Rohstoff Mensch
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Rohstoff Mensch
ZU GUTER LETZT Rohstoff Mensch Die menschliche Anatomie als Rohstoff und Ersatzteillager hat eine lange Tradition. Edel verzierte Trinkgefässe aus Schädelknochen oder reissfeste Stricke aus Frauenhaar sind heute museale Gegenstände. Weniger bekannt sind die Nebenverdienste der Henkersfamilien aus dem Fett der Hingerichteten. In jenen Epochen, als diese Materie noch kostbar war, wurden die Gefallenen der Schlachtfelder von Spezialisten handwerklichen Zwecken zugeführt. Obwohl der gastronomische Kannibalismus in aufgeklärten Zeiten nur noch Filmemacher und Kriminalbeamte beschäftigt, sei abschliessend zu diesem Thema an die Notfallvariante einer Fussballmannschaft erinnert, deren Abenteuer eines Flugzeugabsturzes in den Anden medienwirksam ausgeschlachtet wurde. Die moderne Medizin bedient sich subtilerer Methoden und garantiert eine vielfältigere und gewinnbringendere Ausbeute. Gene, Eier, Spermien, Embryos, Leihmütter, alles ist verhandelbar. Hingerichtete liefern virtuelle Atlanten oder Plastinate für Gunther von Hagens. In der Grauzone des globalen Marktes packen private und staatliche Unternehmen die Chancen des anschwellenden Medizinaltourismus. Juristische Hürden, wie das neue helvetische Transplantationsgesetz, sind für gutsituierte Konsumenten relativ leicht zu umgehen. Die Risiken mögen etwas grösser sein, doch Professionalität beschränkt sich nicht auf unser Land. Der Organhandel ist eine Wachstumsbranche, angetrieben vom Gefälle zwischen Arm und Reich, der Illusion grenzenloser Machbarkeit und dem Wunsch nach absoluter Lebensverlängerung. Sind wir so zivilisiert, wie wir es uns gerne vormachen? Stekken in der Einverleibung durch Operation oder Essen nicht ähnliche Motive? Der kulturelle Rahmen ändert sich wenig, immer geht eine symbolische, spirituelle oder materielle Energie vom toten oder lebenden Spender auf den Empfänger über. Einmal war es der Mut eines besiegten Feindes oder die Kraft der Ahnen, heute braucht niemand Blut zu trinken, um wie Dracula sein Leben zu verlängern. Mit zunehmender Gewöhnung an fremde Organe wird es nicht mehr nötig, den Tabubruch psychologisch zu be- treuen. Das Herz ist ein Hohlmuskel und längst nicht mehr Sitz einer ominösen Seele. Leber, Lunge und Dünndarm sind emotional weniger befrachtet, und selbst die Verpflanzung eines fremden Gesichtes ist durch plastische Eingriffe vorgebahnt. Gesetze und Verordnungen verwalten die Sachzwänge der medizintechnisch vollendeten Tatsachen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, auf den ersten Schritt zu verzichten, beim zweiten ist niemand mehr frei. Man stelle sich vor, dass es noch lange keine Alternativen zu fremden Organen gibt, aber Abstossungsreaktionen in Zukunft weit besser kontrollierbar sind. Die massive Nachfrage wird der Marktlogik folgen. Gefragt ist Qualität und nicht Moral. Ob die Niere weiterhin aus Moldawien oder aus China stammt, ist sekundär. Schon heute fragt kaum jemand an einem westlichen Kongress, wie die chinesischen Kollegen ihre Fertigkeiten im Transplantieren erworben haben. Das Wissen um Häftlinge als Organbanken mag weltweit Proteste auslösen, das Geschäft mit China stört es nicht. Mediziner mächtiger Staaten zu belangen ist kaum je möglich. Das war schon zu Sowjetzeiten so, als Kollegen Oppositionelle wie Psychotiker behandelten. Das Unbehagen sitzt tief, weil wir ambivalent sind. Der alte Kannibale in uns und die Angst vor ihm sind nur scheinbar überwunden. Vielen Medizinern mit besten Absichten fehlt, was der Philosoph Hans Jonas in seinem Werk «Das Prinzip Verantwortung» als «Hellsicht der Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls» umschrieb. Angesichts des illusionär überforderten Heils erkannte er in der Furcht selber die erste Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung: «Das Zurückschaudern vor dem, was er [der Mensch] werden könnte und uns als diese Möglichkeit aus der vorgedachten Zukunft anstarrt.» Der Vordenker der Nachhaltigkeit meinte damit natürlich den Technikbetrieb aller Wissenschaftsbereiche. Vielleicht ist an der vermissten Organspendefreudigkeit unserer Bevölkerung diese latente Furcht im Spiel. Das wäre ein erster Schritt in eine andere Zukunft. Erhard Taverna Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2007;88: 22 Editores Medicorum Helveticorum 972