und Philosoph Édouard GLISSANT unterscheidet zwischen mondialisation, dem französischen Begriff für Globalisierung, auf der einen und mondialité auf der anderen Seite, einem von ihm eingeführten Begriff. Da Globalisierung für GLISSANT eine zunehmende kulturelle Monotonisierung und Homogenisierung bedeutet, eine „antidiversité“, sollte Globalität eine Antwort, ein imaginäres Gegenmodell dazu sein, das für Diversität und die Begegnung mit dem Anderen oder dem Fremden, das und den es auch in der Globalisierung noch gibt, einsteht16. Der Widerstand gegen Globalisierung sollte aber nicht in Regionalismus münden, da GLISSANT, ähnlich wie BECK, betont, dass das Globale schon längst und irreversibel unser Leben und Handeln bestimmt. Was die gleichmachenden Tendenzen der Globalisierung angeht, machen HARDT/NEGRI (2000: 198f.) eine interessante Beobachtung: Zum einen vollziehe die Globalisierung sich inclusive, da alle Subjekte, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Geschlechts, Teil davon sind und zumindest theoretisch von den gleichen universalen wirtschaftlichen Möglichkeiten profitieren. Zum anderen sei sie auf einer oberflächlichen Ebene differential, da Lokalkolorit und Exotisch-Authentisches zelebriert und zu touristischen Zwecken konstruiert werden, solange sie nicht konfliktträchtig sind, und somit kommerzialisierbar und vermarktbar werden. In Anbetracht der historischen Verwurzelung von Globalisierung über die letzten 500 Jahre betont auch der Historiker Jürgen OSTERHAMMEL, dass es gerade die nun vorhandene, internationale Perspektive sowohl auf heutige als auf historische Prozesse ist, die die heutige Globalisierung zu einem ‚neuen‘ Phänomen mache (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 10). Wir verfügen jetzt über einen Begriff, der uns erlaubt, die Geschichte der Welt aus einer Perspektive der Verflechtung und Vernetzung zu betrachten. Diese ‚Globalperspektive‘ bedeutet, dass die klassische Geschichtsschreibung aus der Perspektive eines Nationalstaates 16 Vgl. dazu das Interview „Non la mondialisation, mais la ‘mondialité’”, das Laure ADLER 2004 mit ihm führte. 14 überwunden wird17 und ließe sich in diesem Sinne ebenso unter dem Begriff der Globalität fassen. In diesem Kapitel wurde über einen (post-)kolonialen Exkurs deutlich, dass Globalität sich je nach Lage der Welt aktualisiert, globale Themen reflektiert und sie gleichzeitig mit prägt. Die heutige Globalität ist geprägt durch die Verinnerlichung des Ökonomischen und somit ein Spiegel und Resultat der Globalisierung. Gleichzeitig kann Globalität sich kritisch zu den Prozessen der Globalisierung positionieren und verfügt dabei über die medialen und diskursiven Möglichkeiten dafür, jedoch wird oft betont, dass unsere Freiheit in dem Zusammenhang vielleicht nur eine Illusion ist. Das ‚Zeitalter der Globalisierung‘ ist zudem das Zeitalter eines globalen Bewusstseins, das nationalen Paradigmen und Narrativen nicht mehr verpflichtet ist. Das entspricht der Wahrnehmung der Welt in 2666, die, wie wir sehen werden, sowohl eine kritische Reflexion auf die Gegenwart ist, d.h. die Darstellung einer globalisierten Welt, als auch ein (subjektiver) Streifzug durch die globale Geschichte, ohne dabei eine spezielle nationale Perspektive einzunehmen. 1.4 VORÜBERLEGUNGEN ZU EINER ÄSTHETISCHEN GLOBALITÄT: BAUDELAIRES „LE VOYAGE“ Während Globalisierung ein relativ fassbares, konkretes Phänomen ist, ist Globalität also eine subjektive Wahrnehmung der Welt, ein Weltbild. Dieses Weltbild impliziert bereits, dass es zum einen konstruiert ist, zum anderen an eine spezielle Perspektive gebunden ist – ganz ähnlich wie eine ästhetische Konstruktion. Man könnte also sagen, dass Globalität selbst eine perspektivgebundene Fiktion ist, die wiederum durch ästhetische Konstruktionen geprägt sein kann. Wir wollen im Folgenden aber die Globalität innerhalb einer Fiktion selbst analysieren. Für diese ästhetische Globalität muss unterschieden werden zwischen der Gesamtkomposition des Textes und der Figurenrede, die verschiedene Globalitäten innerhalb der Gesamtglobalität des Textes darstellen kann. Zu zeigen wie genau sich Globalität in 2666 auf diesen Ebenen artikuliert, ist Ziel dieser Arbeit und wird in Kapitel 3 besprochen. Bevor wir uns der literarischen Analyse von 2666 widmen, sind jedoch noch einige Vorüberlegungen angebracht. Was den fünfteiligen und örtlich sowie thematisch weit gestreuten Roman eint, ist der Titel 2666 sowie das dem Roman vorangestellte Motto von Charles BAUDELAIRE: „Un oasis de horror en medio de un desierto de aburrimiento“. Wir wollen dieses Zitat und das Gedicht, aus dem es stammt, in diesem Kapitel auf den Aspekt der Globalität hin untersuchen und sehen was dieses aus dem Jahre 1861 stammende Zitat uns vorab an Aufschluss geben kann über den 17 Gleichzeitig sollte diese nationale Perspektive nicht durch eine komparatistische Perspektive ersetzt werden, da sie das Problem der zu vergleichenden Einheiten stellt (vgl. OSTERHAMMEL 2001: 344) und somit wieder auf den Begriff der Nation referiert. Histoire croisée ist ein rezenter historiographischer Ansatz, der sich dieser Globalperspektive verpflichtet sieht. Der internationale Vergleich, dem eine synchrone Betrachtungsweise zugrunde liegt, soll durch eine diachron ausgelegte Transfergeschichte ersetzt werden (vgl. WERNER/ZIMMERMANN 2002). 15 Roman aus dem Jahre 2004. Es handelt sich dabei um eine punktuelle Aktualisierung von Globalität zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, die aber entscheidend für Bolaños Globalität in 2666 zu sein scheint. Das Motto ist eine Zeile aus dem achtteiligen Gedicht „Le voyage“, erschienen im Zyklus „La mort“ aus den Fleurs du Mal, ein Gedicht, dem Bolaño auch an anderen Stellen Beachtung schenkt. bespricht. „Le voyage“, wie der Titel erahnen lässt, ist auf den ersten Blick ein Gedicht über das Reisen. Es beginnt mit einer naiven, kindlichen Neugierde: Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes, L’univers est égal à son vaste appétit, Ah ! que le monde est grand à la clarté des lampes ! Aux yeux du souvenir que le monde est petit ! (I, Z. 1-4) Die Lust auf Reisen zu gehen entsteht schon im Kindesalter durch Weltkarten und Briefmarken, die den Appetit auf die Welt, ja gar auf das ganze Universum schüren. In diesem Stadium scheint die Welt unheimlich groß, so groß wie der Appetit selbst. Später wird diese Kinderfantasie zu den Hoffnungen und Erwartungen des Reisenden, die im zweiten Quartett bereits in der Ersten Person Plural und im Präsens beschrieben werden: „Berçant notre infini sur le fini des mers“ (I, Z. 8). Die Vorstellungen des Reisenden sind unendlich, seine Erwartungen unstillbar, er ist getrieben von Neugierde, ja er wird selbst zum Objekt seiner Neugierde: „La Curiosité nous tourmente et nous roule“ (II, Z. 3). Doch die begrenzte äußere Welt kann sich mit dieser sehr viel reicheren, grenzenlosen, inneren Welt der „Imagination“ (II, Z. 15), der Globalität, nicht messen (vgl. GOLDBÆK 1990: 80). Die kleine Welt kann nur enttäuschen, da sie den großen Erwartungen, dem Verlangen („désir“, IV, Z. 12) nicht standhält. Die erhoffte Verzauberung durch die Welt findet in der Realität der bereisten Orte nicht statt; sie besteht nur in der unermesslichen Vorstellungskraft, nicht in der tatsächlichen Erkundung der Welt. In seinem Essay über „Le voyage“ äußert Bolaño sich zu dem hier beschriebenen Reisenden: Por cierto, las primeras estampas de viaje no rehúyen ciertas visiones paradisiacas, producto más de la voluntad o de la cultura del viajero que de la realidad [...]. El viajero de Baudelaire tiene la cabeza incendiada y el corazón repleto de rabia y amargura, es decir, probablemente se trata de un viajero radical y moderno, aunque por supuesto es alguien que razonablemente quiere salvarse, que quiere ver, pero que también quiere salvarse. (BOLAÑO 2003: 150f.) Bolaño insistiert hier zum einen darauf, dass BAUDELAIRES Reisender primär Dinge sehen möchte und sich von seiner Reise die visuellen Reize erhofft, die er sich zuvor ausgemalt hatte18. Doch das Auge, dem zuhause über Karten und Briefmarken viel versprochen wurde, wird zwangsläufig enttäuscht. Das Reisen erfüllt nur so lange die Hoffnungen, als dass die eigene Wahrnehmung, eine kulturelle Schablone und ein eigener Wille, eine Verzauberung durch die Dinge zulässt, während die tatsächlichen Eindrücke nicht viel in ihm bewirken 18 Dementsprechend wohl auch die Abneigung des Protagonisten Arturo Belano aus Los detectives salvajes (1998), der seiner Freundin Laura Jáuregui über die Orte, die er bereisen möchte, das folgende sagt: „no pienso verlos, pienso vivir en ellos, tal como he vivido en México“ (211). 16 vermögen. Außerdem ist der hier beschriebene Reisende ein moderner Reisender, der sich selbst zu retten sucht, einer Sache entfliehen, entkommen möchte, doch welcher? Später im Gedicht lautet es, einen zurückgekehrten Reisenden zitierend: Et, malgré bien des chocs et d’imprévus désastres, Nous nous sommes souvent ennuyés, comme ici. (IV, Z. 3-4) Die Realität selbst der fernsten Orte führt zum selben Überdruss wie zuhause. Das Einzige, was diese Ödheit unterbricht, sind Dinge, die schieflaufen. Zuvor hatte man sich von den exotischen Orten erhofft, dass diese Quelle von Glück und Schönheit seien: „Frères qui trouvez beau tout ce qui vient de loin !“ (IV, Z. 20). Man möchte der Langeweile zuhause entfliehen, ihr entkommen, doch die tatsächlichen Orte in der Fremde sind, ebenso wie der Ort, von dem man aufbricht, auch nur ganz einfache Orte, erneute Quellen des ennui, dem, gemäß BAUDELAIRE, schlimmsten aller menschlichen Laster19: Mehr als nur einfache Langeweile, äußert sich im ennui ein existenzieller Zustand der Abnutzung und Leere, der Abscheu, Übersättigung und grundlosen Melancholie (vgl. LE PETIT ROBERT). „Comme ici“ ist eine Ernüchterung über Ähnlichkeiten und Parallelen des Hier und Dort, man war auf der Suche nach Neuem, mit dem man die inneren Unzulänglichkeiten überwinden wollte. Die Reise ist die Hoffnung auf und der Drang nach Unterschieden, nach Anderem, Anderssein und Anderswerden in der Ferne. Die Ähnlichkeits- oder gar Gleichheitserfahrung in der Ferne kommt daher einer Enttäuschung gleich. Somit führt die baudelaire’sche Reise am Ende zwangsläufig in den Tod, da dieser dem enttäuschten Reisenden als letzte Bastion noch Neues verspricht. Immer wieder, immer nur Neues finden zu wollen, ist das einzige, absurde Streben des Reisenden. Die Kritik, die sich hieraus ergibt, erschöpft sich nicht in einer reinen Tourismuskritik, wie es Walter BENJAMINS Lektüre von BAUDELAIRES Werk bezeugt: Es ist sehr wichtig, daß das ‚Neue‘ bei Baudelaire keinerlei Beitrag zum Fortschritt leistet. Im übrigen findet man bei Baudelaire kaum je einen Versuch, sich mit der Vorstellung vom Fortschritt ernstlich auseinanderzusetzen. Es ist vor allem der ‚Fortschrittsglaube‘, den er mit seinem Haß verfolgt, wie eine Ketzerei, eine Irrlehre, nicht wie einen gewöhnlichen Irrtum. (BENJAMIN 1974: 183) BENJAMIN analysiert hier den quasi religiösen Status, den der Fortschritt in der Gesellschaft genießt und dem BAUDELAIRE nicht nur skeptisch, sondern voller Hass gegenüber steht. Wenn schon der ganze Globus nichts als ein „spectacle ennuyeux“ (VI, Z. 5) bietet, an dem die gesamte „Humanité“ (VI, Z. 18) beteiligt ist, wie sollte die Zeit dann Veränderung bringen? Nirgendwo auf der Welt ist eine Alternative zu sehen, nirgendwo die Möglichkeit gegeben, dem eigenen Leben zu entfliehen. Die Ernüchterung und Entzauberung durch die Welt bündelt sich in einer für 2666 entscheidenden Metapher, die der Romantisierung und Exotisierung der Welt eine endgültige Absage erteilt: Amer savoir, celui qu’on tire du voyage ! Le monde, monotone et petit, aujourd’hui, 19 Vgl. dazu das den Fleurs du Mal programmatisch vorangestellte Gedicht „Au Lecteur“: „Dans la ménagerie infâme de nos vices/Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde !/[…] C’est l’Ennui !“ (Z. 32-37). 17 Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image : Une oasis d’horreur dans un désert d’ennui ! (VII, Z. 1-4) [Hervorhebung von mir] Reisen führt lediglich zu einer Gewissheit, nämlich der Monotonie der Welt, die den inneren ennui spiegelt, auf den man somit an jedem Ort und zu jeder Zeit zurückgeworfen wird. Zu der spezifischen Zeile äußert Bolaño sich, noch bevor sie zum Motto von 2666 wird, wie folgt: En medio de un desierto de aburrimiento, un oasis de horror. No hay diagnóstico más lúcido para expresar la enfermedad del hombre moderno. Para salir del aburrimiento, para escapar del punto muerto, lo único que tenemos a mano, y no tan a mano, también en esto hay que esforzarse, es el horror, es decir el mal. [...] Hoy, todo parece indicar que sólo existen oasis de horror o que la deriva de todo oasis es hacia el horror. (BOLAÑO 2003: 151f.) Für Bolaño äußert sich in der ‚Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile‘ auf hellsichtige Weise das Krankhafte des modernen Menschen. Der einzige Ausweg aus dem ennui, dem durch die Übersetzung ins spanische aburrimiento etwas von seiner existenziellen Schwere genommen wird20, ist das Grauen, das somit zu einer prekären Oase innerhalb der gähnend leeren Wüste wird. BAUDELAIRES Nihilismus und Abneigung gegen Fortschritt während des Zweiten Kaiserreichs greift Bolaño rund 140 Jahre später wieder auf, als ob BAUDELAIRE hier eine Prognose der Schrecken des 20. Jahrhunderts lieferte, auf die 2666 (2004) bereits zurückschaut. In „Le voyage“ hat der Mensch unendliche Fantasien und Pläne für die Welt, die völlig unabhängig von der eigentlichen, realen Welt bestehen; in 2666 wird geschildert, wie weite Flächen dieser Welt bereits der globalen Ökonomie zur Verfügung gestellt wurden. Das Baudelaire-Motto zu 2666 ist nicht nur die wörtliche Situierung der Wüstenstadt Santa Teresa mit ihren grauenhaften Ereignissen, sondern auch eine metaphysische und emblematische Verbildlichung des Horrors der gesamten modernen Welt, in der selbst das Grauen, die letzte Oase, beginnt, sich zu reproduzieren und der Horror somit auch Gefahr läuft, zum ennui zu werden. In diesem Motto wird also die Funktion Santa Teresas in 2666 bereits offenbar: In Santa Teresa verdichten sich globale Tendenzen des Grauens. Santa Teresa ist das Symptom einer krankenden Welt. Schauen wir im Folgenden, in welchen Weisen die Globalisierung sich in Santa Teresa artikuliert und welcher ihr Beitrag zu dem hier stattfindenden Grauen ist. ‚Organisatorisch‘ bedeutet das: Kapitel 2 widmet sich den Auswirkungen der Globalisierung auf zwei grundsätzlichen Ebenen. Kapitel 2.1 und 2.2 drehen sich um das Subjekt in Santa Teresa, um seine Mobilisierung und häufig darauffolgende individuelle, aber auch allgemein menschliche Entwertung. In Kapitel 2.3 und 2.4 geht es um die Ebene des Raums, also die räumlichen Veränderungen in der Globalisierung sowie die Emblematik des Raums für die conditio humana in der Globalisierung. Beide Ebenen des Subjekts wie des Raumes geben Aufschluss über die Machtverhältnisse in Santa Teresa und somit denen eines globalisierten Zeitalters. 20 Bolaño zitiert in seinem Essay die Übersetzung von Antonio MARTÍNEZ SARRIÓN, der ennui mit tedio übersetzt; Bolaño entscheidet sich in der Folge aber für aburrimiento (vgl. BOLAÑO 2003: 151). 18 2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG 2.1 MIGRATION UND NOMADISIERUNG Die fiktionale Welt, die Bolaño insbesondere im vierten Teil von 2666 konstruiert, ist eine, die der faktischen Welt der Globalisierung, wie wir sie in Kapitel 1 besprochen haben, in geradezu dokumentarischer Weise entspricht. Ein Großteil der vielen Subjekte, die sich in dieser fiktionalen Welt um Santa Teresa bewegen, sind Migranten. In diesem Kapitel soll das Phänomen der Migration in Santa Teresa im Sinne eines Symptoms der Globalisierung, also als Ausdruck, aber auch als Motor von Globalisierung, genauer betrachtet werden. Dafür sollen zunächst die Folgen der Migration zum einen für die Migranten selbst, nämlich ein steigendes Maß an Unzugehörigkeit, zum anderen für die –verfehlten– Ermittlungen im vierten Teil des Romans aufgezeigt werden. Anhand der zumeist nicht gelingenden bzw. nicht erfolgenden Identifizierung und Lokalisierung der Opfer bzw. Täter macht sich der schwindende Einfluss staatlicher Strukturen bemerkbar. Anhand der in diesem Kapitel zu besprechenden Metapher des Nomadischen stellt sich darüber hinaus die Frage nach den Machtverhältnissen in einem globalisierten Zeitalter. Typischerweise21 stammen die MigrantInnen in Santa Teresa entweder aus den südlichen bzw. zentralen Bundesländern Mexikos wie Oaxaca, Zacatecas oder Querétaro oder aus einem anderen mittelamerikanischen Land wie El Salvador, Guatemala oder Honduras. Santa Teresa ist ein Anziehungspunkt für Migration aus dem Süden in den Norden, weil sich in der Industriestadt viele Arbeitsplätze in den maquiladoras bieten; gleichzeitig ist Santa Teresa als Grenzstadt das perfekte Sprungbrett in die USA: [...] eran del estado de Hidalgo, en el centro de la república, y ambos emigraron al norte en 1985, en busca de trabajo. Pero un día el padre decidió que con lo que ganaba en las maquiladoras no iban a mejorar las condiciones de vida de su familia y decidió cruzar la frontera. Partió junto con otros nueve, todos del estado de Oaxaca. (2666: 503) Luisa hablaba de emigrar a los Estados Unidos y que incluso tuvo tratos con un pollero, pero finalmente decidió quedarse en la ciudad. (2666: 656) Viele der ankommenden Migranten verweilen nur temporär in Santa Teresa und ziehen bald weiter, andere entscheiden sich, zumindest für einen Moment zu bleiben. Santa Teresa ist ein Knotenpunkt multidirektionaler Migration; regional gebundene und informelle Migrationsnetzwerke bieten die dabei nötige Absicherung für die Migranten. Die internationale Migration, die von Santa Teresa in Richtung USA ausgeht, geschieht in den meisten Fällen illegal, d.h. mit Hilfe eines pollero, d.h. eines Schleusers. Die migrierenden Subjekte sind zudem meist indocumentados. Im vierten Teil wird dies anhand der toten Protagonistinnen22 deutlich, die fast ausnahmslos keine ihre Nationalität oder Identität bestätigenden Ausweispapiere an ihrem Körper tragen und deshalb in vielen Fällen unidentifiziert bleiben: 21 22 Im Folgenden wird oft von typischen Fällen aus dem vierten Teil gesprochen, um strukturelle Analogien in der Menge an Subjekten im vierten Teil aufzuzeigen. Vgl. MUNIZ (2010: 35): „protagonismo de cadáveres“. 19 No tenía pasaporte ni agenda ni nada que pudiera identificarla. (2666: 446) La primera muerta de mayo no fue jamás identificada, por lo que se supuso que era una emigrante de algún estado del centro o del sur que paró en Santa Teresa antes de seguir viaje rumbo a los Estados Unidos. Nadie la acompañaba, nadie la echó en falta. (2666: 450) Die Tatsache, dass die unbekannten Frauen weder durch schriftliche Dokumente noch durch Personen, die sie kennen oder erkennen, identifiziert werden können, lässt die Ermittler darauf schließen, dass diese zu Lebzeiten Migrantinnen waren und eventuell nur eine Zwischenstation in Santa Teresa einlegten. Zum Teil migrieren sie ohne Begleitung und werden von niemandem vermisst23. Meistens ist das der Moment, in dem sich der Fall schließt. Als man den Finder einer weiteren unbekannten Leiche bittet, die Verantwortung für seinen ‚Fund‘ zu übernehmen, reagiert dieser folgendermaßen: ¿Como me voy a responsabilizar de esta mujer si ni siquiera sé cómo se llama? (2666: 448) Der Mann sieht nicht ein, weshalb er sich für eine Person verantworten sollte, deren Namen er nicht einmal kennt. Niemand mag sich identifizieren mit den nicht identifizierten Frauen. Dadurch dass niemand sie kennt, will niemand für sie die Verantwortung übernehmen oder gar mit ihr in Verbindung gebracht werden, aus Angst davor, in Probleme mit der Polizei zu geraten: „nadie la conocía […] o bien nadie quería verse envuelto en problemas con la policía“ (2666: 531). Die fehlende Solidarität, die fehlende Identifikation der unmittelbar Anwesenden mit den Toten, bedingt durch ihre Nicht-Identifizierung, entwurzelt, entkontextualisiert und anonymisiert diese vollends24. Die Entkopplung des Subjekts vom Raum in der Globalisierung mündet in ständiger, nie endender Mobilität. Dem Subjekt wird aber eine Identität verliehen, indem es sich in einem Kontext verorten lässt: Zugehörigkeit manifestiert sich über den Raum, in dem man sich aufhält, verkehrt, und über das soziale Netz, das einen dort bestenfalls umgibt. Unzugehörigkeit führt im schlimmsten Falle zu Identitätsverlust, zur Nicht-Existenz, zum Niemand-Sein25, denn die durch Migration stattfindende Deterritorialisierung kann eine fatale Migrationskette einleiten, der viele Frauen im vierten Teil zum Opfer werden: Sie führt in 23 24 25 Dem stehen einige Fälle in 2666 gegenüber, in denen die Frauen von Familienangehörigen zunächst als vermisst gemeldet und später von ihnen identifiziert werden. Solidarität und Identifikation sind dementsprechend die Mittel der Aktivistinnen gegen die feminicidios von Santa Teresa und mögliche ‚Lösungsvorschläge‘: So konstatiert die fiktive PRIPolitikerin Esquivel Plata als zentrales politisches Problem Mexikos, dass die oberen Machteliten sich in keinster Weise mit dem Großteil der mexikanischen Bevölkerung identifizieren, es also keinen nationalen Zusammenhalt gibt: „Para mi familia, sépalo usted, los mexicanos de verdad éramos muy pocos. Trescientas familias en todo el país. Mil quinientas o dos mil personas. El resto eran indios rencorosos o blancos resentidos o seres violentos venidos de no se sabe dónde para llevar a México a la ruina.“ (2666: 739). Ähnlich wie Florita Almada, die von „mis hijas“ (2666: 547) spricht, fühlt auch Esquivel sich für alle namenlosen Opfer zugleich zuständig: „mi rabia fue adquiriendo una estatura, digamos, de masa, mi rabia se hizo colectiva o expresión de algo colectivo […] se veía a sí misma como el brazo vengador de miles de víctimas“ (2666: 782). Eine ähnliche Beobachtung macht Fate im dritten Teil von 2666, als er sich kurz nach der Grenzüberquerung bei seiner Ankunft in Santa Teresa fragt: „¿Por qué no dije soy afroamericano? ¿Porque estoy en el extranjero? [...] ¿Eso significa que en algún lugar soy afroamericano y en algún otro lugar, por pura lógica, soy nadie?“ (2666: 359). Identität variiert je nachdem, in welchem Raum man sich befindet und welche Identitätsetikettierungen dort verfügbar sind. 20 einen doppelten Tod, denn nicht nur ist ihr Körper tot, auch ihre Identität wird nie bestätigt, ein die Seele aufrecht erhaltendes (christliches) Begräbnis wird ihnen verwehrt26. Somit sind die toten Protagonistinnen Gegenpole zu den desaparecidos der Militärdiktaturen des Cono Sur, deren Körper verschwunden ist, aber deren Identität in der Erinnerung der Angehörigen fortbesteht. Die toten Protagonistinnen sind insofern aparecidos: Körper ohne Identität. Soweit, was die ((Nicht-)Identifizierung der) Opfer angeht. Zur verfehlten Ermittlung gehört aber auch die meist nicht mögliche Lokalisierung potenzieller Täter oder Hinweisgeber: […] se intentó dar con el paradero del afilador de cuchillos, [...] pero los esfuerzos fueron en vano. O cambió de oficio o se desplazó del oeste de Santa Teresa a las zonas sur y este o emigró de ciudad. (2666: 448f.) Cuando fueron a buscarlo a la casa en donde vivía [...] ya se había marchado. (2666: 467) La policía intentó ponerse en contacto con él, pero nadie supo dar una dirección fiable adonde escribirle. (2666: 492) ¿En donde trabajaba? En ninguna parte y en todas. [...] ¿De dónde sacaba el dinero? [...] de chambitas esporádicas, [...]. ¿En dónde vivía? [...] siempre se estaba cambiando de casa. (2666: 521) La policía intentó localizarlos, pero parecía que la tierra se los había tragado. (2666: 720) Die Subjekte sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Scheinbar problemlos wechseln sie ihren Wohnort oder Arbeitsplatz, sie hangeln sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten, eine Adresse besitzen sie nicht, vielleicht sind sie längst jenseits der Grenze. Die multidirektionalen Migrationen, die von Santa Teresa ausgehen, und die mobilen Identitäten der hier verkehrenden Subjekte erschweren die Ermittlung, die in den seltensten Fällen gelingt. Lokalisierung bildet den Grundbaustein staatlicher Kontrolle. Die Migranten aber sind für die Polizei nicht mehr greifbar, die als ausführendes Organ eines territorial agierenden Staatsapparats seine Funktion nicht mehr erfüllt, denn, so Gilles DELEUZE und Félix GUATTARI: L’État, c’est la souveraineté. Mais la souveraineté ne règne que sur ce qu’elle est capable d‘intérioriser, de s’approprier localement. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 445) Die umherziehenden Subjekte in Santa Teresa stellen die Souveränität des Staatsapparats infrage, da dieser sie nicht mehr in sich ‚einschließen‘, sie sich nicht mehr zu Eigen machen kann. Da sowohl die Opfer, als sie noch am Leben sind, als auch die Täter, als sie auf der Flucht sind, stetig weiterziehen und an keinem Ort dauerhaft verweilen, lassen sie sich im Sinne von DELEUZE/GUATTARI als Nomaden charakterisieren: Le nomade […] va d’un point à l‘autre […]. […] même si les points déterminent les trajets, ils sont strictement subordonnés aux trajets qu’ils déterminent, à l’inverse de ce qui se passe chez le sédentaire. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 471). Die nomadische Bewegung läuft der territorial gebundenen Macht des (National-)Staates zuwider, da diese auch auf der Sesshaftigkeit seiner Bewohner beruht. Die Nomaden 26 Vgl. dazu GIORGI (2013: 268f.) der in Bezug auf den vierten Teil von 2666 spricht von einer „dislocación respecto de los lugares ‘propios’ del cuerpo muerto. [...] sin tumbas, sin cementerios, ni camposantos, ni mausoleos o necrópolis, sin lápidas ni epitafios; cuerpos desprovistos de rituales por los cuales la memoria del muerto se fija y se preserva, y donde su estatu social es reafirmado y, por así decirlo, certificado“. 21 entkommen seinen ‚einschließenden‘ Tendenzen; in der Folge verliert er die Kontrolle über seine Subjekte, da er sie nicht mehr verorten kann. Dieses transgressive und befreiende Moment der nomadischen Bewegung27 wird in 2666 aber dadurch gebrochen, dass (insbesondere die internationale) Migration zum Teil auch unterbunden bzw. reguliert wird und somit nicht immer so frei stattfindet wie sie erscheint. So ist beispielsweise die Rede von einem Rekordbrecher, der laut eigenen Angaben 345 Mal versucht, illegal in die USA einzureisen, ebenso viele Male jedoch von der Migrationsbehörde aufgegriffen und zurückgeschickt wird (vgl. 2666: 708). Er ist keine Ausnahme. Außerdem mögen die im vierten Teil dargestellten Migranten zwar (mehr oder weniger bewusst) die Staatsmacht vor Herausforderungen stellen und die Erosion des Nationalstaats in der Globalisierung durch Migration und ihre selbstständige Organisationsform weiter vorantreiben, gleichzeitig folgen sie aber einer anderen Macht: der globalen Ökonomie. Die Migranten, die nach Santa Teresa kommen, sind angepasst an ein globales Marktsystem, das massenhafte Migrationen geradezu zu fordern scheint: [...] los cientos de mexicanos que cada día llegaban en busca de trabajo en las maquiladoras [...] los sueldos de hambre que se pagaban en las fábricas, [...] esos sueldos, sin embargo, eran codiciados por los desesperados que llegaban de Querétaro o de Zacatecas o de Oaxaca, cristianos desesperados, dijo el cura (2666: 474) Aquí casi todas las mujeres tienen trabajo. Un trabajo mal pagado y explotado, con horarios de miedo y sin garantias sindicales, pero trabajo al fin y al cabo, lo que para muchas mujeres llegadas de Oaxaca o de Zacatecas es una bendición. (2666: 710). Dass die in Santa Teresa gebotenen ‚Hungerlöhne‘ derart begehrt sind, ja geradezu ein Segen für die ankommenden ‚verzweifelten Seelen‘ aus den armen Bundesstaaten darstellen, legt die Widersprüche und Asymmetrien der Globalisierung offen; etwas zu begehren bedeutet dabei nicht, sich frei dafür zu entscheiden. Wie frei ist ihre Wahl wirklich? Die quasi religiöse Befreiung, die hier mit der Arbeit in einer maquiladora assoziiert wird, spricht eher für die (innere) Getriebenheit der Massen von migrierenden Subjekten, die sich der Ausbeutung ausliefern oder ihr ausgeliefert werden. Man könnte also behaupten, dass in der Globalisierung der Markt etwas deterritorialisiert, was der Staat versucht zu territorialisieren28. Dennoch treten die Machtinstanz Staatsapparat und die Dynamik des internationalen Marktes in Santa Teresa nur scheinbar in Konflikt, denn fast gleichzeitig muss hervorgehoben werden, dass die erschwerte Ermittlung, sowohl was die Identifizierung der Opfer als auch die Lokalisierung der Täter angeht, in 2666 nicht ohne Ironie beschrieben wird. Davon zeugt zum einen die frauenfeindliche Charakterisierung der Ermittler zu den feminicidios (vgl. 2666: 501; 689-692). Die verfehlten Ermittlungsversuche der Polizei werden zudem dadurch lächerlich 27 28 Vgl. HARDT/NEGRI (2000: 212), die aus DELEUZE/GUATTARIS Nomadismusmodell ein Protestmodell machen: „Mobility and mass worker nomadism always express a refusal and a search for liberation: the resistance against the horrible conditions of exploitation and the search for freedom and new conditions of life“. Auch DELEUZE/GUATTARI sprechen diese gegenläufigen Tendenzen von Kerbung durch den Staat und durch den ‚herkömmlichen Kapitalismus‘ an sowie von Glättung durch das freie Zirkulieren von Kapital der MNE und den globalen Kapitalismus an (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 614). 22 gemacht, dass wichtige Fährten nicht verfolgt werden, die Ermittlungen halbherzig geführt werden und so fast ausnahmslos ins Leere laufen. Dadurch, dass es lediglich Pro-FormaErmittlungen sind, wird die Exekutive, d.h. die lokale Polizei Santa Teresas zu einer Scheininstitution. Sie wird selbst zu einem strukturellen Akteur der Straflosigkeit und ist nicht etwa ein zur Passivität verurteiltes Organ29. In Santa Teresa gibt es zudem andere Machtinstanzen, die undurchsichtig erscheinen und dennoch ihre eigenen punktuell wirkungsvollen Gesetze schaffen. Die Polizei kooperiert mit diesen anderen Machtstrukturen vor Ort, die wirtschaftlicher Natur sind und in Richtung Drogenökonomie und maquiladora-Industrie weisen. Da letztere zumindest in einigen Fällen wie den Partyorgien in verlassenen ranchos direkt in die Straftat verwickelt ist, hat die Polizei, deren Mitglieder zum Teil befreundet sind mit Narcos (z.B. die „compadres“ Pedro Rengifo, Drogenboss, und Pedro Negrete, Polizeichef, vgl. 2666: 481), also gar kein Interesse an einer tatsächlichen, wahrhaftigen Aufklärung der Fälle, höchstens an einer erfolgreichen, um die Öffentlichkeit zu besänftigen. Als zur Unterstützung der örtlichen Ermittler der FBI-Ermittler Albert Kessler eingeladen wird, wundert dieser sich, dass ihm der lokale Polizeichef Pedro Negrete nicht vorgestellt wird (vgl. 2666: 756f.). Kesslers Besuch scheint nur für die Medien und breite Öffentlichkeit inszeniert zu sein, es geht nicht um eine tatsächliche Aufklärung der Fälle. Dafür spricht auch, dass der Fall, der ermittlungstechnisch einiges ins Rollen bringt und bei dem die Täter per Selbstjustiz ‚bestraft‘ werden, ausnahmsweise der der Tochter eines reichen und daher einflussreichen Mannes in Santa Teresa ist (Linda Vázquez, vgl. 2666: 642644; 655f.: „mataron a la hija de un hombre que tenía dinero“). Man kann sich also mit Recht fragen, ob die Ermittlungen trotz der multidirektionalen Migrationen fruchtbarer sein könnten, wäre die Polizei eben nicht strukturell beteiligt an der Straflosigkeit30. Die Polizei agiert in Santa Teresa ohne Verpflichtung gegenüber einem höheren, einheitlichen, transparenten Recht und wird von niemandem in dieser Hinsicht kontrolliert. Die Abwesenheit des Staates bedeutet also nicht so sehr die physische Absenz staatlicher Strukturen, vielmehr deren Verkommen zu Scheinfunktionen und die Abwesenheit eines gültigen und bindenden Rechts zum Schutz der Bürger. Was ist DELEUZES/GUATTARIS Staatsapparat also in der Globalisierung? Die Begrifflichkeit der ‚Erosion des Nationalstaats‘ ist irreführend: in Santa Teresa stehen die (wirtschaftlichen) Interessen der lokalen Behörden in keinerlei Konflikt zum scheinbaren Machtverlust des ‚Staates‘ (vgl. BURGOS JARA 2010: 462), der hier sehr wohl noch präsent ist, jedoch zu einem Akteur unter vielen wird und seine Funktion als Rechts- und Sozialstaat vernachlässigt. Insofern greifen die Erklärungsmuster ‚Korruption‘ und ‚Straflosigkeit‘ hier im Prinzip nicht mehr, da die Abweichung bereits die Norm(alität) darstellt (vgl. HERLINGHAUS 2013: 231). 29 30 In einem Fall ist sie sogar Akteur der Straftat selbst (vgl. 2666: 624f.). Hierzu könnte man die ‚Privatermittlungen‘ des Sheriffs Harry Magaña betrachten, der es schafft, den potenziellen Täter von Lucy Anne Sander zu lokalisieren, dafür jedoch, quasi als Bestätigung der richtigen Fährte, höchstwahrscheinlich zur Strecke gebracht wird (vgl. 2666: 508-562, mit Unterbrechungen). 23 Eine kurze Souveränitätskrise der Machttrias Industrie, Narcos und Polizei findet gegen Ende des vierten Teils statt, als Juan de Dios Martínez durch die Eigentumsverhältnisse des Viertels El Cerezal auf den plausiblen Verdacht kommt, dass die beiden Drogenbosse Pedro Rengifo und Estanislao Campuzano in die Frauenmorde verwickelt sein könnten. Danach findet ein geschlossenes Treffen der mächtigsten Männer Santa Teresas statt, neben Rengifo und Campuzano sind das auch der Polizeichef Pedro Negrete und der presidente municipal José Refugio de las Heras (vgl. 2666: 665-667). Von diesem Treffen erfährt man nicht mehr, als dass es stattfindet und dass aus ihm die Einigung auf einen Sündenbock für den zuletzt genannten Fall hervorgeht. So wird das Machtgeflecht in Santa Teresa benannt bzw. aufgedeckt, jedoch nicht transparenter gemacht. Es wird auf die verschiedenen Akteure, auf die die Macht aufgeteilt ist, hier verwiesen, Klarheit über deren Organisation wird aber nicht geschaffen. Dadurch dass der Leser vom eigentlichen Gespräch der Machtelite ausgeschlossen ist, verweist der Roman auf die Exklusivität von ‚Macht‘ und auf ihre systematische Opazität. In diesem Kapitel ist zum einen deutlich geworden, dass durch die Nomadisierung der Subjekte, die an keinem Ort mehr dauerhaft verweilen, und durch ihr ständiges Weiterziehen die halbherzigen, offiziellen Bemühungen der Identifizierung der Opfer und Lokalisierung der Täter erschwert wird. Der Einfluss des Staates auf die in Santa Teresa verkehrenden Subjekte schwindet aber nur scheinbar, denn das Transgressive und Freiheitliche dieser Subjekte wird dadurch eingeschränkt, dass sie der deterritorialisierenden Macht des Marktes gehorchen, in deren Interesse auch der lokale Staatsapparat Santa Teresas agiert. Trotz der informellen Netze, in denen die Subjekte verkehren, die auch eine dynamische Verwurzelung ermöglichen, ist im vierten Teil aber eher der Fokus auf die Subjekte gelegt, die schon im Leben keinem Ort mehr angehören, durch Migration entwurzelt werden und ihre Identität verlieren. 2.2 DIE PRODUKTIONSBEDINGTE ENTWERTUNG DES INDIVIDUUMS Todos dejaremos de ser menos que polvo, mucho menos que aire o que ceniza, porque todos habremos descendido al fondo de la nada, muertos sin ataúd. Efraín Huerta: ¡Mi país, oh mi país! (1959) In einer Stadt, in der alle mobil sind, sind territorialisiert, d.h. lokalisiert und lokalisierbar nur diejenigen, die nicht mehr leben (vgl. ESPINOSA 2006: 78f.). Doch inwiefern kann der identitätslose Körper noch als Subjekt bezeichnet werden? Der Prozess der Entindividualisierung und Objektivierung der toten Protagonistinnen beginnt bereits im Leben. Die systematische Anonymisierung und Entwertung des Individuums durchlaufen mehrere Stadien: Von der Konfiguration des arbeitenden Körpers in der maquiladora über die 24 strukturelle Gewalt, der diese Körper zum Opfer fallen und nach der sie entsorgt werden. Diese Stadien wollen wir uns in diesem Kapitel genauer ansehen. Die meisten Frauen, die tot in Santa Teresa aufgefunden werden, haben zuvor in einer maquiladora gearbeitet. Wenn sie überhaupt Ausweispapiere bei sich tragen, dann sind das die Firmenausweise einer Fabrik. Für die in Santa Teresa arbeitenden Subjekte stellt die maquiladora ihr tägliches Umfeld dar, die maquiladora strukturiert ihren Alltag: [...] todo dependía de los turnos en la maquiladora, que eran flexibles y obedecían a protocolos de producción que quedaban fuera de la comprensión de los obreros. (2666: 587) Sólo una de las maquiladoras tenía cantina para los trabajadores. En las otras los obreros comían junto a sus máquinas o formando corrillos en cualquier rincón. (2666: 449) Alles hängt von den Schichten in der Fabrik und den Produktionsprotokollen ab, deren Organisation den Arbeitern aber verborgen oder unverständlich bleibt. Während die maquiladora im Leben der Arbeiter den entscheidenden Faktor ausmacht, ist die konkrete, einzelne Person des Arbeiters für die maquiladora unwichtig, wie es zum einen die Tatsache bezeugt, dass nicht einmal Essen für sie bereitgestellt wird, zum anderen die Unzuverlässigkeit der Arbeiterverzeichnisse und Arbeiterakten in den maquiladoras: En la EastWest su ficha de trabajador se había perdido, lo que no era unusual en las maquiladoras, en donde el trasiego de trabajadores era incesante. (2666: 518) Über das Verzeichnis könnten mögliche Täter identifiziert und lokalisiert, Opfer identifiziert werden. Doch die maquiladoras können nicht nachweisen, wer bei ihnen arbeitet oder gearbeitet hat. Angesichts der hohen Fluktuation (z.B. durch plötzlichen ‚Verlust‘ einer Arbeiterin) und Anzahl von Arbeitern macht sich anscheinend keiner die Mühe, alle hier Tätigen einzeln zu registrieren bzw. die Akten zu sortieren und zu konservieren. Oder jemand hat Zugriff auf die Akten und lässt die entscheidenden Identitäten verschwinden, bevor die Ermittler sie einfordern. Dass der Arbeitsplatz keine Verantwortung für seine Arbeiter übernehmen möchte, zeugt von der ‚Ethik‘ der maquiladoras bzw. ihrer Anti-Ethik, nach der Menschen nur Arbeiter, ja nur produktive Körper sind, über die man aufgrund ihrer Verfügbarkeit frei verfügen kann. Diese Anti-Ethik bestärkt die ohnehin schon durch Migration drohende Entkontextualisierung und Unzugehörigkeit der ArbeiterInnen, für die weder von staatlicher noch von industrieller Seite jemand aufkommen will und die in Santa Teresa keine (schützenswerten) Individuen sind, sondern Teil einer anonymen Masse. Die maquiladoras sind strukturell entscheidend für das Leben der Arbeiter, übernehmen selbst aber keine schützende Funktion für ihre Mitarbeiter. Versuchen Arbeiter selbst, sich und ihre Kollegen zu schützen und dafür geeignete Strukturen zu errichten, so wird dies obendrein bestraft: […] una de ellas desempleada en el momento de los hechos pues, según le contó a Juan de Dios, había intentado organizar un sindicato. [...] Me botaron por exigir mis derechos. El judicial se encogió de hombros. Le preguntó quién se iba a encargar del hijo de María Estela. Yo, dijo la sindicalista frustrada. (2666: 721f.) 25 Wer eine Gewerkschaft gründen will, wird entlassen, mit Arbeitslosigkeit bestraft. Arbeiten darf und kann nur wer sich dem rechtsfreien Leben anpasst. Das Zitat beleuchtet zudem noch einmal, wie indifferent die Polizei gegenüber der Rechtlosigkeit in Santa Teresa ist. In dieser Grenz- und Industrieregion, wo nichts ‚gratis‘ ist (vgl. 2666: 702), sind alle, was ihre Sicherheit, was ihr Leben, ihre Familie betrifft, auf sich allein gestellt. Nur informelle Netze funktionieren noch, was sich daran zeigt, dass die Gewerkschafterin sich um den Sohn ihrer getöteten Kollegin kümmert. Die einzige Sicherheit, die in Santa Teresa neben dieser informellen noch besteht, ist die private Sicherheit, weshalb die wohl reichsten und so auch mächtigsten Männer der Stadt, Pedro Rengifo, der Drogenboss, und Pedro Negrete, der Polizeichef, die besten Bodyguards haben (Rengifo hat allerdings noch bessere). Die Opfer aber sind fast ausnahmslos arme und marginalisierte Mädchen und Frauen, maquiladora-Arbeiterinnen, für die außer vielleicht ihrer ebenso entmachteten Familie niemand ein Interesse daran hat, sich für sie einzusetzen, sie zu schützen. Sie sind ‚nützlich‘ als produktive Körper, darüber hinaus wird ihnen kein Wert als Mensch beigemessen (vgl. ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012: 195). In Santa Teresa regiert das Kapital, weshalb nur Reiche eine politische Identität haben, ein Leben, das geschützt wird, am besten in den USA. Der entrechtete und entmachtete Status der toten Protagonistinnen ist in vielen Arbeiten zu 2666 der Anlass, den vierten Teil von 2666 mit Giorgio AGAMBENS Homo sacerKonzept in Verbindung zu bringen (vgl. BURGOS JARA 2010; ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012; GIORGI 2013). Tatsächlich entbehren die toten Protagonistinnen ähnlich wie AGAMBENS homines sacri jeglicher politischer Identität, sie werden getötet, ohne dass ihr Mörder dafür bestraft wird31. Nach AGAMBEN hat sich der Nationalstaat im Zuge der Erklärung der Menschenrechte für den Schutz des menschlichen Lebens zuständig erklärt: „Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar“ (AGAMBEN 2002: 136). Dadurch, dass der moderne Nationalstaat erstmalig auch das nackte, d.h. das natürliche Leben (nicht nur das politische Leben) in seine Verfassung aufnimmt, bindet dieser den Schutz dieses Lebens an seine Territorialität und schließt damit unzugehörige Staatenlose und Flüchtlinge von diesem Schutz aus (vgl. AGAMBEN 2002: 140). Diese fatale Doppelbödigkeit im System, die AGAMBEN diachron vom römischen Recht bis zur Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen aufarbeitet, lassen sich bedingt auf die fiktionale Situation in Santa Teresa übertragen. Doch die Exklusivität eines würdigen Lebens, die Straflosigkeit und Rechtsfreiheit betreffen hier längst nicht nur Staatenlose, sondern auch deterritorialisierte mexikanische Staatsbürger auf mexikanischem Staatsgebiet. Auch wenn es angesichts einer globalisierten Weltordnung und durch diverse Migrationen infrage gestellt wird, geht AGAMBEN immerhin von einem, wenn auch territorial begrenzten, geltenden Recht aus. Dieses Recht wird in 31 Die Definition des homo sacer wird von AGAMBEN auf die folgende Formel gebracht: „homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ (AGAMBEN 2002: 18) [Kursiv im Original]. 26 Mexiko spätestens in der Globalisierung und zumindest in der Industrie- und Grenzregion aber, wo der Nationalstaat keine alleinige Souveränität mehr genießt und in der Santa Teresa sich verortet, zur Farce, zu einem leeren Mechanismus ohne Folgen. Aus den durch den Globalisierungsprozess prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in Santa Teresa ergeben sich einige Überlegungen zu den Frauenmorden32, deren unberuhigender und außerordentlicher Charakter ja, so 2666, gerade in ihrer ‚Modernität‘ begründet liegt bzw. darin, dass sie in irgendeiner Weise mit der modernen Welt zu tun zu haben scheinen (vgl. 2666: 675). Dennoch ist Santa Teresa nicht gleichzusetzen mit den feminicidios, selbst wenn diese in 2666 eine prominente Rolle spielen, ebenso wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen auch für die lebendigen Figuren in Santa Teresa gelten, wenngleich sie keine Protagonistinnen in 2666 sind. Dass die maquiladoras indirekte Opfer fordern, wird angedeutet33. Auch wenn das Wort Globalisierung selbst nicht fällt (eher ist die ‚Moderne‘ die Zielscheibe), ergibt sich so doch eine Korrelation zwischen Globalisierung und den feminicidios, die Globalisierung bietet die Umstände oder Bedingungen für die feminicidios. Im Folgenden wollen wir uns diese Verbindungslinie genauer ansehen. Wie wir bereits sehen konnten, wird den Frauen in Santa Teresa keine Sicherheit durch den Staat oder ihren Arbeitsplatz geboten. Wie Yolanda Palacio, die Beauftragte für Sexuelle Delikte in Santa Teresa, berichtet, ist Vergewaltigung in Santa Teresa an der Tagesordnung (vgl. 2666: 704). Unter den ermittelnden Polizisten ist es bezeichnenderweise eine ungeklärte Frage, ob es rein definitorisch in der Ehe Vergewaltigung geben kann (vgl. 2666: 548f.). Auch die bereits erwähnten Frauenwitze der Polizisten illustrieren den allseits präsenten machismo in Santa Teresa. In dem durch Globalisierung bedingten Klima der Schutzlosigkeit der v.a. weiblichen Subjekte scheint eine machistisch motivierte Straftat geradezu begünstigt. Es scheint, dass die Straflosigkeit die Straftat logisch bedinge, sie wird zum Antrieb, zu einem motivierenden Umstand34. Unter den effektiven Folgen von Globalisierung ergibt sich aber auch ein neues Motiv, denn Globalisierung strukturiert die existenten Familiensysteme um. Durch die Arbeitsmöglichkeiten brauchen viele Frauen, wirtschaftlich betrachtet, keinen Mann mehr. Sie erstarken: 32 33 34 Im Hinblick auf die realen Frauenmorde von Cd. Juárez durchaus legitime Überlegungen: Vgl. dazu MONÁRREZ/BEJARANO (2010: 46; 63f.), die in den prekären Bedingungen der maquiladoraArbeiterInnen, in ihrer Austauschbarkeit und Unsichtbarkeit als Arbeitskraft sowie ihrer Instrumentalisierung zur Profit- und Effizienzsteigerung, kurzum in den Globalisierungstendenzen die idealen Umstände für die feminicidios sehen. Vgl. „[...] la maquiladora EMSA, una de las más antiguas de Santa Teresa, que no estaba en ningún parque industrial sino en medio de la colonia La Preciada, como una pirámide de color melón, con su altar de los sacrificios oculto detrás de las chimeneas y dos enormes puertas de hangar por donde entraban los obreros y los camiones“ (2666: 564). Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 215-217), der unter den Motiven der feminicidios auch die (im Roman nicht ganz geklärte) Rolle der maquiladoras nennt. Vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 62), der von der Straflosigkeit als Aphrodisiakum für (potenzielle) Täter spricht. 27 [...] ya no creía en la palabra de los hombres y trabajó duro e hizo horas extra y llegó incluso a vender tortas a sus propias compañeras de trabajo, [...] hasta que tuvo dinero suficiente para alquilar una casita en la colonia Veracruz (2666: 504) Para qué queremos un hombre si nosotras solas ya trabajamos y nos ganamos nuestro sueldo y somos independientes? (2666: 586) Estrella quería saber cosas de computadoras, quería aprender, quería progresar (2666: 588) Die Geschäftstüchtigkeit der hier porträtierten Frauen (Mütter, Freundinnen von Opfern bzw. im Falle von Estrella selber Opfer) in Santa Teresa führt zu ihrer Unabhängigkeit. Doch ihre Emanzipation macht sie paradoxerweise wieder verwundbar: Die Unabhängigkeit der Frauen führt in eine Maskulinitätskrise (vgl. HERLINGHAUS 2013: 222), die zu einem mögliches Motiv für einen Frauenmord wird. Häusliche Gewalt geht eben nicht (nur) auf ein individuelles, häusliches Motiv zurück, sondern basiert auf einem größeren Problem, auf einem strukturellen, durch die Logik der Globalisierung bedingten Problem35. Genau dieses wird von Seiten der Ermittlung zu vertuschen versucht und man ermittelt auf der Suche nach einem (individuellen) Sündenbock mit individuellem Tatmotiv (oft genug erfolgreich) in Richtung eines eifersüchtigen Ehemannes oder Freundes (vgl. BURGOS JARA 2010: 467f.). Auch die Suche nach einem Serienmörder versucht, singuläre Individuen für die Gewalt verantwortlich zu machen. Dennoch weist der vierte Teil durch seinen katalogisierenden Charakter ja gerade auf analoge körperliche Spuren der Gewalt und Vergewaltigung hin, die implizieren, dass es sich hier nicht um Einzeltaten handelt, sondern dass die Frauen die immer gleiche Struktur von Gewalt erfahren. Tat und Täter bleiben abgesehen von einigen Emblemen wie dem PeregrinoAuto im vierten Teil weitestgehend absent und bilden eine Leerstelle in der Erzählung, ebenso wie der Akt der Vergewaltigung und Tötung, die ultimative Unterwerfung des Anderen, sein Objekt-werden, ausgespart bleiben. Ebendiese Leerstelle lässt die Deutung zu, dass die Frauen Opfer eines anonymen Systems und einer strukturellen Gewalt werden. Im Tod spitzen sich all die genannten Tendenzen zu. Dafür spricht, wie und wo die Frauenleichen von den Tätern ‚zurückgelassen‘ werden: El último día de marzo unos niños pepenadores hallaron un cadáver en el basurero El Chile, en un estado de descomposición total. Lo que quedaba de él fue trasladado al Instituto Anatómico Forense de la ciudad (2666: 686) Kinder, die auf und von der Müllhalde El Chile leben, finden eine schon vollständig verweste Leiche, vermutlich eine von ihrem Mörder hier ‚entsorgte‘ Frau. Die Symbolik dieses Aktes ist fast allzu evident und ihr Lebensweg steuerte schon darauf hin: Entwertete, entkontextualisierte Subjekte, also in ihrem Leben verfügbare, anonyme, produktive, nützliche Körper werden zu verderblichen Körpern ohne persönliche Geschichte, zu anonymen Objekten der Betrachtung und schließlich zu einem unproduktiven und unnützen Abfallprodukt. An einem Ort, wo der Mensch lediglich nach seiner Nützlichkeit bewertet wird 35 Diese Korrelation von wirtschaftlicher Unabhängigkeit und misogyner Gewalt lässt sich wiederum durch die ‚Realität‘ bestätigen: Die Wahrscheinlichkeit häuslicher Gewalt ist höher unter maquiladora-Arbeinnen als unter Hausfrauen (vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 76). 28 und sein einziger Wert darin besteht, ein Mittel zu sein, wird er, beim Wegfall dieses Wertes, unweigerlich zu Müll. Er ist nur noch körperliche Masse, die entsorgt werden muss: No tenía papeles que facilitaran su identificación y nadie acudió a reclamar el cadáver, por lo que su cuerpo fue enterrado, tras una espera prudencial, en la fosa común. (2666: 631) Cuando finalmente llegó el informe forense [...] ya nadie se acordaba de la desconocida, ni siquiera los medios de comunicación, y el cuerpo fue arrojado sin más dilaciones a la fosa común. (2666: 650) Immer wieder betonen Figuren im vierten Teil, dass in Santa Teresa fast Vollbeschäftigung herrscht, dass dies eine moderne, aufstrebende Stadt sei. Doch wo der (weibliche) Körper zum Opfer von Gewalt und Vergewaltigung wird (nicht zuletzt auch in der Prostitution, wo er als Ware gehandelt wird, oder in der snuff- und Porno-Industrie) sowie als austauschbarer produktiver Körper in der Fabrik gehandelt wird, verkommt das Subjekt zum Objekt, das zudem schnell in Vergessenheit gerät. All dies geschieht auf verstörende Weise in einem Gebiet der ökonomischen ‚Liberalisierung‘, des Fortschritts und der vermeintlichen Emanzipation. 2.3 DAS STADTBILD SANTA TERESAS IM ZEICHEN VON SEGREGATION UND EIGENSTÄNDIGER TRANSFORMATION Santa Teresa, „un puzzle que se hacía y se deshacía a cada segundo“ (2666: 752), ist eine Stadt, die sich in ständigem Wandel befindet. Santa Teresa, ein „paisaje fragmentado o en proceso de fragmentación constante“ (2666: 752) ist eine junge Stadt, die sich in jeglicher Hinsicht, sozial und räumlich, neu strukturiert, neu gestaltet und durch den ständigen Zufluss der Migranten, die wiederum durch die maquiladoras und die EPZ angezogen wurden, verändert. Santa Teresa, „ese caos abandonado“ (2666: 752), ist eine Stadt, in der sich globale Tendenzen der Migration und Urbanisierung verdichten. Gemäß der Fokussierung des vierten Teils von 2666 auf die Marginalisierten und Verwundbaren der globalisierten Gesellschaft wird auch in diesem Kapitel der Fokus auf der unteren sozialen Schicht der Migranten und maquiladora-ArbeiterInnen liegen und ihrem Lebensraum, der urbanen Peripherie. Wie manifestieren ihre Lebensbedingungen und die Machtverhältnisse sich im (dafür emblematischen) Raum und inwiefern erschafft der Raum bestimmte Lebensformen und -bedingungen? Dieses Kapitel möchte dabei zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen der ‚Architektur‘ Santa Teresas herausarbeiten: zum einen die durch Globalisierung bedingte räumlich-soziale Segregation, zum anderen eine innerhalb bestimmter Stadtteile entstehende, anarchisch anmutende Eigendynamik, die zur ständigen Transformation des urbanen Raumes führt. Es gibt klare Anzeichen, welcher sozialen Schicht Santa Teresas ein Bewohner zuzuordnen ist, betrachtet man die colonia, die er bewohnt oder die Art und Weise, wie er sich in der Stadt fortbewegt: „si tiene coche, no creo que viva en la Kino“ (2666: 465). Die colonia Kino ist eine der vielen colonias Santa Teresas, in der die Bewohner so arm sind, dass sie sich 29 kein Auto leisten können und daher eindeutig der „clase peatonal“ angehören: „la clase peatonal, siendo algunos tan pobres que para dirigirse al trabajo ni siquiera tomaban el autobús, prefiriendo hacer a pie el camino y así ahorrarse unas pocas monedas“ (2666: 661). Sie versuchen sogar, auf öffentliche Verkehrsmittel zu verzichten und nur zu Fuß zu gehen. Selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln aber sind die Distanzen innerhalb der Stadt enorm groß, die Anbindung ans Zentrum von den peripheren colonias aus prekär: Caminó tres cuartos de hora hasta la colonia Madero, en donde esperó media hora la llegada del autobús Avenida Madero-Avenida Carranza. Se bajó en la colonia Carranza y caminó en dirección norte, atravesando la colonia Veracruz y la colonia Ciudad Nueva hasta llegar a la avenida Cementerio, desde donde caminó en línea recta hacia su casa de la colonia San Bartolomé. En total, más de cuatro horas. (2666: 640) Die Infrastruktur Santa Teresas gestaltet sich derart, dass man nur mit dem Auto schnell durch die Stadt kommt. Die Fußgängerklasse ist im Hinblick auf ihre eingeschränkte Mobilität marginalisiert. Somit sind die ehemals mobilen Migranten innerhalb von Santa Teresa zu relativem Stillstand verurteilt. Mit dem Auto hingegen lassen sich weite Teile der Stadt schnell durchziehen und überblicken, wie es an den diversen ‚Außenperspektiven‘ der Besucher der Stadt deutlich wird. Neben den vier Kritikern im ersten Teil ist das zum einen der FBI-Ermittler Kessler, der sich bei seinem mehrtägigen Besuch in Santa Teresa stundenlang zunächst mit dem Taxi, dann mit einem Polizeiwagen durch die ärmsten Stadtviertel fahren lässt. Kessler möchte der Geographie der Stadt36 genauer auf den Grund gehen und die Orte besuchen, an denen die meisten Frauenleichen gefunden werden. Nach seinen von Exotismus nicht ganz freien Spritztouren durch die Elendsviertel kommt Kessler zu folgendem Schluss, den er in der Pressekonferenz verkündet: Caminar por estas calles, a plena luz del día, dijo a la prensa, da miedo. Quiero decir: a un hombre como yo le da miedo. Los periodistas, ninguno de los cuales vivía en aquellos barrios, asintieron. (2666: 756) Am helllichten Tag zu Fuß durch die Viertel, in denen die clase peatonal wohnt und die Kessler durch die Fensterscheibe des Autos betrachtet, zu laufen, bereite ihm, so Kessler, Angst, so gefährlich seien sie. Die Journalisten, die vermutlich selbst nie in diesen Vierteln zugegen sind, in jedem Fall nicht in ihnen wohnen, stimmen ihm in ihrem Unwissen zu. Dass die Viertel, in denen die Bewohner kein Auto haben, für ‚Externe‘, also Angehörige einer anderen Schicht, nicht begehbar sind, ist eine absurde Asymmetrie, die von der Gespaltenheit der Gesellschaft Santa Teresas zeugt, von der Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich in räumlicher Segregation widerspiegelt. Kessler ist sich dessen bewusst, indem er hinzufügt, dass sie jedenfalls nicht für Menschen wie ihn, für Menschen seiner sozialen Schicht oder für USAmerikaner, zu Fuß begehbar seien. Die Wahrnehmung der Stadt ist also an eine spezielle Perspektive gebunden. Eine weitere Außenperspektive ist die Fates aus dem dritten Teil, der sich bei seiner Ankunft in 36 Vgl. dazu Bolaños Skizze vom fiktiven Santa Teresa (Abbildung 2 im Anhang). 30 Santa Teresa in der Stadt orientieren möchte, aber nirgendwo einen Stadtplan des ständig im Wandel begriffenen Santa Teresa und seines „trazado anárquico“ (2666: 452) auftreiben kann (vgl. 2666: 345). Als er das erste Mal durch die Peripherie der Stadt fährt, hat er dementsprechende, überraschende und ungeplante Eindrücke: Cruzaron un barrio periférico a través de una telaraña de calles sin asfaltar y sin alumbrado eléctrico. Por momentos, después de rodear potreros y lotes baldíos donde se acumulaba la basura de los pobres, uno tenía la sensación de que estaban a punto de salir a campo abierto, pero entonces volvía a surgir otro barrio, esta vez más antiguo, de casa de adobe, alrededor de las cuales habían crecido chamizos hechos con cartón, con planchas de zinc [...] (2666: 347f.) Die peripheren barrios scheinen nicht zu enden: Gerade wenn man denkt, nun ende die Stadt, erscheint ein neues barrio ohne Beleuchtung und mit unbefestigten Straßen. Die Beschaffenheit des Bodens ist meist das entscheidende Indiz für die Zuordnung zum reichen oder armen Teil der Stadt: Asphaltierte Straßen finden sich ausschließlich in entwickelten, wohlhabenden Vierteln37, calles de tierra hingegen sind ein Zeichen für das auch sonstige Fehlen von Infrastruktur (öffentliche Beleuchtung, Elektrizität, Müllabfuhr, Abwasserkanäle, fließendes Wasser usw.) in den peripheren Gebieten. Gebiete, die dennoch dicht wie ein Netz bebaut sind. So lautet es an anderer Stelle: „sobresalían los techos de las casuchas“ (2666: 449). Die prekären Häuser oder Hütten überschlagen sich, wuchern wie Unkraut, multiplizieren sich. In einigen colonias kann dabei durchaus ein alter Stadtkern vorhanden sein: Davon zeugt im obigen Zitat el adobe, der Lehm, ein dauerhaftes Material, das im Kontrast steht zu den aus Zink und Pappkarton gebauten Häusern, denen ihre Zeitlichkeit und Fluktuation bereits materiell eingeschrieben ist. Letztere scheinen spontan gewachsen zu sein, nicht für die Dauer zu bestehen. Sie spiegeln die ständige Transformation der Stadt und die Mobilität ihrer Bewohner wider, meist Migranten, die diese prekären Behausungen oft selbst gebaut haben: „una casa que el mismo padre construyó con cartones y ladrillos sueltos y trozos de zinc“ (2666: 503). Man könnte den Selbstbau ihrer Behausung wie eine Freiheit betrachten, als eigene Gestaltung und Organisation ihres Lebensraumes38. Doch nicht zuletzt dadurch, dass die meisten ‚Funde‘ des vierten Teils in ebendiesen Vierteln stattfinden, ist es keine positive Freiheit. Die Bewohner dieser anarchisch anmutenden Viertel, über die viel geredet und vor 37 38 Oder im Industriegebiet, was dafür spricht, dass Entwicklung und Zivilisation an Kommerz und Industrie gebunden sind: „Los seis caminos estaban pavimentados y confluían en el Parque Industrial Arsenio Farrel“ (2666: 737). Vgl. dazu RIBBECK (2002: 66): „Ob von Slums, Hütten- oder Stadtrandsiedlungen, von ungeplanten, improvisierten, spontan irregulären oder informellen Siedlungen die Rede ist, immer enthält schon die Terminologie eine bestimmte Sichtweise: die Armut der Bewohner, die räumliche und soziale Marginalisierung, die Behelfsmäßigkeit der Bauten, die planlose Gründung, die Ungesetzlichkeit der Landnahme, die Abweichung vom geltenden Planungs- und Baurecht. Noch in den 70er Jahren galten die ungeplanten Siedlungen in den Städten der ‚Dritten Welt‘ fast durchweg als Slum, Elendsoder Marginalsiedlung […]. Das explosive Stadtwachstum der 70er Jahre überrollte aber diese Sichtweise. Plötzlich wurde die positive Seite des improvisierten Bauens entdeckt, bis hin zu euphorischen Beschreibungen des kreativen Potenzials, das man in den Spontansiedlungen vermutete“. Ein rezentes Beispiel dieser ‚Idealisierung‘ bildet Doug SAUNDERS (2011), Arrival City: How the Largest Migration in History is Reshaping Our World, Toronto: Knopf. 31 denen viel gewarnt wird, sind stigmatisiert und im ökonomischen wie im politischen Sinne sich selbst überlassen. Die entsprechenden colonias befinden sich zudem oft in unmittelbarer Nähe zur USamerikanischen Grenze: [...] los barrios que lindaban con la frontera, la colonia México, justo al lado de El Adobe, que ya era Estados Unidos, [...] la colonia México y su avenida principal permanentemente sometida a los atronadores ruidos de los camiones y los coches que se dirigían al cruce fronterizo [...] (2666: 751) […] un descampado desde donde se podía ver Arizona y los caparazones de las maquiladoras del lado mexicano y las carreteras de terracería que conectaban éstas con la red de carreteras pavimentadas. (2666: 467) Die Nähe zu den USA ist nicht nur visuell spürbar. Im ersten Zitat wird sie auch sprachlich deutlich: In einem Satz ist man erst in Mexiko und dann plötzlich schon in den USA, die sprachliche Kontiguität lässt die räumliche erahnen. Die grenznahe colonia México ist direkt neben El Adobe gelegen. Beide Orte tragen interessante Namen: Der ‚letzte‘ Ort in Mexiko, als ärmlich und chaotisch beschrieben, heißt (vielleicht synekdochisch) México, während El Adobe trotz der unmittelbaren Nähe Welten entfernt zu sein scheint, denn die entwickelte und reichere US-amerikanische Zwillingsstadt heißt adobe, was von der Beständigkeit des Ortes, von seiner Dauerhaftigkeit zeugt. Dass die beiden grundverschiedenen Orte trotz ihrer Trennung durch die Grenze dennoch miteinander verbunden sind, zeigt der nie endende Grenzverkehr und sein Lärm, dem die Bewohner insbesondere der colonia México Tag und Nacht ausgesetzt sind und der wohl in großen Teilen durch die Transporte der MNEs zustande kommt. Aus Santa Teresa gehen ungepflasterte Straßen direkt über in das gepflasterte Netz der USA und so werden die Asymmetrien der Globalisierung und die Selektivität des Fortschritts deutlich39: Globalisierungsmaßnahmen, Nicht die alle zu profitieren großen gleichermaßen Unterschieden zwischen von den den beiden Nachbarländern führen, die sich in Santa Teresa direkt gegenüber stehen. In den „gottverlassenen“ Vierteln (2666: 752) auf mexikanischer Seite, in die nicht einmal die Polizei sich traut (vgl. 2666: 756), herrschen zudem oft lebensbedrohliche Bedingungen: El Obelisco, que ni era propiamente un poblado ni tampoco llegaba a colonia de Santa Teresa y que era más bien un refugio de los más miserables entre los miserables que cada día llegaban del sur de la república y que allí pasaban las noches e incluso morían, en casuchas que no consideraban sus casas sino una estación más en el camino hacia algo distinto o que al menos los alimentara. Algunos no lo llamaban El Obelisco sino el Moridero. (2666: 628) 39 Hier werden die Parallelen zum realen Cd. Juárez wieder überaus evident, vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: „Ciudad Juárez resiente la asimetría económica de los dos países“ (29). Dabei könnte das im Folgenden beschriebene Viertel das reale Pendant zur colonia México sein: “Lomas de Poleo es un asentamiento paupérrimo de Ciudad Juárez, [...] su territorio consta de brechas que curvean la desolación y decora un mar de bolsas de plástico errátiles [...] La gente habita casas construidas con desechos, trozos de madera, lámina de metal o asbesto, alguna puerta metálica. [...] Desde Lomas de Poleo se observan las construcciones sólidas, el verdor, la tecnología esplendente que rodea a El Paso, Texas“ (25). 32 Ein Viertel, das einem (lebendigen) Friedhof gleicht. Es wird erwähnt, als gefragt wird: „En qué otro lugar de Santa Teresa podía haber niñas de diez años que nadie reclamara?“ (2666: 629). El Obelisco, auf der untersten Stufe der urbanen Hierarchie, hat nicht einmal den Status einer colonia, es ist ein Auffanglager für Migranten, für die El Obelisco nur eine weitere Station ihres ‚Hungerweges‘ ist, die aber gleich wieder sterben, anstatt ein neues Leben zu beginnen. An diesem Ort sind ein Identitätsverlust und der frühe Tod, auch von Kindern, geradezu vorprogrammiert. Diese tödliche Geographie Santa Teresas wird deutlich in diversen Beschreibungen der peripheren und teils informellen Spontansiedlungen, aber auch immer wieder in den detaillierten Beschreibungen der illegalen Müllhalde El Chile: El basurero no tiene nombre oficial, porque es clandestino, pero sí tiene nombre popular: se llama El Chile. Durante el día no se ve un alma por El Chile ni por los baldíos aledaños que el basurero no tardará en engullir. Por la noche aparecen los que no tienen nada o menos que nada. [...] los seres humanos que pululan solitarios o en pareja por El Chile [...] son escasos. Su esperanza de vida, breve. Mueren a lo sumo a los siete meses de transitar por el basurero. (2666: 466) Die illegale Müllkippe erscheint wie ein Ungeheuer mit Eigenleben, das wächst und umliegende Brachflächen verschlingt sowie Müllsucher hervorbringt, die sich quasi symbiotisch mit dem Müll vereinen und daran bald sterben, ähnlich wie in El Obelisco. Privates Leben, Industrie und Müll lassen sich in Santa Teresa nicht trennen. Schon im vorangegangenen Kapitel wurde eine Stelle aus 2666 besprochen, in der eine Frauenleiche auf El Chile gefunden wird. Das folgende Zitat beleuchtet, was sich noch alles hier findet: En el basurero donde se encontró a la muerta no sólo se acumulaban los restos de los habitantes de las casuchas sino también los desperdicios de cada maquiladora. (2666: 449) Auf der illegalen Müllhalde, die größer ist als die offizielle Müllhalde (vgl. 2666: 752) treffen sich industrieller und kommerzieller Müll der maquiladoras mit privatem Müll und menschlichem Leben, tot oder lebendig. Die Handhabung von Müll in Santa Teresa ist wohl die umfassendste Metapher für die globalisierten Lebensbedingungen in dieser Stadt. Öffentliche Entsorgungsdienste in der Stadt sind rar und wer es sich leisten kann, engagiert private Dienste. Die niedrigsten der Niedrigen aber haben keine Entsorgungsdienste, im Gegenteil, sie versorgen sich selbst mit Müll. Müll als Nutzloses, als Unverwertbares, Wertloses, als Unproduktives steht im größten Kontrast zur sonstigen Konzentrierung auf utilidad und Kapitalisierung in dieser Region, ist gleichzeitig aber unabdingbare Folge der Produktion. Wo alles sich um Produktivität und Effizienz dreht, sind verwüstete und enorme Müllhalden die Folge, Müllhalden, auf denen sich Privates und Öffentliches nicht mehr trennen lassen, Müllhalden, die zu Friedhöfen werden und auch zum Bestandteil der Geographie. Sie schreiben sich irreversibel in die Architektur ein, wie es sich am cerro Estrella bemerkbar macht, einem Hügel, der aus Müll besteht, aus der Ferne aber wie ein natürlich gegebener Berg aussieht (vgl. 2666: 386; 747). 33 Die Reaktion der örtlichen Behörden, die Müllhalde abzutragen, macht die Übermacht des Informellen überaus deutlich: El alcalde de Santa Teresa decretó el cierre del basurero, aunque luego cambió la orden de cierre (su secretario le informó sobre la imposibilidad jurídica de cerrar algo que, a todos los efectos, nunca se había abierto) por la orden de demolición, traslado, destrucción de aquel sitio infecto en donde se infringían todas las leyes municipales. Durante una semana se mantuvo una vigilancia policial en las fronteras de El Chile y durante tres días unos pocos camiones de basura, auxiliados por los dos únicos camiones volquete de propiedad municipal, estuvieron trasladando los desechos hacia el basurero de la colonia Kino, pero, ante la magnitud del trabajo y la escasez de fuerzas para acometerlos, pronto cedieron. (2666: 581) Santa Teresa wird längst nicht mehr vertikal organisiert, durch den Eingriff von Institutionen, sondern horizontal, durch die informelle Selbstorganisation der Massen. Die anarchische Eigendynamik der Stadt wird spätestens dann deutlich, als die Behörden sich gezwungen sehen zu handeln, über die Dimensionen des abandono aber längst die Kontrolle und den Überblick verloren haben. Sie kommen weder rechtlich noch konkret hinterher, soweit ist es schon fortgeschritten, so sehr haben sich die Vorgänge schon entfesselt von den steuernden Institutionen. Die Bestrebungen, die Müllhalde zu schließen, sind angesichts des Ausmaßes völlig unrealistisch und kommen Scheinmaßnahmen gleich. In der Geographie Santa Teresas, seinem Stadtbild, in der Beschaffenheit des Raumes, zum Teil ganz buchstäblich des Bodens, manifestieren sich die Verhältnisse von Macht und Subjekt in der Globalisierung, die Scheinfreiheit der Migranten und maquiladoraArbeiterInnen, ihre Ausgrenzung und (unfreiwillige) Selbstständigkeit. Dass die Tendenzen der Globalisierung keine rein homogenisierenden sind, wurde in diesem Kapitel überaus deutlich: Die Grenzen zwischen Arm und Reich sind nach wie vor deutlich vorhanden und markiert. Das Neue aber ist, dass sie sich auf dem engsten urbanen Raum befinden, sich räumlich annähern, globale und nationale Asymmetrien an ein und demselben Punkt sichtbar werden. Dafür steht die spontane ‚Architektur‘ Santa Teresas paradigmatisch ein. 2.4 DIE METAPHYSIK DER GLOBALISIERUNG: WÜSTE UND VERWÜSTUNG The city […] is only the desert in disguise. Thomas Pynchon: V. (1963) Wenn wir bislang über die räumlichen Transformationen im urbanen Raum Santa Teresas sprachen, dann war damit immer impliziert, dass diese in irgendeiner Weise menschengemacht sind. Der Mensch verändert den Raum beispielsweise durch Siedlungsbau oder durch den Müll, den er produziert. Schaut man sich aber an, welche räumliche Beschaffenheit diesen raumtransformierenden, auch verwüstenden Praktiken zugrunde liegt, dann ändert sich die unilaterale Wirkung des Menschen auf seine Umwelt. In den Leerstellen, die meist Fundorte sind, kommt eine bestimmte Natur zum Vorschein, auf die der urbane 34 Raum Santa Teresas gebaut ist: die Wüste. Wir wollen uns diese ‚ökologischen Bedingungen‘ Santa Teresas, die Spezifizität der ‚Natur‘, auf denen die Industrialisierung und Globalisierung fußen, genauer ansehen: Amalfitano pensó que la naturaleza del noroeste de México, en aquel lugar preciso de su jardín quebrantado, era más bien exigua. Una mañana, mientras esperaba el autobús que lo llevaría a la universidad, se hizo el firme propósito de plantar césped o pasto, y también de comprar un arbolito ya un poco crecido en alguna tienda dedicada a tal menester, y de plantar flores a los lados. Otra mañana pensó que cualquier trabajo que se tomara encaminando a hacer más grato el jardín resultaría a la postre inútil, puesto que no pensaba quedarse mucho tiempo en Santa Teresa. (2666: 252) Die Reflexionen des Neuankömmlings Amalfitano über die Geographie Santa Teresas sind erhellend: Der Versuch, hier einen Garten anzubauen, scheitert. An einem Tag möchte er gegen den Widerstand, den die hiesige karge Natur gegen ihre Domestizierung zu leisten scheint, angehen, indem er Bäume und Gräser pflanzt. Doch der Versuch, im wahrsten Sinne des Wortes Wurzeln zu schlagen, wird von Amalfitano an einem anderem Tag wieder verworfen oder scheitert, da er nicht vorhat, hier tatsächlich sesshaft zu werden. Warum? Liegt es an seinem (von seinem derzeitigen Aufenthaltsraum unabhängigen) Vorhaben, nirgendwo dauerhaft zu verweilen oder ist es die natürliche Beschaffenheit des Grund und Bodens, auf dem sein neues Haus steht, welche ihn zur Aufgabe zwingt? Die Natur des Raumes, in dem er sich verortet, derzeit aufhält, begünstigt keine Sesshaftigkeit. Weiter lauten seine Gedankengänge: [...] ¿qué me impulsó a venir aquí? ¿Por qué traje a mi hija a esta ciudad maldita? ¿Porque era uno de los pocos agujeros del mundo que me faltaba por conocer? Porque lo que deseo, en el fondo, es morirme? (2666: 252) Die tödliche Geographie Santa Teresas, von der im vorangegangenen Kapitel die Rede war, beschränkt sich keineswegs nur auf die allerärmsten barrios der Stadt, sondern wird auch von Mittelklässlern wie Amalfitano so wahrgenommen. Santa Teresa erscheint wie ein oder der Ort zum Sterben. So denkt auch Lalo Cura angesichts der scheinbar unendlichen Wüste, die Santa Teresa umgibt: Vivir en este desierto, pensó Lalo Cura mientras el coche conducido por Epifanio se alejaba del descampado, es como vivir en el mar. La frontera entre Sonora y Arizona es un grupo de islas fantasmales o encantadas. [...] El desierto es un mar interminable. Éste es un buen sitio para los peces, [...] no para los hombres. (2666: 698) Die Wüste als ein immenses Meer: In literaturhistorischer Perspektive ist dies keine neue Metapher, dennoch verdeutlicht die Metapher an dieser Stelle, dass die Wüste ein menschenfeindlicher Raum ist. Das sesshafte Menschengeschlecht gehört nicht hierher, höchstens bewegliche Fische, denn in der Wüste kann man keine Wurzeln schlagen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die Szenerie der Leichen, die Kulisse der gefundenen Körper, oft genug, neben peripheren barrios und Brachflächen, die Wüste Sonoras ist: La primera mujer muerta del año 1994 fue encontrada […] en un desvío de la carretera a Nogales, en medio del desierto. (2666: 499) 35 Oft werden die Leichen in der Wüste ‚entsorgt‘. Neben der urbanen und industriellen Müllhalde wird so auch die Wüste zum Abfallort, zum Friedhof des globalisierten Santa Teresa. Das nomadische, heimatlose Leben der Migranten endet bezeichnenderweise in der anonymen, menschenleeren, einsamen Wüste. Die Kadaver verwesen und verderben hier schnell, die Personen verlieren wörtlich und im übertragenen Sinne hier ihr Gesicht, ihre Identität, werden von zopilotes, Aasgeiern, den Boten des Todes, angefressen. Die Wüste, so heißt es an einer Stelle, umklammert Santa Teresa auf bedrohende Weise (2666: 716). Dies zeigt sich sinnbildlich anhand Amalfitanos verödetem und zerrüttetem Garten: Amalfitano […] volvió a salir al jardín devastado, donde todo era de color marrón claro, como si el desierto se hubiera instalado alrededor de su nueva casa (2666: 241) Die Wüste kesselt Santa Teresa ein und scheint punktuell durch, wird immer wieder sichtbar, arbeitet man nicht gegen sie an. Sand legt sich auf alle Bestrebungen der Domestikation, Sesshaftigkeit und Zivilisation40. Die Wüste verlängert sich bis in die Übergangsräume, also in die peripheren Gebiete der Stadt und erobert die Stadt zurück in ihren Zwischenräumen, also in Brachflächen und freien, leeren Feldern in der Stadt41, wodurch die Stadt zu einer Art Vorort der Wüste wird: En la plaza había seis árboles, uno en cada extremo y dos en el centro, tan cubiertos de polvo que parecían amarillos. (2666: 449) Ähnlich wie in Amalfitanos Garten ist auch bei dem Staub auf den Bäumen unklar, ob dies Wüstensand ist oder Industriestaub der maquiladoras. Zu unterscheiden sind diese beiden ‚Elemente‘ ohnehin nicht mehr. Industriestadt und Wüste gleichen sich einander immer mehr an. Die Industrialisierung produziert einen ähnlich ‚glatten Raum‘ wie die Wüste. Glatte Räume im Sinne von DELEUZE/GUATTARI (1980) stehen ‚gekerbten Räumen‘ gegenüber, Räumen der staatlich-institutionellen Organisation, der Kontrolle und Sesshaftigkeit, in denen alles verortbar und registrierbar ist, nichts verschwinden kann. Was den urbanen Raum klassischerweise charakterisiert, wird in der Industriestadt Santa Teresa zumindest in ihrer anarchischen Peripherie wieder aufgehoben, also wieder geglättet. Die Stadt konvergiert so in Richtung der Wüste und wird, ähnlich wie die Wüste, zu einem nicht kontrollierbaren, nicht domestizierbaren, nicht eingrenzbaren, nicht einnehmbaren Terrain. Der Sand verweht jede menschliche Spur. Santa Teresa wird zu einer urbanen Wüste, in der Subjekte zirkulieren, ohne Spuren zu hinterlassen, die aber dennoch die Stadt ständig neu gestalten, mutieren 40 41 Diese Beobachtungen in 2666 entsprechen im Übrigen wiederum der realen, ökologischen Beschaffenheit der Grenzregion: „a desert region impacted by a 100-year-old drought. […] Few would consider these ecological conditions suitable and hospitable for human settlements housing thousands of people throughout the borderland region“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 162). Dies scheint immer wieder durch: „The number of empty lots within colonias contributes to the accumulation of desert brush“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 154). Vgl. OLIVIER (2014: 369): „el desierto no solo se halla en los alrededores sino que se esparce en esas raras remanencias suyas que son los baldíos, las colonias inconclusas, los basureros salvajes y [...], los parques industriales“. 36 lassen ohne Institutionen, die dies steuern (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 601)42. Wüste und Stadt bzw. Industrie gehen also ineinander über, zum einen was ihre Eigenschaften angeht, zum anderen durch ihre unmittelbare räumliche Nähe, denn in den Ausläufen von Santa Teresa beginnt bereits die Wüste: „el desierto, que se extendía al otro lado de la carretera“ (2666: 639). Beide Orte, beide glatten Szenerien, werden wie bereits erwähnt zum Schauplatz der Verbrechen und Leichenfunde43. Nicht umsonst werden diese Fundorte von den Ermittlern Lalo Cura und Kessler aufgesucht, als ob die räumliche Beschaffung des Ortes das Motiv der Tat erkennen ließe, diese in irgendeiner Weise erklären würde oder gar der Raum die Tat bedingte bzw. die Frage des ‚warum‘ an die Frage des ‚wo‘ gebunden wäre (vgl. FARRED 2010: 700). Der Wüstenraum Santa Teresas erscheint paradigmatisch für das hier verübte Verbrechen und so wiederholen sich Taten nicht nur insofern in ihrer Struktur, als vielen Frauen die gleiche perfide Gewalt zugefügt wird, sondern auch in der ‚Wahl‘ des Tat- oder Entsorgungsortes: „en un baldío junto a la preparatoria Morelos, ya se había cometido un crimen“ (2666: 620). Einige Orte scheinen so prädestiniert für ein Verbrechen, dass diese beginnen, sich hier zu wiederholen. Neben der Wüste und den urbanen Flächen und Lücken, an denen die Wüste durchscheint, sind das auch die narcorranchos, die gegen Ende des vierten Teils immer wieder erwähnt werden. Diese „ranchos vacíos“ (2666: 751) oder „casas abandonadas“ (2666: 644), sind leerstehende (Bauern-)Häuser, die zu Orten der rituellen Gewalt und des Verbrechens werden, in denen oder in deren Nähe später viele Frauenkörper gefunden werden. All diese Räume sind Leerstellen, die jeglicher sinngebender Instanz entbehren oder diese unsichtbar machen, und werden zu Orten der Straflosigkeit und der Barbarei. Der leere Raum ist geprägt von einer Gottlosigkeit und Schutzlosigkeit, wie Amalfitanos Eindruck von Santa Teresa und Umgebung bestätigt: […] todo lo que había visto en el extrarradio de Santa Teresa y en la misma ciudad, imágenes sin asidero, imágenes que contenían en sí toda la orfandad del mundo, fragmentos, fragmentos. (2666: 265) Santa Teresa trägt in sich alle Verwaisung der Welt, die Stadt, das sind Fragmente der Haltlosigkeit. Diese emblematische Inszenierung Santa Teresas erinnert an einen mythischen Urzustand der Welt, wie er im Alten Testament geschildert wird: „Und die Erde war wüst und leer“ lautet der zweite Vers der Schöpfungsgeschichte44. Die extremen Auswirkungen der Globalisierung, in der weite Flächen des Globus dem globalen Kapitalismus zur Verfügung 42 43 44 Vgl. auch HARDT/NEGRI (2000: 329): „The breakdown of the institutions, the withering of civil society, and the decline of disciplinary society all involve a smoothing of the striation of modern social space“. Die Fundorte der feminicidios von Cd. Juárez weisen ähnliche räumliche Eigenschaften auf, vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 111): „Sus cadáveres persistían en aparecer en parajes desérticos o semidesérticos de la periferia de Ciudad Juárez. Siempre los mismos: Lote Bravo, Lomas de Poleo, Cerro Bola...“. Vgl. Genesis 1,2. Zitiert wird aus der Lutherbibel von 1912. 37 gestellt werden, führen dazu, dass die Leere und die Wüste die Welt wieder einzuholen scheinen. „[...] aquella ciudad levantada en medio de la nada“ (2666: 243) erfährt Widerstand durch die sie umgebende Wüstennatur, läuft Gefahr, von dem Nichts, auf dem sie gebaut ist, wieder vernichtet zu werden. Diese durch wirtschaftlichen ‚Fortschritt‘ drohende Rückkehr zu einem biblischen Urzustand ist das paradoxe Streben der Globalisierung, das Bolaño offenlegt und mit dem absurden Streben des baudelaire’schen Reisenden verbindet. Die ganze Welt wird durch menschengemachte Verwüstung zu einer monotonen Wüste oder ist längst eine monotone Wüste, die wir uns vielleicht weigern, als solche anzuerkennen und wahrzunehmen, die aber menschliche Bestrebungen immer wieder zunichte macht. Was sich hier in der Grenzregion verbildlicht, steht sinnbildlich für ganz Mexiko und für das Geheimnis der (globalisierten) Welt. „[L]a frontera, [...] ese territorio mítico entre Estados Unidos y México“ (BOLAÑO 2004: 147) ist der Ausdruck einer vereinsamten und verwaisten Welt. Trotz ihrer Spezifizität steht die Grenzregion paradigmatisch ein für den ganzen Planeten. Die Situierung Santa Teresas erscheint kontingent und ist dennoch metaphorisch. Santa Teresa wird dargestellt als in Raum und Subjekt, Geographie und Mensch völlig von der Globalisierung gezeichnet und wird so zur Metapher der Globalisierung selbst. Sie verdeutlicht die Verwüstung des Planeten durch ein bildliches apokalyptisches Szenario der globalen Barbarei. Globalisierung und Wüste gehen in 2666 eine Verbindung ein, deren Folge Monotonie und Homogenisierung sind. Dass diese mythische, leere Region der Romanwelt eine „geografía tan real como fantástica“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 86) zum Vorbild hat, macht sich auch in einem Gefühl der Irrealität (vgl. HERLINGHAUS 2013: 209) bemerkbar, wie Fate sie, schon wieder auf USamerikanischem Gebiet, hat: Al dejar atrás la frontera los pocos turistas que vieron por las calles de El Adobe parecían dormidos. Una mujer de unos setenta años, con un vestido floreado y zapatillas Nike, estaba arrodillada examinando unas alfombras indias. [...] Tres niños tomados de la mano contemplaban unos objetos que se exhibían en una vitrina. Los objetos se movían imperceptiblemente, pero Fate no pudo saber si eran animales o ingenios mecánicos. Junto a un bar unos tipos con pinta de chicanos y sombreros vaqueros gesticulaban e indicaban direcciones contrapuestas. Al final de la calle había unos galpones de madera y contenedores de metal en la acera y más allá estaba el desierto. Todo esto es como el sueño de otro, pensó Fate. (2666: 437) Die asymmetrische, geradezu absurde Realität der Grenze: die Mischung und extreme Nähe von US-amerikanischen Markenartikeln und indigenen, ‚exotistischen‘ Produkten; Tiere, die ebenso mechanische Objekte sein könnten; die Orientierungslosigkeit der Menschen in dieser Region, die alle in unterschiedliche Richtungen weisen; die Wüste im Hintergrund – all dies lässt in Fate das Gefühl entstehen, dass nicht er es ist, der diese Dinge wahrnimmt, sondern jemand anders. Diese verschobene Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf den Betrachter, sondern auch auf das Objekt der Betrachtung und auf den Ort, an dem all dies wahrgenommen wird. Ein Ort, der dieser ist, aber ebenso ein anderer sein könnte. 38 3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT 3.1 MOBILISIERUNG UND ENTPERSONALISIERUNG ALS WIEDERKEHRENDE MOMENTE DER GESCHICHTE Nach der Charakterisierung eines globalisierten Santa Teresa, in dem sich sinnbildlich die Verwüstung des Planeten kristallisiert, stellt sich die Frage, inwiefern die Tendenzen der Globalisierung, die sich hier lokal artikulieren, von globaler Dimension für die in 2666 konstruierte Welt sind. Die Paradigmatik des von der Globalisierung betroffenen Falls Mexiko gilt insbesondere für den heutigen sog. ‚Globalen Süden‘ und somit für ehemalige Kolonien, die im vergangenen Jahrhundert ‚Opfer‘ der Strukturanpassungsprogramme wurden. 2666 baut aber, neben dieser historisch evidenten Verbindungslinie, noch andere Querverbindungen auf, die eher indirekter Natur sind, die Globalität von 2666 aber in bedeutender Weise mit bestimmen. Wir wollen diese nun genauer untersuchen. Um dabei auch die Gliederung dieser Arbeit weiterhin nachvollziehbar zu machen, sei vorab erwähnt, wie sich das folgende Kapitel 3 gestaltet. Die beiden subjektbezogenen Kapitel 2.1 und 2.2 laufen zusammen in diesem Kapitel 3.1, das die Aspekte Mobilisierung bzw. Deterritorialisierung und Entindividualisierung bzw. Entpersonalisierung, die in Santa Teresa bereits deutlich wurden, anhand des in 2666 entworfenen historischen Panoramas in ergänzender Weise wieder aufnimmt. In Kapitel 3.2 sollen die in Kapitel 2.3 und 2.4 thematisierten räumlichen Paradigma anhand des globalen Raums aktualisiert werden: Inwiefern finden sich auch an anderen Orten, die parallel zu Santa Teresa konfiguriert werden, ähnliche Strukturen der Gewalt und Verwüstung? Wenn Globalität also eine bestimmte, historisch aktualisierbare Auffassung vom Zustand der Welt ist, dann findet sich in 2666 ebenso sehr eine kritische Auseinandersetzung mit ebendieser Globalität, der wir uns in Kapitel 3.3 widmen wollen. Die oftmals wichtige Rolle von Fiktionen und Narrativen in dieser Globalität wurde bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit betont; vor diesem Hintergrund wäre es undenkbar, wenn man nicht auf die Darstellungsweise von 2666 selbst eingehen würde und auf ihre Implikationen für die Globalität von 2666. Diesen Versuch wollen wir in Kapitel 3.4 unternehmen. Ist der Kolonialismus der Ursprung der globalen Gewalt? Die postkoloniale Perspektive von MIGNOLO, die in Kapitel 1.3 besprochen wurde, scheint dies zu vermitteln. Wie aber positioniert sich 2666 dazu? An einer Stelle wird eine Analogie zwischen den Frauenvergewaltigungen in den 1990er Jahren und den Massenvergewaltigungen der indigenen Frauen auf heutigem mexikanischem Gebiet durch die spanischen Kolonialherren geschaffen (vgl. 2666: 365). Vergewaltigung behauptet sich als historische Konstante, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit und dem Beginn der Mestizengesellschaft zu haben scheint. Auch in der Genealogie des Polizisten Lalo Cura, eine sich über sechs Generationen erstreckende Vergewaltigungskette, beginnt die erste 39 Vergewaltigung im Jahre 1865 durch einen Ausländer, einen belgischen Soldaten, welcher die Kette von Gewalttaten einleitet (vgl. 2666: 693). Ähnlich wie in Gabriel GARCÍA MÁRQUEZ‘ Roman Cien años de soledad (1967) fungiert die Familiengenealogie hier als generelle Allegorie auf die Nationalgeschichte (vgl. VALDIVIA 2013: 463). Während in Cien años de soledad die zu beobachtende Gewalt aber klar eine neoliberale bzw. neokoloniale ist (bzw. diese beiden nicht mehr zu trennen sind) und sich auf die koloniale Ursprungsgewalt zurückführen lässt, die der Dynamik von Ausbeuter und Ausgebeutetem gehorcht, sind die Rollen in 2666 nicht mehr so eindeutig verteilt. Die Komplexität der Gewalt verdichtet sich am Grenzraum USA/Mexiko, wo mehrere Akteure auf undurchsichtige Weise agieren (vgl. VALDIVIA 2013: 465), und wo außerdem nicht aus einer Nationalperspektive erzählt wird. Aus diesem Grund ist auch der Versuch, Bolaño für die postcolonial theory zu ‚gewinnen‘, wie es beispielsweise BALKAN (2010, 2013) und FARRED (2010) tun, nicht fruchtbar. Kolonialismus ist in 2666 ein Aspekt unter vielen45, jedoch nicht der alles determinierende Faktor wie in Cien años de soledad. Sehr viel auffälliger sind die in 2666 geflochtenen Verbindungen und Analogien von historischen Situationen, deren Zusammenhang auf den ersten Blick nicht evident erscheint (vgl. ELMORE 2008: 265; FARRED 2010: 690). Dabei sind es insbesondere der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, die von Bolaño immer wieder als indirekte historische Wegbereiter der Geschehnisse in Santa Teresa ins Feld geführt werden. Das ist nicht erst in 2666 der Fall: In El Tercer Reich (2010) beispielsweise wird die Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs als eine den Globus modifizierende Kraft spielerisch verhandelt und das Dritte Reich fast schon verschwörungstheoretisch oder mythifizierend als „phantasmatischer Ursprung jeder Gewalt“ (DÜNNE/HANSEN 2014: 271) gesehen, dessen Totalitarismus sich im Lateinamerika der Militärdiktaturen wiederholt. In 2666 werden, insbesondere durch die Juxtaposition des vierten und des fünften Teils, zwischen dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) und dem globalen Kapitalismus der 1990er Jahre Parallelen gezogen, deren gemeinsame Strukturen wir uns im Folgenden näher ansehen wollen46. Mobilität behauptet sich in 2666 als Konstante in der Menschheitsgeschichte. So sind nicht nur in der Gegenwart die vier Kritiker aus dem ersten Teil überaus mobil47, ebenso wie 45 46 47 So werden an verschiedenen Stellen Kolonialismus-Episoden collagenartig oder als Zitate eingearbeitet. Der Afroamerikaner Fate liest zur Sklavengeschichte (vgl. 2666: 334f.); Amalfitano zur Kolonialgeschichte Chiles, gleichbedeutend mit dem Ende des bis dato genutzten Kommunikationsmittels der Telepathie (vgl. 2666: 276-287). Auch DELEUZE/GUATTARI (1980: 582) sprechen von den Analogien von Kapitalismus und Krieg, die beide zunehmend zu Materialkämpfen werden: „[…] la guerre suit évidemment le même mouvement que celui du capitalisme: de même que le capital constant croît proportionnellement, la guerre devient de plus en plus ‘guerre de matériel’, où l’homme ne représente même plus un capital variable d’assujettissement, mais un pur élément d’asservissement machinique“. Mit Ausnahme von Morini, der an den Rollstuhl gefesselt ist, aber genau darunter auch zu leiden hat. Seine erzwungene Immobilität verrät viel über die Mobilität, die in der gegenwärtigen europäischen Identität dazugehört: Nachdem sein Arzt ihm von der Reise nach Mexiko abrät, verfällt er in substanzbedrohende Resignation: „su propia imagen […] se iba diluyendo de forma gradual e incontenible, como un río que deja de ser río o como un árbol que se quema en el horizonte sin saber que se está quemando“ (2666: 145). Man denke auch an den General Entrescu und seine Aussage: „lo 40 Amalfitano und Fate, es wird auch auf verschiedene Momente der Migration in der Geschichte verwiesen, beispielsweise auf die Migration nach Buenos Aires Ende der 1920er Jahre (vgl. 2666: 36) oder am Beginn des fünften Teils auf das Ende des Ersten Weltkriegs, das Hans Reiters Vater von einem Ort in den nächsten katapultiert. Neben diesen kürzeren Passagen wird im fünften Teil immer wieder der Vormarsch der militärischen Divisionen im Zweiten Weltkrieg (z.B. Reiters Division, vgl. 2666: 835) beschrieben, die den Raum einnehmen, ihn kerben und gleichzeitig glätten, da sie die Bewohner der Ortschaften deterritorialisieren, indem sie sie vertreiben oder zur Flucht zwingen. Der Zweite Weltkrieg erscheint in der Globalität von 2666 wie der Beginn der erzwungenen Massenmobilität. So ist die Rede von „campesinos que se movían constantemente“ (2666: 846) und entleerten, verlassenen Dörfern als Folge davon, wie z.B. in dem fiktiven und für Hans Reiters Biographie wichtigen Dorf Kostekino am Dnepr: La mayor parte de las casas estaban abandonadas, según algunos porque los aldeanos habían huido ante la irrupción del ejército alemán, según otros porque el ejército rojo los había enrolado a fuerza. [...] Una noche, [...] Reiter escuchó una versión distinta: los aldeanos ni habían sido enrolados a la fuerza ni habían huido. El despoblamiento era consecuencia directa del paso por Kostekino de un destacamento del Einsatzgruppe C, los cuales procedieron a eliminar físicamente a todos los judíos de la aldea. (2666: 882) Weshalb Kostekino keine Einwohner mehr hat, wird auf verschiedene Möglichkeiten zurückgeführt. Geographisch eingekesselt zwischen Wehrmacht und Roter Armee, sind die hauptsächlich jüdischen Einwohner entweder geflohen oder vom eigenen Heer eingezogen worden. Die dritte Möglichkeit ist, dass die Bewohner des wahrscheinlich ukrainischen Dorfes Kostekino einer der Einsatzgruppen Hitlers unter der Führung Heinrich Himmlers zum Opfer fielen, jener ‚Sondereinheiten‘, die mobil oder stationär für die Vernichtung von Juden, Roma, Kommunisten und anderen vom Nationalsozialismus Verfolgten insbesondere in den osteuropäischen Ländern eingesetzt wurden48. Fest steht, dass von den ursprünglichen Bewohnern Kostekinos, darunter Borís Ansky, jedes Lebenszeichen fehlt. Der Krieg selber wird als ein hoch technologisierter, schwer bewaffneter Kampf beschrieben, so dass der Wehrmachtssoldat Hans Reiter vollkommen überrascht ist, als er Opfer einer Attacke durch Faustschläge eines polnischen Soldaten wird: Nie hatte er sich eine solche direkte Konfrontation ‚von Mann zu Mann‘ vorgestellt, immer nur medial kanalisierte Angriffe mit einer Waffe (vgl. 2666: 836f.). Diese im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlichen Dimensionen des Krieges sind tatsächlich nur dann realisierbar, wenn die schlichte Begegnung von Angesicht und Angesicht nicht mehr stattfindet. Die Entmenschlichung wird auch deutlich anhand der florierenden nervösen Krankheiten und der vielen Soldaten, die durch die Ausmaße des Krieges und der Vernichtung wahnsinnig werden. 48 importante era moverse, la dinámica del movimiento, lo que equiparaba a los hombres y a todos los seres vivos“ (2666: 850f.). Die Einsatzgruppe C operierte in der nördlichen und mittleren Ukraine (vgl. Abbildung 3 im Anhang). 41 Borís Anskys Tagebücher, die Reiter in einem Versteck im Kaminsims des Hauses in Kostekino findet, machen den Soldaten Hans Reiter bekanntlich zum Schriftsteller Archimboldi. An diesem Schlüsselpunkt in Reiters Biographie wird dieser endgültig zum Deserteur, da ihm bewusst wird, dass der Jude Ansky, von dem jede Spur fehlt, theoretisch von ihm hätte getötet werden können: [...] vio a Ansky en sueños. Lo vio caminar por el campo, de noche, convertido en una persona sin nombre, que dirigía sus pasos hacia el oeste, y también lo vio morir a balazos. Durante varios días Reiter pensó que había sido él quién le había disparado a Ansky. Por las noches tenía pesadillas horribles que lo despertaban y lo hacían llorar. [...] Una noche soñó que volvía a estar en Crimea. [...] Disparaba su fusil en medio de múltiples humaredas que brotaban aquí y allá como géiyseres [sic]. Después se ponía a caminar y encontraba a un soldado del ejército rojo muerto, boca abajo, con un arma todavía en la mano. Al inclinarse para darle la vuelta y verle el rostro temía [...] que aquel cadáver tuviera el rostro de Ansky. Al coger el cadáver por la guerrera, pensaba: no, no, no, no quiero cargar con este peso, quiero que Ansky viva, no quiero que muera, no quiero ser yo el asesino, aunque haya sido sin querer, aunque haya sido accidentalmente, aunque haya sido sin darme cuenta. (2666: 921f.) Reiter träumt, wie Ansky sich als Soldat der Roten Armee durch die Kriegslandschaft bewegt und in der immensen dunklen Szenerie zu einer namenlosen Person wird, die er zufällig, geradezu unbemerkt, ohne sich darüber bewusst zu werden und ohne es zu wollen, hätte töten können oder tatsächlich getötet hat. Ausgerechnet diese Ziel- und Absichtslosigkeit, die anonyme Masse an Gegnern ohne Gesichter oder ohne identifizierbare Gesichter (und Reiter weiß dabei nicht einmal, wie Anskys Gesicht aussieht) steht in fundamentalem Widerspruch zum einzigartigen Wesen und reichen Innenleben Anskys, dem Reiter durch die Lektüre seiner Tagebücher begegnet und welches Reiter von seinem Wunsch zu sterben abbringt. Das ist der reale Albtraum eines Krieges, der das Menschsein ausschaltet, Menschen bzw. Körpern ihre Identität nimmt und Soldaten dazu zwingt, eben dieses Menschliche auszuschalten, um den Befehlen zu gehorchen und die Masse an Tötungen vorzunehmen. Die Entpersonalisierung des Todes im Krieg wird auch am folgenden Zitat deutlich: Reiter adquirió la costumbre de contemplar a los muertos como quien contempla una parcela en venta o una finca o una casa de campo y luego registrar sus bolsillos por si tenían algo de comida guardada. (2666: 923) Die unbekannten, fremden Leichen werden wie zum Teil der Landschaft oder des Bodens. Sie werden zu reiner Materie ohne Gesicht oder Identität, zu letzten Quellen der Nützlichkeit. Reiter betrachtet sie wie leblose Objekte. In seiner Indifferenz werden sie zu unbedeutenden Gegenständen, die nach und nach verschwinden. Wie aber ist das Töten, das das Menschliche zu übersteigen scheint, organisatorisch möglich? Welches System verbirgt sich hinter der Vernichtung? Im fünften Teil wird die Binnenerzählung des eichmannartigen Funktionärs Sammer alias Zeller eingeschaltet (vgl. 2666: 938-960), der erzählt, wie ihm, der eigentlich in einem polnischen Dorf Arbeitskräfte für die Fabriken des Deutschen Reichs bereitstellt, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges plötzlich und unerwartet eine Gruppe von rund 500 osteuropäischen Juden untersteht. Der Zug, in dem sie ankommen, soll eigentlich nach Auschwitz fahren und kommt fälschlicherweise bei ihm an. 42 Sammer ist von seinem neuen, ungeplanten und nicht eindeutigen ‚Befehl‘, der außerhalb seines eigentlichen Aufgabenbereichs liegt, überfordert, da er sonst nicht mit der ‚Handhabung‘ von Juden betraut ist. So tut sich plötzlich eine Leerstelle im System auf, über die Sammer sich mit dem Bürgermeister Tippelkirsch berät: –¿Cómo vamos a devolverlos? –dije–. ¿Tengo acaso un tren a mi disposición? ¿Y en caso de tenerlo: no debería ocuparlo en algo más productivo? El alcalde sufrió una especie de espasmo y se encogió de hombros. –Póngalos a trabajar –dijo. –¿Y quién los alimenta? ¿La administración? No, señor Tippelkirsch, he repasado todas las posibilidades y sólo hay una viable: delegarlos a otro organismo. –¿Y si, de forma provisional, le prestáramos a cada campesino de nuestra región un par de judíos, no sería una buena idea? –dijo el señor Tippelkirsch–. Al menos hasta que se nos ocurriera qué hacer con ellos. Lo miré a los ojos y bajé la voz: –Eso va contra la ley y usted lo sabe –le dije. –Bien –dijo él–, yo lo sé, usted también lo sabe, sin embargo nuestra situación no es buena y no nos vendría mal un poco de ayuda, no creo que los campesinos protestaran – dijo. –No, ni pensarlo –dije yo. (2666: 945) Für den überaus der Bürokratie verpflichteten Sammer steht fest, dass er, der sich für diese Angelegenheit nicht zuständig fühlt, sich der Aufgabe möglichst schnell wieder entledigen möchte und die Gruppe von Juden am besten einer anderen Behörde übergibt oder zurückgibt – höchstwahrscheinlich, und er muss sich dessen bewusst sein, zu ihrer Vernichtung. Bei diesem Grenzfall im System möchte Sammer sicher gehen, alles richtig zu machen und bloß gegen kein Gesetz zu verstoßen, das ist ihm das Wichtigste. Gerade in dieser „bürokratischen Sackgasse“ (vgl. ANDREWS 2014: 163) aber hätte er Handlungsspielraum und könnte so das Leben der Juden retten, in Form des Vorschlags von Tippelkirsch, doch der innere Zwang, ‚korrekt‘, also dem Recht und der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend zu handeln, sind ihm wichtiger als Menschenleben, zumindest das Menschenleben der homines sacri der Nazi-Ideologie, den Juden. Er denkt dabei gar nicht an die Menschen hinter der Bezeichnung ‚Juden‘, ja er muss das Menschliche an ihnen ausblenden, um ‚produktiv‘ zu denken, die vorgegebene Ordnung zu realisieren und die Ziele des Krieges zu vertreten. Interessant ist, dass er dabei überaus kühl wirkt, während Tippelkirsch, der eine relativ humane Möglichkeit vorschlägt, gesundheitlich am Abgrund steht. Die Juden, deren Nationalität im Übrigen unklar bleibt, sind lebendige Überbleibsel eines Systems und werden in der Sammer-Episode wie unproduktive Reste behandelt, denen jedes Menschsein abgesprochen wird. Aus diversen Telefonaten, die Sammer führt, geht hervor, dass niemand sich für die Juden ‚verantwortlich‘ fühlt und so wird Sammer schließlich unmissverständlich aufgetragen, sie selbst zu vernichten. Dieser rechtfertigt sich später gegenüber Reiter damit, dass er die Juden nicht eigenhändig umgebracht hätte, sondern Andere damit beauftragte. Gerade diese Aussage entschuldigt ihn aber nicht, sondern macht seine Schuld noch viel gravierender, da er die Last und Entfremdung für die menschliche Psyche und Physis durch die Ideologie, die mit der massenhaften Vernichtung einhergehen, an Andere delegiert. Die von ihm Beauftragten 43 geben nach ca. 300 Tötungen auf, da sie körperlich zu erschöpft von der ‚Aktion‘ sind. Es wird klar, dass Verbrechen in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit das Menschliche übersteigen und nur dann möglich sind, wenn der Mensch sich auf Maschinen und mediale Zwischenschübe verlässt und eine direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht vermieden wird. Die Sammer-Episode demonstriert, wie wirkungsvoll Narrative der Produktivität und Ordnung sein können, so sehr, dass Menschen andere Gruppen von Menschen nach dem Grad ihres Nutzens und ihrer Produktivität beurteilen, ihnen das Menschsein abgesprochen wird und sie so zu namenlosen Objekten werden. Sammer ist Handlanger dieses Systems, das in diesem Punkt strukturelle Ähnlichkeiten zum globalen Kapitalismus, wie er sich in Santa Teresa artikuliert, aufweist und gibt somit dem System, nach dem die anonymen maquiladoras in Santa Teresa operieren, ein Gesicht. Auch hier sind die maquiladora-Arbeiterinnen eine segregierte und marginalisierte Gruppe von Menschen, die auf ihre Produktivität reduziert werden und denen darüber hinaus kein allgemeiner oder individueller menschlicher Wert in der gegenwärtigen Gesellschaft zugesprochen wird. Demnach werden sie nicht geschützt und verfallen spätestens im Tod der endgültigen Wertlosigkeit und sind nur noch körperliche Masse. Die Schilderung der Entvölkerung in der Kriegslandschaft der Ukraine der 1940er Jahre im fünften Teil, die casas abandonadas in Kostekino, vervollständigen zudem das Bild der Romanwelt, das im vierten Teil insbesondere die Ankunftsorte und Zielstationen der Migranten zeigt, ihre Herkunftsorte in den zentralen und südlichen Bundesländern Mexikos aber außen vor ließ. Die zentrale Leerstelle der Täter im vierten Teil wird zwar im fünften Teil nicht explizit gefüllt, dennoch lässt die Sammer-Episode erkennen, wie Menschen im Sinne eines unmenschlichen Systems agieren können bzw. die Ausführung an andere Menschen oder Maschinen delegieren. Die Globalität von 2666 und dabei insbesondere die Puzzlestücke des vierten und fünften Teils suggerieren also, dass in der dargestellten Welt Sammer bzw. das System, für das er steht, der symbolische Täter der Frauenmorde in Santa Teresa sein könnte. Über Entmenschlichung, Produktivitätswahn und die Verbindung von Produktion und Vernichtung wird zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Globalisierung in Santa Teresa die wohl auffälligste globale Gewaltlinie in 2666 gezogen. Die Frage, ob der Zweite Weltkrieg wirklich der ‚Ursprung‘ jeder Gewalt ist oder ob sich hier etwas kristallisiert oder reproduziert, was schon vorher vorhanden war, beantwortet dabei weder der Text noch sein Kontext. Es scheint aber, dass die analogen Strukturen der dargestellten Gewalt Konstanten der Menschheitsgeschichte sind, die zu jeder Zeit an jedem Ort stattfinden und wiederkehren, sich ständig aktualisieren können, sei es im Mexiko der Kolonialzeit oder der 1990er Jahre, im Polen oder der Ukraine der 1940er Jahre oder auch schon in der Antike: „los griegos […] vieron el mal que todos llevamos dentro […] Usted dirá: todo cambia. Por supuesto, todo cambia, pero los arquetipos del crimen no cambian, de la misma manera que nuestra naturaleza tampoco 44 cambia“ (2666: 338). Dass die Globalität von 2666 nicht nationalhistorisch ausgerichtet ist, sondern allgemein globalgeschichtlich, machen auch die weiteren in 2666 erwähnten Analogien in der Geschichte und auf dem Globus deutlich. So wird von einem Land im Nahen Osten gesagt: „En este país desaparecen miles de personas cada año y nadie intenta encontrarlos“ (2666: 371). Oder über die Toten während der Pariser Kommune von 1871, über die niemand eine Träne vergoss, da sie sich „en los extramuros de la sociedad“ (2666: 338) befanden und daher nicht zur Gesellschaft dazugehörten. Die vielen namenlosen Toten erinnern an die anonymen Frauenleichen in Santa Teresa. Die Delegation des menschlichen Lebens an die Bürokratie und an die Maschine, die Invisibilisierung des Todes und Verbannung des Körperlichen aus dem Leben, deren logische Folge die Abwesenheit des Leichnams bedeutet, wiederholen und steigern sich darüber hinaus im ‚Zukunftsszenario‘ Santa Teresas, die USA der 1990er Jahre, exemplarisch am Tod von Fates Mutter: [...] acordaron que su madre sería incinerada y que la ceremonia, si todo marchaba por los cauces normales, tendría lugar al día siguiente, en la funeraria, a las 7 de la tarde. A las 7.45 todo habría acabado. [...] Después el señor Lawrence abordó delicadamente el asunto económico. (2666: 297) 3.2 PARALLELE ORTE DER GEWALT UND VERWÜSTUNG „Todas las ciudades son parecidas“, behauptet Lola Amalfitano (2666: 218). Im Folgenden wollen wir uns ansehen, wie die räumlichen Paradigma, die in Kapitel 2.3 und 2.4 in Bezug auf Santa Teresa formuliert wurden, sich an anderen Orten der im Roman dargestellten Welt wiederholen, aktualisieren oder ergänzen. Im vorangegangenen Kapitel wurde durch die Figur der Wiederholung insbesondere ein Fokus auf die Zeit gelegt bzw. auf die Diachronie. In diesem Kapitel werden die zu besprechenden Analogien, die 2666 eröffnet, eher über die Technik der Parallelisierung geschaffen, also einer räumlichen Figur, in der Punkte an verschiedenen Orten der Welt sich einander annähern bezüglich der an ihnen geschehenden menschlichen Praktiken oder auch nur in einer ähnlichen Beschaffenheit des Bodens. Parallelisierung kommt zum einen über die homogenisierenden Tendenzen und Praktiken der Globalisierung zustande, die zu einer monotonen Geographie der Globalisierung und des Kapitals führen, aber nicht erst – wie in „Le voyage“ sichtbar – seit der Globalisierung bestehen. Zum anderen kann diese Globalität nur geschaffen werden über eine bestimmte Betrachtungsweise des Subjekts, d.h. der Figuren in der Romanwelt. Santa Teresa werden auf dem ganzen Globus Zwillingsstädte zugeschrieben. An einer Stelle ist die Rede von „la gran ciudad que no dormía nunca“ (2666: 519), aber hier ist nicht New York gemeint, sondern Santa Teresa. Neben dieser relativ positiv konnotierten Analogie gibt es aber auch negativere. Die vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete und auf der Halbinsel Krim liegende Stadt Sewastopol wird ähnlich wie das Santa Teresa der 1990er Jahre beschrieben: 45 En las inmediaciones de la ciudad, junto a las trincheras rusas, se hacinaban los cuerpos destrozados de los soldados alemanes y rumanos. [...] La ciudad, a lo lejos, era una mole negra con bocas rojas que se abrían y se cerraban. Los soldados la llamaban la trituradora de huesos [...] (2666: 880) Sewastopol erscheint wie ein Moloch, der Menschenleben verschlingt, Tote produziert und sichtbar macht. Die Stadt gleicht einem Friedhof von Kriegsopfern und toten Soldaten, ähnlich wie Santa Teresa, wo ebenso in der Peripherie (Frauen-)Leichen gefunden werden und überaus sichtbar sind. Auch andere reale Städte der Gegenwart werden, wenn auch weniger ausführlich, parallel zu Santa Teresa konstruiert. So ist die Rede von „los campos oscuros y [... las] carreteras solitarias y los respectivos e interminables suburbios que rodeaban París y Madrid“ (2666: 62). Die nie endende Peripherie gibt es nicht nur in Santa Teresa, sondern auch in anderen ‚modernen‘ Städten, wo sie in solitäre Felder und glatte Räume übergeht. Die Wahl des Adjektivs respectivos impliziert auch, dass die jeweiligen Auswüchse der einzelnen Städte analog zu denken sind. Urbanisierung erscheint als paradigmatisches Produkt der Globalisierung und der globalen Kapitalakkumulation. Ebenso in der Passage, die Thessaloniki beschreibt: [...] se podía apreciar un cerro pelado, de color marrón amarillento, y un edificio de oficinas coronado por el anuncio comercial de una inmobiliaria que ofrecía chalets en una zona presumiblemente próxima a Salónica. La urbanización (aún no construida) ostentaba el nombre de Residencias Apolo (2666: 55) Das hier beschriebene Stadtbild Thessalonikis erinnert stark an das Erscheinungsbild Santa Teresas, wo Brachflächen der Bebauung und dem Kommerz zur Verfügung gestellt werden und die Stadt durch Industrialisierung immer weiter wächst. Das einzige örtliche Spezifikum ist der kommerzielle Name der angekündigten Wohnungen, Apoll, der dem Wohnbaugebiet, das theoretisch in jedem industrialisierten Land auf der Erde so stehen könnte, ein authentisches Lokalkolorit verleihen soll. Die Beschreibung der europäischen Städte der Gegenwart macht die Tendenzen der Angleichung der Globalisierung sichtbar. Ebenso wie die Orte selbst scheinen sich auch die sich hier abspielenden Gewalttaten auf geradezu unheimliche Weise einander anzugleichen, ja anzunähern. So wiederholt sich die Episode, in der Pelletier und Espinoza einen Taxifahrer in London zusammenschlagen und derer Liz Norton Zeugin wird, kurze Zeit später mit anderen Akteuren in ähnlicher Weise für Norton, die die Szene aus ihrem Hotelfenster betrachtet, in Mexiko-Stadt, wo diese Gewalt bereits als Normalität oder Routine bezeichnet wird (vgl. 2666: 103-110; 147f.). Die Gewalt, die alle Menschen heimsuchen kann, selbst die gebildeten und europäischen Literaturwissenschaftler Pelletier und Espinoza im 20. Jahrhundert, stellt hier das Bindeglied der Globalität von 2666 dar. Die Komposition des Romans lässt Norton zwei Gewaltakte an verschiedenen Punkten der Welt direkt hintereinander miterleben: Die Romanwelt wird durch diese universalen Gewalttaten zusammengezogen. Dass die Weltkomposition von 2666 eine entscheidende Leerstelle lässt, wurde bereits erwähnt: Die Täter oder Mörder der feminicidios von Santa Teresa bleiben weitestgehend 46 ausgespart, es gibt keine endgültige Aufklärung der Morde (vgl. LÜCKE 2011: 46). Damit verpflichtet Bolaño sich zum einen dem Realismus, denn auch in der Realität wurden die Frauenmorde von Ciudad Juárez bekanntlich nicht aufgeklärt (vgl. ANDREWS 2014: 167). Bolaños englischer Übersetzer Chris ANDREWS betont aber, dass die Leerstellen, die „gaps“ in Bolaños Erzählung bewusst offen gehalten werden: „to answer them would be to shut down a motor of writerly invention and dry up a source of readerly curiosity“ (ANDREWS 2014: 169). Für Andrews sind die Lücken konstituierend für Bolaños Schreibweise und machen die Spannung seiner Texte aus, sie sind nicht nur realistisch, sondern auch strategisch. Das würde bedeuten, dass das secreto del mundo eben ein Geheimnis bleiben soll (vgl. ANDREWS 2011; ESPINOZA 2006) und dass der Leser zwar darüber rätseln darf, der Text aber keine Lüftung des Geheimnisses bietet. Die Aussage, dass sich in Santa Teresa das Geheimnis der Welt verberge, wäre somit keine analytische, sondern eine mythifizierende, eine das Weltgeschehen enthüllende und zugleich verklärende Aussage (vgl. LÜCKE 2011: 50; 52). Diese strategische Verdunklung (vgl. ELMORE 2008: 289) ist zweifelsohne Bestandteil von Bolaños Erzähltechnik und seiner Romanwelt. Verweilt man aber bei der Feststellung dieser Leerstelle und beharrt man auf der Unlogik der Gewalt, befindet man sich in perfektem Einvernehmen mit der Scheininstitution der Polizei in Santa Teresa: „el judicial le dijo que no intentara buscarles una explicación lógica a los crímenes“ (2666: 701). Die Zusammenhänge, auf die 2666 verweist, ohne sie je ganz aufzudecken, sind komplex. Guadalupe Roncal erzählt Fate von einem Journalisten, ihrem Vorgänger, der nach sieben Jahren schließlich die Machenschaften hinter den Frauenmorden durchschaut hatte und alles verstand, als Bestätigung für sein Wissen aber umgebracht wurde (vgl. 2666: 378). Im letzten Kapitel haben wir bereits darüber gesprochen, wie das lückenhafte Bild im vierten Teil, seine ‚dunklen Flecken‘, durch die Charakterisierung eines Mörders in Form von Sammer sowie durch die Schilderung der verlassenen Heimat der Vertriebenen im fünften Teil zunehmend komplettiert wird. Diese ‚ergänzende Technik‘ ergibt sich maßgeblich aus dem vierten und fünften Teil, da der fünfte Teil die Leerstellen des vierten Teils implizit schließt49. Eine weitere entscheidende Ergänzung betrifft die Beschreibung der räumlichen Bedingungen des Verbrechens. In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde insbesondere auf die Fundorte von Leichen Bezug genommen, da durch die Aussparung des Vorgangs des Frauenmordes selbst im vierten Teil der Tatort meist unbekannt bleibt, der nicht der Fundort sein muss. Wiederum bietet die Sammer-Episode ergänzende Parallelen, indem sie Einblick in die im vierten Teil fehlende Täterperspektive gibt: Nachdem ihm aufgetragen wird, die Juden selbsttätig zu vernichten, ist Sammer auf der Suche nach einem ‚idealen‘ Ort der Vernichtung, nach einem Tatort, und so lässt er sich eine Stunde lang durch die Peripherie des polnischen Dorfes fahren: El chofer nos condujo hacia las afueras del pueblo. Durante una hora estuvimos dando vueltas por carreteras comarcales y antiguos senderos de carromatos. […] A unos quince 49 Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 208): Der vierte und fünfte Teil spiegeln einander. 47 kilómetros del pueblo había una hondonada [...] Era un sitio apartado, lleno de pinos, de tierra oscura. [...] El sitio no estaba alejado de la carretera. (2666: 951) Die Suche nach einer geeigneten Niederung ist schließlich erfolgreich. Interessant ist, dass der anvisierte Ort zum einen abgeschieden und isoliert ist, zum anderen direkt angebunden an die Fahrbahn. Diese räumlichen Bedingungen werden auch von den Tätern in Santa Teresa gewählt, wo die Wüste direkt hinter der Autobahn beginnt. In der Wüste Sonoras verweht der Sand dabei die menschlichen Spuren; in Polen bedeckt der Schnee die bereits gefüllten Gräber: La nieve había borrado el más mínimo rastro de los judíos. [...] parecía que en el fondo de la hondonada ya no había sitio para nada más. Sin embargo, al final [...e]ncontramos un lugar vacío (2666: 955f.) Die Suche nach einem Vernichtungsort ist die Suche nach einem leeren Ort, d.h. einem von Menschen nicht genutzten oder bebauten Terrain. Doch während in Santa Teresa, wo der Wüstenwind die Leichen verwesen und schnell verschwinden lässt, die geographischen Bedingungen den Tätern zuträglich sind, ist der die menschlichen Spuren verbergende Schnee in Polen ein Hindernis für das Unterfangen, da die leeren Stellen nicht mehr als solche zu erkennen sind und die noch zu folgenden ‚Begräbnisse‘ somit erschwert werden. Das über Nacht geschaffene Grab scheint voll zu sein und die Natur macht dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung, leistet Widerstand gegen ihre Nutzung. Die Schneelandschaft ist ein glatter Raum nach DELEUZE/GUATTARI, da der Mensch ihn sich nicht zu Eigen machen kann. Während man sich im vierten Teil fragt, wer all die Frauenleichen auf den Brachflächen der Stadt oder in der Wüste ‚verteilt‘, und mit den immer gleichen, analogen Strukturen und Spuren der Gewalt zurücklässt, wird der Leser hier Zeuge einer strategischen (wenn auch nicht gelingenden) Planung der monotonen Massenvernichtung. Auch wenn bei den feminicidios in Santa Teresa nie endgültig geklärt wird, ob es sich um eine verantwortliche Person à la Sammer oder ein Kollektiv oder einzelne Individuen oder Imitationstäter (sog. copycats) handelt, so inszeniert die Gesamtkomposition des Romans über Analogien doch das Massengrab in der polnischen Schneelandschaft als einen komplementären Pol zu den ‚Gräbern‘ in der mexikanischen Wüste, die aber nur noch nach vollendeter Tat aus der aus der Perspektive der Ermittler gefunden werden. Welches Zukunftsszenario erwartet Santa Teresa? Auch dafür gibt es in 2666 Visionen. Fate reist noch vor seiner Reise nach Santa Teresa nach Detroit, der brachliegenden Industrieregion: El barrio parecía un barrio de jubilados de la Ford y de la General Motors. Mientras caminaba iba mirando los edificios, de cinco o seis pisos, y sólo veía a viejos sentados en las escaleras o fumando acodados en las ventanas. [...] El bar estaba junto a un lote baldío lleno de malezas y de flores silvestres que ocultaban los cascotes del edificio que se levantaba allí. (2666: 306f.) In Detroit, dem ehemaligen Standort der Autoindustrie, hat sich die vormalige Geschäftstüchtigkeit in die Lethargie ehemaliger Arbeiter verwandelt. Die Natur holt sich in den brachliegenden Flächen ihren Raum zurück und verdeckt dabei gleichzeitig die Ruinen 48 der ehemaligen Industriegebäude. Diese fast barock anmutende Szenerie verleitet Fate dazu, im späteren Dialog mit Chucho Flores, die aktuellen Entwicklungen in Santa Teresa kritisch zu betrachten: –Ésta es una ciudad completa, redonda –dijo Chucho Flores– . Tenemos de todo. Fábricas, maquiladoras, un índice de desempleo muy bajo, uno de los más bajos de México, un cártel de cocaína, un flujo constante de trabajadores que vienen de otros pueblos, emigrantes centroamericanos, un proyecto urbanístico incapaz de soportar la tasa de crecimiento demográfico, tenemos dinero y también hay mucha pobreza, tenemos imaginación y burocracia, violencia y ganas de trabajar en paz. Sólo nos falta una cosa –dijo Chucho Flores. –Petróleo, pensó Fate, pero no lo dijo. –¿Qué es lo que falta? –dijo. –Tiempo –dijo Chucho Flores–. Falta el jodido tiempo. ¿Tiempo para qué?, pensó Fate. ¿Tiempo para que esta mierda, a mitad de camino entre un cementerio olvidado y un basurero, se convierta en una especie de Detroit? (2666: 362) Bereits in Kapitel 2.2 wurde angerissen, wie sich in 2666 der Mythos der modernen, aufstrebenden Stadt mit der tödlichen Geographie Santa Teresas vermengt. Chucho Flores erscheint hier wie der fortschrittswillige, globalisierungsbejahende Prototyp, der mit der Fortschrittsskepsis des US-Amerikaners Fate konfrontiert wird, welcher die Folgen der Industrialisierung kurz zuvor in Detroit gesehen hat. Für Chucho Flores gehören die Armut und Drogenökonomie, die klaffenden Unterschiede zwischen Arm und Reich, auf unspektakuläre und gewöhnliche Weise zur Realität50: Eine Aussage, die angesichts der prominenten Rolle der Mordserie in Santa Teresa beschönigend, evtl. ironisch, wenn nicht aber übermäßig provokativ daherkommt. Für Chucho Flores befindet sich Mexiko auf dem richtigen Weg der Entwicklung, der ihm zufolge über wirtschaftliche Aktivität bestritten wird und lediglich mehr Zeit benötigt. Betrachtet man die Situationen der beiden Länder USA und Mexiko auf einer vergleichbaren linearen Skala, könnte man sagen, dass ihre Entwicklung zeitlich verschoben ist: Die USA hatte ihre Industrieblütezeit bereits bzw. hat ihre Industrie nach Mexiko ausgelagert. Daher meint Fate, dass Santa Teresa das gleiche Schicksal wie Detroit erwartet, wenn nicht bereits ein schlimmeres erleidet: Er sieht in dieser Stadt eine Mischung aus Friedhof und Müllhalde. Für die Globalität von 2666 bedeutet dies, dass nicht nur die ‚internen‘ Folgen der Globalisierung, die wir uns in Kapitel 2 genauer angesehen haben, dargestellt werden. Es werden auch über eine transnationale Perspektive die asymmetrischen, ungleichen Zustände auf dem Globus offengelegt. Ähnliche globale Tendenzen bedeuten keine vollständige Homogenisierung als Resultat, wie es die kontrastierende Darstellung von Santa Teresa und El Adobe, die, obwohl sie direkt beieinander liegen, unendlich different erscheinen, bezeugt. Gleichzeitig aber werden auch scheinbar entfernte Situationen entweder simultan oder historisch verschoben parallelgeführt, um fehlende Aspekte einer Situation in neuer Weise 50 Ebenso wie gesagt wird, dass man in Mexiko an bestimmte Morde ‚gewöhnt’ sei: “Las muertes habituales, [...] las usuales, gente que empezaba festejando y terminaba matándose [...] muertes que no asustaban a nadie.” (2666: 675). 49 ergänzend zu beleuchten. Dabei kontrastieren verschiedene Sichtweisen auf die sich annähernden Städte, die zu eigenen globalparadigmatischen Mikrokosmen werden, da sie alle Akteure der Globalisierung in sich vereinen. An dieser Stelle wird also deutlich, dass die hergestellten Parallelen in 2666 zum einen durch die Gesamtkomposition des Romans entstehen, aber nicht ohne die einzelnen Figuren bestehen. Analogien kommen zum einen durch die homogenisierenden Tendenzen der Globalisierung zustande, gleichzeitig konstituieren sie sich über eine subjektive Wahrnehmungserfahrung, die entscheidend ist für den Eindruck von Ähnlichkeit. Dies zeigt sich deutlich bei Fate, der auf seinem Weg nach Santa Teresa durch die Wüste ein déjà-vuErlebnis hat: En el extremo más alejado del valle creyó discernir una luminosidad. [...] Una caravana de camiones moviéndose con gran lentitud, las primeras luces de un pueblo. O tal vez sólo su deseo de salir de quella oscuridad que de alguna manera le recordaba su niñez y adolescencia. Pensó que en algún momento, entre una y otra, había soñado con ese paisaje, no tan oscuro, no tán desértico, pero ciertamente similar. Iba en un autobús, con su madre y una hermana de su madre, y hacían un viaje corto, entre Nueva York y un pueblo cercano a Nueva York. Iba junto a la ventana y el paisaje invariablemente era el mismo, edificios y autopistas, hasta que de pronto apareció el campo. (2666: 343) Dass die ‚kapitalistische Landschaft‘, bestehend aus Autobahnen und Gebäuden, in der USamerikanischen/mexikanischen Grenzregion eine ähnliche ist wie die des Bundesstaats New York, ist hier nur eine Komponente der Analogie. Es ist insbesondere Fates Blick aus dem Autofenster, der ihn an seinen Blick aus dem Busfenster in seiner Kindheit erinnert. Ihm erscheint eine Fata Morgana des Lichts in der Dunkelheit, die die beiden Situationen verbindet. Die Ähnlichkeitserfahrung bezieht sich auf eine zurückliegende Traumlandschaft, die das, was er in diesem Moment betrachtet und wahrnimmt, bereits antizipiert hatte. Es ist also Teil der Globalität in 2666, zum einen verschiedene Globalitäten der einzelnen Figuren in sich zu vereinen und zum anderen zu betonen, dass diese Globalitäten durch eine bestimmte Wahrnehmungshaltung zustande kommen, die wiederum maßgeblich durch bestimmte Transportmedien geprägt ist. So heißt es über Kesslers Sichtweise: El mundo, en realidad, es pequeño, pensaba a veces Albert Kessler, sobre todo cuando iba en avión, en un asiento de primera o de business. (2666: 725) Aus der bequemen Perspektive eines Erste-Klasse-Sitzes im Flugzeug erscheint einem die ganze Welt zugänglich und über das Medium des Flugzeugs und seine Perspektive überdies klein. Ebendiese Zugänglichkeit kommt über die Transportmedien der Globalisierung zustande und spricht über die Art des Tourismus und des Reisens, wie sie im Zeitalter der Globalisierung praktiziert wird, nämlich die Zugänglichkeit von Orten gegen Bezahlung. In Santa Teresa lässt Kessler sich bekanntlich im Taxi durch die peripheren Stadtgebiete kutschieren und kommt darüber zu dem Schluss, dass sie gefährlich sind. Liz Norton im ersten Teil reist nach diversen Autofahrten durch Santa Teresa schnell wieder aus „esa horrible ciudad“ (2666: 187) ab. 50 Die Wechselwirkung von Horror und Monotonie (vgl. GALDO 2005: 28f.), der ausgewählten Motive aus dem Baudelaire-Motto, wird an diesen Außenperspektiven auf Santa Teresa deutlich. Sowohl die Gleichheitserfahrung bzw. die Wahrnehmung von Monotonie als auch die Horrorszenarien und -konstrukte der fremden Orte (Fates, Nortons, Kesslers) kommen über die distanzierte Wahrnehmungs- und Betrachtungsweise aus einem Transportmedium (Bus, Flugzeug, Taxi, Auto) zustande. Somit aktualisiert sich die Tourismusund Fortschrittskritik aus „Le voyage“ in der Globalität von 2666 insofern, als die im Gedicht geschilderten enttäuschenden Analogien und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Orten auf der Welt durch die Nutzung bestimmter Transportmittel überhaupt erst zustande kommen. Enttäuschung selbst ist eine Frage der Wahrnehmung, der Betrachtung und der Erwartungshaltung. Gleichzeitig schafft der globale Kapitalismus, durch Verfügung über Orte und ihre kommerzielle Nutzung, sich einander ähnelnde Orte, sodass diese nur als homogen wahrgenommen werden können. In den folgenden Kapiteln werden wir hieran anknüpfen: Zum einen wird deutlich, dass die Frage der Wahrnehmung nicht nur ein Kritikpunkt in 2666 ist, sondern auch Ansatzpunkt für gedachte Alternativen. Im übernächsten Kapitel wird deutlich werden, dass die Medienproblematik in 2666 sich durchaus nicht nur auf Transportmedien reduziert. 3.3 DIE (UNAUFHALTSAME?) ÖKONOMISIERUNG DES LEBENS Die Quantifizierung des Raumes führt also zu ähnlichen räumlichen Erscheinungsbildern rund um den Globus. Bedeutet die Entstehung und Wahrnehmung von Ähnlichkeiten aber auch, dass das Innenleben der Subjekte sich immer mehr einander angleicht, wie HARDT/NEGRI es mit der in Kapitel 1.3 besprochenen Verinnerlichung des Ökonomischen meinen? Wie aktualisiert sich die Globalität in 2666 angesichts der Globalisierung? Interessant ist, dass 2666 einen Fokus auf scheiternde Figuren legt, die darüber hinaus die einzigen sind, die Kritik am bestehenden Zustand der (fiktionalen) Welt äußern. Während in den beiden vorangegangenen Kapiteln die Gesamtkomposition des Romans bezüglich der Konstruktion von Globalität im Vordergrund stand, kommen in diesem Kapitel vorrangig die einzelnen Globalitäten verschiedener Figuren zur Sprache. Die Erzählung eines Obdachlosen, die Morini auf einer Londoner Parkbank hört, über seine frühere Arbeitserfahrung in einer Tassenfabrik im ersten Teil soll uns erste Anhaltspunkte für die Erörterung der kapitalistischen ‚Moral‘ liefern: […] pasó a explicarle que él, hacía tiempo, tuvo un trabajo en una empresa que se dedicaba a fabricar tazas, [...] unas tazas con leyendas insulsas, y que un día, seguramente debido a la demanda, cambió radicalmente los lemas de las tazas y además empezó a incluir dibujos junto a los lemas, dibujos sin colorear al principio, pero luego, gracias al éxito de esta iniciativa, dibujos coloreados, de índole chistosa pero también de índole erótica. –Incluso me aumentaron el sueldo –dijo el desconocido–. [...] Los trabajadores trabajábamos más a gusto. Los encargados también trabajaban más a gusto y el jefe se veía feliz. Pero al cabo de un par de meses de estar produciendo esas tazas yo me di cuenta de que mi felicidad era artificial. [...] me sentía más desdichado que antes de que me subieran 51 el sueldo. [...] Se me agrió el humor, me había vuelto más violento que antes, cualquier tontería me enojaba, empecé a beber. Así que [...] finalmente llegué a la conclusión de que no me gustaba fabricar ese determinado tipo de tazas. [...] Un día me enfrenté con uno de los encargados. Le dije que estaba harto de fabricar esas tazas idiotas. [...] Me preguntó si prefería hacer las tazas que hacíamos antes. Eso es, le dije. [...] ¿Te dan más trabajo las tazas nuevas? En modo alguno, le dije, el trabajo es el mismo, pero antes las jodidas tazas no me herían como ahora me hieren. [...] ¿Y qué demonios las hace tan distintas, aparte de que ahora son más modernas?, dijo Andy. Justamente eso, le respondí, antes las tazas no eran tan modernas [...]. Al día siguiente pedí mi liquidación y me marché de la empresa. (2666: 72f.) Die Geschichte des unbekannten Obdachlosen erzählt den Werdegang eines am Rande der Gesellschaft stehenden Individuums. Die Dynamiken von Wachstum, Produktion und Beschäftigung in einem Unternehmen werden von allen Fabrikmitarbeitern positiv aufgenommen und wohlwollend akzeptiert, außer von ihm. Die Produktentwicklung passt sich an die Mechanismen des Marktes an: Das Design wird geändert, es kommen Zeichnungen hinzu und die Tassen werden koloriert, gemäß der Nachfrage und zur Profitsteigerung. Doch er entfremdet sich von den neuen Tassenmodellen, die an die Gesetze des Marktes gebunden sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein Gehalt erhöht wird. Im Gegenteil: Während alle anderen Arbeiter glücklich darüber scheinen, immer mehr zu arbeiten und dafür entlohnt zu werden, wird er unglücklich. Sein professioneller ‚Abstieg‘ ist daran gebunden, dass er sich nicht an die neue Produktionsweise der Tassen anpassen kann. Diese mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Dynamiken des Marktes sowie die Fähigkeit, sich vom hergestellten Produkt entfremden zu können, wirken in einer globalisierten Welt unverständlich, in der wirtschaftlicher Erfolg ein von vielen geteiltes Ziel darstellt. Doch gerade das Scheitern macht die Geschichte des Londoner Obdachlosen, einem Marginalisierten der kapitalistischen Gesellschaft, so interessant. Nicht zuletzt sehen wir hier anhand der mangelnden Identifikation, anhand der produktionsbedingten Entfremdung auch, wie und warum jemand beginnt, gewalttätig zu werden. Dieser ‚existenzielle Kapitalismus‘, mit dem man sich entweder identifiziert oder nicht, wird auch an anderen Stellen des Romans beschrieben. So ist von einem lethargischen Ladenbesitzer im ersten Teil die Rede, dem der Misserfolg auf das Gemüt schlägt: A veces el proprietario, de tan deprimido que estaba, se quedaba a dormir en la tienda. No estaba deprimido, por supuesto, por los ruidos o gemidos del fantasma, sino por cómo le iba el negocio, al borde de la ruina. (2666: 133) Das Leben dieses Ladenbesitzers ist völlig gezeichnet von seinem wirtschaftlichen Misserfolg, dies führt aber dazu, dass er gar kein Leben außerhalb seines Geschäfts mehr führt, er schläft sogar an seinem Arbeitsplatz, wird lethargisch und deprimiert. Mit dem fantasma ist der Geist seiner Großmutter gemeint, der sich in seinem Haus in Form von Geräuschen und Wehklagen bemerkbar macht. Er klagt, da er in dem Haus, in dem die Großmutter früher lebte, nichts mehr wiedererkennt und die moderne Einrichtung ihm vulgär erscheint. Dieser Ladenbesitzer steht in 2666 nicht alleine da mit seinen Wahnvorstellungen. Amalfitano ist wohl das ausführlichste Beispiel einer am Rande des Wahnsinns stehenden Figur, d.h. einer Figur, die Angst davor hat, wahnsinnig zu werden und sich dessen bewusst ist. 52 Nicht nur begegnet ihm sein Vater in Form eines Geistes, eines Nachts hat er auch einen Traum, in dem ihm Boris Jelzin erscheint und zu ihm spricht: La vida es demanda y oferta, u oferta y demanda, todo se limita a eso, pero así no se puede vivir. Es necesaria una tercera pata para que la mesa no se desplome en los basurales de la historia, que a su vez se está desplomando permanentemente en los basurales del vacío. (2666: 291) Jelzin, der laut 2666 letzte kommunistische Philosoph (vgl. 290), spricht sich in Amalfitanos Traum dafür aus, dass es unmöglich sei zu leben, wenn lediglich die wirtschaftlichen Faktoren Angebot und Nachfrage das Leben bestimmen. Es ist eine weitere Komponente im Leben vonnöten, damit, metaphorisch gesprochen, der Tisch des Lebens nicht auf die Müllhalde der Geschichte und somit auf die abgründige Müllhalde der Leere fällt. Um ein würdiges und bedeutsames Leben zu führen und um erinnert zu werden, nicht in Vergessenheit zu geraten, um nicht in Anonymität, ins Nichts zu (ver-)fallen, ist ein drittes Standbein notwendig. Ausgehend von dieser Kritik können wir andere Entwürfe von Globalität in 2666 betrachten, andere Weltanschauungen, die sich gegen die kapitalistische Norm in der Globalisierung wenden. Einige Figuren aus 2666 verkörpern alternative Kosmovisionen. Im vierten Teil ist das vor allem Florita Almada, die im Fernsehen auftritt und dort von ihren Visionen erzählt oder sogar auf Sendung Visionen hat, die außerdem offen und kritisch die Gewalt gegen Frauen und die Straflosigkeit in Santa Teresa anprangert. Wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt, ist sie eine der wenigen, die sich mit den toten Protagonistinnen identifiziert und solidarisiert und sie als „mis hijas“ (2666: 547) bezeichnet. Florita Almada, Autodiktatin und Heilerin, ist für die einen heilig, für die anderen eine verrückte Alte. Sie erzählt im Fernsehen auch von ihrem Leben, sie begann als Viehhändlerin und reiste somit durch ganz Mexiko: Era una oportunidad única para ver el mundo. Para fijarse en otros paisajes, que aunque parecían el mismo, si uno los miraba bien, con los ojos bien abiertos, resultaban a la postre muy distintos de los paisajes de Villa Pesqueira. Cada cien metros el mundo cambia, decía Florita Almada. Eso de que hay lugares que son iguales a otros es mentira. (2666: 538) Florita Almadas Sicht auf die Welt ist eine ganz andere als die des baudelaire’schen Reisenden51 und auch als die im vorangegangenen Kapitel thematisierte Sicht auf die Welt Albert Kesslers. Sie nimmt nirgendwo monotone Ähnlichkeiten wahr. Wenn man genau hinsehe, bemerke man die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Orten und die Diversität der Welt. Floritas Aussage macht klar, dass die Erfahrung von Ähnlichkeit nicht nur eine Frage der Wahrnehmung, sondern insbesondere eine Frage der oberflächlichen Wahrnehmung ist. Florita Almada legt aber auch nicht weite Strecken mit dem Flugzeug oder im Taxi zurück, sondern geht über „caminos de terracería o por sendas de animales y por atajos que bordeaban aquellas montañas intrincadas“ (2666: 538), also langsam und von Dorf zu Dorf, eine entschleunigte Form des Reisens, die es ihr ermöglicht, den Menschen und der Landschaft tatsächlich zu begegnen. Es ist zu betonen, dass hier aber von keinem konstruierten 51 Dennoch gleicht eine ihrer Visionen stark den zentralen Begriffen des Baudelaire-Mottos: „Dijo que había visto mujeres muertas y niñas muertas. Un desierto. Un oasis. […] Una ciudad. Dijo que en la ciudad mataban niñas“ (2666: 545). 53 Regionalismus die Rede ist, der der Monotonisierung kommerziell entgegengehalten werden soll, sondern von natürlichen Unterschieden der Beschaffenheit der Welt. Auch äußert Florita sich zum Thema des aburrimiento in Verbindung mit horror: […] mirar cara a cara al aburrimiento era una acción que requería valor y que Benito Juárez lo había hecho y que ella también lo había hecho y que ambos habían visto en el rostro del aburrimiento cosas horribles que prefería no decir. (2666: 542) Sich dem ennui wirklich zu stellen, sei eine mutige Tat, denn in seinem Gesicht verbirgt sich ein unsagbarer Horror. Wiederum wird hier die Technik der Verdunklung von Bolaño eingesetzt. Welches ist dieser Horror? Ist es das Nichts, der Abgrund, die Nicht-Existenz? Der Mörder Sammer behauptet, wie ihn mitten inmitten der Tötungsaktionen ein Gefühl von aburrimiento überkommt (vgl. 2666: 950). Die eindimensionale, oberflächliche Wahrnehmung führt in eine grausame Monotonie. Florita Almada hält dem ihre Bejahung des Lebens entgegen und trägt somit religiöse, wenn nicht christliche Züge, nicht umsonst wird sie bezeichnend La Santa genannt und wie die Schutzheilige von Santa Teresa gehandelt, der Stadt, die, wie sie sagt, vom Teufel besessen ist (vgl. 2666: 546). Auch an anderer Stelle des Romans wird gesagt, dass, sofern man an Gott glaube, Menschen nicht einfach so verschwinden, sich auflösen, zu Nichts werden können (vgl. 2666: 527). Eine interessante Verbindungslinie könnte sich dazu ergeben mit dem sog. Büßer, der zu Beginn des vierten Teils Kirchen beschmutzt. Das Fehlen einer Religion und damit verbunden einer Ethik wird auch von Fate wahrgenommen, der beklagt, dass in seinem Leben das ‚Heilige‘ fehle: ¿Veo lo sagrado en alguna parte? Sólo percibo experiencias prácticas, pensó Fate. Un hueco que hay que llenar, hambre que debo aplacar, gente a la que debo hacer hablar para poder terminar mi artículo y cobrar. (2666: 399) Fate, der aus wirtschaftlichen Gründen Journalist wurde und nicht, wie er eigentlich wollte, Schriftsteller, kann überall nur nützliche und praktische Entscheidungen und Erfahrungen wahrnehmen. Wenn er Menschen interviewt, dann ist dies nur Mittel zum Zweck, kein wirkliches Gespräch, sondern sein Broterwerb. Das das Nützliche übersteigende Spirituelle, das Sakrale, das Heilige fehlen in seinem Leben, wo alles auf Zweckmäßigkeit und Effizienz ausgerichtet ist. Ähnlich äußert sich der ehemalige Künstler Edwin Johns, der sich zum Zeitpunkt der Erzählung in einer Schweizer Nervenklinik aufhält, wo er von den Kritikern im ersten Teil aufgesucht wird. Er führt die Zufälligkeit als entscheidende Komponente des menschlichen Lebens ins Feld und hält diese seinem praktisch orientiertem Freund entgegen: Mi amigo [...] creía en la humanidad, por lo tanto creía en el orden [...]. En el fondo hasta es posible que creyera en el progreso. La casualidad, por el contrario, es la libertad total a la que estamos abocados por nuestra propia naturaleza. La casualidad no obedece leyes y si las obedece nosotros las desconocemos. La casualidad, si me permite el símil, es como Dios que se manifiesta cada segundo en nuestro planeta. (2666: 123) Johns entschuldigt sich für seine religiöse Metapher, die aus der Mode gekommen ist. Zufälligkeit bedeute, so Johns, die Relativierung des Menschen, seiner Fähigkeiten und seines 54 linearen Strebens. Zufälligkeit bedeute, das Verlangen nach Fortschritt sowie die Beherrschung des Lebens und der Welt aufzugeben und die eigene Unwissenheit anzuerkennen. Die einzige Allmacht sei Gott. Diese Auffassung Johns steht konträr zur Voraussetzung, die MIGNOLO dem Kolonialismus zugrunde legt, nämlich dem Drang nach Beherrschung des Globus auf der Grundlage einer fiktiven, menschengemachten, linearen Skala. Dass der Mensch sich selbst das Recht eingeräumt hat, frei über die Natur zu verfügen, wird an einer ganz anderen Stelle des Romans wieder deutlich, die indirekt auf den Kolonialismus Bezug nimmt. Hier reisen französische Anthropologen nach Borneo und begegnen dort einer Gruppe von Indigenen. Es ist eine Passage aus Borís Anskys Tagebuch: Los indígenas no plantaban nada. Los que el bosque quisiera darles ya se lo daría y lo que no quisiera darles les estaría vedado para siempre. Su simbiosis con el ecosistema en el que vivían era total. Cuando cortaban las cortezas de algúnos árboles para utilizarlas de suelo de las cabañitas que construían, en realidad estaban contribuyendo a que los árboles no enfermaran. Su vida era similar a la de los basureros. Ellos eran los basureros del bosque. (2666: 914f.) Die hier beschriebenen Indigenen führen ein völlig alternatives, von der kapitalistischen Norm abweichendes Leben. Sie passen ihre Lebensweise (für die Franzosen unverständlicherweise, denn auch wenn hier nicht mehr von der Epoche des Kolonialismus die Rede ist, so führen die Anthropologen hier doch zivilisatorische Absichten im Schilde) ihrem Lebensraum an, nicht umgekehrt. Nicht etwa sind sie es, die Müll produzieren, vielmehr ernähren sie sich von den Abfällen des Waldes. Dass hier wiederum die Müllmetapher bemüht wird, ist eine eindeutige Anspielung auf die urbane Müllhalde Santa Teresa. Die ‚Müllmänner‘ des Waldes in Borneo wirken wie Helden der Erzählung, da sie selber Müll verwerten und sich eben nicht über die Natur des Raumes hinwegsetzen oder ihre eigenen Nützlichkeitswege bauen, wie in Santa Teresa, wo die Natur Widerstand leistet gegen diese menschlichen Bestrebungen. Die Indigenen tun Nützliches für ihre Umwelt und erhalten sich somit selbst. Nachhaltigkeit und soziales Handeln gegenüber der eigenen Umwelt wird wiederum in einer ganz anderen Zeit und Epoche in 2666 thematisiert, im Detroit der 1990er Jahre in Form von Barry Seaman, der sich kritisch zum kapitalistischen Streben äußert. Der ehemalige Gefängnishäftling und afroamerikanische Aktivist wird von Fate im dritten Teil aufgesucht, der Zeuge seiner Predigt in der Kirche wird: [...] no estaba de acuerdo en la forma en que gastaban su dinero los pobres, sobre todo los pobres afroamericanos. Me hierve la sangre, dijo, cuando veo a un chulo de putas paseándose por el barrio a bordo de una limousine o de un Lincoln Continental. No lo puedo soportar. Cuando los pobres ganan dinero deberían comportarse con mayor dignidad, dijo. Cuando los pobres ganan dinero, deberían ayudar a sus vecinos. Cuando los pobres ganan mucho dinero, deberían mandar a sus hijos a la universidad y adoptar a uno o más huérfanos. (2666: 317) Was Seaman hier anprangert, ist die Art und Weise, wie sich Neureiche verhalten, nachdem sie zu Geld gekommen sind. Ihm zufolge verhalten sie sich nicht würdevoll, sondern stellen ihren neu erworbenen Reichtum viel zu ostentativ zur Schau und wollen sich so von den Armen abheben, zu den sie ja selbst einmal gehörten. Sie wollen demonstrieren, dass ihnen, nachdem 55 sie zu Reichtum gekommen sind, nun die Welt gehöre. Vielmehr sollten sie sich aber mit ihnen identifizieren, sie sollten ihren Nächsten helfen, Kinder adoptieren und in Bildung investieren. Nach dieser Collage diverser alternativer Entwürfe und Globalitäten quer durch den Roman stellt sich die Frage nach der sie einenden Gesamtglobalität, die die 2666 ausmacht. Alle Figuren, die in diesem Kapitel zu Wort kamen, sind in irgendeiner Weise gesellschaftlich marginalisiert oder stehen am Rande des Wahnsinns. Ein Obdachloser sowie der verrückt gewordene Künstler Edwin Johns im ersten Teil; der esoterische und an Stimmen und Wahnvorstellungen leidende Philosophieprofessor Amalfitano im zweiten Teil; ein ehemaliger Häftling und Afroamerikaner namens Barry Seaman sowie der Afroamerikaner Fate im dritten Teil; die TV-Heilige Florita Almada im vierten Teil; der Jude Borís Ansky im fünften Teil. Allesamt üben sie nicht nur Kritik am kapitalistischen und nutzenorientierten System der Globalisierung, sondern verweisen auf ihre Weise allesamt auf eine höhere alternative göttliche oder gottähnliche Instanz, die in all ihrer Leben zu fehlen scheint. Mit dieser Instanz, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, ist das Soziale und Ethische verbunden, der Einklang mit der Natur, weshalb viele Aussagen der genannten Figuren religiös anmuten. Es ist dabei wohl kein Zufall, dass es hauptsächlich verrückte, kranke, an Wahnvorstellungen leidende und außenstehende Personen sind, die Kritik üben und gleichzeitig immer Gefahr laufen, nicht ernst genommen, indem ihre Aussagen ins Irrationale abgedrängt werden. Bei ihnen wird der existenzielle Kapitalismus besonders sichtbar. Auch während des Zweiten Weltkrieges haben diejenigen Soldaten Nervenleiden, die angesichts der Dimensionen des Krieges verzweifeln; im globalisierten Zeitalter sind es diejenigen, die nicht produktiv und effizient denken und handeln. Somit werden die Norm und der vorherrschende Diskurs der Anpassung an den (wirtschaftlichen) Fortschritt insbesondere anhand der in dieser Hinsicht scheiternden Figuren in 2666 erkennbar. Die Komposition der fiktionalen Welt in 2666 und die Globalität des Romans machen zudem deutlich, dass die Paradigma der gegenwärtigen Welt nicht erst seit der Globalisierung bestehen. Die Globalität in 2666 ist aber auch ein Gegenmodell zu dieser vorherrschenden kapitalistischen Moral, ein ethischer Diskurs, der jedoch auf verlorenem Posten steht in der Globalisierung, in der die Kritik an Globalisierung nur noch aus den Mündern von Verrückten stammt. 3.4 GLOBALITÄT UND FIKTION „Sólo la poesía está fuera del negocio“ (2666: 288f.), lautet es an einer Stelle des Romans. Glaubt man dieser Aussage, würde dies bedeuten, dass selbst Romane sich nicht ausnehmen können von der Kommerzialisierung, ebenso wie die Kunst im Allgemeinen. In diesem Kapitel wollen wir uns die Überlegungen zur Rolle der Kunst im Allgemeinen und zur Funktion des literarischen Textes in 2666 genauer untersuchen, um ihre Bedeutung für die dem Roman 56 eigene Globalität zu begreifen. Dazu werden wir zunächst die Kunst- und Medienreflexion in 2666 beleuchten, um schließlich ausführlicher auf die Darstellungsweise des Romans, insbesondere des vierten Teils, einzugehen, bei dem sich die Frage nach der Ethik (in der Ästhetik) stellt. Während es also bislang vor allem um die Globalität in der Fiktion, nämlich des Romans 2666 ging, ist nun die Frage, welche Rolle der Fiktion in der Globalität zukommt. Die Wahrnehmung der Realität durch die Figuren in 2666 wird, wie bereits thematisiert, zum einen geprägt durch die Transportmittel, in denen sie sich, die Welt betrachtend, fortbewegen. Gleichzeitig wird die dargestellte Realität auch als Produkt medialer Darstellungen präsentiert. Die Prägung durch mediale Darstellungen, insbesondere filmische, ist bei den Figuren in 2666 so stark, dass die Realität eher wie ein Abbild der Fiktionen wirkt als andersherum. So betrachtet Fate die Abschiedsszene zwischen Amalfitano und seiner Tochter Rosa „como si fuera una película“ (2666: 433). Und auch die Ermittlung zu den Frauenmorden ist geprägt durch mediale Imagination: „Tenemos un asesino en serie, como en las películas de los gringos“, behauptet der Gerichtsvollzieher Ernesto Ortiz Rebolledo (2666: 588f.). Auch Kessler nimmt bei seiner Taxifahrt durch die Elendsviertel die Dinge gemäß seiner filmischen ‚Bildung‘ wahr. So malt er sich aus, in einem der Viertel sei eine Atombombe gefallen und äußert sich folgendermaßen über die zombiehaften Bewohner dieses Viertels: „los afectados no cuentan porque han enloquecido o porque están muertos, aunque caminen y nos miren, ojos y miradas salidos directamente de una película del oeste, del lado de los indios o de los malos, por descontado“ (2666: 752f.). Darüber hinaus finden sich, wie gewöhnlich bei Bolaño, denkt man beispielsweise an Carlos Wieder aus Estrella Distante (1996), diverse Überlegungen zur ambivalenten Rolle der Kunst: Das gilt nicht nur für die Beeinflussung der subjektiven Wahrnehmung der Welt, sondern auch für konkretere Implikationen. Eine Art historischer ‚Vorgeschmack‘ auf den vierten Teil von 2666, obwohl er in der Reihenfolge des Romans danach kommt, ist das Werk des Künstlers Conrad Halder, über den gesagt wird, dass er nur Bilder von toten Frauen male (vgl. 2666: 853). Auch andere literarische, utopische Entwürfe ähneln später auf unheimliche Weise der dargestellten Realität oder scheinen diese vorwegzunehmen: En tres horas, Ivánov escribió su primer cuento de ciencia ficción. Se titulaba El tren de los Urales y un niño, que viajaba en un tren cuya media de velocidad era de doscientos kilómetros, contaba con su propia voz aquello que pasaba ante sus ojos: fábricas relucientes, campos bien trabajados, aldeas nuevas y modélicas constituidas por dos o tres edificios de más de diez pisos, visitadas por alegres delegaciones extranjeras que tomaban buena nota de los progresos logrados para aplicarlos después en sus respectivos países. (2666: 889) Diese kommunistische Zukunftsutopie aus dem Russland nach der Revolution 1917 soll das Leben in Russland 1940 darstellen. Fortschritt und Produktivität spielen in diesem kommunistischen Imaginarium interessanterweise eine ebenso große Rolle wie in der kapitalistischen Realität, wie wir sie in diversen Epochen und verschiedenen Orten der Geschichte, insbesondere in Santa Teresa, haben sehen können, ebenso das Bestreben anderer Länder, denselben Weg von Entwicklung einzuschlagen. Ivánov wird gefeiert für seine 57 „fórmula del futuro“, für seine „visiones arcádicas“ (2666: 891). Wie nah diese arkadischbukolischen Fantasien jedoch am Schrecken sind, wird kurze Zeit später in anderem Kontext erwähnt, eine Stelle, die ebenso wie die Nacherzählung der Science-Fiction-Erzählung aus Borís Anskys Tagebuch stammt: „una película […] que empezaría de forma bucólica y que poco a poco se iría convirtiendo en una película de horror“ (2666: 913). Ebenso wie die Kunst also eine Art ‚Mitschuld‘ an der gegenwärtigen Situation trägt, wird sie aber auch immer wieder zu ihrem Opfer. So berichtet beispielsweise wiederum Ansky, wie Gustave COURBETS Gemälde Le retour de la conférence (1863) von einem reichen Katholiken zuerst gekauft und dann verbrannt wird (vgl. 2666: 912). Die Kunst kann durch ihre Kommerzialisierung zum Opfer ebendieser Kommerzialisierung werden, steht ohne Schutz da, ist ihrem Besitzer ausgeliefert. Die Rolle der Literatur im Allgemeinen in 2666 ist ambivalent. Barry Seaman spricht sich in seiner Predigt noch für das Lesen als einzige wirklich sinnvolle Tätigkeit im ansonsten korrumpierten und effizienzorientierten Leben aus (vgl. 2666: 326); Archimboldi und sein Œuvre hingegen werden im ersten Teil eher als ein Opfer der eifrigen, geradezu wütigen Literaturwissenschaftler dargestellt; Borís Anskys Tagebücher hingegen sind der einzige Lichtblick für den Soldaten Hans Reiter im fünften Teil und bringen ihn von seinem Wunsch ab, im Krieg einen sicheren Tod zu finden. Wie aber steht es, neben diesen unterschiedlichen Referenzen auf ‚fremde‘ Werke, um den Roman 2666 selbst bzw. seine literarische Form? Das über 1100 Seiten lange Werk fällt, auch da es Bolaños einziges Werk von dieser Größe ist, zunächst einmal durch seinen Umfang auf. Nicht zuletzt deshalb und gemeinsam mit der Tatsache, dass es posthum erschien, wird es wohl oft als Bolaños Meisterwerk bezeichnet. Stefano ERCOLINO (2014: 25-32) betont, dass die sog. maximalist novels, zu denen er 2666 zählt, zum einen aus einer Spätphase des Kapitalismus resultieren, zum anderen den oft enzyklopädisch anmutenden Versuch unternehmen, die hyperkomplexe und chaotische Welt irgendwie zu greifen oder zu begreifen, indem sie in die ‚Ordnung‘ des Romans überführt wird. Dementsprechend erhofft sich der Leser, der im Kapitalismus ja auch ein Käufer ist, von einer maximalist novel, dass darin in irgendeiner Weise die ganze Welt verhandelt wird oder vielleicht sogar das Geheimnis der Welt wenn nicht aufgedeckt, so doch zumindest angesprochen wird. Der ‚sensationellste‘ Teil von 2666 ist bekanntermaßen der vierte, zu dessen neutraler Darstellungsweise bereits viele poetologische Überlegungen angestellt wurden, die aber in die unterschiedlichsten Richtungen weisen. Wir wollen uns diese ‚Interpretationen‘ der provokanten Darstellungsweise des vierten Teils von 2666 abschließend ansehen. Dabei stehen sich eine ethische Lesart und eine weniger ethische Lesart gegenüber. Zur ‚Verteidigung‘ des vierten Teils könnte man sagen, dass die Darstellung Bolaños lediglich eine überaus realistische ist. Denn anonyme Leichenfunde stehen in einigen Teilen der Welt an der Tagesordnung. Doch obwohl wir uns der Realität ‚ferner Länder‘ bewusst sind, 58 ist ein Fund nach dem anderen im vierten Teil schockierend für den Leser, der in den meisten Fällen wohl kein maquiladora-Arbeiter ist und sich als Anhänger der Menschenrechte versteht. Diese Rezeption wurde von Bolaño sicherlich mitbedacht. Warum hält der Schock trotz unseres Wissens über die Welt an? Das liegt wohl daran, dass das Leben von Romanfiguren, literaturhistorisch betrachtet, wenn nicht schützenswert, dann doch zumindest bedeutsam ist. 2666 aber ist die endgültige Einfahrt der Literatur in das nackte Leben derjenigen anonymen und schutzlosen Körper, die jeglicher politischer Identität und Relevanz entbehren und bislang in den seltensten Fällen zu Romanfiguren wurden. Vor dem Hintergrund der Asymmetrie zwischen der kruden Realität und der (vielleicht weltfremden) literarischen Realität lässt sich auch der folgende historische Exkurs Kesslers besser verstehen, der seinem Gesprächspartner, der sagt, wir hätten uns an den Tod gewöhnt, entgegnet, dass dies schon immer der Fall war: No queríamos tener a la muerte en casa, en nuestros sueños y fantasías, sin embargo es un hecho que se cometían crímenes terribles, descuartizamientos, violaciones de todo tipo, e incluso asesinatos en serie. [...] Todo pasaba por el filtro de las palabras, convenientemente adecuado a nuestro miedo. ¿Qué hace un niño cuando tiene miedo? Cierra los ojos. [...] Las palabras servían para ese fin. [...] las palabras solían ejercitarse más en el arte de esconder que en el arte de develar. (2666: 337-339) Chroniken des 19. Jahrhunderts haben laut Kessler eine Sprache gefunden, die die gewalttätige Realität verschleiert und die Angst der Leute reduziert. Niemand möchte den Tod bei sich zuhause haben, von ihm heimgesucht werden. Wie also sollen journalistische und literarische Texte vom Tod berichten? Sie schaffen es in irgendeiner Weise, dass ihre Worte dabei helfen, die Augen vor der Gewalt zu verschließen. Auch sehr viel später im Roman ist die Rede davon, wie sog. obras menores Teil einer großen Camouflage seien (vgl. 2666: 984). Wie genau diese Verschleierungstechnik vonstatten geht, wird nicht gesagt, jedoch gibt uns eine Chronik des Argentiniers Roberto ARLT eine Idee davon, was Bolaño hier vielleicht meint. So heißt es bei ihm: […] la palabra se descubre tartamuda, impotente. Los hechos del pasado y del presente no guardan relación entre sí. Han variado las velocidades. Ejemplo: 1914. Un documental cinematográfico de Lovaina. Letrero de la época: ‘Aquí murieron quinientos civiles’. 1940. Un documental cinematográfico de Ámsterdam. Letrero del momento: ‘Aqui murieron cien mil civiles’. Quinientos…cien mil…Qué relación guardan entre sí estas dos cifras? Ninguna. (ARLT 1940: 567) Die journalistische Berichterstattung kennt nur Zahlen als Mittel, um auf die Toten zu verweisen. Zahlen machen die realen Toten in ein anderes Medium ‚exportierbar‘, die Zahl alleine gibt die Massen an Toten wieder. Jedoch werden die Quantifizierung und die abstrakte Zahl den Umständen nicht gerecht. Wo das Wort machtlos erscheint, Sprachlosigkeit herrscht, wird auf Zahlen ausgewichen, die aber die Repräsentationsproblematik nur verschärfen. Ist der vierte Teil von 2666 also der Versuch, eine Sprache oder Darstellungsweise der Gewalt zu finden? Ist die Katalogisierung, wie HERLINGHAUS (2013: 214) sagt, ein Gegenentwurf 59 zum (nicht existenten) vorherrschenden Diskurs über den Tod? Will, wie BORSÒ (2012: 227f.) meint, 2666 wirklich Lebenszeichen der anonymen Körper aufdecken, ein Antlitz à la LEVINAS rekonstruieren? Möchte 2666 die toten Frauen aus dem (globalen) Vergessen retten? Gelingt es 2666, die unerzählbaren Tatsachen (vgl. BALMACEDA 2010: 327) zu erzählen? Immerhin wird der Roman der Forderung Amalfitanos gerecht, eine obra maestra solle „ese aquello que nos atemoriza a todos“ enthalten sowie „sangre y heridas mortales y fetidez“ (2666: 290)52. Doch ist die Sprache des vierten Teils bekanntlich eine, die die nüchterne, wissenschaftliche Sprache der Forensik imitiert. Eine Sprache, mit der Zeitgenossen der Diktaturen des Cono Sur (darunter Bolaño selbst) bestens vertraut sind, da sie in der Berichterstattung über die durch die Militärdiktatur Verschwundenen eingesetzt wurde (vgl. MUNIZ 2010: 36). Vielerorts wird betont, dass es gerade diese in 2666 bemühte Sprache ist, die eine Distanz zu den toten Protagonistinnen schafft: Es herrscht ein sezierender, distanzierter, objektivierter, abstrahierender Blick, eine geradezu in sich gewalttätige Sprache (vgl. WALKER 2010: 106f.). Die Körper der Frauen werden für den Leser so selber zum Objekt der Betrachtung durch die Erzählweise. Angesichts der Masse an Fällen gewöhnt sich der Leser an die Leichen (vgl. BALMACEDA 2010: 332). Die ständige Wiederholung mit kargen Details ist dem Anspruch der Vollständigkeit, dem Realismus verpflichtet, doch für den Leser bleibt dadurch eine anonyme, die immer gleiche Gewalt aufweisende Masse von Toten im Kopf, zu denen in den seltensten Fällen eine tiefergehende, individuelle Geschichte geboten wird und so verliert der Leser selbst den Überblick, die Fälle multiplizieren sich. Diese anti-narrative Technik (vgl. HERLINGHAUS 2013: 212) führt zur Abstumpfung des Lesers selbst angesichts der sich stetig reproduzierenden, monotonen Gewalt, distanziert uns vom Verbrechen, anstatt es uns näher zu bringen (vgl. MUNIZ 2010: 41) und am schlimmsten: Sie distanziert uns von den Schicksalen selbst. Der vierte Teil wird zu einem Horror, der zu allem Unglück auch noch beginnt, uns streckenweise zu langweilen. Somit vollzieht der Leser ungewollt das, was ihn an 2666 eigentlich schockiert: Er blättert weiter, vergisst die Identität der einzelnen Figuren, zu sehr ähneln sie sich, zu sehr reproduziert sich hier die immer gleiche Gewalt. Ein ennui, der auch durch die Perspektive auf die Masse entsteht. Nicht zuletzt kann man soweit gehen, zu behaupten, dass 2666 selbst (zumindest ästhetisches) Kapital aus dieser Darstellungsweise schlägt. So wie Fate aus dem Material der harten Realität eine sensationalistische Reportage machen möchte (vgl. 2666: 373), muss man sich fragen, inwiefern die die Gewalt reproduzierende Darstellungsweise nicht selbst als 52 Interessant in diesem Kontext ist auch die Stelle, in der der Mann, der Hans Reiter alias Archimboldi die Schreibmaschine verkauft, erzählt, wie er seinem großen Schriftstelleridol in Form eines Pathologie-Mitarbeiters der Universität wieder zu begegnen glaubt und ihm das folgende erzählt: „[...] trabajar en la morgue sin duda lo llevaría a reflexiones atinadas o por lo menos originales acerca del destino humano. [...] Aquel marco, dije extendiendo los brazos y abarcando todo el depósito, era en cierta manera el lugar ideal para pensar en la brevedad de la vida, el lo insondable que resulta el destino de los hombres, en la futilidad de los empeños mundanos“ (2666: 988). 60 ‚spektakulärer Roman‘ davon profitiert. An einer Stelle wird der kinematographische Charakter der Frauenmorde selbst betont (vgl. 2666: 675). Es gibt im Roman darüber hinaus den Verdacht, dass hinter den Frauenmorden die sog. snuff-Industrie stehen könnte, also die Aufzeichnung realer Morde (vgl. 2666: 669-681). Snuff überwindet den Repräsentationscharakter der Kunst und die damit verbundene Problematik, da die ‚Kunst‘ nicht mehr nur die Ausstellung des Verbrechens ist, sondern das Objekt der Darstellung selbst beinhaltet (vgl. VALDIVIA 2013: 485; TOPCZEWSKA 2012: 6). Gilt das auch für die ‚gewalttätige Sprache‘ von 2666, deren Romanstoff die körperlichen Objekte der Leichen sind (vgl. TOPCZEWSKA 2012)? Fest steht, dass die Realität viele Möglichkeiten der avantgardistischen Darstellungsweise bietet, sodass der Drang selbst nach Fortschritt, Steigerung und Überbietung in 2666 eingeschrieben ist, was aber durch den Verweis auf die ambivalente Rolle der Kunst reflektiert wird. Ist Bolaños Inszenierung also ethisch oder unethisch, ist sie anklagend oder selber verwickelt in die dargestellte Gewalt? Wir können abschließend nur auf die Unentscheidbarkeit darüber verweisen: Bolaño spielt mit der Unentschlossenheit des Lesers, wie er das, was er liest, zu bewerten hat. Die schwankende Ethik in der Globalisierung manifestiert sich somit nicht nur auf thematischer, sondern auch auf diskursiver Ebene. Enthüllung und präzise Sprache führen zu keiner Klarheit, trotz minutiöser Aufdeckung herrscht am Ende doch Ratlosigkeit über die Geschehnisse, ihre Umstände und ihr Verhältnis zum Geheimnis der Welt. ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo Wird das Geheimnis der Welt, auf das in 2666 verwiesen wird, abschließend also aufgedeckt oder verdeckt? Man könnte sagen, beides zugleich, denn obwohl wir eine geradezu enzyklopädische Überfülle an einsehbaren Informationen und Fakten vorliegen haben, scheint das Essentielle doch verborgen. Die Namen diverser, potentieller Täter der Frauenmorde werden genannt, die analogen Spuren weisen fast zu offensichtlich in Richtung der in Santa Teresa ansässigen Industrie und Drogenökonomie, aber gleichzeitig entziehen sich diese jeglicher Schuldfrage und lassen die Vermutungen haltlos dastehen. So erscheint das übermäßig Sichtbare zugleich unerreichbar, absurd und unwahrscheinlich; der Hyperrealismus und die Hypervisibilität des vierten Teils verdunkeln, verwirren, wirken irreal. Diese Undurchdringlichkeit, auch der Machtverhältnisse, verdeutlicht die zugängliche und doch verborgene Informations- und Wissensstruktur des globalisierten Zeitalters. 2666 blickt auf eine unmenschliche Menschheitsgeschichte zurück und dabei auf ein besonders unmenschliches 20. Jahrhundert, wobei Santa Teresa zu einem transnationalen Emblem des Fortschrittswahns und somit der Tendenzen der Globalisierung wird. Die Folgen der globalisierten Wirtschaftspolitik manifestieren sich in omnipräsenter Migration und Mobilität, in der Entmenschlichung der Produktion, in der Trennung und gleichzeitiger Nähe 61 von Arm und Reich im urbanen Raum (die Grenzregion Mexiko/USA symbolisiert dabei eine besondere Verdichtung und unmittelbare Nähe der asymmetrischen Welten zueinander) sowie in der menschengemachten, räumlichen Umgestaltung des Globus, die in der Verwüstung und Vermüllung des Lebensraums mündet. Ein Streifzug durch die Globalgeschichte und ihre Verbrechen gibt Anhaltspunkte für die Situation in Santa Teresa und auch für die hier stattfindende Gewalt an Frauen, die symbolisch für die Selbstzerstörung des Menschen steht, da dieser durch sein lineares Streben nach Fortschritt und nach Produktivität überall auf dem Globus und zu jeder Zeit unmenschliche Systeme schafft, die über exzessive Gewalt verbunden werden. Die Komposition der fiktionalen Welt und die Globalität des Romans 2666 deuten dabei immer wieder auf den in der unveränderlichen menschlichen Natur tief verankerten Hang zur Gewalt hin, der nicht erst seit der Globalisierung besteht. Somit ist Bolaños Werk nicht nur eine Kritik am kapitalistischen System und an dessen paradoxalem liberalen Impetus, sondern auch Zeugnis einer negativen Anthropologie. Wenngleich alle Menschen das Potenzial zu Gewalttaten haben, ohne dabei ausgesprochen ‚böse‘ zu wirken, so gibt es im Roman doch einzelne Figuren, die aus dem negativen Menschenbild herausstechen: Es sind die kritischen Stimmen innerhalb des Romans, die aber allesamt entweder dabei sind, zu verstummen, zu erkranken oder als verrückt stigmatisiert zu werden, die also in der im Roman 2666 dargestellten Welt zu den Verlierern gehören. Diese Fokussierung des Romans auf die Marginalisierten der globalisierten Gesellschaft wird wohl am deutlichsten anhand der anonymen Masse von toten Protagonistinnen, denen selbst keine Möglichkeit mehr gegeben ist, für sich zu sprechen bzw. ihre individuelle Geschichte zu erzählen, die sie vor dem Vergessen bewahren könnte. Es lässt sich abschließend konstatieren, dass nicht etwa die in 2666 dargestellte Realität und Präsenz von exzessiver Gewalt ein Novum ist, sondern vielmehr die Art der Darstellung und die entsprechende Wahrnehmung des Lesers, der so selbst mit der Routine und Anonymität von Gewalt in Berührung kommt. Die globale Sicht auf das Elend entfremdet derart, dass der moderne Horror vor dem ennui zu einem ennui des Horrors wird. Der Roman und sein Leser verorten sich inmitten der Werte-Freiheit der globalisierten Gesellschaft. Bolaños Nihilismus konstatiert die klaffende Lücke, die die Abkehr von politischen Idealen hinterlässt, ein identifikatorisches Vakuum ohne Nationalismus, aber auch ohne soziale Entwürfe, eine globale Gesellschaft, in der die Frage der Ethik, auch der Ethik der Ästhetik, die er austestet und mit der er experimentiert, noch ungeklärt ist, aber sich bedrohlich nah am Rande des Abgrunds bewegt. 62 BIBLIOGRAPHIE AGAMBEN, Giorgio (2002), Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp. ANDREWS, Chris (2011), „El secreto del mal es un secreto“, in: Fernando MORENO, Hrsg., Roberto Bolaño: la experiencia del abismo, Santiago de Chile: Lastarría, 37–44. ANDREWS, Chris (2014), Roberto Bolaño’s fiction: an expanding universe, New York: Columbia UP. ARLT, Roberto (1940), „La tintorería de las palabras“, in: R.A., El paisaje en las nubes. Crónicas en ‘El Mundo’, hrsg. v. Rose CORRAL, México: FCE 2009. 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(2013), Archivo Bolaño 1977 – 2003 [Katalog zur Ausstellung 2013 im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona], Barcelona: Diputació, 106f. 69 Abbildung 3: Einsatzgebiet der Einsatzgruppe C Quelle: „Der Zweite Weltkrieg“, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE (2011), Atlas der Globalisierung. Das 20. Jahrhundert, Berlin: Le monde diplomatique/taz, 29. 70 ERKLÄRUNG Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich diese Masterarbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen meiner Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken und Quellen, einschließlich der Quellen aus dem Internet, entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Dasselbe gilt sinngemäß für Tabellen, Karten und Abbildungen. Diese Arbeit habe ich in gleicher oder ähnlicher Form oder auszugsweise nicht im Rahmen einer anderen Prüfung eingereicht. Ich versichere zudem, dass der Text der elektronischen Fassung mit dem Text der vorgelegten Druckfassung identisch ist. Köln, den 13.08.2015 Leyla Bektaş 71