abstracts - Zeitschrift für Menschenrechte
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zfmr 1 ❘ 2010bc ABSTRACTS Heike Baranzke: Menschenwürde zwischen Recht und Pflicht (S. 10-24) Nach den Menschenrechtsverletzungen des Zweiten Weltkriegs wurde der Menschenwürdebegriff in die Charta der Vereinten Nationen (1945) und in die Allgemeine Menschenrechtserklärung (1948) und daraufhin dann auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949) aufgenommen. Aufgrund dessen ist es in ethischen Diskussionen üblich geworden, Menschenwürde als einen Rechtsbegriff zu betrachten. In der Debatte wird meist die Tatsache vernachlässigt, dass der Begriff der Menschenwürde viel älter als der Begriff der Menschenrechte ist und dass die frühe Menschenrechtsbewegung im 18. Jahrhundert keinen Gebrauch von dem Begriff der Würde machte. Die Menschenwürdeidee, erstmals erwähnt bei Cicero, wurzelt in der stoischen Tugendethik, und diese Tatsache bildet – so die These – bis heute ihren innersten Bedeutungskern. Da in Immanuel Kants „Metaphysik der Sitten“ Rechtslehre und Tugendlehre zwei systematisch aufeinander bezogene Teile seiner Moralphilosophie sind, ist sein tugendethischer Würdebegriff – der signifikanterweise durch den Autonomiebegriff bestimmt wird – auch für die moralische Legitimation des Rechts relevant. So bereitet Kant die Karriere der Menschenwürde als Rechtsbegriff im 20. Jahrhundert vor. Aus dieser Perspektive fordert die Frage nach dem Verhältnis von Ethik, Moral und Recht im Begriff der Würde neue differenzierte Antworten heraus. Human dignity between rights and duties Because of the violation of human rights in World War II the concept of human dignity was enshrined in the Charta of the United Nations (1945) and in the Universal Declaration of Human Rights (1948). As a consequence, it was also incorporated into the 230 German Basic Law in 1949. It is therefore common in ethical debates to regard human dignity exclusively as a concept of law. The debate neglects the fact that the concept of human dignity is much older than the human rights concept. Moreover, the early human rights movements in the 18th century did not refer to the concept of dignity. As it is argued in this paper, the idea of human dignity, firstly mentioned by Cicero, is rooted in Stoic virtue ethics which forms the inner ethical core of the concept of human dignity until today. Immanuel Kant’s „Metaphysics of Morals“ consists in the two systematically related parts of the „doctrine of rights“ and the „doctrine of virtue“. Therefore his virtue ethical concept of dignity – significantly determined by his concept of autonomy – is relevant for the moral legitimatization of law, too. Thus, he prepared the career of human dignity as a rights term in the 20th century. From this perspective, the question of how ethics, morals, and law are related in the concept of dignity needs to be re-examined. Arnd Pollmann: Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte (S. 26-45) Nach 1945 hat es die moderne Menschenrechtsdiskussion mit einem grundlegend veränderten Begriff von Menschenwürde zu tun, der dem Umstand Rechnung trägt, dass der europäische Totalitarismus die fundamentale Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit menschlicher Würde bewiesen hat. Der Begriff „Würde“ steht so nicht länger für eine „unverlierbare Mitgift“, die der Mensch niemals einbüßen kann. Er zielt vielmehr auf ein äußerst anfälliges, jedem Menschen qua Menschsein innewohnendes „Potenzial“ zu einem gelingenden Leben in Achtung und Selbstachtung, dessen notwendige soziale Bedingungen durch korrespondierende Men- Abstracts ❘ zfmr 1/2010 schenrechte geschützt werden müssen. Daraus folgt: Das menschenwürdige Leben ist das Ziel oder das „Worumwillen“ heutiger Menschenrechtsvereinbarungen. Deshalb sollte die Rechtsphilosophie auch nicht den Fehler begehen, von einem kategorischen Besitz universeller Menschenrechte auf einen ebenso kategorischen „Besitz“ der Menschenwürde kurzschließen zu wollen. Vielmehr haben alle Menschen dieselben Menschenrechte, weil sie gerade nicht schon von vornherein alle auf dieselbe Weise ein Leben in Würde führen. Human dignity after barbarism. Consequences of a violent change within the history of human rights After 1945, the modern human rights discourse has been confronted with the need for a new conception of human dignity, since European totalitarianism had proven the fundamental violability and fragility of dignity. This paper argues that human dignity can no longer be seen as an „inalienable dowry“ that nobody can lose. Instead, dignity is a precarious „potential“ to human flourishing and to a life in respect and selfrespect that needs to be protected by corresponding human rights. Therefore, dignity is the explicit reason or „purpose“ behind the proclamation of human rights today: as necessary legal conditions for living a life in respect and self-respect. As a consequence, philosophy of law should not make the mistake of extrapolating from categorical human rights, held by all human beings just by being human, to a likewise categorical possession of dignity, which we cannot presuppose in the same way. Instead, it is because human beings do not have equal human dignity from the start that they all have equal human rights. Georg Lohmann: Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Das menschenrechtliche Würdeverständnis nach 1945 (S. 46-63) Der Aufsatz untersucht die neue Bedeutung der Rede von „Menschenwürde“ um und nach 1945. So wie die Menschenrechte als Antwort auf die bar- barischen Akte der Nazizeit und anderer Diktaturen neu formuliert werden, wird auch der Würdebegriff gegenüber seiner bisherigen Geschichte neu gefasst: Die allgemeine Menschenwürde, die – wie die Menschenrechte auch – individuell, egalitär, kategorisch und universell verstanden werden muss, wird so zum ersten Mal unmittelbar mit der Trägerschaft von Menschenrechten verknüpft. Inhaltliche Bestimmungen der Menschenwürde beziehen sich zunächst auf die Fähigkeiten des Menschen zu freier, überlegter Selbstbestimmung, dann auf die damit gegebenen Möglichkeiten gleicher Selbstachtung und Selbstwertschätzung sowie auf die notwendigen Existenzbedingungen menschenwürdigen Lebens. In Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Forderung nach einem „Recht, Rechte zu haben“ sowie mit Immanuel Kants Interpretation des Würdebegriffs wird die systematische Verbindung von Würde und Rechten als „rechtsverbürgende Kraft“ der Menschenwürde interpretiert und einer dezidiert republikanischen Deutung unterzogen: Mit dem Begriff „Menschenwürde“ wird eine Norm bezeichnet, die angibt, wie Menschen, und zwar in den doppelten Rollen als Adressaten und Autoren der Menschenrechte, insgesamt leben sollen. The rights-guaranteeing power of human dignity. The notion of dignity in the human rights discourse after 1945 The paper explores the new meaning of „human dignity“ around and after 1945. Similarly to the re-articulation of human rights as a response to the horrible acts of the Nazi regime and other dictatorships, the notion of dignity is also reinterpreted in a way that is historically unprecedented: for the first time, human dignity – understood as individual, egalitarian, categorical and universal – is directly connected to the ability to bear human rights. Definitions of human dignity do first refer to the ability of human beings to free and rational selfdetermination, second, to the resulting possibilities of equal self-respect and self-esteem and third, to the necessary material conditions for a humane life. Drawing on Hannah Arendt’s claim of a „right to 231 zfmr 1 ❘ 2010bc have rights“ and on Immanuel Kant’s interpretation of the notion of dignity, the bond between dignity and rights is understood as the „rights-guaranteeing power“ of human dignity. From a decidedly republican angle, the notion of „human dignity“ is understood as a norm that indicates how human beings in their twofold role as recipients and authors of human rights should live. Marcus Düwell: Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte (S. 64-79) Es ist umstritten, was man vom Begriff der Menschenwürde in verschiedenen normativen Diskursen erwarten kann. Der vorliegende Beitrag versucht daher zunächst zu inventarisieren, welche Fragen an ein gehaltvolles Konzept von Menschenwürde gerichtet werden müssen: So wird der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten, die Frage nach dem Träger der Menschenwürde, nach dem normativen Gehalt der Menschenwürde sowie nach den institutionellen und gesellschaftstheoretischen Aspekten der Menschenwürde thematisiert. Ob „Menschenwürde“ ein leerer oder gehaltvoller Begriff ist, hängt davon ab, inwiefern es gelingt, diese Fragen philosophisch verbindlich zu beantworten. Ferner geht es darum, eine Übersicht über die möglichen Interpretationen des Verhältnisses von Menschenwürde und Menschenrechten zu gewinnen. Abschließend wird in groben Zügen ein eigener konstruktiver Vorschlag skizziert, der den Kern der Menschenwürde im Schutz der Ermöglichung zu einer autonomen Lebensführung für alle handlungsfähigen Wesen sieht. Der Beitrag will im Wesentlichen die Fragen formulieren, denen sich eine Ethik der Menschenwürde stellen muss. Human dignity as the basis for human rights It is deeply contested what we can expect from a concept of human dignity. This paper first offers an inventory of questions to be addressed when developing a substantial concept of human dignity: 232 issues to be dealt with are the relationship between human dignity and human rights, the subject of human dignity, the normative content and the institutional and social implications of human dignity. Whether human dignity is an empty vessel or rich in content depends on the possibility of answering these questions in a non-arbitrary way. The article then offers an overview of the various possibilities to conceptualize the relationship between human rights and human dignity. Finally, a constructive proposal is presented that formulates the protection of the ability to lead an autonomous life as the normative core of human dignity. In essence, the paper articulates core questions that ethics of human dignity have to answer. Martha Nussbaum: Menschenwürde und politische Ansprüche (S. 80-97) In ihrem Artikel verteidigt Martha Nussbaum eine aristotelisch-marxistische Theorie der Würde, die sie gegenüber anderen Würde-Ansätzen, vor allem aber gegenüber der stoischen Theorie der Würde verteidigt. Den griechischen und römischen Stoikern zufolge besteht die Grundlage der Gemeinschaft der Menschheit in dem Wert der Vernunft und der gleichen Achtung eines jeden Menschen – eine Ansicht, die auch Kant stark beeinflusst hat. Diese Vorstellung von Würde birgt jedoch eine Reihe von Problemen. Zum einen sind nichtmenschliche Tiere von dieser Konzeption völlig ausgeschlossen, zum anderen kann der Stoiker nicht erklären, wieso es problematisch ist, wenn eine Person gedemütigt wird oder ihr Schicksalsschläge widerfahren, denn der unveräußerliche Wert eines Menschen existiert auch dann, wenn alles in der Welt schlecht gelaufen ist. Nussbaums aristotelisch-marxistische Theorie der Würde hingegen geht von der Annahme aus, dass Würde nicht nur in Rationalität, sondern in menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen und deren Möglichkeit auf Entwicklung und Ausübung liegt. Das lässt Raum für eine plurale Würdevorstellung, die nicht nur der stoischen Würdetheorie Abstracts ❘ zfmr 1/2010 überlegen ist, sondern die Pluralität vielfältiger Lebensentwürfe und Kontexte berücksichtigt, einschließlich der nichtmenschlicher Tiere. Human dignity and political claims Against a Stoic theory of human dignity, Martha Nussbaum defends an Aristotelian/Marxist account of dignity which sees the dignity of the human being as squarely a part of the world of nature and does not posit a sharp split between rationality and other human capacities. According to the Greek and Roman Stoics, the basis for human community is the worth of reason in each and every human being as well as equal respect of all humans. But according to the author, this notion of dignity faces serious problems. Non-human beings are completely excluded and the Stoics cannot explain why it is a violation of one’s dignity if a person is humiliated, since it does not remove or damage the moral capacities. Nussbaum’s Aristotelian/Marxian approach defends that human beings have a worth that is indeed inalienable, because of their capacities for various forms of activity and striving. These capacities are, however, dependent on the world for their full development and for their conversion into actual functioning. This approach allows for a plural notion of dignity which avoids the problems of the Stoic’s position and respects different versions of the good life as well as contexts of living, including those of non-human animals. Ralf Stoecker: Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten (S. 98-116) Obwohl der Begriff der „Menschenwürde“ seit einigen Jahren auf wachsendes theoretisches Interesse bei MoralphilosophInnen stößt, hält sich hartnäckig der (erst kürzlich wieder in den USA von Ruth Macklin geäußerte) Verdacht, dass der Begriff bestenfalls redundant und schlimmstenfalls polemisch sei. In meinem Beitrag diskutiere ich eine Reihe von Gründen (teilweise aus dem Bereich der Pflegeethik und der psychiatrischen Ethik, teilweise aus der gedanklichen Reflexion besonders schwer wiegender Menschenwürdeverletzungen), die dafür sprechen, das Konzept der Menschenwürde sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht eng mit der Vorstellung (kontingenter) sozialer Würde zu verknüpfen. Das Gebot, die Würde des Menschen zu achten, verlangt demnach, jeden Menschen als individuellen Träger von Würde anzuerkennen. Insofern haben wir eine Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten, und zwar nicht nur durch Unterlassen, sondern gegebenenfalls auch durch aktive Hilfe. The duty to preserve human dignity In modern philosophy, the concept of „human dignity“ is often met with suspicion. For example, ethicist Ruth Macklin recently argued that there is no benefit to be gained from talking about dignity in applied ethics. In my article, I argue (partly drawing on findings in the ethics of nursery and psychiatry, partly on considerations of severe cases of violation of human dignity) that there are good reasons for employing a conception of human dignity that is tightly connected to (contingent) social dignity. Respecting human dignity, on this account, demands to value each individual’s status as bearer of dignity. Such an account is historically plausible and, in any case, philosophically attractive, since it provides a loophole between reductionist as well as eliminativist dismissals of human dignity. Hence, we have a duty to preserve the dignity of our fellow humans not only by means of omission, but if necessary also by active support. Peter Schaber: Unveräußerliche Menschenwürde (S. 118-172) Es wird üblicherweise angenommen, Menschenrechte seien unveräußerlich. Diese Annahme ist aber keineswegs selbstverständlich. Verschiedene Autoren vertreten die Meinung, es sei Rechten wesentlich, dass sie an andere Personen transferiert werden können. Dagegen wird in diesem Aufsatz für 233 zfmr 1 ❘ 2010bc die These argumentiert, dass zumindest diejenigen Menschenrechte, die direkt auf der Würde des Menschen beruhen, unveräußerlich sind. Inalienable human dignity It is often assumed that human rights are inalienable. But this cannot be taken for granted. Some contend that it is an inherent part of the concept of rights that these rights can be transferred. It is argued in this paper that this does not apply to all rights and that those human rights which are related to the idea of human dignity are indeed inalienable. Bernd Ladwig: Menschenrechte und Tierrechte (S. 130-156) In welchem Verhältnis steht der moralische Status nichtmenschlicher Tiere zu dem menschenrechtlichen Status, den wir uns selbst zuerkennen? Der Autor plädiert für ein interessenorientiertes Verständnis der Menschenrechte. Aus ihm folgt, dass auch erlebensfähige Tiere moralische Rechte haben. Gleiche moralisch erhebliche Interessen zählen gleich, egal, wessen Interessen es sind. Dieser Grundsatz spricht allerdings dafür, alle Rechte als abwägbar und abstufbar zu verstehen. Nur mit Hilfe sekundärer Gründe gelangen wir von ihm zu unserem menschenrechtlichen Status der Unverletzlichkeit. Die Menschenrechte könnten darum schwerer wiegen als die Rechte nichtmenschlicher Tiere. Doch schon schwache Rechte genügen, um die weitaus meisten der Praktiken, die Abermillionen von Tieren um ihr Leben und ihr Wohlergehen bringen, zu disqualifizieren. that we should give to the morally relevant interests of each the same serious consideration. But that principle is compatible with rights only in a weak sense. In order to justify our own strong status of inviolability, we have to refer to secondary reasons. As a consequence, human rights might outweigh animal rights in cases of moral conflict. But rights in a weak sense suffice to show that most of the practices violating the life and well-being of countless animals today are morally intolerable. Doris Angst: Das Minarettverbot in der Schweiz. Eine Diskursanalyse mit Blick auf die Menschenrechte (S. 158-172) Im November 2009 nahmen Schweizerinnen und Schweizer die Volksinitiative für ein Minarettverbot mit 57,5 % Ja-Stimmen an. Der Artikel untersucht die öffentliche Debatte und zeigt auf, dass es dabei um die Angst vor dem politischen Islam, aber mit der Einschränkung der Religionsausübung für eine Minderheit auch um die Einhaltung völkerrechtlicher Standards ging. The ban on minarets in Switzerland. An analysis of the public discourse in view of human rights standards In November 2009, 57.5 per cent of the Swiss voted „Yes“ for the ban of minarets in their country. The article analyzes the corresponding public debate and shows that, for many, the plebiscite was a means to express their fears of a political Islam. At the same time, by limiting the religious freedom of one group, international human rights standards were at stake. Human rights and animal rights The article discusses the relationship between the moral status of nonhuman animals and the moral status of human beings. Based on an interest-oriented conception of human rights, the author attempts to show that sentient animals have moral rights, too. An interest-oriented conception of rights requires 234 Basisthemen.indd 3