Book chapter - Archive ouverte UNIGE

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Die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Aufständische
und bewaffnete Gruppen: Status und Durchsetzung
SASSOLI, Marco
Reference
SASSOLI, Marco. Die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Aufständische und
bewaffnete Gruppen: Status und Durchsetzung. In: Matz-Lück, N. Der Status von Gruppen
im Völkerrecht. Berlin : Duncker & Humblot, 2016. p. 119-152
Available at:
http://archive-ouverte.unige.ch/unige:82823
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Die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Aufständische und bewaffnete
Gruppen: Status und Durchsetzung
von Prof. Dr. Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht und
Direktor der Abteilung für internationales Recht und
internationale Organisation an der Universität Genf, Schweiz ∗
A. Allgemeines
I.
Nicht-staatliche Akteure als allgemeine Herausforderung des
Völkerrechts
Trotz aller modernen Theorien konzentriert sich das Völkerrecht weiterhin auf das Phänomen
des Staates, als des wichtigsten Rechtsetzers, als Hauptadressaten von Rechtsregeln und als fast
immer einzigen Adressaten der Durchsetzungsmechanismen. Die internationale Wirklichkeit
ist hingegen immer mehr (auch) von nicht-staatlichen Akteuren geprägt. Im Allgemeinen ergibt
sich daraus das Dilemma, ob sich das Völkerrecht direkt an nicht-staatliche Akteure, zum
Beispiel multinationale Unternehmen, wenden soll mit der Folge, dass diese Akteure zu
„Subjekten“ des Völkerrechts werden, was auch immer das heißen mag. Oder soll das
Völkerrecht an der Fiktion festhalten, dass nur Staaten Rechte und Pflichten haben, Völkerrecht
schaffen und für dessen Einhaltung und Durchsetzung verantwortlich sind und dann sozusagen
als Mittler die Interessen und Bestrebungen nicht-staatlicher Akteure vertreten und für deren
Einhaltung des Völkerrechts unter ihrer Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsgewalt sorgen?
Dies ließe sich insbesondere damit rechtfertigen, dass Staaten viel mehr das Gemeinwohl
repräsentieren, als jeder andere Akteur.
II.
Zu beachtenden Besonderheiten für bewaffnete Gruppen
Im Allgemeinen ist die eben erläuterte Debatte eine, in der es gute Argumente für beide
Ansichten gibt. Es gibt jedoch ein Rechtsgebiet und eine Kategorie nicht-staatlicher Akteure,
bei denen die traditionelle Mediation des Völkerrechts und die eben beschriebene mittelbare
Durchsetzung gegenüber nicht-staatlichen Handelnden gar nicht erst in Frage kommen: das
humanitäre Völkerrecht und dessen Entwicklung, Anwendung und Durchsetzung durch
Aufständische und bewaffnete Gruppen und in Bezug auf solche Gruppen. Das innerstaatliche
Recht des Territorialstaats und seine Durchsetzungsmechanismen versagen schon
definitionsgemäß gegenüber bewaffneten Gruppen, mit denen sich der Staat eben gerade in
einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt befindet (oder die der Territorialstaat
zumindest nicht daran hindern kann, gegeneinander eine bewaffnete Auseinandersetzung zu
führen).
Zudem haben erstens bewaffnete Gruppen im humanitären Völkerrecht eine größere Bedeutung
als nicht-staatliche Akteure auf den meisten anderen Gebieten des Völkerrechts. Die
überwiegende Zahl der bewaffneten Konflikte sind heute nicht-internationale bewaffnete
Konflikte 1. Mit Blick auf die Definitionsmerkmale sind mindestens die Hälfte der Parteien
solcher Konflikte nicht-staatliche bewaffnete Gruppen, und in Wirklichkeit haben diese einen
noch viel größeren Anteil, weil oft mehrere Gruppen gegen den Staat oder untereinander
∗
Der Autor war von 2004-2013 Vorsitzender der NGO Geneva Call, aber dieser Beitrag gibt nur seine
persönliche Meinung wieder. Ich danke meiner ehemaligen Studentin, Frau Nele Achten, LL.M. (Geneva
Academy of International Humanitarian Law and Human Rights) für die Durchsicht dieses Textes und viele
kritische Bemerkungen zu seiner Verbesserung.
1
Siehe Uppsala Conflict Data Program, UCDP Conflict Encyclopedia: http:// www.ucdp.uu.se/database (letzter
Zugriff am: 24.8.2015).
1
kämpfen. Zweitens sind nicht-staatliche bewaffnete Gruppen, anders als andere nicht-staatliche
Akteure, nach dem Recht des Territorialstaats illegal, was die Mittlerrolle des staatlichen Rechts
zumindest unangebracht erscheinen lässt. Drittens wird im Folgenden zu zeigen sein, dass sich
das humanitäre Völkerrecht schon heute ausdrücklich an nicht-staatliche bewaffnete Gruppen
richtet. Die vierte Besonderheit liegt in dem Umstand, dass Staaten, und unter ihnen
insbesondere fast alle kriegführenden Staaten, gegenüber Aufständischen im Vergleich zu
anderen nicht-staatlichen Akteuren eine „Vogel-Strauß-Politik“ verfolgen. Sie misstrauen dem
gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen, 2 der festhält: „Die Anwendung der
vorstehenden Bestimmungen [des humanitären Völkerrechts] hat auf die Rechtsstellung der am
Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss.“
Die Staaten wehren sich vehement gegen jeglichen Dialog einer internationalen
(zwischenstaatlichen oder nicht-staatlichen) Organisation über humanitäre Fragen mit
Rebellen, gegen welche sie kämpfen. Sie glauben, ihr Kampf werde erleichtert, wenn sie den
Gegner ignorieren. Sie sind überzeugt, dass Verhandlungen mit Rebellen, insbesondere wenn
sie auf eine Verpflichtung dieser „Terroristen“ zur Einhaltung internationaler Regeln
hinauslaufen, diesen mit einer internationalen Anerkennung den Weg zum Sieg ebnen. Dazu
kommt, dass bewaffnete Gruppen zumindest vom Staat, gegen den sie kämpfen, oft aber auch
von Drittstaaten und von internationalen Organisationen als „Terroristen“ angesehen werden,
die mit allen Mitteln isoliert werden müssen und mit denen jedweder Dialog, auch über rein
humanitäre Fragen, eine strafbare Unterstützung des Terrorismus darstellt.
Im vorliegenden Beitrag werde ich die Begriffe „bewaffnete Gruppen“ und „Aufständische“
als Synonyme für alle nicht-staatlichen Parteien eines bewaffneten Konflikts benutzen.3
Während Aufständische im traditionellen Völkerrecht neben Rebellen und Kriegführenden, 4
nur eine Kategorie von Bürgerkriegsparteien waren, sind sie heute alle (auch) „bewaffnete
Gruppen“ im Sinne des humanitären Völkerrechts.
III.
Können nur Subjekte einer Rechtsordnung in dieser Rechte und
Pflichten haben?
Die Anerkennung eines völkerrechtlichen Status von bewaffneten Gruppen stößt somit in der
Praxis auf größte Hindernisse. Die dogmatisch entscheidende Frage ist, ob die Einordnung als
Rechtssubjekt in einer Rechtsordnung Voraussetzung für das Bestehen von Rechte und
Pflichten innerhalb dieser Rechtsordnung ist. 5 Dies hängt wiederum mit der Debatte um den
Begriff des Völkerrechtssubjekts zusammen. Die einen wollen nur staatsähnlichen Gebilden
Völkerrechtssubjektivität zuerkennen, die völkerrechtliche Verträge abschließen,
diplomatische Beziehungen haben und selbst Forderungen nach Wiedergutmachung stellen
2
Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der
bewaffneten Kräfte im Felde (GA I); Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zur Verbesserung des Loses der
Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See (GA II); Genfer Abkommen vom
12.08.1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen (GA III); Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den
Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (GA IV) (BGBl. III, 781) [hiernach: Genfer Abkommen].
3
Siehe zur Definition bewaffneter Gruppen im Einzelnen Zakaria Daboné, Le droit international public relatif
aux groupes armés non étatiques, 2012, 63 ff.
4
Siehe Emily Crawford, Insurgency, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Bd. 5, 2012,
225.
5
So etwa Joe Verhoeven, Droit international public, 2000, 296; Jean Combacau/Serge Sur, Droit international
public, 8. Aufl. 2008, 316 f.; A.A. Christian Dominicé, La personnalité juridique dans le système du droit des
gens, in: Jerzy Makarczyk (Hrsg.), Theory of International Law at the Threshold of the 21st Century. Essays in
honour of Krzysztof Skubiszewski, 1996, 153.
2
können. 6 Der IGH scheint, mit Ausnahme des zweiten Kriteriums, ebenfalls eher dieser These
zu folgen, wenn er von einem Völkerrechtssubjekt verlangt, dass es „capable of possessing
international rights and duties“ sein und die „capacity to maintain its rights by bringing
international claims“ besitzen müsse. 7 Für andere kommt es hingegen lediglich darauf an, ob
ein Gebilde völkerrechtliche Rechte und Pflichten hat. 8 Einige lehnen den Begriff des
Völkerrechtssubjekts ganz ab und machen geltend, es gehe bloß um die Frage, ob ein
bestimmtes Verhalten vom Völkerrecht geregelt ist, mit der Folge, dass sie lediglich von
Teilnehmern des Völkerrechts sprechen. 9
Für die Problematik des Status von Aufständischen und bewaffneten Gruppen ist es von
besonderer Bedeutung, dass die Diskussion je nach Ausgangspunkt an verschiedenen Enden in
einem Zirkelschluss endet. Während nämlich die Völkerrechtssubjektivität zumindest auch
davon abhängt, ob ein Gebilde nach Völkerrecht Rechte und Pflichten hat, hängt die Antwort
auf diese Frage nach herrschender Lehre wiederum davon ab, ob dieses Gebilde
Völkerrechtssubjekt ist. Dies gilt zumindest für solche Regeln, in denen nicht ausdrücklich
normiert ist, wer deren Adressat ist, insbesondere für völkergewohnheitsrechtliche Regeln, die
von der Praxis und opinio juris der Staaten geschaffen wurden. Wenn die
Völkerrechtssubjektivität bejaht werden könne, wird weiter behauptet, sei das Subjekt auch an
die Regeln des allgemeinen Völkerrechts auf diesem Gebiet gebunden. Dabei wird oft ein
berühmtes Diktum des IGH zitiert: „International organizations are subjects of international
law and, as such, are bound by any obligations incumbent upon them under general rules of
international law […].” 10 Meiner Ansicht nach besagt dies nicht, dass jedes Subjekt im Ausmaß
seiner Subjektivität alle bestehenden Rechte und Pflichten des allgemeinen Völkerrechts hat.
Wie die Worte „incumbent upon them“ hervorheben, besagt es nur, dass ein solches Subjekt
Rechte und Pflichten haben kann. In der Diskussion um die Anwendbarkeit des humanitären
Völkerrechts auf internationale Organisationen ist dies aber eindeutig nicht die herrschende
Meinung. Diese ist vielmehr der Ansicht, internationale Organisationen seien als
Völkerrechtssubjekte zumindest an die gewohnheitsrechtlichen Regeln des humanitären
Völkerrechts gebunden. 11 Die gerade in diesem Punkt sehr zweifelhafte Praxis der
internationalen Organisationen und Staaten wird dabei von der herrschenden Meinung
vernachlässigt. Nach der herrschenden Meinung läuft damit im Sinne des oben angesprochenen
Zirkelschlusses alles darauf hinaus, dass ein Gebilde Völkerrechtssubjekt ist, wenn es Rechte
6
Siehe Dominicé, ebenda, 147 ff.; Giovanni Distefano, Observations éparses sur les caractères de la personnalité
juridique internationale, Annuaire français de droit international 52 (2007), 105 ff., und weitgehend Jan
Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl. 2009, 40.
7
ICJ, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Reports 1949,
174, 179.
8
Hermann Mosler, Réflexions sur la personnalité juridique en droit international public, in: Mélanges offerts à
Henri Rolin. Problèmes de droit des gens, 1964, 234; Julio A Barberis, Nouvelles questions concernant la
personnalité juridique internationale, Recueil des cours 179 (1983), 167 f.; Bettina Kahil-Wolff, L’individu en
tant que sujet de droit international public, Revue de droit suisse 116 (1997), 125; Jean Salmon, Dictionnaire de
droit international public, 2001, 820; Combacau/Sur (Anm. 5), 312; Hersch Lauterpacht, The Subjects of
International Law, in: Elihu Lauterpacht (Hrsg.), International Law. Being the Collected Papers of Hersch
Lauterpacht, Bd. 1: The General Works, 1970, 147. Siehe im allgemeinen zu dieser Debatte: Vincent Chetail, Le
droit d’avoir des droits en droit international public: réflexions sur la subjectivité internationale de l’individu, in:
Marie-Claire Caloz-Tschopp (Hrsg.), Lire Hannah Arendt aujourd’hui. Pouvoir, guerre, pensée, jugement
politique, 2008, 217 ff.
9
Siehe insb. Rosalyn Higgins, Problems and Process: International Law and how we use it, 1994, 49.
10
ICJ, Interpretation of the Agreement of 25 March 1951 between the WHO and Egypt, Advisory Opinion, ICJ
Reports 1980, 89, para. 37.
11
Eric David, Principes de droit des conflits armés, 2. Aufl. 1999, 192.
3
und Pflichten hat, aber allgemein völkerrechtliche Pflichten hat, sobald es Völkerrechtssubjekt
ist. 12
Der vorliegende Beitrag soll darstellen, wieweit bewaffnete Gruppen vom Völkerrecht
angesprochen werden und ob die statuierten Rechte und Pflichten nicht noch weitergehen
sollten. Je nachdem, welcher Theorie man folgt, können bewaffnete Gruppen dann wie von mir
als beschränkte, funktionale Subjekte des humanitären Völkerrechts bezeichnet werden 13 oder
nicht. 14
B. Verpflichtungen bewaffneter Gruppen im humanitären Völkerrecht
I. Rechtsgrundlagen
Das humanitäre Völkerrecht ist heute weitgehend in universellen Verträgen niedergeschrieben,
insbesondere den vier Genfer Abkommen von 1949 15 und ihren zwei Zusatzprotokollen von
1977. 16 Diese Verträge trennen strikt internationale und nicht-internationale bewaffnete
Konflikte. Letztere, in die auch die meisten bewaffneten Gruppen verwickelt sind, werden von
Bestimmungen geregelt, die weniger zahlreich und detailliert sind und den Opfern weniger
Schutz bieten. Aus den vier Genfer Abkommen ist lediglich der gemeinsame Artikel 3
anwendbar. Daneben ist in gewissen Fällen das zweite Zusatzprotokoll anwendbar, nämlich
wenn der am Konflikt beteiligte Staat Vertragspartei des Zusatzprotokolls ist und die
Aufständischen einen Teil des Territoriums kontrollieren. 17
Was das Völkergewohnheitsrecht betrifft, kommt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz
(IKRK) in einer sehr ausführlichen Studie zu dem Schluss, dass die meisten Regeln des
Gewohnheitsrechts auf internationale und nicht-internationale Konflikte gleich anwendbar
seien. In seiner Studie stützt sich das IKRK allerdings nur auf Praxis von Staaten und nicht auch
auf diejenige von Aufständischen, und hierbei mehr darauf, was die Staaten sagen, als was sie
wirklich tun. 18
Technisch ist ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt ein solcher, „der keinen
internationalen Charakter aufweist.“ 19 Es ist heute weitgehend anerkannt, dass jeder bewaffnete
12
So für bewaffnete Gruppen Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the United Nations
Secretary-General vom 25.01.2005 (UN Doc. S/2005/60), para. 172.
13
Ebenso Sandesh Sivakumaran, Binding Armed Opposition Groups, International and Comparative Law
Quarterly 55 (2006), 373 f.; Daboné (Anm. 3), 130 ff.; Lindsay Moir, The Law of Non-International Armed
Conflict, 2002, 63 f.; Report of the International Commission of Inquiry on Darfur to the United Nations
Secretary-General vom 25.01.2005 (UN Doc. S/2005/60), para. 172. Siehe auch Wilhelm Wengler, Der Begriff
des Völkerrechtssubjektes im Lichte der politischen Gegenwart, Friedenswarte 51 (1951-53), 113, 125 f.; Paul
Guggenheim, Traité de droit international public, Bd. 2, 1954, 314.
14
So das Verfassungsgericht von Kolumbien in Fall Nr. C-225/95, teilweise auf Englisch wiedergegeben in
Marco Sassòli, Antoine Bouvier und Anne Quintin, How Does Law Protect in War? 3. Aufl. 2011, 2240, para.
14. Eine ausführliche aber zu keinem eindeutigen Schluss führende Kritik findet sich auch bei Raphaël van
Steenberghe, Théorie des sujets, in: Raphaël van Steenberghe (Hrsg.), Droit international humanitaire: un régime
special de droit international, 2013, 45 ff.
15
Genfer Abkommen (Anm. 2).
16
Zusatzprotokoll vom 8.06.1977 zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer
internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) und Zusatzprotokoll vom 8.06.1977 zu den Genfer
Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll
II), BGBl. 1990 II, 1550 [hiernach: Erstes Zusatzprotokoll und Zweites Zusatzprotokoll].
17
Siehe Zweites Zusatzprotokoll (ebenda, Anm. 16) Art. 1 (1).
18
Jean-Marie Henckearts/Louise Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, 2005.
19
Siehe gemeinsamer Artikel 3 der Genfer Abkommen (Anm. 2) und Art. 1 des Zweiten Zusatzprotokolls (Anm.
16).
4
Konflikt, in dem sich nicht Staaten bekriegen, ein nicht-internationaler ist, 20 auch wenn er sich
über viele Staaten erstreckt und ausländische Staaten, wie z.B. in Afghanistan, die Regierung
im Kampf gegen die bewaffneten Gruppen unterstützen. Nur wenn bewaffnete Gruppen, die
einen Staat bekämpfen, unter Kontrolle eines fremden Staates stehen, 21 oder wenn sie nationale
Befreiungsbewegungen sind, ist das Recht der internationalen Konflikte anwendbar. Nach
Artikel 1 (4) des Ersten Zusatzprotokolls „gehören auch bewaffnete Konflikte [zu den
internationalen], in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen
rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der
Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts
betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im
Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist.“ 22 In diesem Fall haben also
bewaffnete Gruppen, zumindest was das humanitäre Völkerrecht betrifft, den gleichen Status
wie ein Staat. Abgesehen von der aus humanitärer Sicht entscheidenden Frage, ob solche
Bewegungen die detaillierten und anspruchsvollen Regeln, zum Beispiel diejenigen zum Schutz
der Kriegsgefangenen oder der Bevölkerung besetzter Gebiete, in der Lage wären, einzuhalten,
gibt es wenige Situationen, von denen anerkannt ist, dass sie die Kriterien des Artikel 1(4)
Erstes Zusatzprotokoll erfüllen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Staat anerkennt, dass sein
Gegner eine nationale Befreiungsbewegung ist, weil er damit eingestehen müsste, dass er selbst
eine Kolonialmacht, ein fremder Besetzer oder ein rassistisches Regime ist. Daher ist dieser
Ausnahmefall in der Praxis ein toter Buchstabe geblieben.
Auch bewaffnete Gruppen, die keine nationalen Befreiungsbewegungen sind, sind aber an das
humanitäre Völkerrecht gebunden. Der gemeinsame Artikel 3 sieht ausdrücklich vor, dass „jede
der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten“ ist, dessen Bestimmungen einzuhalten. 23 Das
Zweite Zusatzprotokoll ist weniger eindeutig. Dessen Regeln wurden absichtlich von den
Staaten im Passiv formuliert, um offenzulassen, wen sie verpflichten. In ihrer westfälischen
Souveränitätsbesessenheit wollten die Staaten vermeiden, Gruppen gegen die sie kämpfen,
irgendeinen Status zu verleihen. 24 Sie verwarfen daher einen Vorschlag, der vorsah
festzuhalten, das Zusatzprotokoll binde beide Konfliktparteien gleichermaßen. 25 In der Lehre
ist es jedoch unbestritten, dass dies so sein muss. 26
Andere Verträge des humanitären Völkerrechts, wie etwa das Ottawa-Übereinkommen gegen
Anti-Personenminen, richten sich ausdrücklich nur an Staaten und sehen lediglich vor, dass
diese dafür sorgen müssen, dass sich bewaffnete Gruppen an die Regeln des Übereinkommens
20
Siehe Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA i.S. Hamdan v. Rumsfeld vom 29.06.2006, 548 US 557.
Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Prosecutor v. Tadić, Appeal Judgment, ICTY,
Appeals Chamber, 15.07.1999, paras. 116-144.
22
Art. 1(4) des Ersten Zusatzprotokolls (Anm. 16).
23
Liesbeth Zegveld, Accountability of Armed Opposition Groups in International Law, 2002, 9 ff., mit weiteren
Verweisen.
24
Siehe Rosemary Abi-Saab, Droit humanitaire et conflits internes, 1986, 156 ff.; Georges Abi-Saab, NonInternational Armed Conflicts, in: International Dimensions of Humanitarian Law, 1988, 217, 231.
25
Siehe Art. 5 des Entwurfs des IKRK zum Zweiten Zusatzprotokoll, Draft Additional Protocols to the Geneva
Conventions of August 12, 1949, October 1973.
26
Siehe François Bugnion, Jus ad Bellum, Jus in Bello and Non-International Armed Conflict, Yearbook of
International Humanitarian Law 6 (2003), 167; Yves Sandoz/Christophe Swinarski/Bruno Zimmermann (Hrsg.),
Commentary on the Additional Protocols of 8 June 1977 to the Geneva Conventions of 12 August 1949, 1987,
paras. 4442 ff.; Rosemary Abi-Saab (Anm. 24), 157 ff.; Michael Bothe, Conflits armés internes et droit
international humanitaire, Revue générale de droit international public 82 (1978), 92 f.
21
5
halten. 27 Dies entspricht einer streng dualistischen Durchsetzung gegenüber Subjekten des
innerstaatlichen Rechts. Gerade um bewaffnete Gruppen direkt zu Adressaten des Verbots von
Anti-Personenminen zu machen, ergriff die weiter unten zu behandelnde NGO „Geneva Call“
die Initiative, bewaffnete Gruppen durch Unterzeichnen eines „Deed of Commitment“ dazu zu
bringen, sich zu verpflichten, keine Anti-Personenminen zu gebrauchen. 28
II. Grund für eine Verpflichtung
Während unumstritten ist, dass bewaffnete Gruppen an die Regeln des humanitären
Völkerrechts der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte gebunden sind, ist umstritten,
warum dies so ist. 29
Erstens wird darauf abgestellt, dass die meisten Regeln des humanitären Völkerrechts
Völkergewohnheitsrecht entsprächen und Völkergewohnheitsrecht alle Rechtsubjekte binde.
Dies setzt aber wiederum voraus, dass einerseits alle Rechtssubjekte bei der gleichen Tätigkeit
an dieselben Regeln gebunden sind. 30Anderseits stimmt das nur, wenn bewaffnete Gruppen
zumindest auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts beschränkte Völkerrechtssubjektivität
genießen. Die beschränkte Völkerrechtssubjektivität bewaffneter Gruppen wird wiederum aus
dem Willen der Staaten abgeleitet, weil diese bewaffneten Gruppen anderenfalls nicht
bestimmte Pflichten auferlegen könnten. 31 Wenn aus Völkergewohnheitsrecht abgeleitet wird,
dass bewaffnete Gruppen an Regeln des humanitären Völkerrechts gebunden sind, sollte, wie
im Folgenden zu zeigen sein wird, meines Erachtens konsequenterweise auch die Praxis und
die opinio juris eben dieser bewaffneten Gruppen betrachtet werden. 32 Schließlich wird
behauptet, es gebe eine Gewohnheitsrechtsregel oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, nach
dem bewaffnete Gruppen an völkerrechtliche Verpflichtungen gebunden sind, welche der
Territorialstaat für sie eingegangen ist. 33
Zweitens wird geltend gemacht, bewaffnete Gruppen seien aufgrund der Regeln über Verträge
zulasten Dritter gebunden. 34 Dies setzt aber voraus, dass die bewaffneten Gruppen diese
Verpflichtungen wirklich akzeptiert haben 35 und dass die Regeln über Verpflichtungen zulasten
Dritter für nicht-staatliche Akteure dieselben sind wie für Staaten. Ein dritter Ansatz beruft sich
auf den Grundsatz der Effektivität, der besagen soll, dass diejenigen, welche auf dem
Territorium eines Staates staatsähnliche Macht ausüben, an die Verpflichtungen des Staates
gebunden sind. 36
In der Praxis ist viertens zumindest für bewaffnete Gruppen, welche die Macht im Staat
übernehmen wollen oder einen neuen Staat gründen wollen, das Argument von Bedeutung, dass
27
Art. 9 des Übereinkommens vom 18.09.1997 über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung
und der Weitergabe von Anti-Personenminen und über deren Vernichtung (sog. Ottawa-Übereinkommen, BGBl.
1998 II, 778).
28
Siehe unten, Anm. 48-50 und begleitender Text.
29
Siehe Sivakumaran (Anm. 13), 369.
30
Siehe dazu oben, Anm. 10-12 und begleitenden Text.
31
So schon Guggenheim (Anm. 13), 314; Gerald I. A. D. Draper, The Red Cross Conventions, 1958, 17;
Charles Zorgbibe, La guerre civile, 1975, 187 ff.
32
Siehe unten, Anm. 79-83 und begleitender Text.
33
Bothe (Anm. 26), 91 ff.
34
Siehe Antonio Cassese, The Status of Rebels under the 1977 Geneva Protocol on Non-International Armed
Conflicts, International and Comparative Law Quarterly 30 (1981), 416, 423 ff.
35
Ähnlich skeptisch Sivakumaran (Anm. 13), 378 f.
36
Roger Pinto, Les règles du droit international concernant la guerre civile, Recueil des cours 114 (1965), 451,
528; Zegveld (Anm. 23), 15.
6
Völkerrecht Staaten und nicht Regierungen verpflichtet. Nach dem Kommentar des IKRK soll
dies zur Folge haben, dass Gruppen, schon an die humanitären Völkerrechtsregeln für Staaten
gebunden sind, bevor sie ihr Ziel erreicht haben. 37 Nachträglich, also wenn die Aufständischen
ihr Ziel erreicht haben, entspricht dies den Regeln über die Zurechnung der
Staatenverantwortlichkeit, 38 die ja wohl voraussetzen müssten, dass die primären Pflichten
schon bestanden haben, als sie von den Aufständischen verletzt wurden. 39 Fünftens können
zumindest strenge Monisten behaupten, bewaffnete Gruppen seien an die Verpflichtungen
gebunden, welche der Staat eingegangen ist, der über sie Gesetzgebungskompetenz hat. 40 In
monistischen Staaten mag dies für Regeln gelten, die „self-executing“ sind, während es in
dualistischen Staaten dazu noch einer Durchsetzungsgesetzgebung bedarf, 41 die in der Praxis
oft nicht existiert.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass keine dieser Erklärungen voll überzeugt. Die
meisten von ihnen werden insbesondere nicht bewaffnete Gruppen überzeugen, da sie auf einer
Verpflichtung des Staates beruhen, den sie bekämpfen. Auch deshalb ist es angebracht,
bewaffnete Gruppen dazu zu bewegen, sich durch Abmachung oder einseitige Erklärung selbst
zur Einhaltung von Regeln des humanitären Völkerrechts zu verpflichten.
III. Die Aufforderung an bewaffnete Gruppen, Sondervereinbarungen zu
schließen
Eine Art, wie bewaffnete Gruppen Verpflichtungen eingehen können, ist im gemeinsamen
Artikel 3 der Genfer Abkommen ausdrücklich vorgesehen: „Die am Konflikt beteiligten
Parteien werden sich andererseits bemühen, durch besondere Vereinbarungen auch die anderen
Bestimmungen des vorliegenden Abkommens ganz oder teilweise in Kraft zu setzen.“ Es ist
umstritten, ob solche Vereinbarungen dem Völkerrecht unterstehen, 42 was wiederum
Rückschlüsse auf den Status bewaffneter Gruppen erlauben würde. Meines Erachtens ist die
Alternative, dass sie dem Recht des Territorialstaates unterstünden, nicht denkbar. Erstens
wären sie nach diesem nationalen Recht meist ungültig, da bewaffnete Gruppen wegen ihres
rechtswidrigen Ziels keine Rechtspersönlichkeit nach eben diesem nationalen Recht haben.
Ebenso würde der Inhalt solcher Vereinbarungen (zum Beispiel die Behandlung von Soldaten,
die von Aufständischen gefangen gehalten werden) dem nationalen Recht widersprechen.
Zweitens würde eine Unterstellung unter das Rechtssystem des Staates einer Partei, nämlich
37
Jean S. Pictet (Hrsg.), The Geneva Conventions of 12 August 1949: Commentary, III, Geneva Convention
Relative to the Treatment of Prisoners of War, 1960, 37.
38
Art. 10 des Artikelentwurfes über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen der
UN-Völkerrechtskommission, Anhang zu Resolution 56/83 der UNO-Generalversammlung vom 12.12.2001,
Beilage, deutsch: http://www.un.org/Depts/german/gv-56/band1/56bd-6.pdf (letzter Zugriff am: 26.8.2015)
[hiernach Artikel zur Staatenverantwortlichkeit], besagt: „(1) Das Verhalten einer aufständischen Bewegung, die
zur neuen Regierung eines Staates wird, wird nach dem Völkerrecht als Handeln dieses Staates betrachtet. (2)
Das Verhalten einer aufständischen oder anderen Bewegung, die erfolgreich einen neuen Staat auf Teilen des
Gebietes eines zuvor bestehenden Staates oder auf einem Gebiet unter dessen Verwaltung errichtet, wird nach
dem Völkerrecht als ein Handeln des neuen Staates betrachtet […].“.
39
Siehe unten, Anm. 68-69 und begleitenden Text.
40
Sivakumaran (Anm. 13), 381 ff.
41
Sandoz et al. (Anm. 26), para. 4444; und Georges Abi-Saab (Anm. 24), 230.
42
Sandesh Sivakumaran, The Law of Non-International Armed Conflict, 2012, 109. Dafür Sivakumaran (Anm.
12), 389 ff.; Daboné (Anm. 3), 146 ff.; skeptisch: van Steenberghe (Anm. 14), 62 ff. Ablehnend, zumindest für
ein Friedensabkommen, Prosecutor v. Brima, Kamara and Kanu, Special Court for Sierra Leone, Appeals
Chamber, Decision on Challenge to Jurisdiction, Lomé Accord Amnesty, 13.03.2004, paras 41-48.
7
der Regierung, erlauben, durch Gesetzesänderung die Vereinbarung abzuändern, was der
Bestimmung im gemeinsamen Artikel 3 ihren „effet utile“ rauben würde.
Solche Vereinbarungen wurden insbesondere in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien
unter Schirmherrschaft des IKRK abgeschlossen. 43 Die UNO hat die Konfliktparteien im
Sudan, in Kongo und in Sierra Leone zum Abschluss solcher Vereinbarungen, manchmal in
Form eines (gemeinsamen) Verhaltenskodex, bewegt. 44 Sie haben den Vorteil, das anwendbare
Recht zwischen den Konfliktparteien zu klären und alle denselben Regeln zu unterwerfen, die
in der Regel detaillierter sind als das Recht der nicht-internationalen Konflikte. In der Praxis
sind jedoch Regierungen selten bereit, mit den Aufständischen zu verhandeln oder gar
Vereinbarungen abzuschließen. Trotz aller Beteuerungen des Gegenteils 45 bleiben Staaten
häufig davon überzeugt, dass den Aufständischen durch derartige Vereinbarungen ein Status
und internationale Anerkennung zuteilwerden würden.
IV. Die Möglichkeit der Abgabe einseitiger Erklärungen
1. Tatsächliche Bedeutung
Wie oben erörtert, sind bewaffnete Gruppen an das humanitäre Völkerrecht gebunden, auch
wenn sie sich selbst nicht dazu verpflichtet haben. Der diplomatische Nachteil aller
Begründungen für diese Bindung ist, dass sie die Verpflichtung von derjenigen der Staaten
ableiten, gegen welche die Gruppen oft kämpfen. In der Praxis ist es einfacher, die Einhaltung
einer Regel zu erreichen, wenn sich der Adressat, also hier die bewaffnete Gruppe, selbst dazu
verpflichtet hat. 46 Die Anführer, Eliten, Vertreter, Aktivisten und Sympathisanten, die an der
Aushandlung einer solchen Verpflichtung beteiligt waren, werden nicht nur mit dem
humanitären Völkerrecht vertraut. Zumeist sehen sie auch die Einhaltung entsprechender
Verpflichtungen als wichtig an für die Glaubwürdigkeit der Gruppe und werden deswegen
andere Mitglieder von der Wichtigkeit einer Einhaltung überzeugen. Das humanitäre
Völkerrecht kommt so zu Anwälten innerhalb der Gruppe. Der UNO-Generalsekretär schreibt
zu Recht: “Armed groups are not monoliths. They have entry points […]”. 47
Diese Erwägungen sprechen dafür, dass einseitige Verpflichtungen erfolgsversprechender sind,
um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in nicht-internationalen Konflikten zu
fördern. Die einseitigen Verpflichtungen sind nicht zuletzt auch deswegen wichtig, weil, wie
erwähnt, Sondervereinbarungen in der Praxis selten sind. Die bewaffnete Gruppe kann sich
dabei entweder dazu verpflichten, die auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte
43
Wiedergegeben bei Sassòli et al. (Anm. 14), 1711 ff.; Bosko Jakovljevic, Memorandum of Understanding of
27 November 1991: International Humanitarian Law in the Armed Conflict in Yugoslavia in 1991, Yugoslav
Review of International Law 3 (1991), 301; derselbe, The Agreement of May 22, 1992, on the Implementation of
International Humanitarian Law in the Armed Conflict in Bosnia-Herzegovina, Yugoslovenska Revija za
Medunarodno Pravo 39 (1992), 212; Yves Sandoz, Réflexions sur la mise en œuvre du droit international
humanitaire et sur le rôle du Comité international de la Croix-Rouge en ex-Yougoslavie, Schweizerische
Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 4 (1993), 461. Beispiele aus anderen Konflikten finden
sich bei Sivakumaran (Anm. 42), 125 ff.
44
Commission on Human Rights, UN ESCOR, Fundamental standards of Humanity, Report of the SecretaryGeneral submitted pursuant to Commission resolution 2000/69 vom 12.01.2001 (UN Doc. E/CN.4/2001/91),
paras 42-45.
45
Inklusive im oben, Anm. 2, zitierten 4. Absatz des gemeinsamen Artikels 3.
46
Report of the Secretary-General on the protection of civilians (Anm. 12), para. 41. Zegveld (Anm. 23),
erwähnt das Beispiel, dass die FLMN dem IKRK nicht erlaubte, Verwundete zu evakuieren, weil sie sich “did
not consider itself bound by Protocol II, unless it had concluded an agreement to this effect.”
47
Report of the Secretary-General,(Anm. 12), para. 46.
8
anwendbaren Regeln, oder darüber hinaus Regeln des Rechts der internationalen bewaffneten
Konflikte oder gar aus den Menschenrechten abgeleitete Verpflichtungen anzuwenden.
Dies ist der Ausgangspunkt der Tätigkeit einer NGO namens Geneva Call. 48 Alles fing im Jahre
2000 mit der Feststellung an, dass das Übereinkommen gegen Anti-Personenminen von Ottawa
weder bewaffnete Gruppen verpflichtet, 49 noch ihnen erlaubt, sich zu verpflichten, obwohl
heute bewaffnete Gruppen die häufigsten Benutzer solcher Anti-Personenminen sind. Geneva
Call schlug daher vor, dass sich solche Gruppen im Rathaus von Genf und mit dem Kanzler der
„République et Canton de Genève“ als Zeugen, in einer einseitigen und standardisierten
Erklärung („Deed of commitment“) verpflichten können sollen, keine Anti-Personenminen
einzusetzen.
Der Kanton Genf spielte mit und die Schweiz war bereit, als Bestandteil ihrer humanitären
Außenpolitik, den Vertretern der Kriegführenden (welche von ihrer Heimatregierung
unterschiedslos als Verbrecher angesehen werden) die nötigen Einreisevisa zu gewähren. Für
Geneva Call ist es besonders wichtig, dass nicht bloß jemand unterzeichnet, der für die
Außenbeziehungen z.B. in Europa zuständig ist, sondern (auch) der militärische Befehlshaber,
der im Dschungel, in den Bergen oder in der Wüste kämpft. In der nicht ganz falschen Ansicht,
dass ihn die feierliche Unterzeichnungszeremonie über den Status eines bloßen Verbrechers
erhoben hat, kehrt er in den Kampf zurück und es besteht die Aussicht, dass er für eine
Einhaltung durch seine Untergebenen sorgen wird, um nicht vor der „internationalen
Gemeinschaft“ bloßgestellt zu werden.
Bis heute haben fünfundvierzig bewaffnete Gruppen aus der ganzen Welt ein solches „Deed of
Commitment“ gegen Anti-Personenminen unterzeichnet. Seit 2012 sind ebensolche
Verpflichtungserklärungen zum Schutz von Kindern (insbesondere ein Verbot von
Kindersoldaten umfassend; bisher 12 Unterzeichner) und gegen sexuelle Gewalt und
Geschlechterdiskriminierung (bisher 10 Unterzeichner) hinzugekommen. Viele Gruppen, die
es am nötigsten hätten, haben (noch) nicht unterzeichnet. Mit vielen unter ihnen ist Geneva Call
im Gespräch, mit anderen ist ein Gespräch nicht möglich. Es ist denkbar, dass weitere
humanitäre Verpflichtungen in der Zukunft dazukommen können, wenn Geneva Call deren
Einhaltung wirklich überprüfen kann.
Die „Deeds of Commitment“ sind nur die Spitze eines Eisbergs. In einer Datenbank 50 hat
Geneva Call bisher mehr als 400 Erklärungen, Vereinbarungen, Verhaltenskodizes und
Instruktionen von bewaffneten Gruppen zusammengetragen, welche die Einhaltung von Regeln
im Kampf betreffen und möglicherweise als für diese Gruppen bindend angesehen werden
könnten. Eine detaillierte Analyse des Verpflichtungswillens oder der Verpflichtungswirkung
solcher Erklärungen steht aber noch aus.
2. Rechtsnatur und Verpflichtungsgrund
Zumindest eine Kategorie bewaffneter Gruppen, nämlich nationale Befreiungsbewegungen,
können ausdrücklich nach Vertragsrecht durch einseitige Erklärung nicht nur sich, sondern auch
den Staat, gegen den sie kämpfen, zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts der
48
Siehe für Näheres und zum Folgenden die Webseite von Geneva Call, http://www.genevacall.org/ (letzter
Zugriff am: 26.8.2015).
49
Siehe oben, Anm. 27, und begleitender Text.
50
Geneva Call, Their Words, Directory of Armed Non-State Actor Humanitarian Commitments,
http://theirwords.org/ (Zugriff am: 26.8.2015)
9
internationalen bewaffneten Konflikte verpflichten. 51 Für alle anderen Erklärungen bewaffneter
Gruppen stellt sich jedoch die Frage, ob, wann und warum solche einseitigen Erklärungen
rechtlich verpflichtend sein sollten.
Wenn man wie hier davon ausgeht, dass bewaffnete Gruppen im humanitären Völkerrecht
funktionale Völkerrechtssubjektivität genießen, läge es nahe, die ILC Guiding Principles
applicable to unilateral declarations of States capable of creating legal obligations 52 analog
anzuwenden. Die Hauptschwierigkeit dabei ist jedoch, dass die Guiding Principles die
Verpflichtungswirkung solcher Erklärungen auf den Vertrauensgrundsatz stützen, 53 Staaten
sich aber im Allgemeinen nicht auf die Erklärungen bewaffneter Gruppen verlassen und sie
sogar ablehnen. Was meines Erachtens zählt, ist jedoch nicht, ob sich der Gegner wirklich auf
solche Erklärungen verlässt, sondern dass er sich auf eine formelle Erklärung oder ein Verhalten
verlassen kann. Ob solche Erklärungen spontan erfolgen oder von anderen Akteuren veranlasst
werden, spielt keine Rolle.
Schon Grotius und Gentili haben betont, dass guter Glaube die Grundlage aller
kriegsrechtlichen Verpflichtungen ist. 54 Dies gilt nicht nur, aber besonders auch für die
Bindungswirkung von Abkommen unter Kriegsgegnern. Die Genfer Abkommen müssen als
völkerrechtliche Verträge auch zwischen Kriegsgegnern in guten Treuen angewandt und
ausgelegt werden. 55 Selbst wenn der Gegner (z.B. die Regierung des bekämpften Staates) die
Erklärung ablehnt, können sich andere, etwa die betroffene Bevölkerung oder eine zwischenoder nichtstaatliche internationale Organisation darauf verlassen.
Ein anderer Erklärungsansatz für die rechtliche Bindungswirkung der einseitigen Erklärungen
beruht auf dem Grundsatz der Effektivität. Wenn eine bewaffnete Gruppe im Stande ist, die in
ihrer Willensäußerung enthaltenen Verpflichtungen einzuhalten, ist sie auch daran gebunden. 56
Drittens könnte man geltend machen, es sei ein allgemeiner (Rechts-)grundsatz, dass
Versprechen binden. 57 Natürlich lässt sich einwenden, dies gelte nur für Rechtssubjekte (was
wiederum die Frage der Rechtsubjektivität bewaffneter Gruppen aufwirft). In der Tat verletzen
Eisbären, die versprochen haben, Einwohner einer Siedlung im hohen Norden nicht
anzugreifen, dies aber dennoch tun, keine Rechtspflicht. Im Unterschied zu Eisbären, werden
aber bewaffnete Gruppen von Menschen vertreten und sind aus ihnen zusammengesetzt und
Menschen sind nach einem allgemeinen Grundsatz an ihre Versprechungen gebunden.
51
Artikel 96 (3) i.V.m. 1 (4) des Ersten Zusatzprotokolls (Anm. 16) und Art. 7 (4) des Übereinkommens vom 10.
Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die
übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können (BGBl. 1992 II, 958). Dazu, dass es sich
dabei trotz der gegenseitigen Wirkung um eine einseitige Erklärung handelt siehe Daboné (Anm. 3), 139 ff.
52
Yearbook of the International Law Commission, 2006 , Vol. II, Part Two, 367.
53
Dies entspricht sowohl der herrschenden Lehre, als auch der Praxis und Rechtsprechung. Siehe Nachweise bei
Robert Kolb, La bonne foi en droit international public, 2000, 328 ff.
54
Alberico Gentili, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, Manau, 1585, auf Englisch übersetzt von J. C. Rolfe, 1933,
insb. 145, 191 ff; Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, 1625, auf Englisch übersetzt von F. W. Kelsy,
1925, 792 ff.
55
Art. 26 und 31 des Wiener Übereinkommens vom 23.05.1969 über das Recht der Verträge (BGBl. 1985 II,
926).
56
Siehe ausführlich Denise Plattner, La portée juridique des déclarations de respect du droit international
humanitaire qui émanent de mouvements en lutte dans un conflit armé, Revue Belge de droit international 18/1
(1984/1985), 299, 314 ff, mit weiteren Hinweisen.
57
So etwa (für Staaten) Charles Rousseau, Droit international public, Bd. I, 1971, 416; Giorgio Balladore
Pallieri, Diritto internazionale pubblico, 8.Aufl. 1962, 324; Wihelm Wengler, Völkerrecht, Bd. I, 1964, 304;
Alfred Verdross, Völkerrecht, 5.Aufl. 1964, 157; Paul de Visscher, Cours général de droit international public,
Recueil des cours 136 (1972), 120. Kritisch Kolb (Anm. 53), 333.
10
Letztendlich braucht es nach allen soeben ausgeführten Begründungen für die Rechtswirkung
einer einseitigen Verpflichtung das subjektive Element des Verpflichtungswillens. Für den
Verzicht auf einen Verpflichtungswillen könnte der Vertrauensgrundsatz sprechen. Demnach
sind die bewaffneten Gruppen auch dann verpflichtet, wenn gar kein effektiver
Verpflichtungswille vorliegt, die Begünstigten aber auf die Einhaltung der Regeln vertrauen
können, 58 im vorliegenden Fall also etwa die Kriegsopfer auf die Einhaltung eines ihnen
bekannt gegebenen oder veröffentlichten Verhaltenskodex vertrauen können. Nach der
traditionellen Lehre kann jedoch auf den Willen, sich zu verpflichten, nicht verzichtet werden.
Obendrein sei erforderlich, dass dieser Wille auf einem Gebiet besteht, in dem der sich
Verpflichtende rechtsfähig ist. 59
Bei den meisten internen Verhaltenskodizes oder internen Instruktionen, die humanitäres
Völkerrecht betreffen, ist ein Verpflichtungswille jedenfalls nicht offensichtlich erkennbar. Er
könnte sich jedoch daraus ergeben, dass die Gruppe ein solches Instrument auf Veranlassung
einer (zwischen- oder nichtstaatlichen) internationalen Organisation ausarbeitet und/oder
gegenüber einer solchen Organisation oder gegenüber der betroffenen Bevölkerung
veröffentlicht. Auch wer die Bindung nicht auf den Grundsatz der Effektivität stützt, kann
unrealistische Versprechungen als nicht bindend betrachten, weil sie wohl kaum mit einem
ernsthaften Verpflichtungswillen abgegeben worden sind.
V. Ergeben sich aus Verpflichtungen notwendigerweise auch Rechte
bewaffneter Gruppen?
Nach der bisherigen Darstellung lässt sich nur schwer bestreiten, dass bewaffnete Gruppen im
humanitären Völkerrecht völkerrechtlich bindende Verpflichtungen haben. Hingegen sehen die
Genfer Abkommen und das Zweite Zusatzprotokoll nicht ausdrücklich vor, dass sie auch
Rechte haben. Natürlich kann man vorbringen, auch nur funktionale Völkerrechtssubjektivität
beinhalte definitionsgemäß immer Rechte und Pflichten, aber dies läuft wieder auf eine petitio
principii hinaus, da gerade diese Subjektivität umstritten ist. Auch kann man den Grundsatz der
Gleichheit der Kriegsparteien vor dem humanitären Völkerrecht anrufen. 60 Es ist aber nicht
ganz unumstritten, ob das humanitäre Völkerrecht nicht-internationaler bewaffneter Konflikte
schon auch nur Staaten wirklich Rechte gibt, die sie sonst nicht hätten. 61 Im Zusammenhang
mit der Möglichkeit, Gegner unter Umständen anzugreifen und aus Gründen und in Verfahren
gefangen zu halten, die den internationalen Menschenrechtsgarantien wiedersprechen, wird das
58
Kolb (Anm. 53), 335 f.
Dionisio Anzilotti, Corso di diritto internazionale, 1928, 305.
60
Siehe Marco Sassòli, Ius ad bellum and Ius in Bello – The Separation between the Legality of the Use of
Force and Humanitarian Rules to be Respected in Warfare: Crucial or Outdated?, in: Schmitt und Pejic (Hrsg.),
International Law and Armed Conflict: Exploring the Faultlines, Essays in Honour of Yoram Dinstein, 2007,
241, 246 ff.; Bugnion (Anm. 26), 167 ff.
61
So das IKRK, nicht ganz eindeutig in ICRC, International Humanitarian Law and the Challenges of
Contemporary Armed Conflicts, 2011, 17 f.; eindeutiger nach Jelena Pejic, The protective scope of Common
Article 3: more than meets the eye, International Review of the Red Cross 93 (2011), 189, 207.
59
11
oft behauptet, 62 manchmal aber auch verneint. 63 Hingegen können viele Vorschriften des
humanitären Völkerrechts zu gewissen Verhaltensweisen implizit dahingehend ausgelegt
werden, dass sie bewaffnete Gruppen auch zu einem entsprechenden Verhalten berechtigen. So
impliziert etwa das Verbot im gemeinsamen Artikel 3 von „Verurteilungen und Hinrichtungen
ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmäßig bestellten Gerichtes, das die von den
zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet“, dass auch
bewaffnete Gruppen ein solches Gericht schaffen können müssen. Sonst könnten sie diese
Pflicht gar nicht einhalten. Bewaffnete Gruppen werden durch das humanitäre Völkerrecht
implizit auch zur Durchführung von Strafverfahren verpflichtet. Dies zeigt sich etwa daran,
dass auch im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt von einem militärischen Vorgesetzten
und Kommandanten bewaffneter Gruppen verlangt werden kann, ein Straf- oder
Disziplinarverfahren gegen eine ihm unterstellte Person einzuleiten, wenn er von einer
Verletzung durch diese erfährt. 64 Dies ist nur möglich, wenn bewaffnete Gruppen auch
Strafverfahren durchführen können.
Schließlich könnten die in Artikel 5 des Zweiten Zusatzprotokolls vorgesehenen Garantien für
Personen, die „interniert oder in Haft gehalten sind“ implizieren, dass auch bewaffnete Gruppen
zu einer solchen Internierung schreiten dürfen, wenn sie die entsprechenden Garantien
einhalten. 65 All dies wirft aber die berühmte Lotusfrage auf. Bedürfen Staaten – und bewaffnete
Gruppen als beschränkte Subjekte des humanitären Völkerrechts – überhaupt einer
Ermächtigung, etwas zu tun, oder ergibt sich diese Ermächtigung nicht aus der Souveränität der
Staaten und der Effektivität der bewaffneten Gruppen (oder dem Grundsatz der militärischen
Notwendigkeit)? Genügt es, damit das Handeln eines Staates (oder hier einer bewaffneten
Gruppe) rechtmäßig ist, dass bestimmtes Handeln nicht völkerrechtlich verboten ist? 66
VI. Der Sonderfall einer Anerkennung des Kriegszustands durch die Regierung
Ein Fall, in dem Rechte und Pflichten bewaffneter Gruppen unbestritten sind, ist die
traditionelle Möglichkeit einer Regierung, die Kriegführung der Aufständischen in einer
„recognition of belligerency“ anzuerkennen. 67 Vor 1949 war dies die einzige Art, das
62
Zum Einsatz tötlicher Gewalt siehe Abella v. Argentina, Report No. 55/97, Case No. 11.137, OEA/ Ser/
L/V/II.98, Doc. 38, Inter-American Commission on Human Rights , 6.12.1997, para. 178. Zur Einmütigkeit,
falls humanitäres Völkerrecht wirklich vorgeht, unter den Experten in Gloria Gaggioli (Hrsg.), Case study 1:
Use of force against legitimate targets, in ICRC, The use of force in armed conflicts: expert meeting, 2013, 13
ff.. Zur Internierung von Gegnern Yoram Dinstein, The Right to Life, Physical Integrity, and Liberty, in: Louis
Henkin (Hrsg.), The International Bill of Rights: The Covenant on Civil and Political Rights, 1981, 137; Harold
Koh, The Obama Administration and International Law, Keynote address given at the Annual Meeting of the
American Society of International Law, 25.03.2010, http://www.state.gov/s/l/releases/remarks/139119.htm
(letzter Zugriff am: 26.8.2015); Oberster Gerichtshof der USA in Hamdi et al. v. Rumsfeld, Secretary of Defense,
et al., 542 U.S. 507 (2004), 10.
63
Siehe High Court of Justice, London, Serdar Mohammed gegen Ministry of Defence, [2014] EWHC 1369
(QB), bestätigt von der Court of Appeal (Civil Division), London, in Mohammed and others -v- Secretary of
State for Defence, Rahmatullah -v- MoD, [2015] EWCA Civ 843; Els Debuf, Captured in War: Lawful
Internment in Armed Conflict, 2013, 470 ff.
64
Siehe Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Prosecutor v. Hadzihasanovic et al.,
Decision on Interlocutory Appeal Challenging Jurisdiction in Relation to Command Responsibility, ICTY,
Appeals Chamber, 16.07.2003.
65
So Pejic (Anm. 61), 207.
66
Permanent Court of International Justice, S.S. Lotus (France. v. Turkey), Series A, Nr. 10, 7.09.1927, para. 47,
und noch deutlicher ebenda.Abweichende Meinung Loder, ebenda, para. 158; Eric Talbot Jensen, Applying a
Sovereign Agency Theory of the Law of Armed Conflict, Chicago Journal of International Law 12 (2012), 708
f.; Geoffrey S. Corn/Victor Hansen/Richard B. Jackson/Chris Jenks/Eric Talbot Jensen/James A. Schoettler, Jr.,
The Law of Armed Conflict: An Operational Approach, 2012, 116.
67
Siehe Sivakumaran (Anm. 42), 9 ff.; Daboné (Anm. 3), 260 ff.
12
Kriegsrecht auf einen Bürgerkrieg anwendbar zu machen. Wenn die Regierung diese
Anerkennung aussprach, wurde das Recht der internationalen bewaffneten Konflikte
angewendet und die Aufständischen bekamen alle Rechte und Pflichten von Kriegführenden,
also Völkerrechtssubjektivität zumindest auf dem Gebiet des Kriegs- und Neutralitätsrechts. In
ihrer Souveränitätsbesessenheit vermeiden die Staaten solche Anerkennungen aber in der
Praxis wie der Teufel das Weihwasser.
VII. Der Sonderfall von Aufständischen, die zur Regierung eines Staates
werden
Nach einer erstaunlichen Regel des Rechts der Staatenverantwortlichkeit wird das Verhalten
einer aufständischen Bewegung rückwirkend einem Staat zugerechnet, wenn die Bewegung
zur neuen Regierung des Staates wird oder erfolgreich einen neuen Staat auf Teilen des
Gebietes eines zuvor bestehenden Staates errichteten kann. 68 Diese besondere Regelung ist
jedoch an sich eine sekundäre Zurechnungsregel, die keine Auswirkung auf die primären
Rechtspflichten der Aufständischen haben sollte in dem Sinne, dass rückwirkend die Rechte
und Pflichten eines Staates auf sie anzuwenden wären. Das anwendbare humanitäre
Völkerrecht, dessen Verletzungen dem Staat zugerechnet wird, bleibt meines Erachtens
dasjenige der nicht internationalen bewaffneten Konflikte, auch wenn die Aufständischen es
schaffen, in ihrem Kampf gegen den bestehenden Staat einen neuen Staat zu gründen. Dies
kann jedoch nicht für andere völkerrechtliche Pflichten gelten. Bewaffnete Gruppen haben etwa
keine fremdenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Heimatstaaten von Ausländern, diese
nach einem völkerrechtlichen Minimalstandard oder bilateralen Verträgen zu behandeln.
Trotzdem ist die genannte Sonderregel, wie auch die meisten anderen Regeln des Rechts der
Staatenverantwortlichkeit, aus dem Fremdenrecht entstanden. Wenn die rückwirkende
Verpflichtung von erfolgreichen Aufständischen nicht auch implizieren würde, dass das
Verhalten der Aufständischen an den Verpflichtungen eines Staates gemessen werden sollte,
wäre die Zurechnung zwecklos und könnte die relativ zahlreiche Praxis von Schiedsgerichten,
auf die sich diese Regel stützt,69 nicht erklärt werden.
C. Der gemeinsame Artikel 3 sieht ausdrücklich vor, dass die Anwendung des
humanitären Völkerrechts keinen Einfluss auf die Rechtsstellung bewaffneter
Gruppen hat
Das größte Hindernis für eine Anerkennung eines völkerrechtlichen Status von Aufständischen,
die weder von der Regierung als Kriegführende anerkannt wurden noch nationale
Befreiungsbewegungen sind, ist eine ausdrückliche Vorschrift im gemeinsamen Artikel 3, die
vorsieht: „Die Anwendung der vorstehenden Bestimmungen hat auf die Rechtsstellung der am
Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss.“ Weil der gemeinsame Artikel 3 historisch die
erste Bestimmung war, die automatisch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten galt,
liegt es nahe, diese Klausel auf alle Bestimmungen des humanitären Völkerrechts anzuwenden.
Da die Staaten in ihrer westfälischen Souveränitätsbesessenheit den Begriff der Partei aus dem
Zweiten Zusatzprotokoll herausgestrichen hatten, konnten sie keine solche Bestimmung in
dieses aufnehmen. Das Zweite Zusatzprotokolls stellt aber klar, es dürfe „nicht zur
Beeinträchtigung der Souveränität eines Staates oder der Verantwortung der Regierung
68
Art. 10 (1) und (2) zur Staatenverantwortlichkeit (Anm. 38). Für eine überzeugende Kritik dieser Regel siehe
Jean D’Aspremont, Rebellion and State Responsibility: Wrongdoing by Democratically Elected Insurgents,
International and Comparative Law Quarterly 58 (2009), 427. Siehe auch Daboné (Anm. 3), 180 ff.
69
Siehe Kommentar der UN-Völkerrechtskommission, ILC Report on the work of its fifty-third session (23.04 –
1.06 and 2.07 – 10.08.2001), General Assembly, Official Records, Fifty-fifth Session, Supplement No. 10 (UN
Doc. A/56/10), paras 12 und 13 zu Art. 10, mit Verweisen,
http://www.un.org/law/ilc/reports/2001/2001report.htm (letzter Zugriff am: 26.8.2015).
13
herangezogen werden, mit allen rechtmäßigen Mitteln die öffentliche Ordnung im Staat
aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen oder die nationale Einheit und territoriale
Unversehrtheit des Staates zu verteidigen“. Ferner darf es auch nicht „zur Rechtfertigung einer
wie immer begründeten unmittelbaren oder mittelbaren Intervention in den bewaffneten
Konflikt oder in die inneren oder äußeren Angelegenheiten der Hohen Vertragspartei […], in
deren Hoheitsgebiet dieser Konflikt stattfindet“ dienen. 70 Dies zeigt, worum es geht.
Bewaffnete Gruppen erhalten durch Einhalten des humanitären Völkerrechts durch sie oder
ihnen gegenüber, aufgrund des Abschlusses der oben erwähnten Sonderabkommen oder des
Eingehens eines „Deed of Commitment“ keinen Status außerhalb des humanitären
Völkerrechts; der Konflikt wird kein internationaler und die Regierung wird nicht gehindert,
die Aufständischen zu besiegen oder zu bestrafen. Trotz ihres Wortlauts kann diese Klausel
jedoch nicht bedeuten, dass die Aufständischen nicht diejenige Rechtspersönlichkeit
bekommen, die nötig ist, um die im gemeinsamen Artikel 3 ausdrücklich auch für sie
vorgesehenen Pflichten – und ich würde beifügen, die dafür nötigen Rechte – zu haben. 71 Sonst
wäre die ausdrückliche Verpflichtung beider Parteien im gemeinsamen Artikel 3 nutzlos und
hätte keinerlei „effet utile“.
D. Zusätzliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der
Terrorismusbekämpfung
Besondere Schwierigkeiten, vielen bewaffneten Gruppen einen völkerrechtlichen Status
zuzuerkennen und auf deren Einhaltung des humanitären Völkerrechts hinzuwirken, ergeben
sich seit dem 11. September 2001 aus dem Kampf von Einzelstaaten, der Staatengemeinschaft
und internationaler Organisationen gegen den Terrorismus. Die USA zum Beispiel verletzen
meines Erachtens den unumstrittenen Aspekt des gemeinsamen Artikels 3, dass unparteiische
humanitäre Organisationen „den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten“ dürfen,
wenn sie es auch für eine unparteiischen humanitären Organisation strafbar machen, einer
bewaffneten Gruppe, welche zu den gegenwärtig 58 von den USA als terroristisch eingestuften
gehört, ihre Dienste anzubieten. 72 Der Oberste Gerichtshof der USA hat sogar entschieden, dass
auch die Ausbildung der als terroristische eingestuften bewaffneten Gruppen in humanitärem
Völkerrecht unter dieses Verbot fällt. 73
Diese Maßnahmen der USA und vieler anderer Staaten, die Unterstützung von Terrorismus zu
bestrafen, 74 werden häufig als Ausführung der entsprechender Resolutionen des UNO70
Art. 3 des Zweiten Zusatzprotokolls (Anm. 16).
Moir (Anm. 13), 63 f.; Wengler (Anm. 13), 125 f.; Guggenheim (Anm. 13), 314; Daboné (Anm. 3), 134- ff.
Kritisch van Steenberghe (Anm. 14), 45 ff.
72
Section 2339B, title 18 of the United States Code (USC), 2339B (a)(1), Antiterrorism and Effective Death
Penalty Act of 1996, abgeändert durch den Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools
Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001 (Patriot Act) und den Intelligence Reform and
Terrorism Prevention Act of 2004. Demgemäß ist es ein Verbrechen, “[to] knowingly provid[e] material support
or resources” an Organisationen, welche vom Außenminister als terroristisch eingestuft wurden. “Material
support and resources” beinhalten auch “training, expert advice or assistance”. “Training” wird definiert als
“instruction or teaching designed to impart a specific skill, as opposed to general knowledge” und “expert advice
or assistance” wird definiert als “advice or assistance derived from scientific, technical or other specialized
knowledge” (18 USC 2339A(b) (2) und (3)).
73
Holder v Humanitarian Law Project, 561 U.S. 1 (2010), 130 S.Ct. 2705, 2720 und 2725.
74
Siehe etwa Australien - Criminal Code (1995), Art. 101.2; Bulgarien – Criminal Code, Art. 108; Kambodscha
– Law on Counter Terrorism (2007), Art. 77; Kanada – Criminal Code, Art. 83.18; Cape Verde – Penal Code
(2003), Art. 316; Zypern – Federal Law on Terrorism (2004), Art. 9; Dänemark – Criminal Code (2005), para.
114b; Ethiopien – Criminal Code (2005), Art. 479; Gambia – Anti-terrorism Act (2002), Art. 6; Georgien – Law
on Amendments to the Criminal Code of Georgia (2007), Art. 328; Ghana – Anti-terrorism Bill (2005), Art. 6;
Grenada – The Terrorism Act (2003), Art. 6, Island – Penal Code, section 22; Indien – Prevention of Terrorism
71
14
Sicherheitsrats angesehen. Diese verlangen von Staaten, verschiedene Handlungen ihrer
Staatsangehörigen oder auf ihrem Territorium, welche den Terrorismus fördern, unter Strafe zu
stellen. 75 Diese Resolutionen könnten gemäß Art. 103 der UNO-Charta dem gemeinsamen
Artikel 3 der Genfer Abkommen vorgehen. Ich würde hingegen eher die Resolutionen in einem
mit dem gemeinsamen Artikel 3 vereinbaren Sinn auslegen, nach dem Dienste unparteiischer
humanitärer Organisationen nicht unter das Verbot fallen.
E. Beitrag bewaffneter Gruppen zur Fortentwicklung des Rechts?
I. Notwendigkeit der Berücksichtigung bewaffneter Gruppen bei der
Fortentwicklung des Rechts
Viele betrachten das humanitäre Völkerrecht als den heutigen Realitäten bewaffneter Konflikte
nicht mehr angemessen, insbesondere wenn es sich um einen asymmetrischen Konflikt handelt.
Auch das IKRK schlägt vor, gewisse Regeln, insbesondere in nicht-internationalen Konflikten
zu präzisieren, um den Schutz der Kriegsopfer zu verbessern. 76 Leider habe ich in der heutigen
weltpolitischen Lage Zweifel, ob sich Einigkeit über Regeln erreichen lässt, welche den Schutz
der Kriegsopfer wirklich verbessern. Wenn das auf Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen
und Staaten oder unter bewaffneten Gruppen anwendbare Recht revidiert werden soll, müssen
jedenfalls die Betroffenen, die sich an die neuen Regeln halten sollen, in die Diskussion
einbezogen werden. 77 Niemand käme auf die Idee, das Seekriegsrecht zu revidieren ohne vorher
die Kriegsmarinen einzubeziehen.
Gerade das humanitäre Völkerrecht muss von denjenigen, die es anzuwenden haben, als
realistisch eingestuft werden, wenn es eine Chance haben soll, eingehalten zu werden. Es wird
im Wesentlichen von den Konfliktparteien selbst durchgesetzt und muss auf einem vertieften
Verständnis der Schwierigkeiten, Dilemmas, Bestrebungen beruhen. Dies ist der Unterschied
zum Strafrecht, das auf die Bestrebungen der Straftäter nicht einzugehen braucht, diesen nicht
ermöglichen muss, ihre Ziele zu erreichen oder für diese auch nicht realistisch sein muss. Das
Strafrecht wird aber vertikal durchgesetzt, während das humanitäre Völkerrecht immer noch
von einer im Wesentlichen horizontalen Durchsetzungsstruktur geprägt ist, also weitgehend auf
eine Einhaltung durch diejenigen angewiesen ist, die kämpfen. Unrealistische Regeln schützen
nicht nur niemanden, sondern untergraben auch die ganze Glaubwürdigkeit des humanitären
Völkerrechts in den Augen bewaffneter Gruppen.
Act (2002), Art. 21; Indonesien – Government Legislation in Lieu of Legislation No. 1/2002 on Combating
Criminal Acts of Terrorism (2002), section 16; Italien –Codice penale (1930), Art. 270ter; Jamaica – Terrorism
Prevention Act (2005), Art. 7; Kenia – Anti-terrorism Bill (2003), Art 9; Malaysia – Penal Code (1997), section
130J; Mauritius – Prevention of Terrorism Act (2002), Art 6; Palau – Counter-Terrorism Act (2005), section
2(h)(7), Papua Neuguinea – Internal Security Act (1993), Art 6; Philippinen – Anti-terrorism Act (2005), section
4; Moldova – Penal Code, Art. 279; Saint Kitts and Nevis – Anti-terrorism Act (2002), Art. 10; Saint Vincent
und die Grenadinen – United Nations (Anti-terrorism Measures) Act (2002), Art. 6; Slovakei – Criminal Code
(2005), section 297; Südafrika – Anti-terrorism Bill (2003), Art. 3; Sri Lanka – Emergency (Prevention and
Prohibition of Terrorism and Specified Terrorist Activities) Regulations No. 7 (2006), Art. 7; Tansania –
Prevention of Terrorism Act (2002), Art. 18; Trinidad und Tobago - Anti-terrorism Act (2005), Art. 9; Uganda –
Penal Code Act, Art. 26; Uganda – Anti-terrorism Act (2002), Arts 8-9; Zambia – Anti-terrorism Act (2007),
para. 13.
75
Siehe insbesondere Resolution 1373 (2001) des UN-Sicherheitsrats vom 28.09.2001 (UN Doc.
S/RES/1373[2001]).
76
Siehe IKRK, Strengthening International Humanitarian Law, http://www.icrc.org/eng/what-we-do/otheractivities/development-ihl/index.jsp (letzter Zugriff am: 26.8.2015).
77
Siehe auch Sivakumaran (Anm. 42), 562 ff.
15
II.
Teilnahme an der Ausarbeitung neuer Regeln
In der Vergangenheit konnten elf nationale Befreiungsbewegungen an der von der Schweiz
einberufenen diplomatischen Konferenz zur Ausarbeitung der beiden Zusatzprotokolle
teilnehmen, die auch wegen Streitigkeiten über diese Beteiligungsfrage von 1974 bis 1977
dauerte. 78 Weil nationale Befreiungsbewegungen politisch und juristisch ein Sonderfall sind,
ließe sich dies wohl so nicht wiederholen. Bewaffnete Gruppen können und sollten jedoch bei
der Ausarbeitung neuer Regeln sowohl in den Vorbereitungen dafür als auch in der Erforschung
der tatsächlichen Probleme einbezogen werden. Das IKRK tut dies bereits, auch wenn es dies
nicht an die große Glocke hängen kann. Nicht nur NGOs spielen hierbei eine wichtige Rolle,
auch die Wissenschaft sollte dies in Zukunft tun.
III.
Beitrag zum Völkergewohnheitsrecht?
Völkergewohnheitsrecht der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte muss meines
Erachtens schon heute die Praxis und opinio juris von bewaffneten Gruppen berücksichtigen. 79
Das hängt natürlich von der theoretischen Herleitung des Völkergewohnheitsrechts ab, der man
anhängt. Wer es als Erkenntnisquelle für den Willen der Staaten ansieht, oder gar als eine
stillschweigende Vereinbarung, wird natürlich nur die Praxis von Staaten berücksichtigen. Die
IKRK Studie zum humanitären Völkergewohnheitsrecht hält die rechtliche Bedeutung der
Praxis von nicht-staatlichen Akteuren für unklar. 80 Dies mag auch einer der Gründe sein,
warum das IKRK einige Regeln auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten als
anwendbares Völkergewohnheitsrecht ansieht, obwohl deren Einhaltung für bewaffnete
Gruppen nicht immer realistisch ist.81 Einer der Autoren der IKRK-Studie schreibt: “Under
current international law, only State practice can create customary international law.“ Er
befürwortet jedoch de lege ferenda die Berücksichtigung der Praxis bewaffneter Gruppen. 82
Meines Erachtens beruht Völkergewohnheitsrecht aber auf dem Verhalten der Adressaten einer
(behaupteten) Norm, in Form von Handlungen und Unterlassungen, von Erklärungen,
Anschuldigungen oder Rechtfertigungen ihres eigenen Handelns. 83 Praktisch erscheint es mir
daher als sinnlos, eine Regel als gewohnheitsrechtliche zu bezeichnen, wenn sich die Mehrheit
der Adressaten aus Überzeugung nicht daran hält. Genau dies wäre aber die Folge des
traditionellen Ansatzes, in dem man nur die Praxis der Staaten betrachtet. In dem
hypothetischen Extremfall, dass sich nur die Staaten an eine angebliche Regel des
Völkergewohnheitsrechts hielten, aber nicht eine einzige bewaffnete Gruppe, hätten wir es
trotzdem mit Völkergewohnheitsrecht zu tun. Die Praxis die letzteren zu berücksichtigen
erleichtert es auch, sie aufzufordern, sich an diese von ihresgleichen mitbeeinflussten Regeln
zu halten.
Obwohl hier vorgeschlagen wird, die Praxis und opinio juris von bewaffneten Gruppen zu
untersuchen, um das auf sie anwendbaren humanitären Völkerrechts festzustellen, trifft eine
78
Sandoz et al. (Anm. 26), xxxiii.
Ebenso Zegveld (Anm. 23), 26. Nuanciert Daboné (Anm. 3), 156 ff.
80
Henckaerts und Doswald-Beck (Anm. 18), xxxvi.
81
Siehe ausführlicher Marco Sassòli, Taking Armed Groups Seriously: Ways to Improve Their Compliance with
International Humanitarian Law, The Journal of International Humanitarian Legal Studies 1 (2010), 5, 16-19.
82
So Jean-Marie Henckaerts, Binding Armed Opposition Groups through Humanitarian Treaty Law and
Customary Law, in: Proceedings of the Bruges Colloquium, Relevance of International Humanitarian Law to
Non-State Actors, 25th-26th October 2002, Collegium 27 (2003),123, 128.
83
Siehe im einzelnen Marco Sassòli, Bedeutung einer Kodifikation für das allgemeine Völkerrecht - mit
besonderer Betrachtung der Regeln zum Schutze der Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen von
Feindseligkeiten, 1990, 32-48.
79
16
solche Untersuchung in der Praxis zugegebenermaßen auf Schwierigkeiten. Neben den
allgemeinen Problemen, die Praxis zum humanitären Völkerrecht festzustellen, 84 ist zumindest
die einzelne bewaffnete Gruppe, anders als ein Staat, nicht auf Dauer angelegt, sondern
definitionsgemäß zum Verschwinden vorgesehen, weil sie entweder gewinnt und dann
Regierung eines Staates wird oder verliert und sich damit auflöst. 85 Eine gewisse Stabilität und
Kontinuität, die Möglichkeit einer Wiederholung der Praxis und in Zukunft sowohl
Berechtigter wie auch Verpflichteter einer Völkerrechtsregel zu werden, zu der die eigene
Praxis beiträgt; all dies sind typische Elemente, welche dazu beitragen, dass mit
Völkergewohnheitsrecht aus einem Sein (der Praxis) ein Sollen wird.
Außerdem haben bewaffnete Gruppen eine Praxis nur gegenüber einem Staat oder gegenüber
einer anderen bewaffneten Gruppe und fühlen sich viel weniger als Staaten, denn als Teil einer
internationalen Gemeinschaft mit Staaten und anderen bewaffneten Gruppen. Schließlich sind
Staaten als einheitliches Phänomen vom Völkerrecht vorausgesetzt und auch tatsächlich
untereinander viel ähnlicher als bewaffnete Gruppen untereinander.
Sollte man die Praxis aller bewaffneter Gruppen berücksichtigen um daraus allgemeine Regeln
des Rechts der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte abzuleiten, oder aufgrund
verschiedener Kriterien (zum Beispiel Territorialkontrolle oder Anspruch, die Regierung eines
Staates zu werden) Kategorien von bewaffneten Gruppen schaffen, und die Praxis für jede
dieser Kategorien separat untersuchen? Ersteres führte wohl kaum zu Gewohnheitsrechtsregeln
mit einem verbesserten Schutzniveau für die betroffenen Opfer bewaffneter Konflikte, letzteres
zu
einer
weiteren
Fragmentierung
des
humanitären
Völkerrechts
mit
Abgrenzungsschwierigkeiten. Außerdem würde sich mit Blick auf den Grundsatz der
Gleichheit der Konfliktparteien im humanitären Völkerrecht die Frage stellen, ob die Staaten
ebenfalls an unterschiedliche, aus der Praxis von verschiedenen bewaffneten Gruppen
entwickelte Gewohnheitsrechtsregeln gebunden wären, je nachdem, gegen welche Kategorie
von bewaffneter Gruppe sie kämpfen.
F. Durchsetzung des humanitären Völkerrechts gegenüber bewaffneten Gruppen
I. Durch wen?
1. Initiativrecht des IKRK
Das humanitäre Völkerrecht der nicht-internationalen Konflikte sieht ausdrücklich nur einen
Durchsetzungsmechanismus vor, und zwar im gemeinsamen Artikel 3 (2) der Genfer
Abkommen, der besagt: „Eine unparteiische humanitäre Organisation, wie das Internationale
Komitee vom Roten Kreuz, kann den am Konflikt beteiligten Parteien ihre Dienste anbieten.“
Dies bedeutet nicht, dass das IKRK ein Recht hätte, seine üblichen Tätigkeiten zugunsten der
Kriegsopfer auszuüben (Überwachung der Einhaltung, Schutz der Opfer und Hilfeleistung zu
ihren Gunsten), sondern, dass es diese bloß vorschlagen kann. 86 Die Regierung und die
bewaffneten Gruppen können dieses Angebot annehmen oder ablehnen. Die Regierung kann
dem IKRK aber nicht vorwerfen, es mische sich in die inneren Angelegenheiten des Staates
ein, noch kann sie dem IKRK eine unerlaubte Intervention vorwerfen, wenn Aufständische das
Angebot des IKRK annehmen und das IKRK bei ihnen tätig wird. Als Vertragspartei des
84
Sassòli, ebenda, 227-246.
Daboné (Anm. 3), 87-88.
86
Siehe gemeinsamer Artikel 3 (2) der vier Genfer Abkommen (Anm. 2). Zur Praxis des IKRK siehe François
Bugnion, The International Committee of the Red Cross and the Protection of War Victims, 2003, 447-465;
Michel Veuthey, Guérilla et droit humanitaire, 1983, 52-61.
85
17
gemeinsamen Artikels 3 hat der betroffene Staat nämlich akzeptiert, dass das IKRK beiden oder
allen Parteien seine Dienste offeriert. Wenn die Aufständischen diese annehmen, ist meines
Erachtens das IKRK berechtigt, sie zu gewähren, unabhängig von einer zusätzlichen
Zustimmung der Regierung. Es kann dann in ihrem Machtbereich dieselben vertraulichen
Kontroll- und Berichterstattungsfunktionen wahrnehmen, die es in internationalen Konflikten
ein Recht hat, auszuüben. 87
2. NGOs: Geneva Call
Der soeben zitierte gemeinsame Artikel 3 bietet aber nicht nur dem IKRK eine Handhabe,
sondern er erlaubt es auch jeder anderen unparteiischen humanitären Organisation, ihre Dienste
anzubieten. Die bereits erwähnte NGO Geneva Call hat sich beispielsweise spezifisch zum Ziel
gesetzt, bewaffnete Gruppen nicht nur dazu zu bringen, sich zur Einhaltung humanitärer Regeln
zu verpflichten, sondern diesen auch zu helfen, diese umzusetzen, die Einhaltung zu
überwachen und, wenn nötig, Verletzungen ihrer Verpflichtungen auch zu verurteilen.
Geneva Call verbreitet darüber hinaus sämtliche Regeln des humanitären Völkerrechts auch
unter bewaffneten Gruppen, die noch keinen „Deed of Commitment“ eingegangen sind. Das
Unterzeichnen einer solchen Verpflichtung ist nur der Ausgangspunkt eines Dialogs, um für
dessen Einhaltung zu sorgen. Dabei tritt Geneva Call nicht als Inspektor oder Strafverfolger
auf, sondern versucht, Schwierigkeiten zu verstehen und bei der Einhaltung zu helfen.
Angebliche Verletzungen werden untersucht. Bisher konnte jedoch noch nie eine Verletzung
festgestellt werden. Dies liegt nicht nur daran, dass für den Verzicht auf Anti-Personenminen
eine genügend lange Erfahrung besteht, und ein Entscheid einer Gruppe, auf solche zu
verzichten, innerhalb der Gruppe einfach durchsetzbar ist. Es liegt auch daran, dass
Territorialstaaten in ihrer Souveränitätsbesessenheit einer von Geneva Call ernannten
Untersuchungskommission oft keinen Einlass gewähren. Die Philippinen waren da eine
Ausnahme, jedoch konnte dort keine Verletzung festgestellt werden. 88 Für den Fall einer
festgestellten Verletzung erlauben die Unterzeichner im „Deed of Commitment“ Geneva Call,
diese öffentlich zu verurteilen.
3. UNO Organe im Allgemeinen
UNO Organe, wie der Sicherheitsrat, die frühere Menschenrechtskommission und der heutige
Menschenrechtsrat haben Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch bewaffnete
Gruppen verurteilt. 89 Dabei ist für unser Thema weniger wichtig, dass der Sicherheitsrat
Sanktionen gegen solche Gruppen erlassen hat. Diese richten sich ja formell an die Staaten, die
sie durchführen müssen, und werden heute immer häufiger auch gegen Individuen erlassen.
Wichtiger ist, dass der Sicherheitsrat eindeutig von bewaffneten Gruppen auch ein bestimmtes
87
Bugnion, The International Committee (Anm. 86), 403-844.
Siehe Geneva Call Verification Mission in the Philippines finds evidence of AP mine use, but MILF
responsibility not established, http://www.genevacall.org/geneva-call-verification-mission-philippines-findsevidence-ap-mine-use-milf-responsibility-established/ (letzter Zugriff am: 26.8.2015).
89
Siehe z. B. die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats 1193 (1998), UN Doc. S/RES/1193 (1998) zu
Afghanistan, sowie zum ehemaligen Jugoslawien UN Doc. S/RES/771(1992), 780 (1992), 787 (1992), 827
(1993), 913 (1994), 941 (1994), und 1010 (1995) und 814 (1993) zu Somalia; Pieter H. Kooijmans, The Security
Council and Non-state Entities as Parties to Conflicts, in: Karel Wellens (Hrsg.), International Law:Theory and
Practice: Essays in Honour of Eric Suy, 1998, 339, und Jan Kleffner, The collective accountability of organized
armed groups for system crimes, in: André Nollkaemper und Harmen van de Wilt (Hrsg.), System Criminality in
International Law, 2009, 238, 251. Für die ehemalige Menschenrechtskommission der UNO siehe Nachweise bei
Zegveld (Anm. 23), 32, 33, 46, 65-67, 145.
88
18
Verhalten verlangt. 90 Dies bedeutet, dass der Sicherheitsrat anerkennt, dass bewaffnete
Gruppen Adressaten des humanitären Völkerrechts sind.
Die frühere Menschenrechtskommission hat es jedoch abgelehnt, einen besonderen
Mechanismus zu schaffen, der Menschenrechtsverletzungen durch solche Gruppen behandelt. 91
Nur im Rahmen von Friedensabkommen, z.B. in El Salvador, ist die UNO auch bereit gewesen,
deren Einhaltung, einschließlich der Einhaltung menschenrechtlicher Abmachungen, durch
beteiligte bewaffnete Gruppen zu überprüfen und Empfehlungen für eine bessere Einhaltung
auszusprechen. 92
4. UNO-Sondermechanismus im Bereich Kinder in
bewaffneten Konflikten
Der UNO-Sicherheitsrat hat die Verletzung von Kinderrechten in bewaffneten Konflikten als
Bedrohung des Weltfriedens qualifiziert. 93 Er hat den Generalsekretär aufgefordert, ihm
regelmäßig Berichte über schwere Verletzungen der Kinderrechte, auch durch bewaffnete
Gruppen zu unterbreiten. 94 Der Generalsekretär hat eine Sondervertreterin zum Thema Kinder
in bewaffneten Konflikten ernannt, die über Verletzungen von ihr ausgearbeiteter (teilweise
über das bestehende Völkerrecht hinausgehender) Standards auch durch bewaffnete Gruppen
berichtet und mit diesen Gruppen Abmachungen zur Einhaltung der Standards trifft. 95 Der
Sicherheitsrat selbst übt, über seine alle Mitglieder umfassende Arbeitsgruppe über Kinder in
bewaffneten Konflikten, 96 auf bewaffnete Gruppen, die vom Generalsekretär als
„Rechtsbrecher“ aufgelistet werden, 97 Druck aus. Dies schließt auch die Androhung von
Sanktionen ein. 98 Um von der Liste gestrichen zu werden, müssen die Gruppen mit der
Sondervertreterin Aktionspläne und Vereinbarungen in Richtung auf eine bessere Einhaltung
abschließen.
5. Vorschläge des IKRK und der Schweiz zu einem neuen
Mechanismus
Die Schweiz und das IKRK haben eine Initiative für die bessere Einhaltung des humanitären
Völkerrechts lanciert. Sie führen Konsultationen und Gespräche mit der Staatengemeinschaft
über die Etablierung wirksamer Mechanismen. Grundlage der Initiative ist die Resolution 1,
die im Rahmen der 31. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz 2011 in Genf
verabschiedet wurde. 99 Dabei wird an regelmäßige thematische Debatten über Fragen des
humanitären Völkerrechts, ein Berichtsverfahren über dessen nationale Einhaltung, und die
Schaffung eines regelmäßigen Staatentreffens als Forum für Fragen der Einhaltung und
Umsetzung des humanitären Völkerrechts gedacht. Ursprünglich wurde auch ein Mechanismus
90
Siehe Daboné (Anm. 3), 162-165, mit Nachweisen.
David Matas, Armed opposition groups, Manitoba Law Journal 24 (1997), 621.
92
Andrew Clapham, International Human Rights in the Private Sphere, 1996, 116. Siehe auch derselbe, Human
Rights Obligations of Non-State Actors, 2006, 272.
93
Siehe Resolution 1612 (2005), UN Doc. S/RES/1612 (2005), des UN-Sicherheitsrats.
94
Siehe Resolution 1539 (2004), UN Doc. S/RES/1539 (2004), des UN-Sicherheitsrats.
95
Siehe die Website der Sonderberichterstatterin http://childrenandarmedconflict.un.org/ (letzter Zugriff am :
26.8.2015).
96
Siehe Resolution 1612 (2005) des UN-Sicherheitsrats.
97
Entsprechend der Aufforderung in Resolution 1379 (2001), UN Doc. S/RES/1379 (2001), des UNOSicherheitsrats.
98
Siehe zuletzt Resolution 2143 (2014), UN Doc. S/RES/2143 (2014), des UNO-Sicherheitsrats.
99
Siehe Initiative der Schweiz und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) für die bessere
Einhaltung des humanitären Völkerrechts (HVR),
http://www.eda.admin.ch/eda/de/home/topics/intla/humlaw/icrc.html (letzter Zugriff am: 26.8.2015).
91
19
zur Tatsachenermittlung für die Aufklärung behaupteter Verletzungen in Erwägung gezogen,
was jedoch vorderhand am Widerstand der Staaten scheiterte. Zumindest der genannte
Mechanismus zur Tatsachenermittlung für die Aufklärung behaupteter Verletzungen musste
die Möglichkeit haben, bewaffnete Gruppen anzusprechen und deren Verletzungen zu
untersuchen. Darüber hinaus muss es innerhalb des anvisierten Systems ein Forum geben, in
welchem bewaffnete Gruppen ihre Haltung, Probleme und Vorschläge einbringen, aber auch
über Verletzungsvorwürfe angehört werden können.
II. Mögliche Maßnahmen
1. Verbreitung
Das humanitäre Völkerrecht muss unter denjenigen verbreitet werden, die es dann einhalten
sollen, also auch unter Mitgliedern bewaffneter Gruppen. Dies schafft bei Gruppen, die oft in
der Illegalität wirken und sich verstecken müssen, besondere Schwierigkeiten. Die Mitglieder
solcher Gruppen erhalten nur selten eine monatelange Grundausbildung. Oft ist es nicht
möglich, nur die Kämpfer anzusprechen. Vielmehr können diese nur über eine an die gesamte
Bevölkerung gerichtete Kampagne erfasst werden. Außerdem zeigt die Erfahrung mit regulären
Armeen, dass eher Lösungen als abstrakte Verbote gelehrt werden müssen. Das setzt voraus,
zu erwähnen, was ein Kämpfer darf, z.B. Soldaten, Kasernen oder Militärfahrzeuge
anzugreifen. Genau diese Botschaft wollen die meisten Staaten jedoch nicht vermittelt sehen,
wenn sie an Aufständische gerichtet ist.
2. Beratung
Eine bewaffnete Gruppe, die das humanitäre Völkerrecht einhalten will, wird teilweise vor
andere Probleme gestellt, als staatliche Streitkräfte. Das IKRK betreibt einen Beratungsdienst
gegenüber Staaten, welcher diesen hilft, nationale Durchführungsgesetze auszuarbeiten oder
interministerielle Kommissionen für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts
einzusetzen. 100 Ein Beratungsdienst für bewaffnete Gruppen wäre hingegen in wohl allen
betroffenen Ländern illegal und würde schnell unter die oben genannten Regeln zur
Bekämpfung des Terrorismus fallen. Viele würden eine „Gesetzgebung“ durch bewaffnete
Gruppen ablehnen. Wie anders als durch generell-abstrakte Normen können solche Gruppen
aber die Einhaltung durch ihre Mitglieder sicherstellen, Verletzungen bestrafen, oder das Leben
in Gebieten regeln, die unter ihrer Kontrolle stehen? Wie kann eine bewaffnete Gruppe
Mitglieder oder Unbeteiligte bestrafen und dabei deren Menschenrechte einhalten? Kann sie
Gerichte schaffen? 101 Auf wen sind die von ihr erlassenen Regeln anwendbar? Berater müssten
sich in die Situation einer bewaffneten Gruppe versetzen und dabei davon ausgehen, die Gruppe
wolle das Recht einhalten, was nicht immer der Fall ist. Dies ist jedoch genauso wenig bei
Staaten immer der Fall. Deswegen verzichten wir dennoch nicht auf die Beratung von Staaten
zu Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Praktikable Lösungen können ferner gerade den
Willen fördern oder schaffen, die Regeln des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Auch hier
ist die Wissenschaft gefordert.
3. Anreize zur Einhaltung
100
Siehe IKRK, Advisory Services on International Humanitarian Law, online : http://www.icrc.org/eng/whatwe-do/building-respect-ihl/advisory-service/index.jsp (letzter Zugriff am: 26.8.2015).
101
Siehe dazu Jonathan Somer, Jungle justice: passing sentence on the equality of belligerents in noninternational armed conflict, International Review of the Red Cross 89 (2007), 655, 659-664; Sivakumaran
(Anm. 42), 549-562.
20
Eines der größten Probleme des Rechts der nicht-internationalen Konflikte ist, dass es den
Kämpfern, die es einhalten sollen, keine Anreize bieten kann. In internationalen Konflikten ist
das anders. Der Soldat, der sich an das humanitäre Völkerrecht hält, wird zum
Kriegsgefangenen, wenn er in die Hand des Feindes gerät und kann für seine Gewaltausübung
nicht bestraft werden, während derjenige, der sich nicht an das humanitäre Völkerrecht hält,
auch vom Gegner bestraft werden kann und muss. Ein solcher Anreiz besteht nicht in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten. Wer einen nicht-internationalen Konflikt gegen
Regierungskräfte oder gegen andere Bürger führt, wird bestraft, auch wenn er sich perfekt an
das humanitäre Völkerrecht hält. In kaum einem Landesrecht wird es auch nur als mildernder
Umstand angesehen, wenn ein Rebell Soldaten statt unbeteiligte Zivilpersonen umbringt.
Dieser grundsätzliche Unterschied, der seine Wurzeln im westfälischen System findet, kann
nicht abgeschafft werden und das zugrunde liegende Gewaltmonopol des Staates hat ja auch
entscheidende humanitäre Vorteile. Dennoch sollten Lösungen gefunden werden, 102 damit
diejenigen, die das humanitäre Völkerrecht einhalten, belohnt werden und zwar nicht bloß wie
im bestehenden Recht nachträglich mit dem Appell an die siegreiche Partei, eine Amnestie zu
erlassen. 103 In diesem Kontext ist es meines Erachtens deshalb auch wichtig, dass eine
Kriegshandlung, die dem Kriegsrecht nicht widerspricht, niemals unter den Begriff des
Terrorismus fallen kann. 104
4. Überwachung
Verpflichtung, Beratung und Belohnung können nie genügen. Die Einhaltung muss auch
überwacht werden. Das IKRK kann dies genauso wie gegenüber Staaten mit
Gefangenenbesuchen, einer Bewertung der Einhaltung der Kampfregeln und durch vertrauliche
bilaterale Berichte an die Verantwortlichen der Gruppe machen, wenn letztere die Dienste des
IKRK annimmt. Geneva Call erhält von den bewaffneten Gruppen, welche ein „Deed of
Commitment“ unterzeichnet haben, periodisch Berichte, besucht sie, um Schwierigkeiten bei
der Einhaltung zu besprechen und untersucht Verletzungsvorwürfe. Darüber hinaus sollte ein
neuer Einhaltungsmechanismus des humanitären Völkerrechts auch bewaffneten Gruppen
ermöglichen, über ihre Einhaltung zu berichten und diese Berichte von unabhängigen Experten
diskutieren zu lassen, wie es auf dem Gebiet der Menschenrechte für Staaten gang und gäbe ist.
5. Öffentliche Kritik
„Naming and shaming“ ist heute zu einer der wichtigsten Durchsetzungsarten der
Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts geworden, sowohl gegen Staaten wie auch
gegen bewaffnete Gruppen. NGOs üben solche öffentliche Kritik aus, aber auch Drittstaaten
und die meisten UN Organe, die keine verbindlichen Beschlüsse fassen können. Einige stellen
geradezu Listen von Gruppen zusammen, die gewisse Regeln verletzen. Die öffentliche Kritik
kann eine Gruppe sicher auch isolieren und dem humanitären Völkerrecht gegenüber noch
weniger empfänglich machen (weshalb z.B. das IKRK und Geneva Call weitgehend auf sie
verzichtet). Je nach Natur einer Gruppe kann öffentliche Kritik aber auch einen großen Einfluss
haben. Die meisten Gruppen streben einen internationalen Status an, von dem sie sich durch
die öffentliche Kritik an ihnen entfernen. Viele brauchen die Sympathie oder zumindest
Akzeptanz einer Bevölkerung, die sie beherrschen wollen. Andere brauchen die diplomatische,
materielle oder sogar kriegerische Unterstützung von Drittsaaten, welche für diese natürlich
102
Siehe Ansätze bei Sivakumaran (Anm. 42), 513-526.
Art. 6(5) des Zweiten Zusatzprotokolls (Anm. 16).
104
Siehe für eine ausführlichere Erläuterung Marco Sassòli, La définition du terrorisme et le droit international
humanitaire, Revue québécoise de droit international (2007) (hors série), Études en hommage à Katia Boustany,
127 - 146.
103
21
schwieriger zu rechtfertigen ist, wenn die Begünstigten im Zentrum internationaler Kritik
stehen. Schließlich sind viele, insbesondere ethnische und politische Gruppen, auf die
Unterstützung einer Diaspora im Ausland angewiesen, die zwar ihre Ziele unterstützt, gewisse
Mittel aber ablehnt und bei internationaler Kritik in der Diskussion im Gastland in
Schwierigkeiten kommt. In jedem Fall muss eine Gruppe aber befürchten, dass Kritik an ihr
wegen Verletzungen des humanitären Völkerrechts die internationale Unterstützung für ihre
Gegner verstärkt.
6. Sanktionen
Schließlich sind bewaffnete Gruppen, wenn sie das humanitäre Völkerrecht verletzen, dafür
verantwortlich. Einzelheiten auf der Ebene der Zurechnung, des Umfangs
der
Verantwortlichkeit, zu deren Durchsetzung und dabei insbesondere die Möglichkeit von
Gegenmaßnahmen sind weitgehend ungeklärt. 105 Der UNO-Sicherheitsrat, 106 die EU und, wenn
auch seltener, Einzelstaaten haben die Verantwortlichkeit bewaffneter Gruppen, manchmal mit
ausdrücklichem Bezug auf Verletzungen des humanitären Völkerrechts, durch Sanktionen
gegen diese durchgesetzt. 107 In neuerer Zeit wurden solche Sanktionen hauptsächlich gegen
Gruppen ergriffen, die als „terroristisch“ abgestempelt wurden. Da unter gewissen Definitionen
des Terrorismus bereits jeder Gewaltakt gegen staatliche Streitkräfte als „terroristisch“
betrachtet wird, schwächt eine solche unterschiedslose Behandlung von im humanitären
Völkerrecht erlaubten (zum Beispiel Angriffe auf Soldaten) und verbotenen (zum Beispiel
Angriffe auf Zivilpersonen) Handelns wie bereits erwähnt den Anreiz für bewaffnete Gruppen,
das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.
Eine Frage, die meines Erachtens weiterer, auch wissenschaftlicher Erörterungen bedarf, ist
diejenige, wie humanitäre Organisationen auf Verletzungen durch bewaffnete Gruppen
reagieren sollten. Die humanitären Organisationen wollen den Menschen weiterhin helfen, die
sich in der Gewalt dieser Gruppen befinden, sodass eine weitere Zusammenarbeit mit den
Gruppen nötig macht, auch wenn diese das humanitäre Völkerrecht krass verletzen. Zudem sind
die humanitären Organisationen oft die wichtigsten externen Gesprächspartner bewaffneter
Gruppen. Deshalb müssen humanitäre Organisationen jedoch auch auf Verletzungen reagieren.
Jedenfalls sollte es unter diesen einen gewissen vereinheitlichten Ansatz geben, um zu
verhindern, dass eine Organisation, die angesichts schwerer Verletzungen die Zusammenarbeit
abbricht, einfach durch eine andere ersetzt wird.
7. Bestrafung
Zumindest seit anerkannt ist, dass schwere Verletzungen auch des humanitären Völkerrechts
der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte Kriegsverbrechen sind, richtet sich das
Völkerstrafrecht genauso an diejenigen, die für einen Staat kämpfen wie an die Mitglieder
bewaffneter Gruppen. Im römisch-deutschen Rechtskreis galt einst „societas delinquere non
potest“. Heute aber kennen nicht nur angelsächsische Länder, sondern auch Frankreich und die
105
Siehe, auch mit interessanten Vorschlägen, Daboné (Anm. 3), 184-198.
Siehe die Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats gegen die UNITA in Angola 1127 (1997), 1173 (1998) , und
1221 (1999), 942 (1994) (gegen die Republika Srpska), 1171 (1998) (gegen Aufständische in Sierra Leone), und
in einem gewissen Sinne auch 792 (1992) (gegen die Roten Khmer).
107
Siehe Verweise bei Kleffner (Anm. 89), 253-255.
106
22
Schweiz eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Gesellschaften. 108 Im Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wurde sie aber abgelehnt. 109
An sich könnte eine solche strafrechtliche Verantwortung auch auf bewaffnete Gruppen
ausgedehnt werden. Naturgemäß könnte die Gruppe selbst nur mit einer Auflösung oder
Geldstrafe geahndet werden. Im Unterschied zu Unternehmen würde dies bewaffnete Gruppen
aber nicht besonders abschrecken. Im Landesrecht sind sie als juristische Personen gar nie
entstanden und ihre Geldmittel fließen ohnehin über illegale Kanäle, die der Staat sowieso zu
unterbrechen versucht.
Theoretisch vielversprechender wäre es, alle Mitglieder einer Gruppe, die Straftaten begeht,
dafür strafrechtlich haftbar zu machen. In der angelsächsischen Rechtstradition geht die
Konstruktion der „conspiracy“ in diese Richtung, 110 die es im Völkerstrafrecht aber noch nicht
gibt. 111 In der römisch-deutschen Tradition wird eine Bestrafung aller Mitglieder einer Gruppe
dadurch umgesetzt, dass die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung unter Strafe
gestellt ist. 112 Das Völkerstrafrecht hat diese Ansätze noch nicht in gleichem Maße
aufgenommen. Die Figuren der „joint criminal enterprise“ oder des gemeinsamen kriminellen
Ziels der ad-hoc Strafgerichte, 113 sowie die Bestimmungen des Statuts des IStGH über die
Strafbarkeit eines Beitrags zur Begehung oder versuchten Begehung eines Verbrechens durch
eine mit einem gemeinsamen Ziel handelnde Gruppe von Personen, führen jedoch in die gleiche
Richtung. 114
Die strafrechtliche Verantwortung in dieser Weise auszudehnen, beinhaltet aber gerade
gegenüber bewaffneten Gruppen auch einige Risiken. 115 Zunächst gilt es, die für das
humanitäre Völkerrecht unentbehrliche Trennung von jus ad bellum und jus in bello
beizubehalten. Von Bedeutung ist insbesondere erstens, die bloße Teilnahme an einem, auch
ungerechtfertigten, bewaffneten Konflikt nicht als gemeinsames kriminelles Unternehmen
einzustufen. 116 Zweitens muss berücksichtigt werden, dass die Mitgliedschaft in einer
bewaffneten Gruppe, anders als die Mitgliedschaft in einer Räuberbande, oft nicht ganz
freiwillig und von kriminellen Absichten motiviert ist, auch wenn es (leider) vorhersehbar ist,
dass Kriegsverbrechen begangen werden. Drittens sollte man die Tatsache, dass in heutigen
bewaffneten Konflikten oft systematisch und weitverbreitet schwerste Verbrechen begangen
108
Siehe z.B. Brent Fisse/John Braithwaite, Corporations, Crime and Accountability, 1993; Jean Pradel, Droit
pénal compare, 1995, 306-311.
109
Art. 25 (1) des Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (BGBl. 2000 II, 1393);
Kai Ambos, Article 25, in Otto Trifferer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal
Court, 1999, 475, 477.
110
Siehe z.B. Canadian Criminal Code (1985), c. C-46, 465.
111
Siehe Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA i.S. Hamdan v Rumsfeld (Anm. 20).
112
Siehe zum Beispiel Art. 260ter des Schweizerischen Strafgesetzbuchs.
113
Siehe erstmals Prosecutor v. Tadić (Anm. 21), paras. 185-233.
114
Art. 25 (3) (d) des IStGH Statuts (Anm. 109).
115
Marco Sassòli und Laura Olson, The decision of the ICTY Appeals Chamber in the Tadic Case: New
Horizons for International Humanitarian and Criminal Law?, International Review of the Red Cross 82 (2000),
747-756.
116
Siehe Special Court for Sierra Leone, Prosecutor v. Brima, Kamara and Kanu, Urteil, Trial Chamber II, 20
June 2007, para. 67, in dem das Argument des Staatsanwalts verworfen wurde, der Angeklagte habe an einer
gemeinsamen kriminellen Unternehmung teilgenommen, deren Ziel es gewesen sei “to take any actions
necessary to gain and exercise political power and control over the territory of Sierra Leone, in particular the
diamond mining areas”. Die Berufungskammer war hingegen der Auffassung, “the objective of gaining and
exercising political power and control over the territory of Sierra Leone may not be a crime under the Statute, the
actions contemplated as a means to achieve that objective are crimes within the Statute”, Special Court for Sierra
Leone, Prosecutor v. Brima, Kamara and Kanu, Urteil, Appeals Chamber, 22.02.2008, para. 340.
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werden, nicht als Beleg dafür ansehen, dass solche Konflikte kriminelle Unternehmungen sind.
Nach gewissen nationalen Rechtsordnungen ist ein Mitglied einer kriminellen Bande auch für
vorhersehbare Delikte anderer Bandenmitglieder strafrechtlich verantwortlich, die über das
gemeinsame kriminelle Ziel hinausgehen.
In bewaffneten Konflikten ist eine bewaffnete Gruppe, auch wenn sie zumindest nach
staatlichem Recht immer eine kriminelle Bande ist, eine besondere Art von Bande: sie hat
völkerrechtliche Pflichten und sie ist nicht nur an Regeln darüber gebunden, dass nicht, sondern
wenn doch, dann auch wie gekämpft werden soll. Sie übt oft de facto Herrschaftsgewalt über
Personen und ein Territorium aus. Daher sollte das Mitglied, das sich an das humanitäre
Völkerrecht hält, belohnt werden, und nicht als Rechtsbrecher abgestempelt werden, nur weil
es (leider) häufig vorhersehbar ist, dass andere Mitglieder der Gruppe gegen Regeln des
humanitären Völkerrechts verstoßen werden. Der große Fortschritt des Völkerstrafrechts ist es
gerade, Verantwortung und Strafe zu individualisieren. Alle Mitglieder einer Gruppe als
strafrechtlich verantwortlich zu betrachten, verwässert die strafrechtliche Verantwortung der
wirklichen Täter und ihrer Vorgesetzten und schafft ein Solidaritätsnetz um die Täter und die
Anführer. Dies erleichtert weder den Schutz der Opfer, noch die tatsächliche Durchsetzung der
strafrechtlichen Verantwortung. Solch eine kollektive Kriminalisierung kann geradezu eine
sich selbst erfüllende Prophezeiung werden. Wenn die Gruppenmitglieder sowieso kriminell
sind, haben sie nichts mehr zu verlieren und werden sich auch kriminell verhalten. Da würde
ich eher gewisse Freisprüche in Kauf nehmen, weil gewissen Gruppenmitgliedern ihr
tatsächlicher Tatbeitrag nicht nachgewiesen werden kann.
G. Fazit
Solange das Völkerrecht durch das westfälische System geprägt ist, bleibt dessen Haltung
bewaffneten Gruppen gegenüber schizophren. Einerseits will es die Opfer der immer häufigeren
nicht-internationalen bewaffneten Konflikte schützen. Dabei sind Staaten verständlicherweise
frustriert, dass sie international kritisiert und zur Verantwortung gezogen werden, ihre Gegner
aber für viel schlimmere Verletzungen des humanitären Völkerrechts nicht. Andererseits
glauben viele Staaten in ihrer Vogel-Strauß-Mentalität immer noch, bewaffnete Gruppen
würden verschwinden, wenn das Völkerrecht sie ignoriere. In ihrer Souveränitätsbesessenheit
glauben sie, völkerrechtliche Pflichten und noch mehr deren Durchsetzung durch internationale
Mechanismen verleihe bewaffneten Gruppen einen internationalen Status und erschwere es, sie
zu besiegen. Deswegen tendieren Staaten dazu, die bewaffnete Gruppe als terroristische
abzustempeln und jegliche Kontakte mit ihnen geradezu zur Straftat zu machen.
Zur Frage des Status äußere ich mich selbst, auch in diesem Beitrag, mit gespaltener Zunge.
Einerseits bin ich überzeugt, dass Pflichten einen gewissen Status bedingen, dieser ein
völkerrechtlicher sein muss, und leite dann aus diesem Status Rechte, weitere Pflichten und
Durchsetzungsmöglichkeiten ab. Andererseits versuche ich pragmatisch, die Staaten damit zu
beruhigen, dass die Anwendung des humanitären Völkerrechts nach dem gemeinsamen Artikel
3 (4) der Genfer Abkommen gerade keinen Status verleiht, und ich muss anerkennen, dass die
Staaten, wenn sie darüber abstimmen könnten, sicherlich jedweden Status bewaffneter
Gruppen ausschließen würden. Immerhin hat selbst Dionisio Anzilotti, der größte Positivist und
strengste Voluntarist, anerkannt, dass die Logik, auch in Form von logischen Konsequenzen
bestehender Regeln, unabhängig vom Willen der Staaten Völkerrecht schafft. 117
Ob eine Anerkennung eines Status einer bewaffneten Gruppe den Sieg über sie erschwert, sollte
endlich einmal Gegenstand einer seriösen sozialwissenschaftlichen und historischen
117
Anzilotti (Anm. 59), 64.
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Untersuchung sein. Sind bewaffnete Gruppen, die vom Staat und der Staatengemeinschaft
ignoriert oder stigmatisiert wurden, ceteris paribus einfacher besiegt worden und war eine
internationale Anerkennung auch nur humanitärer Pflichten und deren Durchsetzung durch
humanitäre Organisationen in Kontakten mit solchen Gruppen ein Element, dass es den
Gruppen schließlich erlaubte, ihre Ziele zu erreichen. Selbst wenn dem so wäre, würde sich
noch die Frage stellen, ob es dies rechtfertigen würde, auf einen besseren Schutz der
Kriegsopfer zu verzichten, der einen gewissen Status und einen gewissen Dialog mit den
Gruppen voraussetzt.
Eine Heilung dieser Schizophrenie ist wohl nur möglich, wenn entweder die Staaten ihre
Rechtsauffassung der Realität anpassen oder sich das Völkerrecht noch weitgehender vom
Willen oder von den Meinungen der Staaten emanzipiert.
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