Thomas Mann Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

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Thomas Mann Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Thomas Mann
Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Wir haben in den letzten Jahren schon zweimal einen Roman von Thomas Mann
auf der Bühne gesehen, einmal war es der Zauberberg, dann Buddenbrooks. Beide
Male hatte ich Bedenken, ob diese Romane auch in einer dramatisierten Form auf
der Bühne wirken. Beide Male war ich eigentlich nicht enttäuscht. Dennoch: Ob es
beim letzten Roman Thomas Manns, der Krull erschien 1955, kurz vor Thomas
Manns Tod, auch so sein wird, bin ich sehr gespannt.
Es scheint nicht überflüssig – so hätte auch Thomas Mann einen Satz beginnen
können – es scheint also nicht überflüssig, zur Kunst Thomas Manns etwas zu
sagen, damit ein wenig einsichtig werde, warum ich bei Dramatisierungen von
Thomas Manns Romanen immer ein wenig Bedenken habe. Ich erlaube mir, ein
paar Gedanken zur Dramatisierung von Romanen vorauszuschicken.
Thomas Mann ist ein Epiker, kein Dramatiker. Er hat ein einziges Drama geschrieben, Fiorenza, das aber wenig erfolgreich war. Das Drama, die Bühne ist überhaupt
nicht seine Welt. Thomas Mann ist wohl der grösste Erzähler der Deutschen Literatur des letzten Jahrhunderts. Aber eben – er ist ein Erzähler. Der Erzähler ist der
Bühne fremd, oder umgekehrt, das Drama kennt keinen Erzähler. Um es auf eine
simple Formel zu bringen: Theater macht immer sichtbar. Innere Welten, Theorien, Gefühle werden in Handlung überführt und damit sichtbar gemacht. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel: Die Apfelschussszene in Schillers Tell. Man kann Machtmissbrauch nicht klarer sichtbar machen, als Schiller es getan hat durch den leeren
Hut, dem Reverenz zu erweisen ist, und durch die Forderung, einem Kinde einen
Apfel vom Kopf zu schiessen. Hier wird der Missbrauch von Macht und Tyrannei
unmittelbar sichtbar. Das ist höchste Theaterkunst. Der Erzähler nun macht nicht
sichtbar, er macht hör-, oder lesbar. Er gehört in einen intimen Rahmen, er spricht
zu uns einzelnen, nicht zu den Zuschauern im Theater. Er stellt Betrachtungen an,
er reflektiert, er erklärt. Der Hörer oder Leser nimmt die Welt nicht direkt wahr,
wie im Drama, sondern durch die Brille und in der Sehweise des Erzählers. Erscheint ein Erzähler auf dem Theater, dann stimmt etwas nicht. Was nicht sichtbar
gemacht werden kann, gehört nicht auf die Bühne sondern eben in die Epik, in den
Roman.
Es gibt nun allerdings Erzähler von einer Urkraft, deren Werke eine Dramatisierung
ohne weiteres vertragen. Gotthelf ist zum Beispiel ein solcher Erzähler. Auch er
ein genuiner Epiker, man kann sich Gotthelf nicht vorstellen als Dramatiker, schon
gar nicht als Lyriker. Er braucht die weit ausholende Bewegung des Epischen, die
Betrachtung und die Belehrung. Trotzdem – und das beweisen die vielen Gotthelfstücke, welche in diesem Sommer allenthalben aufgeführt worden sind – haben
seine Romane Fabeln, also Grundhandlungen, die sich eben doch sichtbar machen
lassen, ohne an Aussagekraft zu verlieren.
Das ist nun bei Thomas Mann nicht unbedingt so. Gewiss lässt sich die äussere
Handlung der Buddenbrooks oder des Zauberbergs auf der Bühne darstellen. Aber
diesen Darstellungen fehlt etwas Wesentliches. Thomas Mann ist – und dies vor
allem im Felix Krull - ein grosser Ironiker. Die Geschichte des Hochstaplers wird
keineswegs ihrer Handlung wegen erzählt. Also das gleichsam Sichtbare in diesem
Roman ist eine blosse Folie, eine Art Hülse, ein Gefäss, in dem das Eigentliche
aufbewahrt wird. Und das Eigentliche, das sind die unzähligen Bezüge, Vernetzungen, Hintergründe, Anspielungen, Verzerrungen, Hinweise, Montagen, Bildungsversatzstücke, die einen Kosmos herstellen, der einem beim Lesen des Romans
ahnungsweise aufsteigt. Thomas Mann verarbeitet in allen seinen Romanen – vor
allem vom Zauberberg an – immer wieder einen ganzen Kosmos von Anspielungen
Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
auf die deutsche Literatur, Philosophie, Geistesgeschichte und auf die abendländische Musik, einen Kosmos, der aber immer im Hintergrund bleibt und sich dem
Leser nur bruchstückhaft erschliesst. Vor allem aber wird der Mythos in seine Romane eingearbeitet. Aber darauf komme ich später.
Thomas Manns spätes Werk ist ein ironischer Blick auf die Geschichte der deutschen Kultur, eine dauernde ironische, gar parodistische Auseinandersetzung mit
ihr.
Es scheint nicht überflüssig, nun auch noch zu sagen, was Ironie ist. Ironie in der
Literatur gehört zu den schwierigeren Erscheinungen. Es fällt oft schwer, Ironie
überhaupt zu erkennen; oft erkennt man sie nicht und nimmt einen Text für bare
Münze, der eigentlich ironisch gemeint ist. Natürlich geht man dann am Wesen des
Textes vorbei. Das kann einem bei Goethe passieren, mehr noch bei Thomas Mann.
Nur besteht die Genialität der Mannschen Erzählkunst darin, dass er auch ein
grossartiger Erzähler ist, wenn man seine Ironie nicht erkennt. Goethe natürlich
auch.
Aber was ist Ironie? Mit der landläufigen Definition, dass man das Gegenteil vom
dem sagt, was man meint, kommt man nicht weit. Nein, Ironie ist weit mehr.
Ironie ist eine Form der Kommunikation, die auf zwei Ebenen stattfindet. Es gibt
die Ebene der Geschichte, der Handlung, die erzählt wird, jene Ebene eben, die
auch auf der Bühne ohne weiteres sichtbar gemacht werden kann. Es gibt dann
aber eine Ebene über dieser Handlung, eine Ebene, die sich des Raumes zwischen
den Zeilen bedient. Auf dieser Ebene verständigt sich der Autor mit dem Leser
über die sichtbare Handlung, er macht sich über sie lustig, kommentiert und verschiebt sie und gibt ihr eine andere zusätzliche Bedeutung.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben dessen, was ich meine und lese Ihnen einen Abschnitt aus dem Felix Krull vor. Sie können die beiden Ebenen hier ohne weiteres
unterscheiden. Ich lese Ihnen diesen Abschnitt auch, damit Sie den hochkomplexen und bewusst elaborierten Stil Thomas Manns hören.
Felix Krull geht hier auf dem Schulweg in eine Konditorei und findet diese unbeaufsichtigt:
„Verzaubert stand ich und nahm mit lauschend zögernder Brust die liebliche Atmosphäre des Ortes auf, in welcher die Düfte der Schokolade und des Rauchfleisches sich mit der köstlich moderigen Ausdünstung der Trüffeln vereinigten. Märchenhafte Vorstellungen, die Erinnerung an das Schlaraffenland, an gewisse unterirdische Schatzkammern, in denen Sonntagskinder sich ungescheut die Taschen
und Stiefel mit Edelsteinen gefüllt hatten, umfingen meinen Sinn. Ja, das war ein
Märchen oder ein Traum! Ich sah die schwerfällige Ordnung und Gesetzlichkeit des
Alltages aufgehoben, die Hindernisse und Umständlichkeiten, die im gemeinen Leben sich der Begierde entgegenstellen, auf schwebende und glückselige Weise beiseite geräumt. Die Lust diesen strotzenden Erdenwinkel so ganz meiner einsamen
Gegenwart untergeben zu sehen, ergriff mich plötzlich so stark, dass ich sie wie
ein Jucken und Reissen in allen meinen Gliedern empfand.
Ich musste mir Gewalt antun, um vor heftiger Freude über so viel Neuheit und
Freiheit nicht aufzujauchzen. Ich sagte „Guten Tag!“ ins Leere hinein und noch
höre ich, wie der gepresste und unnatürlich gefasste Klang meiner Stimme sich in
der Stille verlor. (…) Mit einem raschen und lautlosen Schritt war ich an einem der
mit Süssigkeiten beladenen Seitentische, tat einen herrlichen Griff in die nächste
mit Pralinés angefüllte Kristallschale, liess den Inhalt meiner Faust in die Paletottasche gleiten, erreichte die Tür und war in der nächsten Sekunde um die Strassenecke gebogen.“
Soweit die Handlungsebene. Das lässt sich auf der Bühne darstellen. Thomas Mann
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fährt fort:
„Ohne Zweifel wird man mir entgegenhalten, dass, was ich da ausgeführt, gemeiner Diebstahl gewesen sei. Demgegenüber verstumme ich und ziehe mich zurück,
denn selbstverständlich kann und werde ich niemanden hindern, dieses armselige
Wort zur Anwendung zu bringen, wenn es ihn befriedigt. Aber ein anderes ist das
Wort - das wohlfeile, abgenutzte und ungefähr über das Leben hinpfuschende Wort
– und ein anderes die lebendige, ursprüngliche, ewig junge, ewig von Neuheit,
Erstmaligkeit und Unvergleichlichkeit glänzende Tat.“
Ich glaube, meine Damen und Herren, Sie verstehen, was ich meine. Das ist Kommentar, ironische Brechung der Handlung. Das lässt sich aber auf der Bühne so
nicht zeigen.
Wenn es nun darum geht, Ihnen in dieser kleinen Einführung zu sagen, was es mit
diesem Roman als Theaterstück auf sich hat, so werden wir diese beiden Ebenen
auseinanderzuhalten haben. Ich beschreibe Ihnen zuerst kurz die Handlungsebene, skizziere die Handlung nach, dann in einem zweiten Teil umreisse ich die
Einflüsse, Hintergründe und Anspielungen.
Felix Krull ist der Sohn eines Sekt-Fabrikanten am Rhein, er wohnt in einer herrschaftlichen Villa, grossbürgerlich, sein Vater, ein ungewöhnlich beleibter Mann,
stellt aber einen Sekt her, dessen Genuss schon fast an Selbstverletzung grenzt,
so schlecht ist er. „Lorley extra cuvée“ heisst das Gebräu. Felix ist ein Sonntagskind von ganz grosser Schönheit und grossem schauspielerischem Talent, er fühlt
sich aus besserem Holze geschnitzt und spielt am liebsten Prinz oder Kaiser und
lässt sich von den Familienmitgliedern huldigen. Gerne steht er seinem Paten
Schimmelpreester Modell, einem Maler mit fragwürdigem Professorentitel, der ihn
in allerlei Posen und Verkleidungen malt. Einmal besucht er mit seinem Vater das
Theater, die „lustige Witwe“ wird gespielt. Krull ist völlig hingerissen. Nach der
Vorstellung aber gehen er und sein Vater hinter die Bühne, weil der Vater den
Hauptdarsteller kennt, einen gewissen Müller-Rosé. Das ist aber ein widerlicher
Kerl, mit schlaffer, unreiner Haut, dazu ist er sehr beschränkt. Und trotzdem
schlägt er Abend für Abend die Frauenwelt in seinen Bann. Das macht Felix nun
einen gewaltigen Eindruck. Er beginnt im Schein die eigentliche Wirklichkeit zu
erkennen. „Mundus vult decipi“, die Welt will betrogen sein. Das wird sein Lebensmotto werden. Er merkt an diesem Abend im Theater, dass Schein und Betrug eine
bessere Welt ermöglichen, dass sie Wünsche und Begierden befriedigen können,
weit besser als die Realität. Das macht Schein und Betrug legitim.
Durch die Fälschung der Unterschrift seines Vaters kann er sich meist von der
Schule dispensieren. Er sieht auch darin keinen Betrug, seine jeweilige Krankheit
sieht er als Wahrheit, die nicht ganz eintritt. Dass Krull auch ein äusserst liebensfähiger Mensch ist, in körperlichem Sinne, braucht nicht betont zu werden.
Die Familie Krull führt ein grossbürgerliches Leben mit rauschenden Festen, die
aber nur die Tatsache verdecken, dass niemand mehr den scheusslichen Sekt kaufen will. Die Firma geht Konkurs, der Vater entleibt sich und Felix geht von der
Schule ohne Abgangszeugnis.
Der Pate Schimmelpreester sorgt nun für die Familie. Er empfiehlt Mutter und
Schwester in der Stadt eine Pension zu eröffnen, so dass sie ihr gewohntes Leben
weiter führen können, nur lassen sie sich dafür bezahlen.
Felix schlägt er eine Laufbahn als Kellner vor, in Paris im Luxushotel „St. James
and Albany“. Krull bildet sich nun für seine Laufbahn aus. D. h. er lernt, wie man
sich kleidet, wie man sich in der vornehmen Welt bewegt. Er ist unerschütterlich
überzeugt, dass er in diese Welt gehört und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis
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sie ihn aufnimmt. Zuerst muss er allerdings noch die Einberufung ins Militär umgehen. Er schafft das, indem er an der Aushebung einen epileptischen Anfall simuliert, so dass er selbstverständlich dienstuntauglich erklärt wird. Diese Episode gehört zu den genialsten Szenen der deutschen Literatur!
Nun geht er nach Paris. Am Zoll lässt er – es ist mehr ein Geschehen, denn eine
Handlung – von einer Dame neben ihm ein Schmuckkästchen mitlaufen.
Im Hotel wird er tatsächlich angestellt, aber er muss seinen Namen ändern, er
wird fortan Armand genannt und als Liftboy beschäftigt. Den gestohlenen Schmuck
versetzt er und beginnt mit dem Geld ein Doppelleben, er kauft sich vornehme
Kleider und nimmt sich ein Zimmer. Er lebt dort wie hier in einer Scheinwelt, die
er als seine eigentliche betrachtet.
Da trifft er im Lift die Dame wieder, die er am Zoll bestohlen hat. Madame Houpflé,
ihr Ehemann ist ein elsässischer Fabrikant von Kloschüsseln. Sie ist von Armand
hingerissen und lädt ihn des Nachts in ihr Zimmer. In ihrer masochistischen Veranlagung ist sie unendlich entzückt, als Krull ihr gesteht, sie am Zoll bestohlen zu
haben. Sie findet das derart erregend, dass sie ihn auffordert, noch mehr zu stehlen, wozu sich Krull nicht lange bitten lässt.
Armand steigt zum Kellner auf; er versieht seinen Dienst untadelig, weil er damit
rechnet, dass das Hotelleben ihm eines Tages einen Seitenweg öffnen wird, der
ihn zum Ziel seiner Wünsche führt. Dieser Weg öffnet sich nun: Ein ständiger Gast
des Hotels ist der Marquis de Venosta, ein steinreicher Lebemann. Er hat eine
süsse Freundin, die aber nicht seines Standes ist. Seine Eltern sehen das gar nicht
gern. Und wie eben besorgte Eltern sind, verlangen sie von ihm, dass er auf eine
jahrelange Weltreise geht, damit er sich von der süssen Freundin entfremde. Das
will der Marquis nun aber auf gar keinen Fall. Und als er eines Abends Krull in der
anderen Welt antrifft – er hat sich als vornehmer Herr verkleidet und ist im Begriff
in die Oper zu gehen – macht er ihm einen atemberaubenden Vorschlag: Er sagt
ihm, er, Krull, solle an seiner Stelle als Marquis de Venosta die Weltreise machen,
er werde ihn mit allem versorgen. Er, als der echte Marquis, bleibe in Paris bei
seiner Freundin. Darauf hat Krull gewartet. Die Sache wird organisiert und eines
Abends fährt Krull im Nachtzug erster Klasse nach Lissabon, nun nicht mehr als
Felix Krull, sondern als Louis Marquis de Venosta.
Bis hierher kann der Roman noch weitgehend als genial und virtuos erzählte Gauner- und Hochstaplergeschichte gelesen werden, jetzt aber beginnt eine Steigerung der Handlung ins Mythische. Hier bedarf es wieder eines allgemeinen Wortes
zum Werk von Thomas Mann.
Was heisst das, Thomas Mann steigere die Gauner- und Hochstaplergeschichte nun
ins Mythische? Mythos meint hier nicht einfach Sage, sondern Mythos ist eine Form
der Erklärung der Welt und ihrer Rätsel. Die griechischen Sagen zum Beispiel, die
bei Thomas Mann eine grosse Rolle spielen, sind ja nicht einfach Geschichten aus
der Antike, sondern es sind Mythen, die auf ihre Art und Weise, irrational die Welt
erklären. Die Bibel ist Mythos. Die Geschichten von Joseph und seinen Brüdern,
die Thomas Mann in einem vielhundert Seiten starken Roman erzählt hat, geben
nicht einfach das Leben und die Erlebnisse des Individuums Josephs wieder. Es ist
das menschliche Leben schlechthin, welches in seinen Grundzügen, die jedem widerfahren, in einer Geschichte oder eben in einem Mythos erfasst wird. Die Schöpfungsgeschichte in der Bibel ist ein Mythos, der das unerklärliche Geschehen der
Entstehung der Welt in einer Geschichte oder in einem Mythos eindeutig und abschliessend erklärt.
Die Gauner- und Hochstaplergeschichte ins Mythische zu steigern, bedeutet also,
dem Hochstapler Krull eine mythische Dimension zu geben, ihn also gleichsam zum
Menschen an sich zu machen, dessen Lebensgeschichte nicht mehr individuell,
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sondern paradigmatisch wird. Durch die Steigerung erhält die Hauptfigur auch
Züge des Menschen schlechthin, es wird nicht nur seine Geschichte erzählt, sondern auch die Geschichte aller Menschen, also auch jene von dir und mir. Dass es
nun aber ein Gauner ist, dem diese Funktion zuteil wird, das ist nun schon speziell.
Aber es liegt in der Art und Weise des gesamten Werks von Thomas Mann. „Den
Mythos ins Humane umfunktionieren“, sei, so sagt er, der Zweck der JosephsRomane. Also den Mythos zu lösen aus der archaischen Zeit seiner Entstehung und
ihn in die moderne Zeit und in die moderne Sprache zu übertragen, das ist Thomas
Manns Bestreben.
Dieser Steigerung ins Mythische dient nun die Fahrt im Nachtzug nach Lissabon.
Krull trifft im Speisewagen den Paläantologen Professor Kuckuck. Er ist der Leiter
des Naturhistorischen Museums von Lissabon. Weitläufig führt Kuckuck Krull nun
ein in die Erdgeschichte, mit dem Ziel, ihm zu sagen, was denn Leben sei. Er erklärt
ihm, dass Sein und Leben aus dem Nichts entstanden und wieder ins Nichts vergehen werden. Leben und Sein seien deshalb vergänglich und eine Episode. Gerade diese Vergänglichkeit aber verleihe dem Leben Würde, Einzigartigkeit und
Wert. Der Mensch sei die einzige Kreatur, die sich dieser Vergänglichkeit bewusst
sein könne, deswegen sei er gefordert, jeder anderen Kreatur und allem Sein mit
Liebe zu begegnen. Diese „Erweiterung des Gefühls“ beziehe sich auch auf und
gerade auf die Erotik, auf eine Pan-Erotik oder auf Allsympathie.
Und Felix Krull ist ein Pan-Erotiker, ein Allliebender; er ist dies alles, aber eines ist
er nicht: Er ist kein Moralist. Seine Allliebe zu den Menschen findet in der Welt des
Scheines statt, nicht in der Welt des Seins. Seine Erfahrungen in der Jugend und
in Paris haben ihn eines gelehrt: Die Welt will betrogen sein, MUNDUS VULT DECIPI. Die Menschen wollen den schönen Schein, die Realität ist ihnen zuwider. Alle
Welt ist doppelt: sie hat eine moralisch-ernsthafte und verpflichtende Seite einerseits, sie ist aber andererseits auch Schein, Maja, wie Schopenhauer sagt, Kulisse
und Täuschung. Und diese Welt ist es, die den Menschen im Grunde lieber ist.
Felix, der Glückliche, ist auserwählt, den Menschen diesen glücklichen Schein zu
bringen! Damit haben Sie den Sinn von Thomas Manns Roman. Der Mensch will
betrogen sein und der Betrüger ist der grosse Held. Im Roman Felix Krull predigt
Thomas Mann die neue Mythologie des Scheines.
Der ganze Roman wird dadurch zur Parodie auf alle Bemühungen des Abendlandes
in der Literatur und in der Geistesgeschichte, eben gerade von der Scheinwelt
wegzuführen in die erste Welt der Pflichterfüllung und der Moral. Thomas Mann
kehrt in seinem letzten Roman all das um, wie ich Ihnen noch kurz zeigen werde.
Er parodiert alle, auch seine eigenen, Bemühungen, den Schleier der Maja zu lüften
und aus der Scheinwelt in die Realität und in ihre Anforderungen zu führen.
Dass ich es noch einmal sage: Thomas Mann bekennt sich in seinem letzten Roman
zur Welt des Scheins, indem er erzählend feststellt, dass es die Welt des Scheins
ist, die dem Menschen die eigentliche Welt ist. Die Realität ist lästige Pflichterfüllung und er nimmt jede Gelegenheit wahr, in die Scheinwelt zu flüchten. Felix Krull
ist die mythische Figur, die ihn in diese Welt führt. Er ist ein Seelenführer, ein
Psychopompos, in die Welt des Scheins.
Die abendländische Literatur hat aber immer den Weg in die andere Richtung verfolgt. Weg aus der Welt des Scheins in die Welt der Pflicht. Thomas Mann greift im
Felix Krull auch zu den Mitteln der abendländischen Literatur, kehrt aber alles in
einer Parodie völlig um.
Sein Roman ist zuerst eine Parodie auf den deutschen Bildungsroman. Alle grossen
Bildungsromane erzählen die Lebensgeschichte eines Menschen, seine Erfahrungen, Verlockungen, Erfolge und Misserfolge, bis er die Schwelle zum tätigen und
nützlichen Leben in der Gesellschaft überschreitet.
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Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
Vorbild aller Bildungsromane ist Goethes „Wilhelm Meister“, zu nennen sind auch
Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“, Stifters „Nachsommer. Alle Helden dieser Romane erkennen Schritt für Schritt die Unzuverlässigkeit der Scheinwelt und entwickeln sich dazu, ein nützliches Mitglied der Realität zu werden. Sie entwickeln sich.
Felix Krull entwickelt sich nicht. Er ist immer schon so, er schlüpft einfach immer
wieder in neue Rollen. In jedem Bildungsroman spielen Mentoren, die den Zögling
führen, eine grosse Rolle. Mentoren gibt es auch hier. Aber es sind alles fragwürdige Figuren: Der Pate Schimmelpreester, ein windiger Maler, der Vater, ein konkursiter Weinfabrikant, die Prostituierte Rosza, die ihn in die Liebe einführt, aber
nur in die körperliche. Theater spielt im Bildungsroman immer eine tragende Rolle.
So auch hier: Goethes Wilhelm Meister geht als Jüngling zum Theater, weil er dort
allein, in der Scheinwelt eben, er selbst sein kann, er kann sich in der Theaterwelt
ausleben und seinen Charakter ausbilden. Aber eines Tages ist das zu Ende. Er
erkennt, dass die Scheinwelt ihn viel gelehrt hat, dass er aber mit diesem Gelernten in die Wirklichkeit zurückkehren muss. Das tut er, er wird Arzt. Bei Felix Krull
ist es nun umgekehrt: Er erkennt im Theater, dass die Welt hinter der Bühne, also
die Realität, abstossend ist. Er beschliesst deswegen, die Theaterwelt zur eigentlichen Welt zu erheben und zum tatsächlichen Lebensraum zu machen. Theater
bewirkt keine Entwicklung, sondern ist nur Bestätigung von längst Gewusstem.
Nebenbei: Wilhelm Meisters Sohn heisst Felix, also hier gibt es auch einen Bezug
zu Goethe, auf den ich noch kommen werde.
Felix Krull ist also eine Parodie auf den deutschen Bildungsroman, er ist seine Umkehrung.
Der Roman heisst ja: „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Schon in
diesem Titel ist eine wichtige literarische Tradition genannt, die Thomas Mann parodiert. Wir kennen vor allem die „Bekenntnisse“ des heiligen Augustin, dann die
„Confessions“ von Rousseau. Bekenntnisse entlasten die Seele. Der heilige Augustin schildert in seinen Bekenntnissen seine ausschweifende Jugend und zeigt auf,
wie er zum Christentum findet. Rousseau lehnt sich an Augustinus an und bekennt
seine Verfehlungen. Reue und Bedauern kennzeichnen Bekenntnisse. Krull dagegen bekennt gar nichts. Er empfindet keinerlei Reue, bedauert keine Irrtümer, im
Gegenteil. Auch hier: Krull entwickelt sich nicht, er kann deshalb auch gar nichts
bereuen. Also auch der Titel „Bekenntnisse“ ist parodistisch zu verstehen.
Parodie ist bei Thomas Mann aber immer mit Ironie verbunden. Nie ist sie bösartig.
Deswegen ist seine Parodie immer auch eine Bewahrung. Er bewahrt in Ironie alte
Werte, nimmt Abschied voll Liebe und Wehmut.
Felix Krull ist auch eine Parodie auf Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Goethe ist
für Thomas Mann, wie für alle Dichter bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, Vorbild
und Schreckbild zugleich. Vorbild und unerreichbares Idol, Schreckbild und zu bekämpfender Übervater. Thomas Mann setzt sich in seinem ganzen Werk mit Goethe auseinander, im „Zauberberg“, den er „Wilhelm Meisterchen“ nennt, mit dem
Tod in Venedig, als Parodie auf die „Marienbader Elegie“, mit „Lotte in Weimar“ ganz direkt. Die Parodie ist im Krull vor allem sprachlicher Art. Thomas Mann
übernimmt Goethes Altersstil und legt ihn einem Dieb und Verbrecher in den Mund
oder in die Feder. Dadurch entsteht viel Komik, wenn Felix Krull Goethes stilistische Erhabenheit auf banale Dinge des Alltags anwendet. Goethe als Person erscheint in den Schlusskapiteln in der Person Kuckucks wieder.
Zum Schluss ein Wort zu Thomas Mann, der sich im Krull auch selbst parodiert.
Mann greift in seinem letzten Roman nochmals den Komplex „Künstler – Bürger“ auf, der sein frühes Werk bestimmt hat. Der Künstler ist dort – vor allem im
Tonio Kröger – der Aussenseiter, der aber – weil er Aussenseiter ist und nur des6
Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
halb – allein in der Lage ist, die Schönheit der Welt darzustellen, im Werk zu verdichten. Er kann die Gefühle, die andere nur haben, auch noch in gültige Worte
fassen. Wenn die „Blonden und Blauäugigen“ Gefühle äussern, dann äussern sie
nur peinliche Banalitäten. Der Künstler allein kann das, aber es macht ihn eben
zum Einsamen, zum Aussenseiter, der immer wieder von der Sehnsucht ergriffen
wird, so zu sein wie anderen, Sehnsucht empfindet nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“. Andererseits macht dieses Aussenseitertum den Künstler für die Gesellschaft verdächtig. Er gehört nicht dazu, er ist ein Vagabund, vor dem man sich
in acht zu nehmen hat, bei aller Bewunderung für sein Werk. „Zigeuner im grünen
Wagen“, nennt Thomas Mann die Künstler. Thomas Mann hat sich selbst oft als
Zigeuner im grünen Wagen dargestellt. Grundlage dieses Künstlerbildes ist nicht
zuletzt Nietzsches Denken, dem Thomas Mann immer nahe stand. Nietzsche sieht
im Künstler auch den Aussenseiter, vor allem weil die Kunst immer in einer Scheinwelt arbeitet, die zu ihrem Wesen gehört. Wer aber in der Scheinwelt lebt, ist der
Realität verdächtig und eine Art von Verbrecher. Vom Geächteten der Gesellschaft,
den man zwar bewundert, aber doch auch beargwöhnt, vom Künstler also, ist es
nur ein kleiner Schritt zum Hochstapler und Gauner. Felix Krull ist auch eine Künstlerfigur, er ist damit eine Parodie Thomas Manns auf sich selbst.
Meine Damen und Herren! Sie spüren, was heute abend Ihrer harrt und was Sie
erwartet. Thomas Mann hat sein ganzes Leben an diesem Roman gearbeitet. Das
heisst, die erste Konzeption gehört zum ganz frühen Werk, fertig geschrieben hat
es der ganz späte, letzte Thomas Mann. Es verwundert deshalb nicht, wenn das
Beziehungsnetz in diesem Roman undurchdringlich ist. Ich habe hier einige Andeutungen gemacht, viel war es nicht. Ein wichtiges Netz wäre auch die Beziehung
zu Goethes Faust, auf dessen Darstellung ich jetzt ganz verzichtet habe.
Lassen Sie sich, meine Damen und Herren heute abend verzaubern von dieser
liebenswürdigen Gaunerfigur Felix Krull. Und wenn Sie dieser heutige Abend zur
Lektüre des Romans anregt, dann würden Sie eines der virtuosesten Werke der
deutschen Literatur kennenlernen oder wieder lesen!
22. Oktober 2011
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